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Die Davenports gehören zu den wenigen Schwarzen Familien, die zu Wohlstand und Ansehen gekommen sind. Sie leben in einem Anwesen mit Kristallleuchtern, Dienstboten und großen Festen. Nun werden Olivia und Helen, die beiden Davenport-Töchter, in die Gesellschaft eingeführt. Wie das Dienstmädchen Amy-Rose und die beste Freundin Ruby müssen sie ihren Weg finden. So unterschiedlich sie sind – von Olivia, die ihr Interesse an den politischen Ungerechtigkeiten ihrer Zeit entdeckt, bis zu Helen, der Automobile wichtiger sind als Partys, vom Dienstmädchen Amy-Rose, die ihr eigenes Geschäft eröffnen will, bis zur Träumerin Ruby, deren Familie finanziell ruiniert ist – im Reigen der unerwarteten Liebe treffen sie sich wieder. - Eine Liebes- und Familiengeschichte in der Black Community der Jahrhundertwende - Verbindet Romantik mit einem Blick auf damalige Gesellschaftsstrukturen »Mit schillernden Beschreibungen und rasantem Tempo entführt Krystal Marquis die Leser und Leserinnen in eine Welt voller Glamour. Durch Prüfung, Niederlage, Trotz und Triumph beweisen die Charaktere Herz und Tiefe. ›Die Davenports‹ ist eine frische, absolut bezaubernde Lektüre und eine dringend benötigte Ergänzung zum zeitgenössischen Kanon der Schwarzen Literatur.« Ayana Gray, New York Times Bestsellerautorin
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Seitenzahl: 548
Chicago 1910.
Die Davenports gehören zu den wenigen Schwarzen Familien, die aus Armut und Sklaverei zu Wohlstand und Ansehen gekommen sind. Aufgewachsen in einem Anwesen mit Kristallleuchtern, Dienstboten und großen Festen, werden Olivia und Helen, die beiden Davenport-Töchter, nun in die Gesellschaft eingeführt. Helen kann sich nicht vorstellen zu heiraten und möchte lieber das Kutschenunternehmen ihres Vaters modernisieren, doch dann lässt die Anwesenheit eines bestimmten Gentleman auch ihr Herz schneller schlagen. Nur ist das ausgerechnet der Kandidat, den ihre Eltern für ihre Schwester Olivia ausgesucht haben …
Genau wie das Dienstmädchen Amy-Rose und die beste Freundin Ruby müssen sie trotz der Erwartungen ihrer Familien ihren eigenen Weg finden.
Krystal Marquis
Roman
Für meine Eltern, dafür, dass ihr akzeptiert habt, dass ein Medizinstudium nichts für mich ist.
Eure Liebe, Unterstützung und euer Verzicht haben mich ermutigt, diesen Traum zu verfolgen.
Barton, Harrison: reicher Junggeselle; kürzlich von Louisiana nach Chicago gezogen; Sohn eines weißen Sklavenhalters und einer Schwarzen Sklavin
Booker, Mary: Mitarbeiterin im Gemeindezentrum
Davenport (geb. Smith), Emmeline: Mutter von John, Olivia und Helen; Hausherrin von Freeport Manor
Davenport, Helen Marie: jüngere Schwester von Olivia und John
Davenport, John: älterer Bruder von Olivia und Helen
Davenport, Olivia Elise: Schwester von John und Helen
Davenport, William: Vater von John, Olivia und Helen; Firmengründer der Davenport Carriage Company
Davis, Maude: Freundin der Davenports, vermögende Geschäftsfrau
DeWight, Washington: Junggeselle, Anwalt aus Alabama und politischer Aktivist
Edward: Butler der Davenports
Ethel: Dienstmädchen der Davenports
Greenfield, Louis: Freund von John
Harold: Kutscher der Davenports
Henrietta (Hetty): Dienstmädchen der Davenports
Henry: Zwillingsbruder von Isaac, Mechaniker bei der Davenport Carriage Company
Isaac: Zwillingsbruder von Henry, Mechaniker bei der Davenport Carriage Company
Jessie: Köchin der Davenports
Lawrence, Jacob: reicher Junggeselle aus London; Eigentümer einer Reederei
Leary, Agatha: junge Dame; Bekannte von Ruby und Olivia
Malcolm: Mechaniker bei der Davenport Carriage Company
Margaret: Dienstmädchen der Tremaines
Mrs Milford: Gesellschaftsdame von Helen
Shepherd, Amy-Rose: Dienstmädchen der Davenports; uneheliche Tochter eines weißen Plantagenbesitzers aus Georgia und einer Schwarzen Mutter
Shepherd, Clara: Mutter von Amy-Rose; vor dreizehn Jahren mit ihrer Tochter von der Karibikinsel St. Lucia nach Chicago gekommen, seitdem Dienstmädchen der Davenports bis zu ihrem Tod 1907
Mr Spencer: Besitzer eines Friseurladens
Tommy: Sohn des Kutschers Harold und enger Freund von Amy-Rose
Tremaine, Henry: Vater von Ruby; Besitzer einer Textilfabrik; kandidiert für das Amt des Bürgermeisters von Chicago
Mrs Tremaine: Mutter von Ruby
Tremaine, Ruby: beste Freundin von Olivia
Mrs Woodard: politische Aktivistin
Chicago, 1910
Olivia Elise Davenport zog einen Ballen leuchtend gelben Seidenstoff aus der Auslage und hielt sich ein Stück davon an ihre dunkle Haut. Der helle Stoff, der zwischen den gedeckten Pastelltönen gerade noch zu sehen war, hatte sie sofort gereizt: Als würde die Sonne durch die Wolken brechen.
Sie fragte sich, ob der Farbton für den Beginn der Saison vielleicht zu hell war. In der anderen Hand hielt sie ein Muster perlenbesetzter Spitzenborte und sie stellte sich den Klang vor, den die Borte machen würde, wenn sie beim Tanzen sanft um Olivias Knöchel strich. Und dazu wird es mehr als genug Gelegenheiten geben, dachte sie.
Sofort verspürte sie ein aufgeregtes Flattern in der Brust. Im Anschluss an die Osterfeierlichkeiten begann die Ballsaison mit ihren Kleidern und jeder Menge Champagner. Da Olivia nun offiziell in die Gesellschaft eingeführt worden war, wurde es Zeit für sie, einen Ehemann zu finden. Es war ihre zweite Saison und sie war bereit. Bereit, ihre Pflicht zu erfüllen und ihre Eltern stolz zu machen, so wie sie es schon immer getan hatte.
Das einzige Problem dabei war, einen geeigneten Gentleman zu finden: aus einer passenden Familie stammend, gebildet und dazu bestimmt, ein großes Vermögen zu erben – und noch dazu Schwarz.
Olivia nahm einen tiefen Atemzug und dabei rutschte ihr der gelbe Stoff aus der Hand. Sie wusste, was ihre Mutter dazu sagen würde – nämlich, dass der Farbton viel zu grell sei. Außerdem war sie eigentlich nur in den Laden gekommen, um ein paar umgenähte Kleidungsstücke abzuholen.
»Kann ich Ihnen helfen?«
Die Stimme hinter ihr ließ Olivia zusammenzucken. Sie wandte sich um und sah sich einer jungen Verkäuferin mit gefalteten Händen gegenüber, und obwohl sie Olivia anlächelte, gaben ihre kalten blauen Augen ihre wahre Haltung preis.
»Ich habe nur die Stoffauswahl bewundert.« Olivia drehte sich zu der Auslage breitkrempiger Hüte um und ignorierte den Blick der Verkäuferin, der sich in ihren Rücken bohrte. »Und ich warte auf meine Freundin«, fügte sie hinzu. Wo bleibt Ruby nur? Schließlich war es Olivias beste Freundin gewesen, die darauf bestanden hatte, die Bediensteten mitsamt den Paketen vorauszuschicken und ohne Begleitung bei Marshall Field’s zu stöbern. Und nun war sie unauffindbar.
Die Verkäuferin räusperte sich. »Sie können die Bestellung Ihrer Herrin am Tresen abholen. Ich bringe Sie gern dorthin, falls Sie sich verlaufen haben.«
»Ich weiß, wo der Tresen ist, vielen Dank.« Olivia überhörte die Beleidigung und rang sich ein Lächeln ab. Um sie herum beobachtete ein Meer von bleichen Gesichtern den Wortwechsel mit zunehmender Neugierde. Hinter sich hörte sie jemanden kichern.
Sie dachte an die Worte ihrer Mutter: Zeige stets Größe. Denn ihre Familie war etwas Besonderes. Wohlhabend. Schön. Schwarz. Ruby trug ihren Reichtum wie eine Rüstung, meist in Form von Schmuck und Pelzen. Olivia zog das dezentere Auftreten ihrer Mutter vor.
Gute Manieren reichten heute jedoch nicht aus, ihre Schönheit schützte sie nicht. Alles, was die junge Verkäuferin wahrnahm, war Olivias Hautfarbe. Sie richtete sich zur vollen Länge auf. Dann deutete sie auf die größte, mit Edelsteinen versetzte Brosche in der Auslage vor ihr. »Packen Sie mir die bitte ein. Und diesen Hut nehme ich auch mit, für meine Schwester. Sonst ist sie wieder verärgert, wenn sie leer ausgeht«, sagte sie verschwörerisch an die anderen Kunden gewandt – obwohl sie wusste, dass Helen eine Zange als Mitbringsel viel lieber gewesen wäre. Langsam schritt Olivia weiter durch den Verkaufsraum. »Diese Handschuhe.« Nachdenklich fasste sie sich ans Kinn. »Fünf Meter von dem gelben Seidenstoff …«
»Entschuldigen Sie –«
»Miss«, warf Olivia ein.
Die Verkäuferin errötete.
Gut, dachte Olivia, jetzt weiß sie, dass sie einen Fehler gemacht hat.
