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Die Demokratie steht unter Druck. Weltweit wenden sich viele Menschen von ihr ab und sehnen sich nach „starken Führern“, die Gräben zwischen links und rechts, liberal und konservativ, Jung und Alt scheinen immer unüberbrückbarer. Begriffe wie Lügenpresse, diverse Verschwörungstheorien und Bürger:innen, die für ihre Freiheit auf die Straße gehen und gleichzeitig Andersdenkenden nicht zuhören wollen, sind nur einige Phänomene der Zeit, in der wir leben. Von denen „da oben“ wird erwartet, dass sie alle Probleme lösen – aber was können die „da unten“ eigentlich selbst leisten? Ja, die Politik kann handlungsstark sein, das wissen wir spätestens seit der Corona-Krise, doch Politiker:innen sind oft viel ohnmächtiger, als wir glauben. Und am Ende sind es wir, die Menschen auf der Straße, die die Macht haben. Denn wo kommt das Neue her, wenn nicht aus uns? Was genau sind Bürgerinitiativen und Volksbegehren, und wie funktionieren sie? Gerade im Wahlherbst 2021 sollten wir der Demokratie zu einem Update verhelfen. Für eine neue, lebendige Kultur des demokratischen Miteinanders – mit Claudine Nierth, der leidenschaftlichen und engagierten Aktivistin der Zivilgesellschaft, und ihrem Plädoyer „Die Demokratie braucht uns!“.
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Seitenzahl: 289
Buch
Die Demokratie steht unter Druck. Weltweit wenden sich viele Menschen von ihr ab und sehnen sich nach »starken Führern«. Die Gräben zwischen links und rechts, liberal und konservativ, Jung und Alt scheinen immer unüberbrückbarer. Von denen »da oben« wird erwartet, dass sie alle Probleme lösen – aber was können die »da unten« eigentlich selbst leisten? Die Politik kann handlungsstark sein, doch Politiker:innen sind oft viel ohnmächtiger, als wir glauben. Und am Ende sind es wir, die die Macht haben. Denn wo kommt das Neue her, wenn nicht aus uns? Was genau sind Bürgerräte und Volksbegehren, und wie funktionieren sie? Die leidenschaftliche Demokratin und Aktivistin Claudine Nierth verhilft der Demokratie mit diesem Buch zu einem Update und zeigt, wie jede und jeder Einzelne von uns für eine lebendige Kultur des Miteinander einstehen kann.
Autorinnen
Claudine Nierth startete 2021 unter der Schirmherrschaft des Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble den ersten Bürgerrat für den Bundestag. Sie ist seit 1998 Bundesvorstandssprecherin des Vereins Mehr Demokratie und setzt sich seit den 1980er Jahren für Volksentscheide und Bürgerbeteiligung ein. 2018 erhielt sie für ihr Engagement das Bundesverdienstkreuz am Bande.
Katharina Höftmann Ciobotaru ist Journalistin und Autorin mehrerer Sachbücher und Romane. Sie schreibt Texte u. a. für DIEWELT, Berliner Zeitung, taz und Jüdische Allgemeine. Sie lebt und arbeitet in Tel Aviv. Zuletzt erschien von ihr bei Goldmann der SPIEGEL-Bestseller Unfuck the Economy. Eine neue Wirtschaft und ein besseres Leben für alle (gemeinsam mit Waldemar Zeiler).
Außerdem von Katharina Höftmann Ciobotaru im Programm:
Unfuck the Economy. Eine neue Wirtschaft und ein besseres Leben für alle (gemeinsam mit Waldemar Zeiler)
CLAUDINENIERTHmit Katharina Höftmann Ciobotaru
DIEDEMOKRATIEBRAUCHTUNS!
