Die Dämonen von Martz - Christel Scher - E-Book

Die Dämonen von Martz E-Book

Christel Scher

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Beschreibung

"... dass es mir gefällt, verdammt gut gefällt, es dem Leben heimgezahlt zu haben. Diesem verdammt überheblichen Strippenzieher, der aus mir eine Hure machte und aus dir einen Dämon." Blutdurst beherrscht sein Dasein. Demütigungen das ihre. Tagsüber führt Zavin Wechem das gutbürgerliche Leben eines Uhrmachers, nach Einbruch der Dunkelheit trinkt er das Blut ahnungsloser Menschen in den Gassen von Martz. In einer schicksalhaften Nacht kreuzt sein Weg den der stummen Prostituierten Aurelia. Sie überlebt die Begegnung nur knapp - und das sorgsam gepflegte Lügengeflecht droht auseinanderzubrechen. Um sein Geheimnis zu bewahren, bietet er ihr einen Handel an: ein Schlupfloch in eine bessere Zukunft gegen ihr Stillschweigen. Aurelia hadert - mit sich selbst und mit Zavins Natur. Doch bald erkennen beide, dass sie mehr verbindet als ein fragiles Gleichgewicht. Indes geraten in Martz die Dinge außer Kontrolle. Menschen sterben unter mysteriösen Umständen, Schatten führen ein Eigenleben und Aurelia und Zavin geraten ins Visier mächtiger Ränkeschmiede. Wie viel Menschlichkeit kann Zavin sich bewahren? Wie weit ist Aurelia bereit zu gehen? Eine Geschichte über Selbstbestimmung, innere Dämonen und den bloßen, rohen Hunger nach Leben.

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Content Notes

Du hältst einen Roman in Händen, der düstere Thematiken beinhaltet. Falls du sensibel auf bestimmte Themen reagierst, blättere gerne zu Seite →, um dich darauf vorbereiten zu können. Ich möchte dir versichern, dass ich diese Themen mit allem Respekt behandelt habe.

Es muss dunkel sein um die Sterne zu sehen

Für meinen Mann undfür all die Funkellichter in meinem Leben

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: Das unvermeidliche Versterben des käuflichen Fräulein Coppa

Kapitel 2: Stolpern und dann kunstvoll in die Tiefe taumeln

Kapitel 3: Hunger

Kapitel 4: Die Geister, die wir riefen

Kapitel 5: Die Zeit – Sie rennt, sie jagt, sie nagt … – Die Zeit

Kapitel 6: Der König unter dem Berg

Kapitel 7: Seelenscherben schneiden schärfer

Kapitel 8: Gerechtigkeit … Gerechtigkeit

Kapitel 9: Die Vergänglichkeit der Dinge

1
Das unvermeidliche Versterben des käuflichen Fräulein Coppa

Tu es für deine Frau, deine Eltern, deine Geschwister … Du willst doch bei ihnen bleiben.

Ein ratternder Aufzug zur nächsten Straßenebene. Der Aufzugjunge grüßte mich zurückhaltend und drückte sich enger gegen das Gitter als üblich. Ich hielt den Atem an, bis die Kabine stoppte, drängte mich an dem Jungen vorbei und zog mir den Mantel über die breiten Schultern. Aus dunklem Leder gefertigt gegen den aggressiven Ostwind, der vom Meer her durch die Häuserschlucht wehte. Meine Finger zitterten beim Schließen der Knöpfe.

Ich eilte durch den schmalen Vorraum ins Freie. Salzgeruch stieg mir in die Nase, dann der Geruch von Schmieröl und den rauchenden Fabriken vor der Stadt. Tief sog ich die Luft ein.

Mein Zuhause.

Die Sohlen meiner Stiefel rutschten über das glänzende Kopfsteinpflaster. Ich fing mich am Brückengeländer ab, die Beine weich. Zwei Tage und zwei Nächte hatte ich mich in Arbeit geflüchtet. Noch immer rieselten feine Metallspäne aus meinem Feuerhaar und ich schüttelte es aus, zwirbelte den schmalen Kinnbart in Form und zog mich aufrecht.

Zusammenreißen. Es muss sein.

Ich fuhr die Reliefs auf dem Geländer entlang, die Konturen der gestalteten Blätter. Kunsthandwerk, scheinbar wahllos verteilt, wie wild gewachsen, doch ich erkannte ein Muster, hielt mich daran fest. Alles folgt einer Ordnung.

Wenige feine Bürger kreuzten eilig die Lichtkegel der Gaslaternen und tippten die Hand zum Gruß an die Krempe ihrer Zylinder. Nicht ihr, nicht hier.

Ich stolperte Treppen hinunter, taumelte durch Gassen ohne Sternenhimmel, stützte mich gegen Wände und auf Geländer.

Im Augenwinkel huschte jemand auf mich zu. Ein besorgter Blick machte mich aus. Blaue Augen weiteten sich fragend und Lippen, so rot wie ihr Kleid, öffneten sich leicht, so als fehlten ihr die Worte.

Sie trat näher. Nichts regte sich in der Umgebung und ich presste die Lippen aufeinander, so als könne das dem Monster in mir den Weg versperren. Eine Frau, nachts in dunklen Gassen unterwegs, und ausgerechnet mir begegnete sie.

Ihr Gesicht verschwamm vor mir und ich sackte zusammen. Sie fing mich auf, ächzte unter meinem Gewicht. So viel Mitgefühl. Ich atmete tief, roch ihre Süße, vom Duft zu vieler Männer überlagert, und doch war sie warm und einladend und sie war hier. Scham kämpfte mit finsteren Gedanken. Tu es nicht.

Unsere Blicke trafen sich erneut.

Sie erschrak, drückte mich von sich und sprang einen Schritt rückwärts. Ich streckte meine Hand nach ihr aus, ohne es zu wollen.

„Geh nach Hause“, flüsterte ich und floh in eine enge Gasse.

Letztes Licht in kleinen Fenstern erlosch und Gardinen zogen sich zu.

Ich kann nicht weglaufen.

Ich drückte mich in einen Erker und fuhr mir durchs Gesicht. Ich hatte alles getan, hatte ausreichend gelitten, kaum mehr fähig, mich auf den Beinen zu halten. Ich hatte Ruhe im Ticken meiner Uhren gesucht, im Rausch beruhigender Kräuter, hatte rohes Fleisch heruntergeschlungen …

Du hast getan, was du konntest. Jetzt ist es nicht mehr deine Schuld.

Schritte klackten ungleichmäßig auf dem Pflaster. Ein junger Mann taumelte vorbei, ohne mich zu bemerken.

Seine Jacke schien zu dünn für die Jahreszeit. Er wirkte gehetzt, der Rücken rund, die Schultern hochgezogen. Niemand auf dem Weg zu Frau und Kindern oder einer feinen Gästegesellschaft. In der Papiertüte unter seinem Arm schlugen gefüllte Flaschen aneinander. Jemand, der lieber allein dem Alkohol frönte, statt sich in eine Taverne zu zwängen. Vielversprechend. Alternativlos.

Blut rauschte mir in den Ohren, wieder drehte sich die Welt. Es wird Zeit. Männlicher Schweiß, Geruch von alten Büchern, günstiges herbsüßes Parfum. Ich sog den Duft ein.

„Ruhig“, flüsterte ich mir selbst zu. Es würde gut gehen, war immer gut gegangen.

Ich kontrolliere diesen Körper und was er tut, wenn auch nicht, was er will.

Der Mann bog in eine enge Häuserschlucht. Ich beschleunigte meinen Schritt, nutzte letzte Kraftreserven, holte auf. Kein wacher Puls außer seiner war zu hören. Keins der zahlreichen Fenster war erleuchtet.

Ich kannte die Gegend. Junggesellen, Sekretäre, Buchhalter und Assistenten, die ihren erfolgreichen Arbeitgebern nacheiferten und sie doch nie erreichten. Die meisten hier lebten allein.

Er nestelte am Schlüsselbund, fand den richtigen Schlüssel, schlüpfte ins Treppenhaus. Ich stellte den Fuß in die Tür, folgte ihm durch den gefliesten Korridor.

Auf einem Seitenschrank brannte eine einsame Kerze für die Nachtschwärmer. Ein Zeugnis nachbarschaftlicher Fürsorglichkeit, doch ich kümmerte mich nur um ihn.

Tür an Tür, jede gleich, und dann griff er nach der seinen.

„Entschuldigen Sie!“, sagte ich und drängte ihn in seine Wohnung. In einen dunklen Flur.

„Was wollen Sie?“ Sein Herz pochte.

„Ich brauche Hilfe, bitte hören Sie mich an.“ Ich schloss die Tür, wischte die Streichhölzer von der Kommode, als er danach griff.

„Hören Sie doch …“ Meine Stimme versagte. Was glaubte ich zu erreichen?

Sein Körper torkelte in Habachtstellung. Die glasigen Augen zuckten, wechselten zwischen Misstrauen und Verwirrung, suchten mich in der Dunkelheit.

Ich legte meine Handschuhe auf der Kommode ab, strich sie glatt und spürte das Ziehen im Nagelbett eines jeden Fingers. Es war nicht Zavin Wechem, der dies vorhatte, nicht er, der dies tat.

Ich schlich auf ihn zu. Für meine Frau, erinnerte ich mich. Für meine Mutter, meinen Vater, meine Geschwister … Sein stoßweiser Atem streifte mein Gesicht. Furcht in der Luft, als wäre sie meine. Und doch sog ich sie tief in meine Lungen. Und für mich.

„Ich habe Geld, in der Kommode, oberste Schublade, nehmen Sie es!“

Ich schüttelte den Kopf.