»Miss«, schnaubte die Verkäuferin verärgert. Sie schien allmählich mit den Nerven am Ende zu sein. »Was Sie da ausgewählt haben, ist alles ziemlich teuer.«
»Tja«, erwiderte Olivia, diesmal ohne jeden spielerischen Tonfall in der Stimme, »ich habe eben einen teuren Geschmack. Stellen Sie es bitte meiner Familie in Rechnung.« Sie warf der Verkäuferin einen scharfen Blick zu. »Der Name ist Davenport.«
Schwarze Kunden, die weiße Angestellte in einem Kaufhaus herumkommandierten, gab es nicht viele. Doch der Name Davenport war bestens bekannt – dafür hatten die harte Arbeit ihres Vaters und die Entschlossenheit ihrer Mutter gesorgt. Inzwischen war der Name so machtvoll, dass Olivias Vater Zugang zu fast allen elitären Clubs Chicagos erhielt, ihre Mutter in den meisten Wohltätigkeitsausschüssen saß und ihr Bruder die Universität besuchte. Chicago mochte zwar im Norden Amerikas ein Leuchtfeuer sein, weil hier viele Unternehmen Schwarzer – wegen der Gesetzesbestimmungen, die nach dem Sezessionskrieg und während des Wiederaufbaus erlassen worden waren – wachsen und gedeihen konnten. Allerdings kam es trotzdem immer wieder vor, dass sie auf so schmerzliche Weise an ihre Hautfarbe erinnert wurde – und jedes Mal erwischte es Olivia vollkommen unvorbereitet.
Eine ältere Verkäuferin mit mehr Anstand trat aus der Menge hervor. »Ich bin Ihnen gern behilflich, Miss Davenport. Eliza, du kannst jetzt gehen«, fügte sie an die unfreundliche junge Frau gewandt hinzu. Olivia erkannte in der zweiten Verkäuferin die Angestellte des Kaufhauses, die sonst immer ihre Mutter bediente. »Wie geht es Ihnen, meine Liebe?«
Olivias Ärger legte sich, als sie der älteren Verkäuferin dabei zusah, wie sie umherhuschte und Dinge in Papier einschlug. Olivia wusste, dass sie zu empfindlich reagiert hatte. Alles in allem führte sie ein privilegiertes Leben. Kurz überlegte sie, die Einkäufe zurückzunehmen, darum zu bitten, alles wieder an seinen Platz zu legen, doch sie spürte, dass die junge Verkäuferin sie noch immer von Weitem beobachtete. Und Stolz war auch etwas, das bei den Davenports im Überfluss vorhanden war.
Endlich betrat Ruby das Geschäft. Olivia war erleichtert, ihre Freundin zu sehen und nicht mehr die einzige Schwarze Person auf weiter Flur zu sein.
Rubys Wangen waren gerötet und ihre Augen hoben sich funkelnd von ihrem dunklen Teint ab. »Hier soll es einen Tumult gegeben haben«, sagte sie mit einem Grinsen im Gesicht. »Was ist passiert?«
Harold, der Kutscher, lenkte das Gefährt von Marshall Field’s in den Verkehr auf der State Street. Es war später Nachmittag an einem der ersten Frühlingstage und in Chicago herrschte geschäftiges Treiben. Von Säulen eingerahmte Restaurants befanden sich Seite an Seite mit Ziegel- und Glasfabriken, die menschengemachte Wolken in den Himmel bliesen. Das Bimmeln der Straßenbahnen konkurrierte mit dem Hupen motorisierter Autos. Männer in Tweedanzügen eilten an rufenden Zeitungsleuten vorbei. Die Straßen waren voller Menschen aller Art, als Olivia aus dem Fenster der Kutsche sah. Es war eine von vielen, die ihre Familie besaß, überdacht und luxuriös ausgestattet mit einem mit Seide gefütterten Vordach.
»Ach, Olivia.« Ruby ergriff ihre Hand. »Dieses Mädchen wusste ganz genau, dass dein Kleid mehr kostet, als sie in einem Monat verdient. Da sprach ganz klar die Eifersucht aus ihr.«
Olivia versuchte sich an einem Lächeln und faltete die Hände erneut in ihrem Schoß. Ihre Freundin hatte bestimmt recht damit, aber das war bei Weitem nicht der alleinige Grund für dieses Verhalten gewesen. Die Verkäuferin hatte Olivia angesehen, als wäre sie eine Diebin. Eine Hochstaplerin. Jemand Minderwertiges.
Olivia würde sich nie an solche Blicke gewöhnen.
Neben ihr begutachtete Ruby das Fuchsfell der Handschuhe, die Olivia während ihres Einkaufsbummels gekauft hatte. »Behalte sie«, sagte Olivia. Eine Sache weniger, die sie an diese Szene erinnerte.
Ruby zog die Handschuhe an, hielt sich beide Hände an die Wangen und warf sich in Pose. Dann wackelte sie mit den Augenbrauen und streckte die Zunge raus, bis Olivia ihr ein echtes Lächeln schenkte und beide einen Lachanfall bekamen.
Harold hielt kurz an einer Straßenkreuzung an. Weiter geradeaus verlief die Straße nach Norden, wo Chicagos reichste und wohlhabendste Anwohner lebten. Dort waren die Davenports beheimatet.
»Ach übrigens«, sagte Ruby. »Habe ich mir das nur eingebildet oder kam Helen letztens tatsächlich von oben bis unten mit Öl beschmiert aus eurer Werkstatt?« Sie unterdrückte ein erneutes Lachen.
Olivia verdrehte die Augen. Ihre kleine Schwester war fest entschlossen, sich so wenig heiratsfähig wie möglich zu geben. »Sie sollte sich besser vorsehen. Wenn Daddy das mitkriegt, bekommt er einen Anfall.«
Als sie noch Kinder waren, hatten Olivia und Helen sich nahegestanden. Zusammen mit ihrem Dienstmädchen Amy-Rose und später mit Ruby hatten sie das Gelände des Familienanwesens zu ihrem eigenen Königreich erklärt. Immer wieder entwischten sie ihrer Gouvernante und verbrachten Stunden in den Gärten. Aber als im vergangenen Frühling Olivias Einführung in die Gesellschaft näher rückte, ließ sie all diese kindischen Dinge hinter sich, in der Hoffnung, Helen würde ihrem Beispiel folgen. Doch stattdessen schien es, als steuerte ihre Schwester in genau die entgegengesetzte Richtung.
Während Harold die Kutsche durch das Tor des Freeport Manor dirigierte, konnte Olivia sich kein schöneres Willkommen nach einem langen Tag vorstellen. Der Herrensitz der Davenports befand sich am Rande einer der elitärsten Nachbarschaften Chicagos, wobei ihr Anwesen die umliegenden klein erscheinen ließ. Als Olivia noch jünger war, hatte sie geglaubt, das läge am Geld ihrer Familie. Später wurde ihr klar, dass der Grund ein anderer war: Niemand wollte Land kaufen, das an das Anwesen einer Schwarzen Familie grenzte. Das Gelände umfasste mehrere Morgen an Gärten, Ställen und Feldern für die Pferde. Der neuste Zuwachs war eine Werkstatt für die Reparatur der Davenport’schen Kutschen und Automobile, die ihr Bruder John anschleppte.
Die Davenport Carriage Company war ein Wagnis gewesen, das Olivias Vater viele Jahre zuvor eingegangen war. Als junger Mann war er der Versklavung entkommen und hatte sich auf die gefährliche Reise gen Norden begeben, wo Schwarze eine Chance auf so etwas wie Frieden hatten. Er träumte davon, Pferdekutschen mit einer so luxuriösen Ausstattung zu entwickeln, dass sie mehr als nur ein Fortbewegungsmittel waren. Und er hatte Erfolg. Kurz nachdem man ihn in der Werkstatt, in der er damals angestellt war, ausgelacht hatte und er entlassen worden war, investierte er seine Ersparnisse und startete mit ein paar verdrossenen Angestellten seine eigene Firma. Es lief gut und mit der Zeit wurden seine Kutschen die begehrtesten der Welt.
Doch nun, da Automobile mehr und mehr Platz auf den Straßen der Stadt forderten, hatte John begonnen, Druck auf ihren Vater auszuüben, damit sie sich an die neuen Begebenheiten anpassten.
»Sieh mal.« Ruby deutete auf eine Kutsche, ein Phaeton, die in der Nähe der Werkstatt stand. »Ist das eine von euren?«
Das Design des Phaeton war spartanisch. Gehalten in einem matten Schwarz mit schmalen Rädern und dafür ausgelegt, ohne Kutscher gesteuert zu werden, war es in jeder Hinsicht das Gegenteil der Davenport-Modelle, die ausgestattet waren mit samtüberzogenen Sitzen, breiten, stabilen Rädern für eine reibungslose Fahrt und mit einer Lackierung, in der man sich spiegeln konnte. Das Wappen der Davenports, ein goldenes Blatt, schmückte stets den hinteren Teil der Kutsche.
Olivia raffte ihre Röcke zusammen. »Wahrscheinlich eins von Johns Projekten. Allerdings erschließt sich mir nicht, warum er es hier abgestellt hat. Seit er dieses Automobil hergebracht hat, sprechen er und Helen über nichts anderes mehr.«
»Wird John heute beim Abendessen dabei sein?«, fragte Ruby gespielt lässig.
Olivia verdrehte die Augen. Ihre beste Freundin schaffte es kaum, ihr Interesse an Olivias Bruder zu verheimlichen. »Irgendwann muss er ja etwas essen«, zog sie Ruby auf.