Für eine Kultur des Miteinander
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Inhalt
Wie alles begann
KAPITEL 1:Die Macht und die Ohnmacht
KAPITEL 2:Die Gräben werden tiefer
KAPITEL 3:Die unsichtbare Demokratie
KAPITEL 4:Die neue Welt
KAPITEL 5:Die Demokratie braucht uns
Handlungsmöglichkeiten
Zu guter Letzt
Danke
Lektüreliste
Anmerkungen
Wie alles begann
»Das wichtigste Amt in der Demokratie ist das des Bürgers.«
BASTIAN BERBNER, JOURNALIST
Meine Hände ausgestreckt, rechts und links jeweils in der Hand eines anderen Menschen, so stand ich mitten auf der Schwäbischen Alb. Ich war 16, und meine Hände und ich bildeten ein Glied in einer Menschenkette zwischen Ulm und Stuttgart. 108 Kilometer und 300 000 Menschen sichtbarer Widerstand gegen die Stationierung von atomaren Sprengköpfen der US-Amerikaner in Süddeutschland. Es gab noch keine Handys, mit denen wir den Moment hätten festhalten können, keine Drohnen, die eindrucksvolle Aufnahmen aus der Luft machten. Es gab nur uns und unseren Händedruck. Von Stuttgart bis Ulm. 108 Kilometer Menschen, die alle für dasselbe einstanden. Und über unseren Köpfen rotierte ein Hubschrauber, aus dem irgendwann per Lautsprecher verkündet wurde: »Jetzt ist die Kette geschlossen!«
Es war 12:40 Uhr an einem sonnigen 22. Oktober im Jahr 1983, und in diesem Moment begriff ich: Wenn ich jetzt loslasse, dann hat die Kette eine Lücke!
In diesem Moment wurde mir klar, dass ich immer ein Glied in der Kette in unserer Gesellschaft sein wollte, auf das es ankam. Dass ich immer Teil des Ganzen sein und zum Gemeinwohl beitragen wollte. Das ist das Anliegen, das mich damals mit 16 voll und ganz erfüllte und mich bis heute trägt. Dieser Impuls ließ mich erst bei Amnesty International für Menschenrechte einstehen und dann bei Greenpeace für den Erhalt der Natur. Bis mir eines Tages klar wurde, dass ich keine Lust hatte, den Rest meines Lebens als Bittstellerin auf der Straße zu stehen und darauf zu hoffen, dass andere meine Wünsche erhören. Ich wollte selbst mitbestimmen. Und ich wusste auch schon wie, lebte ich doch nicht umsonst in unmittelbarer Nachbarschaft zur Schweiz: durch Volksinitiativen!
Ich wollte auch bei uns mit Volksinitiativen gute Ideen auf den Weg bringen. Ich wusste, dass es keine Lösung ist, all jene, die etwas mitentscheiden wollen, einfach ins Parlament zu schicken, das wären zu viele Menschen im Bundestag. Nein, es musste einen Weg geben, die Menschen von dort aus einzubinden, wo sie sind. In diese Richtung wollte ich die Demokratie weiterentwickeln.
Ich wollte mehr Demokratie für alle.
Ein paar Jahre nach meinem Schlüsselerlebnis, inzwischen war es 1988, befand ich mich am anderen Ende von Deutschland und tat genau das, was ich mir vorgenommen hatte: Ich stand mit einem alten dunkelblauen umgestalteten Berliner Doppeldeckerbus vor dem Rathaus in Westerland auf Sylt, mit dem Freunde durch das ganze Land fuhren, um mit Menschen über die Einführung von Volksabstimmungen zu sprechen. Damals lebte ich auf der Nordseeinsel und grub meine Hände tief in den Schlick – ich wollte vor meinem Studium bei einem Bildhauer ins Atelier gehen, entschied mich dann aber für eine Lehre im Kunsthandwerk auf Sylt.