„Hier ist sonst nichts von Wert, bitte.“

Ich nickte, griff ihn im Nacken, bohrte lange Krallen in seine Haut, erstickte seinen Schrei mit der anderen Hand. Das Gift strömte durch die feinen Kapillaren meiner Nägel in sein Fleisch. Seine Pupillen weiteten sich, blickten in ein fernes Nichts. Die Tüte rutschte ihm weg, zwei Weinflaschen rollten über den Holzboden. Ich umschloss ihn fest. Meine Lippen berührten seine Kehle und ich schmeckte das bittere Parfüm auf seinem Hals. Seine Ader pochte gegen meine Zungenspitze. Das Monster in mir schnellte an die Oberfläche, machte meine Schneidezähne so viel schärfer, meine Eckzähne so viel länger.

Nur noch ein Gedanke. Hunger.

Widerwillig biss ich zu. Die Haut spannte sich unter meinen Fängen, bot leichten Widerstand, gab nach. Ich keuchte. Wie flüssiger Samt umschmeichelte das Blut meine Zunge, kribbelnd in Rachen und Hals, innen wie außen. Warmer, herbsalziger Überfluss. Ich zitterte, griff fester zu, schluckte gierig, sog ihn auf wie Papier die Tinte. Jede schlaffe Faser in mir regte sich.

Er gluckste und säuselte mir ins Ohr und meine Hand flutete ihn mit beruhigendem Gift. Lenk mich nicht ab. Tu das nicht. Ich hielt mich zurück, wollte ihn nicht zerreißen, wollte nur meine Lippen an seinen Hals pressen, mich an ihn krallen, in ihn hineinkriechen.

Der Brocken Fleisch zwischen meinen Kiefern wurde wieder menschlich. Der silberne Moment, in dem sich vollkommene Stille um uns legte. Als sei die ganze Welt leer und erstarrt. Kälte kroch mir durch die Venen. Doch kurz bevor ich darüber in Panik geriet, öffneten sich die Tore und zogen mich in ihn hinein.

Ein armer Kerl war er. Stets bemüht und nie genug. Ich kenne das nur zu gut. Er atmete aus, Erleichterung ließ ihn schwer werden.

Im Hintergrund pulsierte ein Netz. Feinste Silberfäden, die ihn verbanden, mit den Nachbarn, der Kommode seiner Mutter, mit Menschen und Orten jenseits dieser Wohnung, dieser Stadt, dieser Welt … Und ich war Teil davon, durch ihn, ließ mich halten. Verbunden.

Seine Beine brachen ein und ich folgte ihm auf die Knie. Nur ein wenig noch. Er fiel langsam zur Seite. Genau, ruh dich aus. Über seinen Körper gebeugt biss ich erneut zu, in die Schulter, in die Kehle … Nähe.

Hör auf, bat ich mich. Nur ein fernes Echo, das verhallte.

Ein Türquietschen. Ein Schrei!

Ich riss den Kopf in den Nacken. Eine Frau starrte auf die Lache, in der ich kniete, dann in mein Gesicht. Ihr Mieder hob und senkte sich hektisch. Eine Weinflasche schwebte über ihrem Kopf, zersprang an meiner Schläfe. Hellklirrender Schmerz.

Sie drängte sich an mir vorbei. Ich seufzte benommen, griff ihren Arm, riss sie zurück. Sie drehte sich hinter mich und sprang mir auf den Rücken. Ihr Schrei schepperte mir schmerzhaft in den Ohren. Schon hörte ich, wie sich Hausbewohner in den Wohnungen ringsherum regten. Erwachende Herzrhythmen.

Ich schüttelte die Frau ab, schleuderte sie auf den Boden und kniete mich auf ihren Brustkorb, klemmte ihre Arme unter meine Beine, hielt ihr den Mund zu.

„Sei doch still.“

Nur langsam dämmerte es durch den warmen Rausch in mein Bewusstsein. Sie hat dich gesehen … sie hat alles gesehen … Wie fremdgesteuert legten sich meine Hände um ihren Hals. Du musst! Sie röchelte, giftbetäubt, aber Panik in den Augen und jeder meiner Muskeln wurde weich. Sieh einfach nicht hin. Doch meine Finger verkrampften. Ich konnte es nicht.

Ihr Arm kam frei. Sie kratzte mir über das Gesicht, drückte mir den Daumen ins Auge. Stechender Schmerz ließ mich zurückzucken. Ich fluchte, presste die Lider aufeinander und rieb mit der Hand darüber. Blinzelnd sah ich sie auf die Beine kommen und Richtung Tür stolpern. Ich ließ mich nach vorne fallen, streckte den Arm aus, bekam ihren Knöchel zu fassen.

Sie fiel, kreischte. Ihre Arme ruderten durch die Luft, fanden nichts Greifbares. Ihr Kopf schlug auf die Kante der Flurkommode, ein Knacken, das Poltern eines schlaffen Körpers. Reglos blieb sie liegen …

Nein.

Mein Herz zog sich zusammen. Ich torkelte ins Schlafzimmer, in dem die Kerzen flackerten, als schlügen sie stummen Alarm, griff eine Decke und warf sie über die Frau.

Der Mann … Ich wollte weg, aber … Ich tastete über meine Westentasche, suchte das beruhigende Ticken der Taschenuhr über meinem Herzen. Fand sie nicht. Verdammt. Ich zog den Bewusstlosen zu mir herüber, leckte zum Trost letzte Tropfen von seinem Hals, presste Zeigefinger und Daumen gegeneinander und strich das austretende Gift auf die Wunden, die meine Zähne hinterlassen hatten. Sie heilten, bis auf zwei. Mit einer Scherbe schnitt ich durch sein Fleisch, verband sie zu einer einzigen klaffenden Wunde.

Ich sammelte Kraft in meinen Lungen, öffnete seinen Mund und blies meinen Atem in ihn hinein. Der Herzschlag donnerte wie eine Pauke unter Wasser und der Körper bäumte sich auf. Diese Chance konnte ich ihm geben. Zumindest das.

Ich leerte eine der Weinflaschen in den Ausguss. Einen Teil der anderen goss ich über ihn. Ein Betrunkener, der berauscht in Scherben gestürzt war. Mehr war doch gar nicht passiert …

Die Frau lag still da. Ihre Konturen zeichneten sich auf der Decke ab und beschämt fuhr ich mir durch das Haar, schloss die Augen und atmete tief. Du bist noch nicht fertig. Du musst aufräumen.

Ich wankte, steckte die Handschuhe ein, griff nach der Frau … Nein, eine Decke, nur eine Decke. Ich trug sie durch den Hausflur in die Nacht, den schmalen Holzbalkon entlang, der die Außenfassade entlangführte. Ein Arm baumelte herunter. So schlaff. Zitternd hob ich sie über das Geländer, sah sie in die Tiefe stürzen und in Schwärze verschwinden. Eine weiße Hand flatterte, wie zum Abschied, und ich blickte auf die meinen. Blutbesudelt. Ich atmete tief, zählte die Backsteine der gegenüberliegenden Hauswand, suchte Ruhe darin. Vergebens.

Ein Knacken. Ich fuhr herum. Ein dunkles Tier schlich die Planken entlang, wilde Augen fixierten mich. Hast du geahnt, dass ich dich brauche?

Jeder Muskel in den kräftigen Beinen wirkte angespannt, die Ohren aufmerksam aufgestellt, der Kopf leicht gesenkt. Die Lefzen zuckten, bereit zu knurren. Halluzinierte ich? Der Blutrausch, der Herzschlag bis zum Hals, der Kopf wie in Watte … Möglich war es.

Ich ging in die Hocke und die raue Wolfszunge leckte mir über die ausgestreckte Hand. Die Finger noch immer blutig. Ich erschrak, zog sie zurück. Ob es das Gift war, das ihn so zutraulich machte?

Ich lehnte mich an das Holzgeländer, genoss es, ihm das drahtige Fell zu kraulen.

Lass uns zusammen jagen, hörte ich ihn. Nur ein Flüstern in meinem Kopf. Ein Hirngespinst, doch ich ließ es sein, was es war.

„Ich jage keine Ratten.“

Doch, das tust du. War es eine gute Jagd?

Ich zögerte. Wen ließ ich schon warten, außer mich selbst?

„Ich weiß nicht … Ich habe eine Frau getötet … Sie ist tot.“

War es gut? Eine kalte Nase drängte sich unter meine zitternde Hand.

„Ich … ich hab sie nicht … Sie hat mich gesehen, zu viel gesehen … Ich war im Tunnel, hab sie nicht bemerkt … Es war keine Absicht.“

Verschwendung! Du hättest sie fressen sollen. Ich fresse Ratten, auch wenn sie tot sind. Der Wolf schnaubte, rollte sich neben mir zusammen.

Ein Teil in mir fürchtete, dass er recht hatte. Ein instinktiver Drang, sie vollkommen zu verschlingen, der war da, ohne Frage. Aber nein! Das Blut reichte. So hatten sie eine Chance.

„Ich lass mich nicht von Instinkten leiten.“

Macht das Sinn? Du bist jetzt satt. Macht dich das nicht zufrieden?

„Doch. Mehr, als es sollte.“

Zu viel gibt es nicht. Nur zu wenig und Hunger und schlaffe Beine. Man kann nicht jagen und nicht leben mit schlaffen Beinen.

„Du frisst nicht deinesgleichen.“

Du doch auch nicht.

Ich seufzte. Eine Verhärtung, wo sonst mein Magen lag. „Es ist nur ein Fluch. Ich bin ein verfluchter Mensch.“

Ich weiß nichts von Flüchen. Ich bin ein Wolf. Ich will Fleisch und Blut und satt sein. Er hechelte.