Als die Kutsche zum Stehen kam, stieg Olivia die Stufen hinab und betrachtete Freeport, das ihr Zuhause war, seit sie denken konnte. Das dreistöckige, in einem zarten Blau gehaltene Gebäude in viktorianischem Stil war mit spitzen Giebeldächern und zwei Mauertürmchen versehen. In das hölzerne Geländer der großzügigen Veranda waren Efeublätter geschnitzt worden, die so echt aussahen, dass sie den Eindruck erweckten, sich in einer lauen Brise zu bewegen. Die riesigen Eichentüren wurden geöffnet und gaben den Blick auf die große Treppe frei, die sich auf der einen Seite der Eingangshalle nach oben schlängelte. Alles war in das helle Licht der Nachmittagssonne getaucht, das durch die mit Buntglas versehene Kuppel drang.
Edward, der Butler, stand bereit, um ihre Hüte und Handschuhe entgegenzunehmen. »Sie sind spät dran, Miss, der Tee wurde bereits serviert«, flüsterte er.
»Der Tee?«, fragte sie. Ihre Mutter hatte nichts dergleichen gesagt. Olivia zupfte an der Schleife unterhalb ihres Kinns und sah Ruby verwirrt an.
Die Mädchen eilten über den polierten Holzfußboden und vorbei an dem goldumrahmten Spiegel in Richtung Salon. Olivia hielt den Atem an und öffnete mit gerunzelter Stirn die Tür. »Es tut mir leid, dass ich …«
Sie ließ ihre Entschuldigung unvollendet, als sie den gut aussehenden Fremden erblickte, der ihren Eltern gegenübersaß. Der hellbraune Tweedanzug hob sich von seiner dunklen Haut ab.
»Ah, da ist sie ja.« Emmeline Davenport erhob sich vom Sofa, wobei sich der Rock ihres Kleides elegant entfaltete. Sie hielt sich kerzengerade, ob aufgrund ihres geschnürten Korsetts oder aus purer Entschlossenheit, vermochte Olivia nicht zu sagen. Mrs Davenport warf ihrer Tochter mit den ausdrucksstarken, mandelförmigen Augen, die sie Olivia vererbt hatte, einen kurzen Blick zu und drehte ihren Gast sanft von Mr Davenport und den Teetassen in ihre Richtung. »Das ist unsere Tochter Olivia. Liebes, darf ich dir Mr Lawrence vorstellen?«
Der Gentleman, der auf Olivia zukam, war ganz anders als die übrigen Junggesellen, die sie bisher kennengelernt hatte. Er ragte so sehr über ihr auf, dass sie nicht umhinkam, seine breiten Schultern zu bemerken. Sein Haar war ordentlich und glatt zu einer Seite gekämmt. Er war wie aus dem Ei gepellt. Ein dicker Schnurrbart umgab seine vollen Lippen, die sich bei Olivias Anblick zu einem selbstsicheren Grinsen öffneten und gerade weiße Zähne offenbarten. Seine glatt rasierten Wangen endeten in einem runden Kinn mit einem Grübchen.
Er sah wirklich sehr gut aus.
»Es freut mich, Sie kennenzulernen.« Olivia hielt ihm die Hand hin.
»Die Freude ist ganz meinerseits«, sagte er, schüttelte ihre Hand und neigte den Kopf. Er sprach mit einem Akzent und seine Stimme war so tief, dass sie eine Gänsehaut bekam.
Olivia bemerkte das Lächeln und den sanften Ausdruck auf dem Gesicht ihres Vaters. Mr Davenport nahm die Brille von seiner Nase und steckte sie in eine seiner Jackentaschen. Er ließ den Gehstock, wo er war – gegen einen Sessel gelehnt –, und ging hinüber zur Fensterseite, um sich zu seiner Frau zu gesellen. Wie sie so nebeneinanderstanden, versinnbildlichten sie genau das, was Olivia sich selbst wünschte – ein perfektes Paar.
Eine Bewegung neben ihr lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder zurück zu ihrem Gast.
»Ruby Tremaine. Ich glaube, wir wurden einander noch nicht vorgestellt«, sagte Ruby und schob ihre Hand zwischen Olivia und Mr Lawrence, die einen Blick tauschten, beide leicht belustigt wegen Rubys Forschheit.
»Jacob Lawrence. Es freut mich, auch Ihre Bekanntschaft zu machen«, sagte er.
»Mr Lawrence ist vor Kurzem aus London hierhergezogen«, erklärte Mrs Davenport lächelnd, bevor sie sich wieder Olivias Vater zuwandte.
»Ach? Und was führt Sie nach Chicago?«, fragte Olivia.
Seine Augen fanden ihre. »Die Suche nach neuen Möglichkeiten.«
Tatsächlich, dachte Olivia. »Möglichkeiten welcher Art?« Sie konnte kaum den flirtenden Unterton in ihrer Stimme vermeiden.
Mr Lawrence grinste. »Ich möchte meine Reederei vergrößern, sie nicht mehr nur auf die Britischen Inseln beschränken. Vor ein paar Tagen habe ich Ihren Vater an einem Zeitungsstand kennengelernt und er bot netterweise an, mich einigen Leuten vorzustellen. Ich bin hier, um mich dafür zu bedanken.«
Olivia spürte die Blicke ihrer Eltern, die sie ihnen durch den Raum zuwarfen, und rückte etwas näher an Mr Lawrence heran. »Bitte entschuldigen Sie meine Verspätung. Hätte ich von Ihrem Besuch gewusst, hätte ich Sie nicht warten lassen.«
Ohne seinen Blick von Olivia abzuwenden, sagte Mr Lawrence: »Kein Grund, sich zu entschuldigen. Ich hatte mein Kommen nicht angekündigt. Ich bedaure allerdings, dass wir keine Zeit haben, uns besser kennenzulernen.«
Olivias Herz begann zu rasen.
Ruby schob sich halb zwischen die beiden. »Ich bestehe darauf, dass Sie am Freitag zur Party meines Vaters kommen.«
»Es ist eine Wohltätigkeitsveranstaltung im Zuge von Mr Tremaines Wahlkampf. Er kandidiert für das Amt des Bürgermeisters«, sagte Olivias Mutter und kam näher. »Der Ballsaal der Tremaines ist nicht so groß wie unserer, eher schlicht, doch es wird mit Sicherheit eine gemütliche, vertrauliche Zusammenkunft.«
Olivia sah ihre Freundin entschuldigend an. »Der Garten der Tremaines ist um diese Jahreszeit immer besonders hübsch. Wird der für die Gäste auch zugänglich sein, Ruby?«
»Natürlich.« Ruby schnaubte. »Wir haben weder Kosten noch Mühen gescheut.«
Mr Davenport tauchte an Mr Lawrences Seite auf. »Es ist die perfekte Gelegenheit, die einflussreichsten Leute Chicagos zu treffen.«
»Das ist sehr nett von Ihnen. Ich kann mir nichts Besseres an einem Freitagabend vorstellen.« Mr Lawrence drehte sich zu Olivia. »Werde ich Sie dort wiedersehen?«
Ihr Magen kribbelte vor Aufregung. Die Saison hatte gerade erst begonnen und hier in ihrem Salon stand der wohl begehrteste Junggeselle, den sie je gesehen hatte. Vielleicht würde die Suche nach einem Ehemann doch leichter sein als gedacht.
»Natürlich«, sagte sie, ein Lächeln auf den Lippen. »Womöglich reserviere ich Ihnen sogar einen Tanz.«
Das sieht der Skizze überhaupt nicht ähnlich, dachte Helen, während sie das Fahrgestell des defekten Ford-Modells T untersuchte, das John am Morgen in die Werkstatt gebracht hatte. Für Helen war so eine Lieferung wie Weihnachten: Sie spürte die gleiche Vorfreude und Spannung, jedes Fahrzeug barg ein Geheimnis. Auch wenn die Reparatur von Automobilen eigentlich nicht zu den Davenport-Leistungen zählte, hatte John ohne viel Aufhebens die besten Mechaniker Chicagos angeheuert, damit sie ihn bei der Wartung und Reparatur der neuen pferdelosen Kutschen unterstützten, die sich im ganzen Land immer weiter verbreiteten.
Zu ihnen gehörte auch Helen. Sie starrte auf das demolierte Innenleben der neusten Errungenschaft ihres Bruders und war sich sicher, dass John ihr den falschen Schaltplan gegeben hatte. Die Skizzen sahen simpel aus, doch in Wirklichkeit kamen die inneren Mechanismen des Automobils einem verwobenen Netz gleich. Es half auch nicht gerade, dass John und die anderen Mechaniker über ihren Kopf hinweg ständig Vorschläge machten. Zudem war es nur noch eine Frage der Zeit, bis die Zwillinge Isaac und Henry anfingen, sich zu streiten. Helen rieb sich die Schläfe, um die beginnenden Kopfschmerzen noch für einen Moment abzuwenden.
»Gib mir mal den Schraubenschlüssel«, sagte John. Seine Hand stieß gegen ihre Wange, als er ohne hinzusehen in ihre Richtung griff.
Sie schlug seine Hand weg und setzte sich auf den Boden. Dreck und Öl zogen sich über das bereits verschmutzte Muster des alten Overalls, der einmal John gehört hatte. »Warum lässt du mich nicht einfach machen? Meine Hände sind kleiner als deine.«
»Gut, dann bring du es in Ordnung.« Die Herausforderung in Johns frustriertem Tonfall war kaum zu überhören. Die Männer um sie herum verstummten. Sogar der stets mürrisch dreinblickende Malcolm trat einen Schritt näher. Helen war klar, dass die Männer jede ihrer Bewegungen genau verfolgten. Als John ihr das erste Mal eine Reparatur anvertraut hatte, hatten alle in der Werkstatt protestiert, Malcolm am lautesten. Seitdem beobachteten die Mechaniker sie mit einer Mischung aus Belustigung und Ehrfurcht. Malcolm allerdings grummelte meistens in einer Ecke etwas vor sich hin über Frauen, die lieber ihrer Rolle gerecht werden sollten. Über reiche Kinder, die seinen Arbeitsplatz als Spielfeld missbrauchten.
Doch die Männer hatten sich alle der Geheimhaltung verpflichtet.