Aber der Sommer 1988 war an der Nordsee kein Sommer wie zuvor. Denn 1988 war der Sommer, in dem die Robben starben. Allein im August des Jahres wurden an der Küste Schleswig-Holsteins 500 tote Tiere angeschwemmt, und mit jedem angeschwemmten Kadaver schien die Endzeit der Menschheit näher zu kommen. Insgesamt starben in diesem Jahr 18 000 Seehunde, etwa 60 Prozent des Gesamtbestands. Gemeinsam mit der Algenblüte führte dieses schreckliche Massensterben zu großer medialer Aufmerksamkeit. Man fragte sich nicht nur, warum die Robben starben, sondern auch, was die Umweltverschmutzung wirklich anrichtete. Es lag ein »Wir müssen jetzt etwas tun!« in der Luft. Hektisch wurden Plastiktüten verbannt und die Mülltrennung diskutiert, um die Meere zu schützen. Die Landwirte, die für die erhöhten Nitratwerte und die schäumende See verantwortlich gemacht wurden, bekamen einen Großteil der Wut ab. Aber im Grunde konnten sie nicht anders, solange die Profitgier anderer ihnen nur einen kümmerlichen Ertrag einbrachte.
Schon damals war der Teufelskreis offensichtlich. Ein Teufelskreis, in dem wir uns bis heute befinden und den wir nur gemeinsam und mit neuen Gesetzen durchbrechen können. Ich beobachtete all das und entschied mich, Mitglied in dem damals gerade gegründeten Verein IDEE zu werden, der später in Mehr Demokratie umbenannt wurde. Ich ahnte noch nicht, dass er meine politische Heimat werden würde, dass ich zehn Jahre nach meinem Eintritt Vorstandssprecherin werden und bis heute bleiben würde. Es war eine Zeit, in der der bevorstehende Klimawandel, die Folgen der Erderwärmung zwar bekannt, aber noch in ferner Zukunft lagen. Es war eine Zeit, in der wir – und mit »wir« sind vielleicht ein Dutzend Aktivisten gemeint – uns noch gegenseitig anriefen und darauf hinwiesen, wenn in irgendeiner Zeitung nur mal das Wort »Volksabstimmung« aufgetaucht oder von der Beteiligung der Bürger:innen die Rede war. Dann sprangen wir aus der Hose und glaubten, jetzt bräche ein neues Zeitalter für die Demokratie an. Welche Hybris! Und doch war es so.
Drei Tage lang fuhren wir mit jenem auffälligen Gefährt, dem blauen Omnibus mit der Aufschrift »Volksabstimmung«, gemeinsam über die Insel und sprachen von morgens bis abends mit den Menschen. In List am Hafen gewann ich die Sympathie des Fischhändlers Jürgen Gosch (heute ein kleines Imperium, damals nur eine Fischbude). Er bot uns an, die eigens für diese Aktion von dem Künstler Johannes Stüttgen gemalte Fahne für diesen Sommer an seinen Fahnenmast in den Wind zu hängen. So flatterte monatelang über Deutschlands nördlichster Fischbude das Symbol der Robbe, verbunden mit einem Menschenkörper als Zeichen der bedrohten Verbindung zwischen Mensch und Schöpfung und dem Begriff »Volksabstimmung« in Großbuchstaben. Für mich war das der Beginn der Überzeugung: Ich kann die Welt beeinflussen, ich muss nur auch tatsächlich anfangen es zu tun. Mit 21 Jahren organisierte ich also meine erste Pressekonferenz in der Alten Post in Westerland. Wir wollten auf das Robbensterben aufmerksam machen. Vor allem aber wollten wir Volksabstimmungen