„Nun, ich brauche diese Erklärung, also lass sie mir. Ich will nach Hause. Nur nach Hause.“

War es kälter geworden, oder spürte ich es erst jetzt? Ich zog den Mantel enger um den Körper und schmiegte mich an das Tier, das jeder Bürger der Stadt abgeschossen hätte, ohne zu zögern. So wie auch mich.

Wir schwiegen.

Nein. Ich wollte nicht sterben, nicht im Geringsten. Unfassbar, was ich bereit war, dafür zu tun.

Immer wieder.

„Gute Jagd.“

Der Wolf verschwand in die Nacht, dieses Tier, das meinen Geist ermutigte, zu sich selbst zu sprechen. Du verlierst den Verstand.

Nicht mal gewaschen hast du dich, durchfuhr es mich. Wenn mich jemand sah, sich eine der kleinen Gardinen gegenüber bewegte … Ich strich mir über die klebrige Wange, leckte den Finger ab. Der junge Mann pulsierte noch in mir. Das war unangemessen. Seine Gefühle hallten in mir nach, nicht nur die Unsicherheit und das Entsetzen des Augenblicks, sondern seine Grundstimmung des Tages. Tief zufrieden war er gewesen, mit dem großen Wunsch nach mehr Verwegenheit. Euphorie und Leichtigkeit, die immer wieder in den weiten Augen der Frau endeten. Ihr weicher Hals in meinen Händen … das Knacken … Ein Unfall, doch nur ein Unfall. Ich krümmte mich, presste die Lippen aufeinander, bis die Euphorie sich wieder vordrängte.

Du musst heim, geh heim.

Meine Füße führten mich durch die eisige Nachtluft. Mein Kopf war taub, jeder Sinn nur darauf fixiert, keinem Menschen zu begegnen, nach Hause zu kommen, nur nach Hause.

Unser Foyer begrüßte mich dunkel und verlassen. Hinter den Wänden pochten Herzen in tiefem Schlaf. All meine Lieben, sicher für jetzt. Sicher vor mir.

Ich lächelte bitter, kippte den Schalter für den brummenden Flurleuchter. Zu laut. Ich brauchte kein Licht, aber ich wollte es hell haben.

Ich wollte mich vom Anblick des rotbraunen Teppichs trösten lassen, der sich über die Galerien drei Stockwerke nach oben zog. Die Wärme meiner Mutter drang aus jeder Vase mit bunten Blumen, jedem Spitzendeckchen und jeder aufgehängten Fotografie, als würde sie mich persönlich umarmen. Auf der Anrichte wartete ein Fingerhut Milch und ein Teller mit Krümeln auf das kleine Volk. Heimeliger Aberglaube.

In dem schmalen Flur meiner Räume ließ ich das Licht aus, stopfte das Hemd hinter einen der Schränke. Mit viel Seife schrubbte ich Gesicht und Hals und Hände ab und kroch zu meiner Frau ins Bett. Ich drückte mich an ihren schlanken Körper, erzählte ihr in Gedanken von meiner Verwirrung, wie zutiefst erfüllt ich mich fühlte, trotz allem, und suchte Trost an ihrer zarten Schulter.

Sie

Und da klopften und schimpften sie, kurz davor, die Tür einzutreten. Ich rollte die Augen. Konnten sie mir nicht wenige Momente gönnen? Diese Großstadtschwäne, die glaubten, ein Lidstrich oder ein Abpudern mehr würde unterstreichen, wie schlank ihre Taillen waren, wie porzellanhaft ihre Haut und wie appetitlich voll ihre Lippen.

Keine Schwäne, Puten seid ihr! Mit der flachen Hand platschte ich auf das Badewasser und hoffte, sie hörten es.

Keinen Schritt zurückweichen. Die Frauen trösteten einander, hielten sich gegenseitig im Arm und lästerten und lachten zusammen, doch ich machte mir nichts vor, oh nein. Dieses Heim war ein Käfig pickender Raubvögel und ich durfte nicht wie Futter wirken.

Ich nutzte ihr Schimpfen, um mich daran aufzurichten, fuhr mir mit dem aufgeschäumten Schwamm über Arm und Schulter. So vernarbte Haut, und kein Schaum konnte sie glattwaschen. Ich sank in das warme Wasser zurück und seufzte.

Jasminduft waberte in der Luft und ich sog ihn ein. Ja, eine kurvige Landschönheit musste gut riechen, um zu punkten. Bei der Mutter, meine Haut war vom heißen Wasser so rosa gefärbt wie die Schweine meiner Kindheit … Ich tauchte bis zu den Ohren unter, hob etwas Schaum vor meinen Mund und blies ihn durchs Bad, kicherte bitter.

Die Blicke der feinen Herren fielen auf anderes. Lange Beine, die sie in die Oper ausführen, Schwanenhälse, die sie bei Geschäftsessen mit protzigen Colliers schmücken konnten … Junge Haut wollten sie, keine Frau Richtung dreißig. Nicht das blonde Ding, über und über mit Sommersprossen besprenkelt, als hätte sie im Matsch getanzt.

Rappeln, Klopfen und Schimpfen ließ mich seufzen. Selbst schuld, wenn ihr den Schlüssel im Schloss lasst.

Ich kletterte aus der Wanne, warf mir den Morgenmantel über, drehte den Schlüssel und die Tür flog auf. Die Frauen stöhnten, packten mich und schubsten mich in die Wohnstube, dass ich aufs Sofa taumelte.

„Kurz hier und schon Ärger.“ Eine Brünette trat nach mir. Ihr gemeiner Blick streifte mich, bevor auch sie im Bad verschwand.

Weitere Frauen und Mädchen musterten mich mitleidig und ich rollte mit den Augen, als gäbe es dazu keinen Anlass. Ich sank tief in die abgewetzten Polster, ließ den Blick schweifen über vermackte Kommoden und zerkratzte Tischchen, von feinen Herren zu oft benutzt und ausgemustert. Durchaus passend.

„Wir müssen uns fertig machen.“ Nera, ein Rotschopf mit fuchsklugen Augen, wühlte in den Kleidungsstücken, die kreuz und quer über den Möbeln hingen. Ich warf ihr eine Bluse an den Kopf und genoss, dass jemand sich über mich ärgerte. Ich bin da und jemand merkt es. Wunderbar.

Körpersprache, meine Sprache, wo ich keine andere hatte. Schlagfertige Sprüche, wie die anderen Frauen sie nutzten, waren mir nicht vergönnt.

Stumm. Seit dem Blutfieber in früher Kindheit höchstens zu einem heiseren Krächzen fähig, wenn mich etwas erschreckte oder ich Erregung vorgaukelte. Kein Mitleid! Keine Almosen!Da war keine Stimme in meinem Hals, fertig, aus. Zum Glück mochte so mancher Mann keine geschwätzigen Frauen. Der größte Reiz für die Herren war mein Schweigen, und das allein hatte Moras Freballio bewogen, mich von einer feuchten Strohmatratze in sein Vogelhaus tragen zu lassen. Ja, tragen, da vollkommen betrunken.

Trinken. Ich griff in die Sofaritze, zog einen Flachmann heraus, nahm einen beherzten Schluck brennenden Schnaps. Hauptsache feurig.

Nera musterte mich besorgt. Ich hob beschwichtigend die Hand und legte sie über meine Lippen, legte die Bitte in meinen Blick, es gut sein zu lassen. Nein, Moras Freballio mochte es nicht, wenn wir uns betranken, doch verdammt, das tat ich auch nicht. Nur den Zittergeist etwas beruhigen, das war alles.

Nera setzte sich neben mich und legte mir eine Hand aufs Knie. Zart wie eine weiße Motte ruhte sie dort, zierlich, so wie alles an der jungen Frau, und Neid schob meine Unterlippe vor.

„Du kannst hier was werden, Kleines“, flüsterte sie. „Wenn du nur aufhörst, es dir schwer zu machen.“ Sie nahm mir den Flachmann aus der Hand und schob ihn zurück in sein Versteck. Ich hob zweifelnd die Augenbrauen.

„Oh, schau nicht so. Es gibt hier vieles, das gut ist.“ Sie griff eine Kirsche aus der Kristallschale auf dem Tisch und schob sie mir in den Mund. Süßsäuerliche Gewächshauskirschen im Frühling, so wie die feinen Frauen sie aßen, ja, Moras pflegte seine Vögelchen.

Nur mit der Zunge verknotete ich den Stiel und betrachtete mein Werk, kicherte. Auch Nera lachte wie ein Silberglöckchen und stand kopfschüttelnd auf. Ein guter Trick für die Tavernen weit unten, doch hier oben brauchte ich neue Ideen, die einen Hauch von Niveau innehatten.

Mach dich schön.

Ich kämmte die krausen Strohlocken, flocht Kupferblüten ein und steckte sie hoch. Mein Markenzeichen. Coppa. Meine Sommersprossen deckte ich sorgsam mit Schminke ab, da unerwünscht.

Was soll das sein? Zu glänzend, zu angemalt, zu verkleidet.

„Zieh nicht so ein Gesicht.“ Nera legte ihr Kinn auf meine Schulter, zog eine Grimasse.

Ich nickte halbherzig. Nera wollte nett sein, bemalte mir die Lippen tiefrot und ich lächelte mein Spiegelbild an, zeigte die weißen Zähne und versuchte, ein wenig Fröhlichkeit in meine Augen zu zwingen. Überzeugend genug? Ich zweifelte daran und schob mir eine weitere Kirsche in den Mund.

Ich hab mir schon Schlimmeres schöngeredet.