Helen Marie Davenport durchsuchte das herumliegende Werkzeug und rieb sich mit dem Handrücken über das Kinn. Hier, inmitten einer Öllache, war sie mehr sie selbst als irgendwo sonst. In dieser Werkstatt erwartete niemand von ihr, dass sie das Richtige sagte und den neusten Klatsch oder die zurzeit angesagten Trends kannte. Hier konnte sie ihrer Neugierde freien Lauf lassen.
John störte sich nicht an ihren ständigen Fragen und er ließ sie zu Wort kommen, wenn sie eine Meinung zu etwas hatte. Helen bewunderte ihren großen Bruder. Sie waren sich sehr ähnlich, beide hatten ein ansteckendes Lachen, die prominente Nase ihres Vaters und eine ruhige Art. Und sie waren beide Träumer.
»Hast du vergessen, wie ein Schraubenschlüssel aussieht?«, zog John sie auf.
Die Männer lachten. Isaac deutete auf die Skizzen, die Helen auf dem Boden liegen gelassen hatte. Der gelernte Architekt war zu der Davenport Carriage Company gekommen, nachdem er die Anzeige in der Zeitung gesehen hatte. »Wenn Sie möchten, kann ich mir die Skizzen ansehen, Helen.«
Das war auch so eine Sache. Hier war sie weder Miss Davenport noch Miss Helen. Abgesehen von Malcolm, der sie nie direkt ansprach, nannten die Männer sie beim Vornamen. Sie hatte sich ihren Platz unter ihnen erarbeitet und dafür behandelten die Männer sie wie eine von ihnen.
Hier in der Werkstatt war sie eine echte Auszubildende.
Im Vergleich zu der Fabrik, in der die Kutschen hergestellt wurden, war die Werkstatt nicht besonders schick, aber sie war mit allem ausgestattet, was sie zum Arbeiten benötigten. Die Außenfassade war im gleichen blassblauen Farbton gehalten wie das Herrenhaus. Zwei große Flügeltüren ermöglichten es ihnen, an mehr als einem Automobil gleichzeitig zu arbeiten, vor allem, seit Johns Ford im Kutschenhaus untergestellt war. An der hinteren Wand hing sowohl neues als auch gebrauchtes Werkzeug über einer Werkbank aus Holz, die sich entlang der kompletten Rückwand erstreckte, bis zu dem kleinen Büro, in dem Helen und ihr Bruder häufig über die Zukunft des Geschäfts diskutierten.
Bevor Helen die Skizzen weitergeben konnte, fiel ihr plötzlich etwas ins Auge, und auf einmal offenbarte sich ihr das Geheimnis des Motors. Sie sammelte die benötigten Werkzeuge zusammen, während sie alles um sich herum ausblendete. Sie beugte sich über den ausgebauten Motor, wachsam und atemlos. Das hier war ihre Bestimmung.
Eine Weile sahen die Männer ihr zu, doch nach und nach kehrten sie zu ihrer eigenen Arbeit zurück, nur John trat näher. Als Erstgeborener und einziger Sohn war es Johns Pflicht, eines Tages das Familienunternehmen weiterzuführen. Alle Frauen verfielen seinem sympathischen Lächeln und seiner sanftmütigen Art.
Dann war da noch Olivia, ihre Schwester, die immer das Richtige sagte und nie Tinte am Ärmel oder einen Fettfleck am Kinn hatte. Sie würde einen passenden Ehemann finden, ihre Eltern stolz machen und ihr Leben mit Einkaufsbummeln und gesellschaftlichen Anlässen verbringen, so wie sie es das vergangene Jahr bereits getan hatte.
Helen schloss die Augen und atmete tief durch, um sich zu sammeln. Sie vermisste ihre Schwester – die Version von ihr, die sie einmal gewesen war. Helen wollte ihren Verstand für mehr benutzen, als Abendessen zu planen und Porzellangeschirr auszusuchen.
John zupfte an ihrem Ohr. »Alles in Ordnung?«
Helen schüttelte den Kopf. »Ich finde, du solltest Daddy sagen, dass die Firma zu einem Automobilwerk umfunktioniert werden muss. Allein mit der Reparatur von Ford- und General-Motors-Automobilen hat das Unternehmen keine Zukunft. Studebaker und Patterson sind schon dabei –«
»Helen.« Er seufzte. »Das hatten wir doch schon. Er würde uns noch nicht mal erlauben, die Reparatur von Automobilen anzubieten. Einer eigenen Fabrik würde er niemals zustimmen.«
Sie sah zu ihm auf. »Das würde er, wenn du es ihm nur richtig präsentierst. Er mag eine festgefahrene Meinung haben, aber Daddy liebt Fakten. Es ist riskant, da stimme ich dir zu. Aber wir müssen das Risiko eingehen.«
»Ich kann das Ganze nicht so rüberbringen wie du.« John jonglierte das Planetengetriebe hin und her. »Du hast die Zahlen abgestimmt, die Pläne gemacht, das Budget ausgerechnet.«
»Und du hast eine Prognose über den neuen Trend auf dem Markt abgegeben, hast einen Standort in der Innenstadt aufgetrieben, an dem wir eine größere Fabrik eröffnen könnten, und« – sie stieß ihm leicht gegen die Brust – »du hast erkannt, was ich draufhabe.«
»Du hast recht, wir sind ein Team.« Er massierte sich eine Stelle unterhalb seiner linken Schulter und runzelte die Stirn. »Es würde sich nicht richtig anfühlen, deine Arbeit vor Daddy als meine auszugeben.«
Helen ächzte. Angesichts Johns Unentschlossenheit wurde ihr ganz heiß. »Du weißt doch genau, dass Daddy mich auslachen würde.«
Nachdem sie ein paar Dinge am Fahrwerk des Modells T angepasst hatte, nahm sie ihrem Bruder das Getriebe aus der Hand und setzte es an seinen Platz. Ihr Magen zog sich zusammen bei dem Gedanken daran, ihren innersten Wunsch – ganz offiziell für die Firma zu arbeiten – ihrem Vater zu offenbaren. John würde ihr Geheimnis so lange für sich behalten, bis sie dazu bereit war, bis sie genug Erfahrung gesammelt hatte, um ihrem Vater zu beweisen, dass sie genauso viel zur Familie beizutragen hatte wie ihre Geschwister.
»Ich finde einfach nur, dass du ihm nicht mal eine Chance gibst«, sagte ihr Bruder. »Vielleicht überrascht er dich ja.«
Helen kaute auf ihrer Unterlippe herum. Was, wenn John recht hatte? Sie stellte sich vor, wie sie mitsamt ihren Notizen und Zahlen in das Arbeitszimmer ihres Vaters ging. Im Kopf hatte sie ihre Rede bereits so oft durchgespielt, dass sie die Worte im Schlaf aufsagen konnte. In ihren besten und wildesten Träumen war ihr Dad beeindruckt – und stolz.
Johns Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln. »Daddy hat den gleichen Gesichtsausdruck wie du, wenn er eine Idee hat. Ihr seid euch ähnlicher, als du denkst.«
Hoffnung stieg in ihr auf. Bevor Helen darauf davonschweben konnte, öffnete sich die Seitentür der Werkstatt.
Im Türrahmen stand Amy-Rose. Ihre Ärmel waren mit Mehl bestäubt und ein paar lose Haarsträhnen klebten ihr im Nacken. Ausdrucksstarke, haselnussbraune Augen hoben sich aus ihrem mit Sommersprossen übersäten hellbraunen Gesicht hervor und richteten sich nun auf Helen.
»Da bist du ja! Ich schwöre …« Amy-Rose trat in die Werkstatt. »Deine Mutter hat nach dir gefragt«, sagte sie ganz außer Atem und mit glühenden Wangen. »Ich habe ihr gesagt, dass du ein Bad nimmst.«
Helen hatte geglaubt, ihre Freundin könnte nicht noch mehr erröten – doch dann fiel Amy-Roses Blick auf John, der auf dem Boden neben Helen saß.
John erhob sich als Erster. »Danke, Amy-Rose.« Er hielt seiner Schwester die Hände hin und zog sie hoch. »Geh rein, bevor Mama und Daddy dich hier finden.«
An manchen Tagen wünschte sich Helen, sie würden genau das tun. Dann müsste sie einen Teil von sich nicht vor ihnen verheimlichen.
Aber für den Moment wischte sie sich ihre Hände an den Oberschenkeln ab und umarmte ihren Bruder kurz, nicht sicher, wer von ihnen beiden schlimmer roch. Dann folgte sie Amy-Rose, den Blick suchend auf die Fenster des Herrenhauses gerichtet, während sie sich beeilte hineinzukommen.
Amy-Rose hob Helens noch feuchtes Handtuch vom Boden des Schlafzimmers auf und hängte es zum Trocknen ins Bad. Nachdem sie Helen bei John in der Werkstatt entdeckt hatte, war sie mit der Jüngsten der Davenports so schnell wie möglich ins Haus gehuscht und hatte sie nach einer gründlichen Wäsche für das Abendessen angekleidet. Inzwischen war Helen mit der restlichen Familie unten und Amy-Rose räumte auf. Sobald sie hier fertig war, wurde sie in der Küche gebraucht.
Eine weitere Flügeltür führte zu Olivias Schlafzimmer. Was die Einrichtung betraf, mochten die Zimmer der Mädchen zwar identische Abbilder voneinander sein – beide waren mit einem großen Himmelbett, dicken persischen Teppichen und satt leuchtenden Tapeten ausgestattet –, aber damit endeten die Ähnlichkeiten auch schon. Olivias Zimmer war makellos aufgeräumt: Alles hatte seinen Platz. Abgelegte Kleidungsstücke auf dem Boden waren hier nie zu finden. Die Bücher standen geordnet im Regal. Auf dem Kaminsims befanden sich ein paar Familienfotos.