ermöglichen, und dafür brauchten wir viele Fürsprecher:innen und Unterschriften. In meinem WG-Zimmer stand eine Palette gedruckter Stimmbriefe, für deren Verbreitung ich zuständig war. Diese Paletten waren in ganz Deutschland in diversen Wohnzimmern von irgendwelchen Sympathisanten gelandet. Die Briefe und damit die Stimmabgabe für die Volksabstimmung sollten schneeballsystemartig ihren Weg durch die Bundesrepublik machen. Jeder Haushalt brauchte sie nur zu unterschreiben und weiterzugeben, bis 60 Millionen Bundesbürger:innen unterzeichnet hätten. Das war der ganze Plan. Keine Strategie, keine Organisationsstruktur, kein Netzwerk, keine Bündnispartnerschaft, kein Projektmanagement, nur Naivität und Überzeugung. Das war unser Kapital. Das kleine Einmaleins der erfolgreichen Kampagnen lernten wir später. Erst mal glaubten wir an uns selbst. Und auch ich begann tatsächlich, an mich selbst zu glauben. Meine engsten Freunde allerdings nahmen zweifelnd Abstand, fragten mich, ob ich mir all das wirklich zutrauen und ob ich mich nicht übernehmen würde. Ich konnte diese Frage nicht mal verstehen, denn ich spürte die Kraft in mir, das alles zu schaffen. Das alles und noch mehr. An meinem Infostand vor dem blauen Doppeldeckerbus begegnete mir dann jedoch die Realität. Denn wie ich da so stand, starrte mich ein Mann völlig fassungslos an und fragte: »Wie jetzt, sollen wir wirklich über die Farbe des Gartenzauns meines Nachbarn abstimmen?«
Ich begriff: Vor uns lag noch ein weiter Weg. Und im Grunde hatte ich keine Ahnung, wovon ich sprach, ich wusste nicht wirklich, wie wir Volksabstimmungen rechtlich verankern und ins Grundgesetz bekommen sollten. Ich hatte keinen blassen Schimmer von solchen Wortungetümen wie Gesetzgebungsverfahren, Ausschlusstatbestände oder Zustimmungsquoren. Ich wusste nur, dass Volksabstimmungen dreistufig sein müssen und dass man zuerst mit einer Volksinitiative für seine Idee wirbt. Wenn genügend Menschen der Idee mit einer Unterschrift folgen, kommt es zur zweiten Stufe, dem Volksbegehren. Jetzt müssen erheblich mehr Menschen die Initiative wieder per Unterschrift unterstützen und damit zeigen, dass sie die Abstimmung über diesen Vorschlag auch wirklich begehren. Dann erst kommt es zur dritten Stufe, zur Volksabstimmung über den Vorschlag aus dem Volk. Heute sind diese drei Stufen gängige Praxis in allen Bundesländern.
Damals wusste ich nur intuitiv, dass es richtig war, was ich tat. Ich wusste, dass wir Menschen für unsere Welt die Verantwortung gemeinsam übernehmen müssen, und dieses Gemeinsam musste irgendwie organisiert werden, im Idealfall über Abstimmungen unter Beteiligung aller. Ja, ich wusste, dass unser Grundgesetz mit Artikel 20 (2) eine Möglichkeit offenhielt, und diese Tür nutzten wir damals mit der Aktion Volksentscheid, der ersten Kampagne, die eine bundesweite, selbst organisierte Abstimmung über die Volksabstimmung unter knapp 45 Millionen Wahlberechtigten durchführen wollte. Absoluter Größenwahn und grenzenlose Selbstüberschätzung – aber ein Anfang. Der Beginn der Demokratiebewegung in Deutschland.