Wir versammelten uns auf den Sofas. Steifes Lächeln verblasste unter gesenkten Blicken. Dicht an dicht saßen Vögelchen in teuren Stoffen und die Parfums summierten sich zu Zucker und feinwürzigen Versprechen. Dennoch das billigste Weibsvolk in den Augen der feinen Leute.

Nera sprach ein Gebet zu den Göttereltern, bat um Schutz und heile Wiederkehr. Ob sie uns zuhörten? Egal. Ich fühlte mich weder gewollter noch zuversichtlicher und machte mich seufzend auf, um reiche Körper zu wärmen und mit Händen und Blicken süße Lügen zu heucheln.

Ich sparte mir die zehn Rinay für die Straßenbahn, machte einen beherzten Schritt von einer Feuerleiter zur anderen, huschte durch einen offenen Vorgarten und schon war ich am Ziel.

In dem schlauchartigen Schankraum philosophierten wohlgeratene Studenten mit versoffenen Taugenichtsen. Mehr Männer als Frauen und ein angenehm junges Publikum. Heute keine übertriebenen Duftwässerchen auf nach Alter riechender Haut.

Tabakrauch und der Duft von Hausmannskost verdickten die Luft zwischen den gedrängten Gästen. Ich tastete sie ab, hier ein Blick, da ein Lächeln, wie Angelschnüre warf ich all das aus, zu ungeduldig, zu angespannt. Eine Jägerin, zum Verhungern verurteilt, wenn sie heute nichts fing. Du musst Geld machen …

Ein Mann mit Goldring am Finger wich meinem Blick aus, ein betrunkener Lockenkopf grinste mir schwankend zu, doch ich hatte gehört, wie er beim Wirt anschreiben ließ. In einer Nische hockte der Mann, den ich als Fluxo kannte. So einsam, so in sich gekehrt, so bedürftig. Hier kommt deine Erlösung. Ich warf mich an seine Seite, zog den Vorhang des Separees eng um uns beide und küsste ihn neckisch. Huren küssen nicht, so hatte ich es gelernt, doch von den Frauen des Vogelhauses erwartete man das.

So auch dieser verschüchterte Assistent eines Fabrikleiters, der er behauptete zu sein. Bei mir durfte er sein, was immer er wollte, und ich lächelte, als wäre er das Zentrum meiner Welt, wenn er stundenlang von der Bedeutung von Konservendosen für den Wohlstand erzählte.

Es war perfekt für ihn, dass ich stumm blieb, dass ich ihn nicht unterbrach, keine verunsichernden Rückfragen stellte oder etwas kommentierte. Und wenn er damit fertig war, spazierten wir in seine kleine Wohnung und er bestieg mich unbeholfen, aber kurz.

Mein Abend, so glaubte ich.

Mit zwei frischgezapften Bieren schlüpfte eine Haselnussschönheit zu uns hinter den Vorhang.

„Du solltest nicht kaufen, bevor du nicht die ganze Auslage kennst.“ Marnia, wie ich ein Neuzugang unter den Vögelchen, hauchte die Worte auf lächerliche Weise und ich verdrehte die Augen. Fluxo küsste mich ein letztes Mal unsicher und stotterte Unverständliches, als ihre braunen Schillerlocken auf ihn fielen.

Sie biss sich auf die Unterlippe, strich sanft über ihr Dekolletee und mein Lächeln gefror.

Lass es! Du kannst doch jeden haben, flehte ich innerlich und presste mir die Fingernägel in die Handballen.

Sie rückte nah an ihn heran und spann ihn ein, wie eine Spinne die Fliege, zerzauste ihm das kurze Kupferhaar und steckte ihm so plump die Zunge in den Hals. Genug!

Ich sprang auf, riss den Vorhang des Separees zur Seite und zerrte sie von ihm herunter, schubste sie weg. Sie taumelte, kämpfte um ihr Gleichgewicht.

Verschwinde! Meine stummen Lippen formten das Wort deutlich und ich zeigte Richtung Ausgang. Ihr schnippisches Lächeln sah ich nur durch einen Tränenschleier. Männer um uns herum lachten auf, bestens amüsiert über meinen Überlebenskampf, denn das war es.

Sie stapfte Richtung Tresen und jeder machte ihr Platz, wohl gierig auf das sich anbahnende Theater. Marnia griff ein Kännchen, das auf der Theke stand, und schleuderte es mir ins Gesicht.

„Weißes Fleisch braucht Soße, wenns so trocken ist wie du!“

Die Menge johlte.

Ich erstarrte, schluckte und rieb mir die Bratensoße aus den Augen, zog mich tief in mich zurück.

„Keinen Schritt zurückweichen“, hatte Hausdame Mockelei gesagt. Andere waren darin besser als ich, nicht wahr?

Fluxo starrte an die Wand. Was erwartete ich? Er hatte einen zwanglosen Abend gewollt, nicht so etwas. Das ist demütigend. Ich drängelte mir einen Weg durch die Gäste. Diese feinerzogene Meute, die mich schubste oder spöttisch an mir zupfte.

„Kein Vögelchen, eine Vogelscheuche!“, rief Marnia und die Menge krächzte wie Raben, knuffte mir in die Seiten.

Bitte lasst mich in Ruhe! Ich rannte in die Nacht, heulte und rannte, bis nichts von dem johlenden Volk mehr zu hören war, wusch mir Gesicht und Haare an einer Regentonne in der dunkelsten Nische, die ich fand, und streifte das verschmutzte Oberkleid ab. Ruinierte rote Seide. Ich kauerte mich hinter die Tonne, beweinte das Kleid und mich selbst. Ein gutes einsames Örtchen, um alles rauszulassen. Das war selten für Frauen wie mich.

Das Grölen von Betrunkenen schallte zu mir hoch. Was jede feine Frau schnellen Schrittes in Richtung des sicheren Zuhauses getrieben hätte, war für mich der Ruf schnell verdienten Geldes. Es muss sein.

Ich schluchzte trotzig, und doch rollte ich das Kleid zusammen und eilte drei Wendeltreppen in die Tiefe, viel zu nah an unschöne Zeiten.

Die Fensterläden der Taverne waren verschlossen, doch Licht schien durch die Ritzen im Holz und Gelächter drang nach außen. Die verwitterten Buchstaben über der Eingangstür waren nicht mehr zu entziffern. Der Name schien hier niemanden zu scheren, solange der Alkohol floss.

Ich betrat den schmucklosen Thekenraum voller zerschlissener Unterstädtler und morscher Möbel. Ich rümpfte die Nase, denn es roch nach altem Fett und jede Oberfläche wirkte klebrig unter meiner Hand. Spieler und Säufer waren keine feinen Kunden, nein, aber verlässlich und ich drängte meine Gefühle in eine robuste Kiste, schloss ab und funktionierte.

Selbst im roten Unterkleid war ich die bestgekleidete Frau in dem ranzigen Schankraum. Genug, um auf Knien an torkelnden Gewinnern oder frustgebeutelten Verlierern ein Par Rinay zu verdienen. Dafür war ein stummer Mund wie meiner gemacht, oder nicht?

Du bist ganz unten, mach dir nichts vor. Es gab nichts Demütigenderes als den Klang zu Boden fallender Münzen, während ich noch vor ihnen kniete. Ich überspülte ihren Geschmack mit zu viel scharfem Schnaps.

Der Wirt selbst schickte mich nach Hause und legte mir an der Tür die alte Decke um, auf der ich meine Rechnung bezahlt hatte. Ich ließ sie auf das Pflaster fallen, trat danach. So einige wütende Tränen schluckte ich herunter. Es hilft doch nichts.

Es war schon jene Uhrzeit, ab der niemand mehr unterwegs ist außer den Ruhelosen. Wenn die Stadt dunkel ist und das orangefarbene Licht der Straßenlaternen übernimmt.

Ich stützte mich auf ein gusseisernes Geländer und zählte die Münzen in meinem Beutel. Lächerlich wenig. Das reichte nicht, nicht fürs Vogelhaus. Ich versuch doch schon alles … Wütend warf ich eine Hand voll Kleingeld in die Nacht, sah den Münzen nach wie fallenden Sternen. Ich drückte meinen Bauch gegen den Handlauf und beugte den Oberkörper weit über den Abgrund, sah den Münzen nach, bis das Dunkel sie verschluckte. Von Ebene zu Ebene wurden die Straßenlaternen seltener, wurden Fackeln, bis sich alles in Schwärze verlor.

Wie ruhig es da unten sein musste. Kein Lachen der feinen Meute. Keine vulgären Sprüche. Kein Betatschen. Kein Giggeln und Picken fieser Vögel.

Ich stellte mir vor, dort unten warte ein kleines Mädchen auf mich, das von einem netten Bauern mit kleinem Hof träumte. Ein blaues Spitzenkleid trug sie, von der Mutter geklöppelt, Margariten im Haar. Ein dunkler Korridor führte zu diesem Moment, an dem alles noch hätte gut werden können. Er zog mich an. Kein Hindernis würde mir ein leidtun. Nur ein freier gerader Fall nach unten, ganz unten und aus.

Hör auf, du bist betrunken. Doch es schien so simpel wie an den Turnstangen der Spielplätze.

Ich drückte die Arme durch, hob die Füße vom Boden ab und kippte nach vorne. Körper und Geist so herrlich taub vom kalten Wind. Niemand hielt mich auf. Niemand fiel mir ein, der es getan hätte. Einfach fallen, so simpel …

Das Geländer zitterte, ich fuhr zusammen, umkrallte das Metall, stemmte mich zurück, fasste mir fest in die Locken. Du dummes Ding.