Als Kind hatte Amy-Rose viele Stunden in diesem Zimmer verbracht. Sie und die Davenport-Schwestern hatten kunstvoll arrangierte Teepartys für ihre Puppen veranstaltet und sich ihre Hoffnungen und Träume zugeflüstert, nachdem ihre Mütter längst zu Bett gegangen waren.
Damals war ihre Mutter noch am Leben gewesen.
Amy-Rose dachte an den Tag zurück, an dem sie mit ihrer Mutter, Clara Shepherd, den langen Schotterweg entlanggegangen war, an dessen Ende Freeport Manor in den Himmel ragte. Es war das größte Haus, das sie je gesehen hatte, alles hier war beeindruckend, glitzernd und wunderschön. Vor allem die Familie, die hier zu Hause war. Die Davenports waren die Einzigen, die ein Dienstmädchen anstellten, das ein Kind hatte; niemand sonst wollte ein weiteres Maul stopfen müssen. An diesem neuen, seltsamen Ort, so weit weg von ihrem Zuhause, hatte Amy-Rose Freunde gefunden.
Seit dem Tod ihrer Mutter waren nun schon drei Jahre vergangen. Hin und wieder tat Amy-Rose so, als befände sich ihre Mutter nur in einem anderen Raum, als wäre sie dabei, einen Kronleuchter zu entstauben oder ein Bett aufzuschütteln, während sie französische Schlaflieder vor sich hin sang. Manchmal rannte Amy-Rose sogar in ihr gemeinsames Schlafzimmer, wo sie die Erkenntnis über den Tod ihrer Mutter jedes Mal so traf, dass der Schmerz sie in die Knie zwang. Wenn er allmählich nachließ, erinnerte sie sich an die glücklichen Momente. Das Beste waren die Geschichten ihrer Mutter aus der Karibik, von St. Lucia – von farbenfrohen Vögeln, die um ihr Haus flogen, von Mangos, die im Hof wuchsen, und vom süßen Duft der Bougainvilleen, der sich mit der salzigen Meeresbrise vermischte. Sie vermisste den Blick über die Berge Gros Piton und Petit Piton, die sich dem Himmel entgegenreckten. Amy-Rose war erst fünf Jahre alt gewesen, als sie die Insel verließen, weshalb sie selbst kaum noch etwas von damals wusste. Die Erinnerungen ihrer Mutter fühlten sich an wie ihre eigenen.
Über den Sturm, der ihnen die restliche Familie und ihr Zuhause genommen hatte, hatten sie nach ihrer Ankunft auf Freeport dagegen kaum gesprochen. Das Herrenhaus der Davenports war ihr neues Zuhause geworden.
Ein mit Teppich ausgestatteter Flur führte zu dem kleinen Salon, in dem die Mädchen die meiste Zeit verbrachten. Ein kleiner Terrier lag faul auf einem großen Seidenkissen in einer Ecke, ansonsten mischte sich hier Olivias geordneter, klassischer Stil mit Helens aktuellen Interessen: Bücher über Rom und Anleitungen für Automobilmotoren. Sogar Rubys Spuren fanden sich hier in Form von Parfümproben von Marshall Field’s, die den kleinen, für Tee vorgesehenen Rollwagen übersäten.
Seufzend stieg Amy-Rose eine Treppe hinab zu der beeindruckenden Küche der Davenports.
»Du bist hier, gut«, dröhnte eine Stimme aus der Speisekammer. »Nimm das. Und das.« Jessie, die Chefköchin, ließ einen Eierkarton in Amy-Roses Arme fallen, ohne darauf zu achten, ob Amy-Rose auch bereit war, ihn entgegenzunehmen.
Jessie hievte einen Sack Mehl mit solcher Wucht auf ein Schneidebrett, dass Mrs Davenports liebstes Teeservice, das auf einen Tablett danebenstand, aneinanderklirrte. Die Köchin stemmte ihre Fäuste in die ausladenden Hüften und drehte sich langsam zu Amy-Rose. »Diesem Mädchen das Korsett zu schnüren dauert nicht derart lange.« Erneut wandte sie sich um und schob mit ihren großen Händen Geschirr in die Spüle.
Offensichtlich hatte Jessie noch nie versucht, Helen Davenport anzukleiden. »Sie musste noch mal frisiert werden«, erklärte Amy-Rose. »Ihre Locken lösen sich viel schneller auf als Olivias.«
Henrietta und Ethel kamen durch einen weiteren Gang in die Küche. Jessie beachtete sie nicht, obwohl Ethel ihr sogar eine Hand auf die Schulter legte. Stattdessen fixierte die Köchin Amy-Rose, als wüsste sie, dass die Gedanken des jungen Dienstmädchens weit weg von ihren bevorstehenden Aufgaben waren.
»Du hilfst der jungen Dame, mit diesem Unfug davonzukommen, obwohl dich das nichts angeht.« Jessie stieß einen langen, tiefen Seufzer aus und ihr ruppiger Tonfall wurde sanfter. »Ich weiß, die Mädchen sind für dich wie Schwestern, aber denk dran – sie sind es nicht. Du musst aufhören, davon zu träumen, wie es früher einmal war, und anfangen, daran zu denken, wie es jetzt ist. Die beiden werden bald heiraten.« Jessie zeigte auf die sich im Abwasch stapelnden Töpfe und die anderen Dienstmädchen, die nun das feine Silber polierten. »Die Davenports brauchen dich dann nicht mehr.«
Amy-Rose zwängte sich neben sie, um ihre Hände zu waschen, bevor sie sich eine Schürze vom Haken nahm. Ihr war bewusst, dass Jessies Worte der Wahrheit entsprachen, doch sie ignorierte sie und wanderte stattdessen in Gedanken zu Mr Spencers Laden und dem Tag, an dem sie das Schild an der Eingangstür von »Geschlossen« zu »Geöffnet« umdrehen würde. Zu dem Tag, an dem über dem Eingang ihr Name stünde und Kunden darauf warteten, ihre Produkte zu kaufen und von gelernten Stylisten bedient zu werden. Dann würde die Schürze um ihren Hals sie nicht mehr vor Kartoffelschalen oder Soßenflecken schützen, sondern davor, dass weder Haarbutter noch Shampoo auf ihre Kleidung tropfte. »Wer sagt, dass ich dann überhaupt noch hier bin?«, schnaubte sie. »Ich habe vor, in wenigen Wochen genug Geld auf der Bank zu haben, um Mr Spencers Laden zu pachten.«
Amy-Rose sah zu der Frau, die älter war als sie und die seit Jahren über sie wachte wie eine herrische Patentante. Jessie von ihren Plänen zu erzählen machten sie zu etwas Realem – viel mehr, als wenn sie mit ihrem Freund Tommy, Harolds Sohn, draußen bei den Ställen über ihre Träume sprach. Dort waren sie nicht mehr als ein Wunsch. Tommy war der Einzige, der wusste, wie sehr sie das Anwesen verlassen wollte, um selbst ein Geschäft zu eröffnen. Er hatte sie begleitet, als sie das Darlehen dafür beantragt hatte, zu dessen Genehmigung sie eine Anzahlung leisten musste. Und Tommy glaubte fast so fest an die Erfüllung ihres Traums wie sie selbst.
Als Jessie nichts erwiderte, fuhr Amy-Rose fort: »Vor ungefähr zwei Monaten habe ich Mr Spencer gefragt, ob er Interesse hätte, eine meiner Haarkuren in seinem Friseurladen zu verkaufen.« Eine wohltuende Wärme breitete sich bei der Erinnerung daran in ihr aus. »Sie waren der Renner. Er sagte, sie verkauften sich praktisch wie geschnitten Brot. Kurz darauf hat er sich wieder mit seiner Tochter versöhnt, die in Georgia wohnt. Er ist bereits Großvater und –«
Jessie strich über den Rand einer Schüssel, um das überschüssige Mehl zu entfernen. »Mädchen, komm zum Punkt. Was ist mit dem Laden?« Sie drehte sich zu Amy-Rose und sah sie mit trüben Augen an, eine Hand erneut in ihre Hüfte gestemmt. Nachdem sie sich geräuspert hatte, fuhr sie fort: »Nun erzähl schon.«
Amy-Rose errötete. »Mr Spencer will mir seinen Laden überlassen und in den Süden ziehen.« Sie sprach die Worte so schnell aus, dass ihr alle Luft aus der Lunge entwich. Sie bemerkte, wie die anderen Frauen in ihren Bewegungen erstarrten. Ihr Herz raste, während Henrietta und Ethel mit aufgerissenen Augen langsam zu Jessie aufsahen. Die Köchin der Davenports und selbst ernannte Haushaltschefin schlug sich die Hände vors Gesicht und ging um die Arbeitsplatte herum, um Amy-Rose zu umarmen.
»Deine Mama wäre so stolz auf dich!«, rief Henrietta von ihrem Platz am Poliertisch aus.
»Hetty hat recht, das wäre sie.« Jessie tätschelte Amy-Roses Wange. »Bis es aber so weit ist, kannst du hier noch die Eier trennen.« Die Anweisung klang weniger streng als sonst und Amy-Rose machte sich gehorsam an die Arbeit.
Hetty schlenderte zu ihr hinüber. »Was ist mit Mr John?«, fragte sie in einer Tonlage, die wohl ein Flüstern sein sollte.