Bis heute bin ich überzeugt: Wenn du etwas verändern willst, denke groß! Du kannst gar nicht groß genug denken. Du musst es sogar, denn sonst fehlt dir die Kraft für den ersten Schritt. Früher kämpften wir gemeinsam mit Stars wie Herbert Grönemeyer gegen FCKW in Spraydosen, um die Ozonlöcher über den Polkappen zu schützen oder um Atomanlagen zu verhindern. Heute ist Mehr Demokratie die größte NGO für direkte Demokratie und Bürgerbeteiligung. Mehr Demokratie hat bis heute über 36 Verfassungs- und Gesetzesreformen initiiert und 43 Volksinitiativen und Volksbegehren auf den Weg gebracht. Böse Zungen, die sich in ihrer Macht beschnitten fühlen, beschimpften uns als kleine, gut organisierte Minderheit. Das waren wir auch, aber ohne den Rückhalt von 70 bis 80 Prozent der Bevölkerung hätten wir nichts bewegen können. Jede Idee muss sich in der Praxis beweisen. Erst wenn sie umgesetzt ist, siehst du, ob sie richtig gedacht wurde. Und jede Initiative braucht Resonanz, wenn sie erfolgreich sein soll. Und die hatten wir. Und all das habe ich natürlich nie allein gemacht. Wir waren immer eine Handvoll Leute, die sich die Arbeit untereinander aufteilten. Wir waren immer im Team, immer auf Augenhöhe, immer am Start, bereit für den nächsten Schritt. Bis heute.
Hätte mich damals auf Sylt jemand gefragt, ob ich politisch sei, hätte ich gelacht und den Kopf geschüttelt. Nein, ich bin Künstlerin, durch und durch Ästhetin. Ich möchte lediglich, dass auch unsere Verhältnisse schöner werden.
Wir Menschen haben die Welt zu dem gemacht, was sie heute ist, und wir alle haben Einfluss darauf, was sie morgen sein wird. Ich lasse mir von niemandem sagen, das wäre alles nicht möglich.
Keine zehn Jahre nach der Tour mit dem Omnibus auf Sylt stand ich in Hamburg-Ottensen in der Fußgängerzone. Ich hatte gerade gelernt, dass in Hamburg mit »Bürgerschaft« nicht die Bürgerinnen und Bürger, sondern die Abgeordneten im Parlament gemeint sind (aha), aber auch, dass Hamburg immerhin über ein sogenanntes Feierabendparlament verfügte, deren Mitglieder keine Berufspolitiker:innen waren – das gefiel mir. Und auch ich wollte etwas tun: Im langen roten Sommerkleid schleppte ich meinen Schreibtisch, eine alte Tür auf zwei Böcken, in die Fußgängerzone und sammelte wieder Unterschriften. Wir waren zu fünft. Fünf Idealisten, die das erste Volksbegehren in Hamburg initiierten.
Nachdem Mehr Demokratie in Bayern gerade seinen Durchbruch mit seinem ersten großen Volksbegehren erlebt hatte, starteten wir in Hamburg die ersten beiden Volksinitiativen. Wir wollten eine Erleichterung der direkten Demokratie erreichen und Bürgerentscheide in Hamburgs Bezirken einführen, für beide Vorhaben hatten wir Gesetzentwürfe erarbeitet. Hamburg hatte gerade eine Regelung für Volksentscheide in seiner Verfassung verankert. Alles noch sehr restriktiv. Also nutzten wir diese Möglichkeit, um sie gleich zu verbessern.
Im Hinterkopf immer unser wichtigstes Prinzip: Über ein Mehr an Demokratie müssen alle abstimmen.
Und so sammelte ich fleißig Unterschriften auf den Straßen von Hamburg, blickte die Häuserwände hoch und wusste, dass wir am Ende von der Hälfte der Bürger:innen hinter den Fenstern die Zustimmung brauchten. Das war verdammt viel. Ich wusste aber auch, wenn wir das schaffen, wird Hamburg eine andere Stadt. Wenn sich die Hälfte der Bevölkerung mit dem demokratischen Selbstbestimmungsrecht auseinandersetzt und die Frage beantwortet, ob es ein Mehr oder ein Weniger an Beteiligung für die Menschen geben soll, dann ändert sich diese Stadt. Dann entsteht ein neues Wir-Gefühl, ein neues Verantwortungsbewusstsein für diesen Ort.