Der Mann neben mir hielt sich mit Mühe aufrecht. Ein junger Schnösel, wie man sie hier nur selten traf. Betrunken …

Er atmete schwer, wie auch ich, blickte gehetzt von einer dunklen Gasse zur nächsten. Ich tippte ihm auf die Schulter und er fuhr zu mir herum und starrte mich entgeistert an. Hatte er mich vorher nicht bemerkt? Suchst du die weißen Mäuse?, dachte ich. Es war Schlimmeres auf den Straßen unterwegs als Alkohol und dieser Mann hatte offensichtlich davon genascht.

Er sackte mir in die Arme. Ich stützte ihn, ein Reflex. Meine kleine Elsterhand glitt zwischen die Knöpfe seines Mantels in seine Westentasche und wieder heraus. Gelegenheiten nutzen. Ich sah zu ihm auf und schreckte zurück vor seinen gehetzten Augen, ruhelos wie eine windzerzauste Wiese. Seine Hand griff in meine Richtung, doch ich wich nach hinten zurück.

„Geh nach Hause“, flüsterte er und rannte weg.

Jeder in Martz rannte weg, oder? Auf die eine oder andere Weise.

Ich betrachtete die feine Taschenuhr in meiner Hand. Meine Beute, aber graviert und dadurch unverkäuflich. Ich seufzte tief. So ein Dreck, dachte ich und schnippte eine letzte Münze in die Nacht.

Er

Lariskas Hand griff nach meiner, so weiß und kühl. Ich zuckte zurück, setzte mich auf die Kante des Spiegelschranks, während sie mit aufmerksamem Blick beobachtete, wie ich mein Hemd zuknöpfte.

Ich hab eine Frau getötet, Lariska, sie ist einfach gestorben, dachte ich und griff nach einer bemalten Porzellantasse.

„Gute Bohnen“, sagte ich.

Sie nickte. „Ein netter Laden im Ginko. Dein Vater sollte mal mit ihnen sprechen.“

„Ja. Wirklich gute Bohnen.“ Ich seufzte innerlich. Der Kaffeeimport hatte die Wechems über Generationen reich gemacht. Es war mir wohl in die Wiege gelegt, dieses Heißgetränk zu lieben und dass allein der Duft für mich Geborgenheit und Heimat bedeutete. Doch was den Geschäftssinn anging, hatte selbst Lariska mir einiges voraus. So wie auch jeder andere Wechem.

Ich zog einen Umschlag aus der Weste und strich ihr damit sanft über die Wange. Ihre Erlaubnis, ein weiteres Semester zu studieren, die Gebühren bezahlt. Sie nahm ihn an sich und ihre Augen blitzten.

Sie zupfte sich das weiße Nachtkleid zurecht, bürstete ihr schwarzes Haar, so wie sie es jeden Morgen tat, und ich liebte es, ihr dabei zuzusehen. Ihre Sorgfältigkeit, ihr exaktes Vorgehen, wie sie Strähne für Strähne teilte. Ein ölverklebter Vogel, der sorgsam sein Gefieder putzte, weil sein Leben davon abhing. Äußerer Schein.

Ich floh ins Bad, band die Haare zusammen, kippte etwas Rasierschaum ins Waschbecken und hielt Pinsel und Messer unter den Wasserstrahl. Tarnung. Meine Haare wuchsen nur, wenn ich es wollte. Eine jener vielen Absonderlichkeiten, die es mir ermöglichten, sogar an schlimmsten Tagen gepflegt auszusehen.

Lariska tauchte im Türrahmen auf. Ich fluchte innerlich, drehte mich weg und drückte mir das Handtuch ins Gesicht, so als würde ich es abtrocknen. Du musst vorsichtiger sein, dachte ich.

Kühl und abgeklärt lehnte Lariska sich gegen die Türzarge und musterte mich, während ich möglichst ruhig die Utensilien zusammenräumte, als wäre ich gerade fertig geworden.

„Wolltest du nicht früh zum Campus heute?“ Ich trocknete mir die Hände, bemüht, den Stoff des Handtuchs nicht zu zerschneiden.

„Der Professor ist der Meinung, es schicke sich nicht für eine Frau, in einen toten Mann hineinzuschauen.“

Ich griff das Frottee fester, ungeachtet der entstehenden Risse. „Nun, dann sag ihm, dass ein lebendiger Mann viel Geld bezahlt, damit er genau das seiner Frau ermöglicht.“

Ein Lächeln huschte über ihre Lippen, erneuerte so den Pakt, der seit zwei Jahren hielt. Sie stellte keine Fragen. Meine Nachtspaziergänge, die Obsession mit meinen Handschuhen, die ich trug, selbst wenn wir bei gelöschtem Licht den Akt vollzogen … Sie nahm alles hin. Und ich ermöglichte ihr eine Ungeheuerlichkeit. Ein Studium der Medizin und dutzende Bücher über Anatomie und Heilkunde, die unsere Eichenschränke füllten und sich auf Tischen stapelten. Einander ertragen und ehren, vielleicht die beste Art und Weise, eine Ehe zu führen.

Ihr Blick veränderte sich. Jenes Glänzen, das sich nur Frauen erschloss. Sie streichelte über ihren Bauch.

„Wann darf ich es sagen? Es ist kaum noch zu verstecken.“

„Noch nicht.“ Ich zuckte unter meinen kalten Worten. Sie verbarg ihr Gesicht hinter ihrem glatten Haar, wie hinter einem schwarzen Vorhang, doch ich sah Enttäuschung hinter ihrer Fassade flimmern.

„Ich verstehe dich nicht. Das hier wird von uns erwartet. Deine Eltern werden …“

Ich hob die Hand. „Lariska. Nicht heute.“ Mein Herz stach. Wie am Tag, als sie es mir beichtete, drängte ich mich an ihr vorbei ins Treppenhaus. Ich wollte ein glückglänzender Vater sein, ja das würde ich mit aller Kraft. Doch nicht mit frischen Bildern von Blut und Tod in meinem Kopf. Sie hielt mich am Ärmel fest.

Keine Frau, die man einfach stehen ließ, meine Lariska.

„Ich rede mit dem Professor.“

„Dann wird er es wohl zulassen, oder? Wenn ein Mann ihn darum bittet.“

„Und der Mann tut es, weil du es verdienst. Weil du klug bist. Klüger als deine Professoren, fürchte ich.“ Ich küsste ihr die Stirn und spürte, wie ihre inneren Wogen sich glätteten.

Acht Uhr morgens. Die Wechems versammelten sich zum Frühstück im Salon. Morgensonne flutete ihn durch die bodenlangen Fenster, die die Kulisse von Martz Oberstadt boten.

Blankpolierte Kupferfronten glühten, Backstein leuchtete und die hohen Bogenfenster der feinen Leute glänzten in zahlreichen Farben. Die Martzer liebten buntes Glas, zumindest die Reichen hier oben. Stein auf Stein, Ebene auf Ebene war die Stadt in die Höhe gewachsen und ein Netz aus Steinbrücken, Holzstegen und wagemutigen Hängebrücken verband Gebäude teile zu einem großen Ganzen. Ein Anblick, der sich mir, seit ich denken konnte, jeden Morgen bot und der mich lächeln ließ. Meine Heimat, bei Tag so ganz anders als bei Nacht und mir darin so ähnlich.

Ein Kronleuchter brach das Licht über einer langen ovalen Tafel mit blütenweißer Tischdecke.

Vater saß am Kopfende. „Brauchst du Zucker, Barril?“, fragte Mutter ihn und stand bereits auf, unfähig sich nicht um alles und jeden zu kümmern.

Mein halbstarker Bruder Bron schlurfte durch die Flügeltür und ich fuhr ihm durch die Haare, dass er ärgerlich den Kopf schüttelte, doch seine Aura umarmte mich warm.

Der kleine Sohn einer Haushälterin stolperte mir gegen die Beine und umklammerte mein Knie. Ein Zahnlückenlächeln strahlte zu mir hoch. Wache Augen, die mehr sahen, vielleicht alles, doch ohne die angemessene Furcht.

Ich streichelte ihm mechanisch über den Kopf.

Wie alle traditionsbewussten Martzer trennten wir zwischen Familie und Angestellten. Sie hatten eigene Räumlichkeiten, eine eigene Küche, einen separaten Eingang. Dennoch. Manche von ihnen dienten den Wechems seit Generationen. Eine Bindung von Vertrauen und Hingabe, die beide Seiten hoch schätzten. Niemand scheuchte die Kinder der Angestellten fort, wenn sie in den Wohnräumen der Wechems spielten. Im Gegenteil, meine Eltern liebten das Kinderlachen wie sonst nichts auf der Welt.

Die alte Köchin Erena stellte gebratenen Reis und süße Teilchen auf den Tisch und riss den Jungen an sich.

„Wie ein Sack Flöhe“, sagte sie grimmig, jedoch mit derselben verdeckten Liebe, wie sie es bei mir früher getan hatte.

„Du brauchst einen Spielkameraden.“ Sie zwinkerte mir zu. Wusste sie es? Es war ihr zuzutrauen.

Durch die weit geöffneten Flügeltüren bemerkte ich Ryn Wan, der heranstürmte. Man sah ihn selten langsam schreiten. Er schwang sich auf das Treppengeländer und rutschte darauf herunter, lachte schallend.

„Obwohl es an Kindereien in diesem Haus offenbar nicht mangelt. Oh Göttereltern.“ Erena zeichnete den heiligen Kreis in die Luft. „Magst du sein, wer du bist, Ryn Wan. Wenn du das Holz zerkratzt, versohle ich dich wie einen Bengel.“

Er lachte noch lauter, lief an Erena vorbei, packte mich, umarmte mich, was ich mühsam ertrug.

Er ragte mir nur bis zum Kinn, was bei Menschen des Inselvolks, den Curass’Kai, nicht unüblich war. Minzgeruch stach mir in der Nase, überdeckte seine Vorliebe für würziges Essen.