»Er wird eines Tages die Firma seines Vaters übernehmen.« Angestrengt vertrieb Amy-Rose das Bild von John in der Werkstatt aus ihrem Kopf – er in seinen abgetragenen Hosen, mit den bis zu den Ellbogen hochgekrempelten Ärmeln, wodurch die Muskeln seiner Unterarme deutlich zur Geltung kamen. »Und ich werde meine eigene haben.«
Jessie wandte sich ihr zu, mit einem Gesichtsausdruck, der eine Standpauke verhieß, als etwas vor dem Fenster ihre Aufmerksamkeit erregte. »Was will der Junge denn jetzt schon wieder?«
Amy-Rose folgte dem Blick der Köchin und erkannte Tommy, der ihr vom Garten aus zuwinkte. Seine Hautfarbe hatte ein warmes Braun und seine großen, eifrigen Augen strahlten solch eine Ruhe aus, dass sie sich auf jeden übertrug, der ihn ansah. Nach dem Tod ihrer Mutter hatte Amy-Rose viel Zeit damit verbracht, Tommy beim Füttern und Striegeln der Pferde zuzusehen, während sie selbst den Tieren Äpfel und andere Leckereien zugeschoben hatte. Lange Ausritte über das Anwesen hatten zu einer tiefen Freundschaft zwischen den beiden geführt. Amy-Rose hatte ihm gegenüber ihren Traum von einem Friseursalon für Schwarze Frauen geäußert und Tommy hatte ihr dazu gratuliert, als hätte sie den Salon bereits eröffnet. Seine Hoffnung hielt ihre eigene aufrecht.
»Das kann warten«, murrte Jessie. Doch Amy-Rose war bereits auf dem Weg nach draußen.
Tommy ging am Zaun auf und ab und schwenkte einen Hut zwischen seinen Händen hin und her. Seine Augen strahlten einen ungewöhnlichen Eifer aus und die Energie, die ihn umgab, erfüllte Amy-Rose sowohl mit Spannung als auch mit Furcht. Genau wie sie war Tommy zusammen mit den Davenport-Geschwistern aufgewachsen, aber er hatte stets mehr Distanz zu der Familie gewahrt. Zwischen ihm und John hatte sich nie eine Freundschaft entwickelt, obwohl John in seinem Alter war und ebenso viel Zeit in der Werkstatt und in den Ställen verbrachte wie Tommy. Der Sohn des obersten Kutschers schien der Einzige zu sein, der dem einnehmenden Charme des Davenport-Sprösslings widerstehen konnte.
»Ich gehe fort«, sagte Tommy anstelle einer Begrüßung.
Amy-Rose blieb abrupt stehen.
Schnell sprach Tommy weiter. »Ich habe mit dem Schaffner der Santa-Fe-Eisenbahn gesprochen und er hat zugestimmt, mir ein Sparticket für einen interkontinentalen Zug Richtung Westen zu verkaufen.«
»Richtung Westen?« Amy-Rose hatte Mühe, Tommys Worten zu folgen, obwohl das Ganze eigentlich keine Überraschung war. Seit er alt genug war, um zu arbeiten – oder, wie sein Vater sagte, um »seinen Lebensunterhalt zu verdienen« –, hatte Tommy versucht, Freeport zu entkommen. Er hatte geschworen, diesen Ort zu verlassen und sich selbst ein Vermögen zu erarbeiten.
»Ich habe mit einem ortsansässigen Mitglied der Chicago National Negro Business League gesprochen. Er meinte, dass überall im Land neue Städte wie Pilze aus dem Boden sprießen. Voller neuer Möglichkeiten.«
»Wo könntest du mehr Optionen haben als hier?«
»Ich muss ganz neu anfangen, irgendwo, wo ich nicht einer von den Davenport-Jungen bin. Sonst muss ich am Ende das Zaumzeug gegen einen Schuhputzkasten eintauschen, wenn sie irgendwann nur noch pferdelose Kutschen betreiben.« Tommy drehte seinen Hut immer weiter hin und her. Er war schon ganz zerknautscht. »Der Mann hat mir einen Job in seiner Versicherungsfirma angeboten, Amy-Rose.«
Sie war verwirrt. »Du willst Versicherungen verkaufen?«
Er lachte. »Sie machen mehr als das, sichern Darlehen und Grundbesitz für Schwarze Unternehmer ab. So ist die South Side entstanden.« Tommy trat näher zu ihr und nahm ihre Hände in seine. »Ich habe vor, in sechs Wochen in den California Express zu steigen.« Er umfasste ihre Schultern. »Ich wollte dir das so schnell wie möglich sagen, nach meinem Dad natürlich.« Er senkte die Arme und schüttelte den Kopf, als sei er von seinen eigenen Neuigkeiten überrascht. »Außerdem wollte ich dir danken.«
»Mir danken?«
»Dafür, dass du mich inspiriert hast. Schließlich hast du mir von deinen Plänen für einen Friseursalon erzählt, ich war dabei, als du jeden einzelnen Ladenbesitzer gelöchert hast, bis sie genug davon hatten und dich aus dem Geschäft schmissen.« Sie lächelten beide bei dem Gedanken daran, dass Clyde, der Kurzwarenhändler, genau das eines Tages getan hatte. »Du hast einen beeindruckenden Auftritt hingelegt, als du deine Ersparnisse zur Bank gebracht hast.« Er musste lachen. »Da brauchtest du mich eigentlich gar nicht.« Tommy sah sie so aufrichtig an, dass ihr ganz warm ums Herz wurde. »Du bist auf dem besten Wege, deine Träume wahr werden zu lassen. Und ich wünsche dir, dass es funktioniert. Und mir selbst wünsche ich das auch.«
Amy-Rose fiel ihm um den Hals. Er roch nach Heu und Pferden, nach Schweiß und Entschlossenheit. Tommy war Balsam für ihre geschundene Seele, immer wenn sie einen Freund brauchte. Ein guter Mann, fleißig und stolz. Sie gönnte ihm alles Glück dieser Welt.
»Keine Sorge«, fuhr er fort. »Ich werde regelmäßig herkommen, um meinen Vater zu besuchen. Und natürlich um bei deiner Eröffnungsfeier dabei zu sein.«
Seine Worte brachten sie zum Lachen, vertrieben wie so oft den Kloß in ihrem Hals, während sie sich wieder von ihm löste. Sie versuchte sich Freeport – Chicago – ohne ihn vorzustellen und allein der Gedanke daran ließ alles um sie herum trüber erscheinen.
Als wüsste er, woran sie gerade dachte, strich er mit einem Finger über ihre Wange und fing die herunterlaufende Träne auf. »Jeder muss irgendwann sein Zuhause hinter sich lassen.«
Ruby Tremaine liebte ihre beste Freundin, das tat sie wirklich. Doch nichts machte die Veränderung ihrer eigenen Lebensumstände so deutlich, wie nach einem langen Einkaufsbummel – an dem sie Dinge gekauft hatten, die Olivia kaum interessierten – auf Olivias mit einem Seidenbaldachin überzogenen Himmelbett zu liegen.
Rubys Leben bestand auf einmal nur noch aus Budgetfragen und einem höflichen Lächeln, wenn Margaret – das Dienstmädchen, das sie sich nun mit ihrer Mutter teilte – ihre alten Kleider in dem Versuch auftrennte, daraus etwas anderes, Gewagtes zu nähen, das als Neuanschaffung durchging. Ein Glück, dass schmale, kürzere Röcke der neuste Trend waren, so gab es mehr Stoff, aus dem etwas Neues geschneidert werden konnte.
Zunächst hatte Ruby versucht, die Zeichen zu ignorieren – wie ihr Vater ihre Ausgaben immer weiter einschränkte –, vor allem, da die einflussreichsten Abgeordneten weiterhin jede Woche zum Abendessen kamen und ihre Familie immer noch den guten Blick aus ihrer Privatloge auf die Pferderennbahn genoss. Doch im letzten Frühling beorderte Henry Tremaine schließlich seine Frau und seine Tochter in sein Arbeitszimmer und eröffnete ihnen, dass er für das Amt des Bürgermeisters kandidieren würde. »Wir müssen alle unseren Beitrag leisten«, hatte er gesagt.
Unseren Beitrag.
Dieser Beitrag fühlte sich inzwischen immer mehr so an, als würde allein Ruby die Konsequenzen für die Entscheidungen ihrer Eltern tragen müssen. Doch sie versuchte stets, das Positive zu sehen, sich darauf zu konzentrieren, dass sich am Ende, sollte ihr Vater die Wahl zum Bürgermeister gewinnen, die Mühe gelohnt haben würde. Zudem hatte sie es immerhin noch besser getroffen als ihre Cousinen in Georgia, die mit der Hilfe ihres Vaters erst kürzlich das Land erworben hatten, das ihr Onkel als Landwirt gepachtet hatte. Die dort angebaute Baumwolle versorgte die Fabrik der Tremaines mit dem benötigten Rohstoff, um Textilien herzustellen. Doch Missernten in Kombination mit der finanziellen Herausforderung des Wahlkampfs forderten ihren Tribut.
Zuerst hatten Ruby die neuen Pflichten sogar Spaß gemacht. Noch unbekannten, gut aussehenden Politikern zu begegnen, mit denen sie flirten konnte, auch wenn sie dafür endlose Debatten über Löhne und die Überfüllung der Fabriken ertragen musste, war nicht das Schlechteste.
Doch jetzt, ein knappes Jahr später, war Ruby sich nicht mehr sicher, ob ihr Vater dem Amt als erster Schwarzer Bürgermeister näher gekommen war. Auch wenn sie es hasste, Zweifel daran zu haben. Was sie aber sicher wusste, war, dass ein Sommerurlaub in Paris in immer weitere Ferne rückte.
Natürlich hatte Ruby schon etliche Male vorgehabt, all das ihrer besten Freundin anzuvertrauen, doch immer wieder waren ihr die Worte im Hals stecken geblieben. Jede neue Anschaffung, die Olivia tätigte, versetzte Rubys Stolz einen Stich und sie musste gegen den bitteren Beigeschmack ankämpfen, der sie von innen heraus zu vergiften drohte. War sie bei einem von Olivias Einkaufsbummeln dabei, zog sie sich im Geschäft zurück, wanderte zwischen den Auslagen umher und bewunderte die verschiedenen Waren. Dabei redete sie sich ein, dass es eine Erleichterung wäre, nicht gezwungenermaßen etwas erwerben zu müssen. Zumindest konnte sie zwischen den Regalen unbeobachtet vor sich hin schmollen – neben ihrer Freundin war das unmöglich.