„Sil’salqu“, flüsterte er in seiner Sprache, was je nach Betonung Bruder oder Milchgesicht hieß.

Er trug ein Hemd unter dem blau bestickten Mantel, hatte es jedoch nicht für nötig gehalten, dieses zuzuknöpfen, sodass man die schwarz tätowierten Linien auf seiner rostbraunen Haut sah. Seine Augen glänzten unter der Oberlidfalte. Selbst sein milchig blindes Auge war voller Leben, wenn er lachte, der entstellenden Narbe von der Augenbraue bis zur Wange zum Trotz. Ein Mann, den ich bald Bruder nennen musste. Ärger presste mir die Kiefer aufeinander. Akzeptiere, was nicht zu ändern ist.

Sie saßen beieinander und ich bei ihnen. Kein Teil dieser Einheit, in der einer die Sätze des anderen ergänzte, aber ein dankbarer Beobachter.

Mein Blick streifte das unangetastete Gedeck neben Vater.

„Sie fühlt sich nicht wohl, hat keinen guten Tag“, sagte Ryn.

Wann hat sie das je?, dachte ich bitter.

Es stach in der Herzgegend, und doch atmete ich er leichtert ein. Meine Schwester Tarielle zu sehen, bedeutete mit anzusehen, was meine Familie ihr antat und was auch mir drohte, wenn herauskam, dass der Fluch nicht nur bei ihr zutage trat.

Bei wem wohl sonst noch? Als junger Mann hatte ich heimliche Listen geführt mit all den Verwandten, über die meine Eltern sich totschwiegen. Eine Tante väterlicherseits, ein Vorfahre, dessen Name aus dem Stammbaum gekratzt worden war, ein Urgroßonkel, der sein Leben in der Nervenheilanstalt fristete. Selbst über meine Großmutter verlor mein Vater nicht viele Worte. Ich hatte sie nie kennengelernt. Doch was nutzte mir eine Liste mit Namen, die für meine Eltern nicht mehr zu existieren schienen? Würdet ihr es mit mir genauso halten?

Meine kühle Lariska witzelte mit meiner Mutter über die anstehende Hochzeit.

„Nichts mit Dornen. Das wäre noch in Jahrzehnten Stadtgespräch.“ Mutter lachte unsicher. So glockenhell.

Vater unterhielt sich ernst mit Bron und Ryn über die Neuigkeiten der Stadt.

„Letztes Jahr zu nass, dieses Jahr zu trocken. Ein Jammer.“

Und ich war da. Nicht mehr. Nicht weniger.

Ich aß schweigend und nickend eine Pastete und trank meinen Kaffee schwarz.

Ich hatte gerade zu sitzen. Ich hatte darüber zu schweigen, dass ich meine Frau studieren ließ. Ich hatte darüber zu schweigen, dass der Platz meiner Schwester wie so oft leer blieb. Ich hatte darüber zu schweigen, warum ich nach wie vor keine Uhren am Hauptmarkt verkaufte.

„Gut“, hatte ich zu antworten, wenn Mutter fragte, wie es mir ging, wie ich geschlafen hatte. Und doch: Bei ihnen zu sein, sie um mich herum zu spüren, und das bis zum Ende meiner Tage – ich hätte alles dafür gegeben.

Etwas traf mich am Kopf und ein Stück Würfelzucker landete in meinem Schoß.

„Ob du heute Abend mitkommst, hab ich gefragt.“ Ryn grinste mir zu und Bron lachte unter Vaters strengem Blick.

Ich setzte zu einer verärgerten Antwort an, doch die Tür glocke kam mir zuvor.

Parrel, unser Hauswart, öffnete, ich hörte seine Stimme im Flur. Ryns Vater, Loy Wan, schritt in den Salon. Sein blauer Seidenkaftan raschelte, sein Bart war wie üblich zu einem geflochtenen Zopf frisiert. Er beäugte die Frühstücksgesellschaft, wie ein Herrscher, der seine Untertanen musterte. Doch nur seine Begleitung, eine dunkelhäutige Ginkori namens Makka Schallin, unterwarf sich dem wirklich. Sie lief zwei Schritte hinter ihm, nahm auf einem Hocker in der Ecke Platz und senkte den Blick.

Ich atmete steif. Ein Ratsmitglied stach dem anderen kein Auge aus, doch dass Vater sowas duldete, war für mich nicht zu begreifen. Die alte Erena seufzte verächtlich und brachte der Dame eine Tasse Tee. Unsere Erena.

Vater stand auf, begrüßte Loy Wan mit einem kräftigen Händedruck und deutete auf Tarielles Platz.

„Setz dich.“

Ryn neigte den Kopf zum Gruß, als sein Vater sich neben ihn setzte. Mutter goss ihm eine Tasse Tee ein.

„Was führt dich so früh her?“, fragte Vater, ebenfalls wieder an seinem Platz.

„Ich war in der Gegend.“

„Zufällig?“

„Zufälle gibt es nicht. Wachtmeister Olf hielt es für notwendig, mich noch vor Sonnenaufgang zu wecken.“

„Olf …“ Vater seufzte und hob die Hände, als würde er ein Stoßgebet zu den Göttereltern schicken. „Olf soll sich an die Ratssprechstunde halten.“

„Er hält die Sicherheit der Stadt für die oberste Priorität. Weit über der verdienten Nachtruhe der Ratsmitglieder.“ Loy Wan lachte kurz auf. Ein seltenes Erlebnis. „Aber Olf hat nicht unrecht, leider. Ich werde im Rat um mehr Wachen für die Unterstadt bitten. Sie müssen präsenter sein.“

„Was ist passiert?“ Vater versteifte sich.

„Zu vieles in den letzten Wochen. Noch heute Morgen fanden Kinder der neunten Ebene eine tote Frau, eingewickelt in eine blutgetränkte Decke. Viel Blut, wenn auch nicht ihrs.“

Das Gesicht der Frau von heute Nacht blitzte vor mir auf, ihre leeren Augen. Könnte es sie sein? Ausgerechnet Kinder … In mir brach mein Gerüst, doch die Fassade blieb stehen. Wenn sie meine Taschenuhr gefunden hatten, war es aus. Wo hab ich sie verloren?

„Kennt man die Frau?“, fragte Mutter und tastete nach Vaters Hand.

„Man weiß noch nicht, wer sie ist. Ein Tier hat sich an ihr genährt. An ihrem Gesicht.“

Ein Raunen ging durch die Reihen. Lariska ließ die gefüllte Gabel zurück auf den Teller sinken.

„Loy, ich frühstücke hier, mit meiner Frau und meinen Kindern“, sagte Vater bestimmt und rückte seine Brille zurecht, wie er es immer tat, bevor er streng redete.

Loy atmete tief, nickte dann in Mutters Richtung. „Ich bitte um Verzeihung.“ Doch der Blick, den er über uns alle wandern ließ, schien vielmehr eine Entschuldigung von uns einzufordern. Dafür, dass wir den Raum nicht verließen, wenn die Mächtigen miteinander sprachen. Dann fiel sein Blick auf die Standuhr am Ausgang.

„Wir sollten die Testung vorziehen.“

Nein! Ich verkrampfte mich. Zu meiner Erleichterung schüttelte Vater den Kopf.

„Heute Nachmittag, wie üblich. Olf ist gut für die Stadt, aber er braucht Grenzen. Befeuerst du seine Paranoia, werden wir bald keine ruhige Nacht mehr haben.“

„Ich bin jetzt hier und mein Tag wird geschäftig. Ich brauche einige Stunden Ruhe heute Nachmittag.“

Vater seufzte und nickte. „Dann machen wir keine große Sache daraus.“

Zustimmendes Nicken und Murmeln.

Oh nein …

„Das war dann wohl unser Frühstück“, seufzte Mutter und rief nach Erena. Der Tisch wurde abgeräumt und ein Botenjunge zu der Metzgerei an der Straßenecke geschickt. Keine fünf Minuten brauchte er.

„Es …“ Ich schluckte. „Es geht nicht. Ich habe Termine, ein Auftraggeber.“

Vaters strenger Blick durchbohrte mich.

„Es braucht doch nicht lang.“ Ryn verteilte vier Schnapsgläser, an meine Eltern, Bron und mich, und füllte das erste mit dem frisch eingetroffenen Rinderblut. Ich hörte es aus der Metallkanne in das Glas plätschern, sah einen tiefroten Tropfen am Glas herunterlaufen und wie die Fasern der Tischdecke ihn aufsogen.

Das ist falsch, nicht, was du brauchst. Dennoch … Was soll ich tun?

Mutter hob das Pinnchen angewidert zum Mund. Ryn hielt ihre Hand fest.

„Wenn du nicht willst … du musst nicht. Ich fürchte, es ist sehr sicher die Seite deines Mannes.“

„Ich bin eine Wechem“, sagte sie und kippte den Inhalt tapfer herunter.

„Ryn bald auch“, bemerkte Bron und Ryn lachte, während er seine Arzttasche auf den Tisch stellte und darin wühlte.

„Ja, und da freue ich mich sehr drauf.“ Er kontrollierte Mutters Zähne, ihre Augen, legte ein Stethoskop auf ihr Herz und schrieb Notizen in sein Buch. Ich krallte die Hände in die Knie, kämpfte das Brodeln in mir nieder.

Der Test. Der Kompromiss.

Die Wans bewiesen dem Rat einmal wöchentlich, dass die Wechems Menschen waren und blieben. Dass sie es wert waren, geduldet zu werden trotz dieser Erbkrankheit, oder wie immer sie sich Tarielles Zustand auch erklärten. Etwas, das wir laut Vater erdulden mussten, um einem Generalverdacht zu entgehen.

Als ob das hilft. Mir reichte ein Spaziergang durch die Straßen, um das Misstrauen der Menschen zu spüren, auch wenn keiner von ihnen es uns ins Gesicht sagte.

Nun, ich würde ihnen Gesprächsstoff liefern, wenn ich jetzt nichts tat.

Das Blut plätscherte in mein Pinnchen und fesselte meinen Blick. Der Geruch schlug mir in die Nase. Ich hielt die Luft an, doch spürte bereits die geschärften Zähne an meiner Unterlippe.

Ich schaff das nicht. Das hier endet schlimm.

Ich zuckte, als Ryn mir in die Schulter kniff, traf den fordernden Blick des Curass’Kai.

„Ich kann nicht, Ryn. Mir ist nicht gut“, presste ich hervor. „Später! Bitte später.“

Ich hielt mir die Hand vor den Mund, als müsste ich mich übergeben, sprang auf, rannte aus dem Raum, die Treppe hoch und schloss mich in meiner Küche ein.

Bleib ruhig, konzentrier dich. Ich wusste, dass es damit nicht getan war. Ryn hätte es vielleicht gut sein lassen für jetzt, aber sein Vater? Nein.

Mit einem Küchenmesser stemmte ich jene Diele hoch, unter der ich all die Tiegel und Dosen versteckte. Unter heftigem Türklopfen und Rufen kaute ich jene Tee blätter, die mein Herz schneller schlagen ließen. Ich kauerte mich auf einen der Holzstühle und kürzte meine Fingernägel, tauchte sie in milchige Flüssigkeit, die sie aufraute, puderte meine Hände ab, um das Gift darauf zu trocknen. Ich brach eine Glasampulle, tröpfelte mir den Inhalt in die Augen. Es brannte und ich setzte einen getönten Zwicker auf, da jeder Funke Licht mir wie glühende Nadeln in den Kopf stach.

Etwas Zeit gewinnen. Ich setzte mich auf den Boden, das kühle Holz der Tür im Rücken.

„Du sturer Hund! Dummer sturer Hund!“, schimpfte Ryn auf der anderen Seite. „Ich versteh dich einfach nicht!“

Panik vibrierte in meinen Zellen. Das Klopfen dröhnte mir in den Ohren und im Raum über mir klopfte ein Herz viel zu langsam. Mein Schwesterherz, von ihrem ach so feinen Verlobten sediert, weil an ihr öffentlich wurde, was ich versteckte.

„Ich kann nicht, Ryn. Mir ist speiübel. Und mein Kopf schmerzt. Meine Augen stechen. Du kannst das jetzt nicht tun“, sagte ich, jedes Wort harte Arbeit.

„Bron hat’s getrunken, als er im Fieber lag. Kipp es runter und gut!“

„Nein!“ Ich klang aggressiver als gewollt und versuchte, meinen Atem zu beruhigen. Ich hörte Stimmen murmeln. Sein Vater war bei ihm. Natürlich.

„Wir wollen euch helfen!“, rief Ryn.

„So wie Tarielle?“

„Ich hab sie gerettet.“

„Gerettet? Vorgeführt hast du sie!“ Ich sah sie wieder zusammengesunken im Rollstuhl, vor einem Tribunal aus Doktorvätern und Kommilitonen. Gaffer, argwöhnischen Blickes auf Gehstöcke gestützt. Tarielle unter strenger Beobachtung, wie ein sediertes Tier, auf das Ryn voller Inbrunst zeigte: „Seht die Haut, die Hände, die Zähne …“ Und prahlend hielt er das kleine braune Fläschchen in die Höhe. Opiti. Opium für den Tiger. Die Lösung. Applaus!

„Ich verteidige sie! Ich heirate sie sogar! Was soll ich denn mehr tun?“

„Du liebst sie nicht.“

„Ich liebe euch!“

„Du liebst unseren Namen!“

„Mach die Tür auf, Zavin!“

Furcht schnitt mir in die Brust. Ryns Stimme hatte den Klang eines Mannes, der die Faust bereits hob, um gleich zuzuschlagen. Das war nicht gut. Sie werden es merken. Heute merken sie es und spritzen dich ins Nichts.

Es gab mehr als einen Schlüssel. Ich wich vor dem Klacken zurück, wappnete mich in der Mitte des Raums.

Die Tür flog auf. Ryn hob mir mein Pinnchen Rinderblut entgegen, die Lippen wütend zusammengepresst.

Sein Vater blickte streng über seine Schulter, zwirbelte sich den langen geflochtenen Bart. Ich rührte mich nicht, hielt Ryns verärgerten Blick. Flucht, rief es in mir. Aber wohin?

„Füge dich, Zavin, es passiert so oder so“, sagte Loy Wan.

Nur noch ein paar Minuten, bis der Tee wirkt, bis die Augen sich beruhigen. Ich musste es hinauszögern, nur ein wenig noch.

„Zavin, Schluss jetzt. Bitte!“

Ich blickte Ryn hart an, nahm den Zwicker ab, legte ihn auf die Tischplatte hinter mir und schloss die geblendeten Augen.

Es ist zu früh, sie werden es sehen, dachte ich, spannte jeden Muskel an und rannte los.

Ryn wich meinen abwehrenden Armen aus, umschlang mich von hinten und ließ mich in den Raum zurücktaumeln. Das Pinnchen rollte über die Dielen, verteilte das Blut auf dem Boden.

Ryn wühlte in seiner Tasche, packte mich, zwang meine Arme auf den Rücken, Handschellen klickten. Er war kleiner als ich, doch seine Hände glichen zwei Schraubzwingen. Ich hielt dagegen, mit aller Kraft.

„Verdammt nochmal!“, keuchte mir Ryn ins Ohr.

Er griff mir grob ins Haar und drückte seinen Fuß in meine Kniekehlen. Ich fiel auf die Knie. Er nahm mich von hinten in den Schwitzkasten. Loy Wan trat vor mich mit einem frisch gefüllten Pinnchen. Eine Glaskante legte sich an meine Lippen. Ryns Finger drückten mir den Kiefer auf. Blut floss mir auf die Zunge, tot und kalt. Würgen. Strampeln, eingeklemmt wie zwischen Schraubstöcken. Halt die Zähne zurück, halt sie zurück!

Ryn ließ von mir ab und ich keuchte nach Luft. Ich murmelte leise und mein Herz schlug zu laut, während er mich untersuchte wie eins seiner Lehrobjekte. Wie einen seiner toten Körper. Proben, Abstriche, Finger in meinem Mund, an meinem Augenlid, Hände auf meiner Haut. Warm, schwitzige Hände.

Lass mich in Ruhe!, dachte ich, meine innere Stimme so jung.

Es ist aus.

Ich fiel auf den Boden, blieb liegen.

„Ich will euch doch nur helfen … Du hast es nicht“, sagte Ryn leise. „So viel affiger Kampf für nichts.“ Er tätschelte mir sanft den Hinterkopf und löste die Handschellen. Ich ignorierte die Hand, die er mir reichte.

Schritte. Dann Ruhe. Ich blieb erschöpft liegen, brauchte Zeit, meinem Körper zu erklären, dass er die Anspannung lösen konnte, dass die Jäger weg waren und ich sicher in meiner Höhle lag.

Ein feuchtwarmer Lappen legte sich auf mein Gesicht, wusch es ab. Erena zog mich auf die Beine, schimpfte dabei.

„Abergläubisch wie meine Urgroßmutter, dieses ganze Martzer Pack.“ Ein Engel war sie. Ein greiser, fluchender Engel.

Sie klopfte mir die Hosenbeine ab, richtete mir den Kragen, griff dann in ihre Schürze und steckte mir einen Haferkeks in die Westentasche. „Wenn nichts hilft, dann iss den Keks, Junge. Ein Keks bleibt süß, egal wie bitter das Leben spielt.“

Ich küsste ihre Stirn und genoss die grimmige Rührung in ihren Augen. Der alte Wan kam dazu, der Blick finster, die Augen in tiefen Schatten. Auf eine Anrichte stellte er drei blutverschmierte Schnapsgläser zwischen geklöppelte Spitzendeckchen. Mein Pinnchen fehlte.

„Ich weiß“, sagte ich resigniert. Ein Wechem hatte dieses Theater nicht zu veranstalten. Ein Wechem hatte sich würdevoll dem Test zu unterziehen. Ich blieb vor ihm stehen, bereit sein Schweigen zu ertragen, so lange er es für nötig hielt.

Loy Wans strenger Blick hielt selbst Erena ruhig. Sie flüchtete mürrisch murmelnd, nahm im Vorbeigehen die drei Schnapsgläser mit.

Er setzte sich an meinen Küchentisch, ich blieb stehen.

„Junger Wechem, was tust du dir an?“, fragte er kalt, die Hände vor dem Bauch gefaltet.

„Ich seh es nur nicht ein. Ihr kennt mich von klein auf und trotzdem traut ihr mir diese Dinge zu?“

„Ihr müsst nicht uns überzeugen. Der Rat muss sicher sein, dass dein Vater, Bron und du Männer wie sie seid, gestraft mit einer seltenen Anomalie. Gesunde Männer, die ein krankes Mädchen pflegen und kein Monster. Mit allem, was ihr tut, müsst ihr das beweisen. Wir können euch nicht helfen, wenn du ein solches Theater veranstaltest, immer wieder. Oder glaubst du, die Angestellten schweigen darüber, wenn sie ihresgleichen am Markt treffen? Es ist gefährlich. Verstehst du das?“

Ich nickte langsam.