Olivia betrat ihr Schlafzimmer vom kleinen Salon aus, den sie sich mit Helen teilte. »Was weißt du über diesen Jacob Lawrence?«, fragte sie. Die Augen ihrer Freundin leuchteten, während sie aus dem Fenster blickte.
Ruby zuckte mit den Schultern. »Nichts, und du?«
Olivia schüttelte den Kopf. »Er hat was, oder? Ich würde gerne mehr über ihn erfahren, aber ich befürchte, Mama wird mich noch weniger aus den Augen lassen als eh schon, wenn ich zu viel Interesse zeige.« Sie lächelte. »Meinst du, es gibt einen geheimen Katalog, aus dem Eltern dir einen passenden Ehemann aussuchen?«
»Falls ja, hätte ich gerne ein Abo.« Ruby seufzte und ihr Herz wurde schwer, als sie an John dachte.
Olivia runzelte ihre zarten Augenbrauen. Sie musste Rubys Sorge gespürt haben, denn sie sagte: »Nicht mehr lang und wir sind echte Schwestern. Sobald John den Stress hinter sich hat, Daddy beeindrucken zu wollen, wird er dir einen prunkvollen Antrag machen, da bin ich mir sicher.«
Rubys Hand griff automatisch an ihren Hals, um mit dem Kettenanhänger zu spielen, wie es ihre Angewohnheit war. Zu spät erinnerte sie sich daran, dass die Kette nicht mehr dort war. Schnell zog sie eines der Dekokissen auf ihren Schoß und klammerte sich daran wie an die Aufmunterung ihrer Freundin. »Das hoffe ich.«
In Johns Nähe bekam Ruby einen trockenen Hals und einen nervösen Magen; sie liebte ihn schon, solange sie denken konnte. Doch trotz kleinerer Flirtereien, ein paar flüchtigen Küssen und der klaren Unterstützung ihrer beider Familien musste John ihr immer noch einen Antrag machen.
Das bereitete ihr Sorgen.
Genau wie Olivia war Ruby nun im passenden Alter, es war an der Zeit, sich niederzulassen und zu heiraten. Zudem erhöhte ihre immer schlimmer werdende familiäre Situation den Druck, eine gute Partie zu finden, die Rubys Wohlstand und ihren Platz in der Gesellschaft sicherstellte. Genau dafür würde John sorgen, aber viel wichtiger war, dass sie nie einen anderen gewollt hatte.
Ruby senkte den Blick und bemerkte, dass sie die Fransen des in ihrem Schoß liegenden Kissens entwirrt hatte. Sie legte es zur Seite und griff erneut an ihren Hals, wo der Edelstein mit ihrem Namen einmal in der kleinen Kuhle unterhalb der Kehle gelegen hatte. Plötzlich überkam sie der dringende Wunsch, John zu sehen. Ihn daran zu erinnern, warum sie zusammengehörten. »Lass uns nach unten gehen«, schlug sie vor. »Zum Tee vorhin sind wir zu spät gekommen, vielleicht können wir es wiedergutmachen, wenn wir früher zum Abendessen erscheinen?«
Ruby ging voraus. Freeport war ihr so vertraut wie ihr eigenes Zuhause, das nicht weit vom Anwesen der Davenports entfernt lag. Sie stiegen die prachtvolle Treppe hinab und folgten den in die Eingangshalle dringenden Stimmen in den Salon, wo sich die restlichen Familienmitglieder tatsächlich bereits versammelten. In diesem Raum, der in dunklen Rot- und satten Goldtönen gehalten war, empfingen die Davenports oft Gäste. Die Person, die Ruby am allermeisten sehen wollte, hielt sich etwas abseits von den anderen. In der Hand ein Glas mit bernsteinfarbener Flüssigkeit schwenkend, stand John vor dem Kamin.
Das ist meine Chance, dachte Ruby. Sie ging auf das Feuer zu, ihre Haut prickelte bereits bei seinem Anblick. Mit einem sanften Lächeln auf den Lippen berührte sie ihn an der Schulter.
»Guten Abend«, sagte sie in einem lässigen Tonfall, um ihre Nervosität zu verstecken.
Überrascht zuckte John zusammen und drehte sich zu ihr um.
Sie legte eine Hand auf seinen Arm. »Ich wollte dich nicht erschrecken.«
»Ich war in Gedanken.« John lächelte und blickte ihr nun direkt in die Augen.
Einen Moment später sah sie es wieder vor sich, war zurück an jenem Ort: unter einer der Weißeichen, die den Grund der Davenports säumten. Helen hatte Ruby und Olivia zu einem Wettreiten herausgefordert. Rubys Pferd hatte sie aus dem Sattel geworfen und war im Wald verschwunden. Helen und Olivia waren bereits zu weit vorausgeritten, sodass sie nicht mitbekamen, was passiert war, doch ihr Bruder eilte Ruby zu Hilfe.
Während John ihren Knöchel untersuchte, konnte Ruby nur daran denken, wie attraktiv er war. Und wie sehr sie ihn küssen wollte. Bevor sie die Nerven verlor, beugte sie sich zu ihm runter.
Erst wurde er ganz starr, eine Hand ruhte noch immer auf ihrem Knöchel. Doch dann entspannte er sich und erwiderte den sanften Druck ihrer Lippen. Ein heftiges Flattern brach sich in ihrer Brust Bahn. Ruby kam auf die Knie und überwand die letzten Zentimeter, die sie voneinander trennten. Sie zitterte, als seine Hände ihre Schultern berührten, über ihren Rücken strichen und in ihrem Nacken verharrten, während der Kuss inniger wurde.
Als er sich schließlich ganz außer Atem von ihr löste, wäre Ruby beinahe auf seinen Schoß gefallen. Sie spürte sein heftig schlagendes Herz unter ihrer Hand und er lächelte sie an. Wortlos half er ihr auf die Beine und geleitete sie zum Haus zurück. Es war ihr erster Kuss gewesen, aber keineswegs ihr letzter.
Nun starrte er auf ihre Lippen, als wäre auch er in derselben Erinnerung gefangen.
Ruby errötete und sie trat noch einen Schritt näher.
»Reitest du noch?«, fragte John. Anscheinend konnte er tatsächlich Gedanken lesen.
»Nicht so oft, wie ich gern würde«, antwortete sie mit einem Lächeln auf den Lippen. Dass ihre Familie alle bis auf zwei Pferde verkauft hatte, behielt sie für sich.
John trank einen kleinen Schluck aus seinem Glas. »Wenn das Wetter mitspielt, sollten wir für nächste Woche irgendwann nachmittags einen Ausritt planen.«
Rubys Lächeln blieb gesittet. »Ich bin mir sicher, wir finden den Schatten eines Eichenbaums, wenn es in der Sonne zu heiß wird.«
Johns Augen weiteten sich, doch gerade als sie endlich seine volle Aufmerksamkeit hatte, erschien Amy-Rose neben ihnen, in der Hand eine Flasche mit der bernsteinfarbenen Flüssigkeit.
»Danke, Amy-Rose.« John hielt ihr sein Glas hin und sofort war der entstandene Zauber ihrer gemeinsamen Erinnerungen dahin. »Und danke auch für heute Nachmittag. Ich weiß, wie schwierig Helen sein kann.«
»Überhaupt kein Problem«, entgegnete Amy-Rose und senkte den Blick. Wie immer sah sie für ein Dienstmädchen unverschämt hübsch aus. Ruby hatte noch nie eine Frau gesehen, deren Gesichtszüge sogar von Nahem und noch dazu ohne Schminke oder Juwelen so makellos waren.
Ruby trat noch dichter an John heran. Die Nähe zu ihm und dem Feuer und dazu der Blick, den er Amy-Rose zuwarf – das alles sorgte dafür, dass ihr der Schweiß den Rücken hinunterlief. »Komm, lass uns irgendwo hingehen, wo wir mehr Privatsphäre haben«, sagte sie zu John, erpicht darauf, ihre Unterhaltung wieder aufzunehmen. Sie sah Amy-Rose scharf an, die nickte und sich entfernte.
Ruby musste John daran erinnern, was sie einmal gewesen waren und was sie immer noch sein könnten. Und das würde ihr nicht gelingen, wenn er das Dienstmädchen derart anstarrte.
Von außen wirkte Rubys Zuhause leer und verlassen. Das gemauerte Herrenhaus der Tremaines war etwas näher zur geschäftigen Innenstadt Chicagos gelegen als das der Davenports. Vor der gewaltigen Eingangstür stieg sie aus der Kutsche. Gegen ihren Willen erschien Ruby ihr Zuhause wie ein Spukschloss im Vergleich zu Freeport. Hier fehlte es an Wärme und an einer Familie, die ihm Leben einhauchte.
Als sie das leere Foyer betrat, kam sie sich vor wie ein Geist, der hier leise ein und aus ging. Doch sie war froh über die Dunkelheit. So sah man nicht die Veränderungen, die eine tiefe Traurigkeit in ihr auslösten – fehlende Gemälde, verkaufte Erinnerungsstücke, Dinge, die ihr wichtig gewesen waren, selbst wenn sie kaum einen Wert hatten. Die Liste war endlos.
»Ruby, Liebes, bist du das?«
Fast hatte sie den Treppenabsatz erreicht, als ihre Mutter ihr von dem schwach beleuchteten Raum am Ende des Korridors zurief. »Ja«, antwortete sie leise und ließ die Schultern sinken. Ihr Magen zog sich zusammen, als sie sich den Flur entlangschleppte, dem einst ein edler Aubusson-Teppichläufer Wärme verliehen hatte.
Mr und Mrs Tremaine saßen links und rechts vor einem langsam verglimmenden Feuer und tranken Sherry. Ruby blieb vor ihnen stehen, als wäre sie wegen eines Regelverstoßes hinzitiert worden.
»Wie war dein Abend?«, fragte ihre Mutter.