„Du begleitest Ryn heute Abend. Ihr werdet gewöhnliche Dinge tun und das möglichst vielen Martzern zeigen.“

Er hielt meinen Blick, wie nur er es konnte mit seinen dunkel glänzenden Augen, und drängte jeden Widerstand in mir nieder. Ich war schuld an der Testung, an erneuten argwöhnischen Blicken auf meine Schwester, auf meine gesamte Familie und an der Enttäuschung in diesem Haus, die hart gegen mich brandete. Und was tat ich? Ein weiteres Leben zeugen und eine Frau um das ihre bringen. Es war nicht fair, all meine Wut gegen Loy Wan und Ryn zu richten, wo ich sie doch stets zum Handeln zwang.

Ich nickte, ging schweigend in mein Schlafzimmer, schloss die Fensterläden und atmete tief die dunkle Ruhe ein.

Sie

Komm an Geld. Egal wie.

Am Vorabend hatte Nera mich abgefangen, mir einen Tee gekocht, mir Geld in die Hand gedrückt, um mich vor Mockeleis Schelte zu bewahren. Eine Schelte, nach der einem nicht selten das Gesicht pochte. Ich bot ihr die Taschenuhr an als Dank, doch sie ließ sie erschrocken in meinen Schoß fallen.

„Einen Wechem beklaut? Bei der großen Mutter, Coppa! Lass Mockelei das ja nicht sehen, hörst du? Am besten wirfst du sie weg.“

Damit hatte sie wohl recht. Ich sog ihren besorgten Blick auf und umarmte sie dankbar, bevor ich ins Bett verschwand. Die anderen zeigten sich weniger gütig.

Mitten in der Nacht packten mich zarte Hände, rissen mir die Decke weg. Ich schlug um mich, trat zu, doch der Schwarm giggelnder Vögel zerrte mich ins Bad.

Aber warum denn? Bitte, lasst mich! Kein Ton verließ meinen Mund.

Mein Nachthemd knackte und riss. Sie hoben mich hoch und ich krächzte, als eisiges Wasser über mir zusammenschlug. Ein Meer beißender kleiner Nadeln auf meiner Haut und tief in mir drin. Hustend tauchte ich auf, tastete nach dem Wannenrand. Sie hielten mich fest, lachten gedämpft, drückten mich nochmals unter Wasser und flohen, bevor sie Mockelei weckten.

Ich zog den Stöpsel, umklammerte mich zitternd und kämpfte mit den Tränen, wollte sie ihnen nicht gönnen. Ich kann nicht mehr.

Eine Decke weckte mich, zusammengekauert lag ich neben der Wanne und Nera half mir auf die Beine, zog mir die Wolle eng um den Körper.

„Wir sind nicht alle so, kleine Frau, nicht alle.“

Ich blickte auf den Boden, während ich Nera schlurfend in die Wohnstube folgte, um die anderen Frauen dort nicht sehen zu müssen. Das giggelnde Tuscheln zu hören reichte mir. Weitere Mädchen im Flur wendeten den Blick ab oder verschwanden in ihre Zimmer. Jede hatte zu große Päckchen zu tragen, wollte sich keine weiteren aufladen.

Nera führte mich in ihre Kammer, setzte mich vor ihren Spiegelschrank, kämmte mir die wilden Locken und ich genoss ihre kühlen schlanken Finger auf meiner Kopfhaut, während sie mich frisierte.

Warum bist du nett zu mir?

„Man muss an Geld kommen. Komme, was wolle“, sagte sie und zog vorne eine Strähne aus meiner Hochsteckfrisur, damit sie mir neckisch über die Wange fiel. Sie konnte so weich und ehrlich lächeln, wie die reinste Unschuld.

„Und denk nicht dran wegzulaufen, kleine stumme Frau.“ Rekine, ihre Zimmergenossin, drängte sich neben mich und puderte sich die Nase. War sie letzte Nacht dabei gewesen? Nera sicher nicht.

„Ich fürchte, Marnia war so dumm. Ist gestern nicht heimgekommen … Spätestens heut Abend haben sie sie. Weißt du, was er mit Mädchen macht, die weglaufen?“

„Reki!“ Ein strenger Blick von Nera.

„Nein, lass mich das erzählen.“ Rekine drehte mich zu sich, griff mich sanft bei den Schultern. „Beim ersten Mal bricht er ihnen den kleinen Finger. Versucht mans dann nochmal, schneidet er ihn ab und alle Mädchen müssen zusehen. Glaub mir, keine von uns will das.“

Ich schluckte.

„Es gibt auch keinen Grund wegzulaufen“, sagte Nera streng. „Man muss nur klug sein. Kein kluges Mädchen macht im Vogelhaus mehr die Beine breit.“

Sie zog die kleine Schublade des Schminktisches auf und ließ die Finger über allerlei Glänzendes darin wandern. Uhren, Ringe, Münzen, Scheine … Bei einem Silberkästchen verharrte sie und stupste den Deckel auf. Ich starrte auf die kruseligen Blätter darin und meine Hände umkrallten meine Ellenbogen.

„Kluge Mädchen bekommen, was ihnen zusteht“, flüsterte Nera mir ins Ohr, so neckisch. „Feißwurz. Hab es selbst gesammelt vor der Stadt. Auf totem Holz wächst es wie Unkraut.“

Ich riss die Augen auf, übertrieben erschrocken, damit sie es verstand, und fuhr mir mit dem Zeigefinger an der Kehle entlang. Nera lachte.

„Aber nein. Mockelei will nicht, dass wirs nehmen, erzählt uns Schauergeschichten. Es tötet, wenn man dumm ist, aber das bist du nicht.“ Sie zupfte mir an einer lockigen Strähne.

„Sieh her.“ Sie griff ein Buttermesser neben der Schatulle. „Messers Spitze bringt den Rausch, Messers Schneide bringt den Schlaf, Messers Klinge bringt den Tod. Gar nicht schwer.“

Rekine legte mir eine Hand auf die Schulter und ich fuhr zu ihr herum.

„Hey, das ist in Ordnung, Coppa. Das ist fast Gerechtigkeit. Die kommen von außerhalb, nur um hier Frauen ihr Ding reinzustecken. Und wenn solche Kerle keine Weiber wie uns finden, dann nehmen sie sich eine andere. Das ist Notwehr, mehr nicht. Wir tuns für alle Frauen, die noch glücklich sind.“

„Du musst nichts Großes machen. Sie schlafen friedlicher ein, als sie es verdient hätten, und uns passiert nichts, das ist sicher. Du bekommst Münzen und Schmuck und wir kümmern uns um den Rest. Wer’s überlebt, erwacht im Sumpf. Keiner verräts, keiner erfährts.“ Nera knuffte mir in die freie Schulter und dann kicherten die Frauen, als ginge es um einen neckischen Streich, und ich saß elend da und nickte langsam.

Das Herbergszimmer zierten zarte Blumenmuster, und die Betten mit den luftigen Vorhängen luden zum Spielen ein. Nur zwei Öllampen spendeten Licht und tauchten uns in Heimlichkeit. Ein Junge brachte Wein und Brot und Nera kicherte betrunken, obwohl sie es nicht war.

Mir stieg die Galle hoch. Die zwei Freier hatten nur Augen für den rostroten Fuchs und den blonden Engel, aber darauf hatten sie ja gesetzt.

Nera giggelte mit dem Jüngeren am Fenster. Er zeigte hinaus und erzählte von seinem Anwesen tief in den witarischen Wäldern. Rekine presste den Glatzkopf mit wilden Küssen in die Matratze, warf mir ungeduldige Seitenblicke zu. Mir schwindelte. Mach schon. Ich zog das kleine Beutelchen aus einer Rocktasche, entkorkte eine weitere Flasche Wein und füllte die Gläser der Männer auf.

Diese Tölpel bemerkten nicht, wie ich das zerstampfte Kraut hineinrieseln ließ. Meine Hände zitterten. Wie viel war eine Messerspitze? Wie viel passte auf die Schneide? Ich hatte es ausprobiert, aber …

Nicht fühlen, nicht denken, betete ich mir vor, während ich eines der Gläser auf den Nachttisch stellte und dem Jüngeren das zweite entgegenhielt. Mein Arm zitterte.

Er lehnte ab. So treudoofe Augen. Höflich hatten sie uns eingeladen, uns die Türen aufgehalten. Der Glatzkopf hatte aufgelacht. „Stadtmädchen! Meine Güte!“

Sind sie wirklich dafür hergekommen?

Nera riss mir das Glas weg.

„Ein Schlückchen süßer Wein, das schadet doch nicht.“ Sie setzte es an und füllte den Mund, ohne zu schlucken. Dann griff sie den jungen Mann am Kragen, näherte sich seinen Lippen.

Ich hab zu viel genommen. Sicher viel zu viel.

„Prost, mein Junge!“, hörte ich den Glatzkopf hinter mir rufen und lachen.

Ich war eine Sünderin, ohne Frage. Hier und da ein neckischer Diebstahl, ja, das liebte ich. Genugtuung. Doch das hier …

Nein! Ich riss Nera zurück und sie prustete den Wein auf den Teppich. Ich fuhr herum, sprang auf das Bett, schlug dem Glatzkopf das Glas aus der Hand. Irritiert starrte er mich an, schob Rekine von sich. Er hob eine Scherbe vom Boden auf und roch daran.

„Feißwurz“, flüsterte er und seine Augen verkniffen sich zu Schlitzen. „Vergiften wollten sie uns!“

Der Junge zog einen Dolch, keuchte. Nera taumelte vor ihm zurück. Sie spuckte vor sich auf den Boden, taumelte von einem Bein auf das andere.

„Ich wusste es nicht!“, klagte sie, die Stimme hilflos und jämmerlich. „Bitte hilf mir.“