Ruby starrte auf die rot glimmende Glut im Kamin. »Schön.« Sie bemühte sich, nicht zu zappeln; ihre Mutter verabscheute das.
»Geht es den Davenports gut?«, fragte Mrs Tremaine weiter. Ruby betrachtete ihre Mutter und sah, wie sie selbst in zwanzig Jahren aussehen würde. Trotz des schwachen Lichts erkannte sie die feine Nase und die vollen Lippen. Auch wenn sie nicht ganz so schlank war wie Ruby, könnte man Mrs Tremaine ohne Weiteres für ihre Schwester halten.
»Ja.«
Mit einem Knall stellte ihr Vater sein Kristallglas auf dem Beistelltisch ab. »Schluss mit den Höflichkeiten. Hast du mit John gesprochen?« Mr Tremaine blickte sie an und runzelte die Stirn. Er war ein hochgewachsener Mann mit einem runden Bauch. An den Schläfen zeigte sich der erste Hauch weißer Haare – schließlich war er zehn Jahre älter als seine Frau –, doch der scharfe, durchdringende Ausdruck in seinen Augen war kein bisschen schwächer geworden.
»John und ich hatten nach dem Essen ein bisschen Zeit für uns«, begann Ruby. »Wir sind noch eine Weile im Speisesaal geblieben, während die anderen schon für Kaffee und Brandy nach nebenan gingen. Wir haben über ein paar gemeinsame Abenteuer als Kinder gelacht –«
»Ruby«, unterbrach sie ihre Mutter. »Du schweifst ab.« Mrs Tremaine war nicht laut geworden, doch etwas in ihrem ruhigen, beherrschten Tonfall löste eine Gänsehaut bei Ruby aus.
»Er hat mich zu einem Ausritt eingeladen.« Sie trat einen Schritt näher zu ihnen.
»Wann?« Mr Tremaines Stimme dröhnte durch die Stille des Hauses und ließ Mutter und Tochter zusammenfahren.
Ruby sah zwischen ihren Eltern hin und her, und ihr wurde klar, dass sie die Sache falsch angegangen war. Sie hätte sagen sollen, dass sie John darauf vorbereitete, ihr die Frage zu stellen, auf die ihre Eltern so sehr hofften. »Wir … haben noch kein genaues Datum festgelegt.«
Der Mund ihrer Mutter wurde zu einem schmalen Strich.
Mr Tremaine schlug sich auf die Knie und stemmte sich aus dem Stuhl hoch. »Ich hatte vor, deine Verlobung mit John Davenport bei der Veranstaltung am Freitag zu verkünden.«
Ruby holte tief Luft. Wie konnte er bereits die Ankündigung planen, wenn John ihr noch gar keinen Antrag gemacht hatte?
»Liebes.« Ihre Mutter erhob sich ebenfalls und nahm Rubys Hand, auf ihrem Gesicht lag nun ein etwas sanfterer Ausdruck. »John ist ein guter Mann aus einer wunderbaren Familie. Deine Vermählung mit ihm könnte unsere Familie retten. Eine solche Vereinigung der Davenports und der Tremaines könnte deutlich machen, wozu wir hier imstande sind. Ich hoffe inständig, dass du dich bemühst.« Zwar klang sie, als wollte sie ihrer Tochter eine Stütze sein, doch der feste Griff um Rubys Hand sprach eine andere Sprache.
»Das tue ich, Mutter«, sagte Ruby mit sorgsam kontrollierter Stimme, während sie einen Schritt zurücktrat, fort von ihren Eltern. Wie konnte ihre Mutter ihre Bemühungen überhaupt infrage stellen? Schließlich hatte Ruby stets alles versucht, mit jedem bescheidenen Lächeln und genau abgepassten Lachen, jeder hochgezogenen Augenbraue oder zufälligen Begegnung auf dem Anwesen. Wie sollte Ruby ihren Eltern erklären, dass, egal wie sehr sie sich bemühte, es womöglich dennoch nicht so laufen könnte, wie sie es sich vorstellten? Niemand hatte sie je gefragt, ob sie ihr Gesicht als Symbol für Schwarzen Fortschritt hergeben wollte. Ihre Eltern setzten alles aufs Spiel, was sie besaßen – und noch dazu sowohl Rubys Zukunft als auch ihre eigene –, um eine Stadt davon zu überzeugen, dass der Erfolg dieser Familie ohne Weiteres wiederholt werden könnte.
Mit einem Stich im Herzen verließ Ruby den Raum und fragte sich, wer von ihnen die Verlobung wohl mehr wollte – ihre Eltern oder sie?
»Denk daran, das dann gleich reinzubringen.«
»Ja, Mama.« Olivias Arme schmerzten unter der Last des Korbes. Ihre Mutter hatte Muffins für die Suppenküche in der South Side zusammengestellt.
Mrs Davenport legte noch zwei weitere Muffins in den Korb. »Es ist wichtig, den Ärmeren zu helfen, Olivia. Dein Vater und ich wären nicht dort, wo wir heute sind, hätte uns auf dem Weg keiner unter die Arme gegriffen.«
Olivia richtete sich auf. »Ich weiß.« Es war ein herrlicher Nachmittag, genau richtig für einen Spaziergang am Fluss oder eine Spritztour mit einer offenen Kutsche. Aber ihre Mutter hatte sie gebeten, die Fahrt in die Innenstadt zu übernehmen. Eigentlich wäre Helen dran gewesen, doch ihre Schwester hatte sich noch vor dem Frühstück aus dem Staub gemacht. Olivias Verärgerung darüber war groß, aber sie schalt sich selbst dafür. Natürlich konnte ihre Mutter sich auf sie verlassen.
»Ich sehe zu, dass die Muffins so schnell wie möglich zu den freiwilligen Helfern kommen.«
Emmeline Davenport legte ihre Hand an Olivias Wange. Mehr Zuspruch war nicht nötig. Der Korb stieß gegen Olivias Hüfte, als sie aus der Küche hinaus zu den Ställen ging. Draußen machte Tommy die Pferde fertig.
»Miss«, sagte er, nahm ihr den Korb ab und half ihr mit einer Hand in die Kutsche. Sie ließ sich auf dem weichen Leder nieder, den Korb stellte sie neben sich und schon verschwand Freeport Manor zwischen den Bäumen.
Als sie die Stadt erreichten, zogen Restaurants und Geschäfte an ihnen vorbei. Bald darauf gelangten sie in die South Street, eine kleinere Version der State Street mit unzähligen Boutiquen, Märkten und von Schwarzen geführten Geschäften wie Salons und Anwaltskanzleien, auch ein Krankenhaus gab es hier. Bevor Amy-Rose für das Haarstyling der Davenports zuständig war, hatten Emmeline und ihre Töchter immer einen Abstecher in den Friseursalon gemacht, wenn sie zum Einkaufsbummel in der Stadt waren. Bei ihrem ersten Besuch in so einem Salon war Olivia überwältigt von den vielen Menschen gewesen, die genauso aussahen wie sie. Manche waren ehemalige Sklaven wie ihr Vater. Andere waren im Osten und damit als freie Menschen geboren wie ihre Mutter. Sie alle hofften darauf, sich ein neues Leben aufzubauen in dieser Stadt, die ihnen dafür die Möglichkeiten bot. Blecherne Jazzmusik erfüllte stets den Salon wie der Duft nach frisch gebackenem Brot. Vor der Tür ließen Männer sich die Schuhe polieren, während sie über Geschäftliches diskutierten, und Mütter hielten ihre Kinder dicht bei sich. Für Olivia war das alles jedes Mal sehr aufregend gewesen, und wenn sie ehrlich war, hatte es sie gleichzeitig nervös gemacht.
Als sie ihr Ziel erreicht hatten, stieg Olivia mit dem Korb in der Hand aus der Kutsche. »Ich bringe die Muffins hinein und bin gleich wieder da«, sagte sie über die Schulter hinweg zu Tommy.
Dem Gemeindezentrum einen Besuch abzustatten erfüllte sie jedes Mal mit Demut. Sie wusste, dass sie ein ganz anderes Leben führte als die Leute hier, die Schlange standen für Konservendosen oder eine warme Mahlzeit.
»Miss Olivia, schön, Sie wiederzusehen.« Mary Booker war für die Organisation von Kleidung und Lebensmitteln zuständig und beaufsichtigte die Suppenküche.
»Hallo, Miss Mary.« Olivia stellte den Korb auf den Tisch hinter der Theke.
Die Hände in der Schürze, sah Mary ihr über die Schulter. »Ich wette, die schmecken genauso gut, wie sie riechen. Richten Sie Ihrer Mutter unseren Dank aus.«
»Natürlich.« Froh darüber, den schweren Korb los zu sein, blickte Olivia sich im Raum um. Die Wände waren kahl und viele der Stühle standen unbesetzt an die Tische geschoben. Zu den Osterfeierlichkeiten vor drei Wochen war der Raum voller Leben gewesen. Dagegen war er heute beinahe wie leer gefegt. »Bin ich spät dran oder zu früh?«, fragte Olivia.
»Weder noch. Anscheinend haben sie alle gerade Besseres zu tun.« Während Mary das sagte, brachte ein junger Mann sein Tablett zurück und eilte gleich wieder zur Tür hinaus.
Olivia verabschiedete sich von Mary und versprach, dass ihre Schwester den Korb nächste Woche abholen würde.
Auf dem Weg nach draußen bemerkte sie eine Gruppe Schwarzer Männer und Frauen, die ungefähr in ihrem Alter waren. Sie flüsterten in einer Ecke miteinander und lachten nervös. Olivia packte die Neugierde. Sie selbst hatte natürlich auch Freunde – Ruby und ein paar andere Mädchen, mit denen sie sich, neben ihrer Schwester und Amy-Rose, regelmäßig unterhielt –, aber die Art, wie diese Gruppe von Freunden gemeinsam flüsterte und lachte, löste irgendetwas in Olivia aus.