Dieses Mal hatten wir einen stringenten Projektplan und Bündnispartner:innen. Außerdem gelang es mir, neben den Schauspielerinnen Marie-Luise Marjan und Heidi Kabel auch den Schuhhändler Friedrich Görtz als prominente Unterstützung zu gewinnen. Unser Mitinitiator Manfred Brandt, ein gestandener Bauer aus Moorburg und bis heute ein gefürchteter wie umstrittener Initiator vieler Volksinitiativen, brachte außerdem Willi Bartels, den »König von St. Pauli«, als Unterstützer mit an Bord. In der obersten Etage in seinem Hotel Hafen Hamburg, mit Blick über die ganze Stadt, fand unsere Pressekonferenz zum Auftakt statt. Die Journalisten waren skeptisch. Sie fragten immer wieder: Warum macht ihr das? Was habt ihr davon? Und wer bezahlt euch?
Die Absicht, mehr Demokratie für alle und nicht nur für sich selbst zu wollen, stieß auf allgemeines Misstrauen. Um unserer Initiative mehr Gehör zu verschaffen und um unsere Unterschriftenliste möglichst breit zu verteilen, liefen wir nicht nur von Briefkasten zu Briefkasten, von Fußgängerzone zu Fußgängerzone, sondern wir sammelten auch Geld für eine ganzseitige Anzeige im Hamburger Abendblatt. Als wir die 17 000 D-Mark endlich beisammenhatten, war es so weit. Zu zweit fuhren wir im Fahrstuhl im Axel-Springer-Haus in die Anzeigenabteilung im 14. Stock. Ich weiß noch, wie ich dachte: Jetzt fährst du in die Höhle des Löwen. Axel Springer und der Springerverlag waren der Erzfeind meines Vaters, gegen den er einst in Hamburgs Michel von der Kanzel gegenüber der versammelten revoltierenden Studentenbewegung gepredigt hatte. Ich dagegen fühlte mich wie eine Siegerin. Eine Anzeige für eine bessere Welt in einem Springerblatt – das war doch mal was. Wenige Tage später fuhr ich mit der S-Bahn Linie 3 von der Innenstadt nach Altona, als mir ein Mann gegenübersaß, der seine Zeitung umblätterte, und mir als eine der drei Initiatorinnen des Volksbegehrens auf der halben Seite mein eigenes Lächeln entgegenstrahlte. Verlegen und mit rotem Kopf blickte ich zu Boden.
Die harte Arbeit war nicht umsonst, und es zahlte sich aus, dass wir gleich mit zwei Volksbegehren losmarschiert waren: einmal für die Erleichterung der bestehenden Regeln für die ganze Stadt und einmal für die Einführung in den Bezirken. Und wir schafften es! Beide Begehren erhielten deutlich mehr Unterstützung als die erforderlichen 10 Prozent. Über 200 000 Hamburger:innen hatten unser Volksbegehren innerhalb von zwei Wochen mit einer Unterschrift unterstützt. Das war atemberaubend!
Damit war die erste Volksabstimmung in Hamburg sicher, und wir erlebten unseren Durchbruch. Jetzt kannte man uns, wusste, wofür wir standen. Jetzt wurden wir ernst genommen. Auch weil die »besseren« Gegenden, die Menschen der wohlhabenden Elbvororte, hinter uns standen. Es folgte eine Einladung des Bürgermeisters, und ich landete mit meinem Kollegen Manfred Brandt bei Ole von Beust im Rathaus auf dem schwarzen Ledersofa. Mein erstes Gespräch mit einem echten Politiker, noch nicht ahnend, dass dem Hunderte folgen würden. Ich war überrascht. Von Beust sprach ungefiltert und ehrlich mit uns. Er sagte, wenn es nach ihm ginge, würde er unsere Vorschläge annehmen und umsetzen und nach fünf Jahren die Bürger:innen über die Beibehaltung in einer Abstimmung selbst entscheiden lassen. Ich war baff! »Einverstanden, bin dabei.« Der Vorschlag hatte jedoch einen Haken. Ole von Beust räumte ein, dass er mit diesem Entgegenkommen allein wäre, seine Kollegen in der Fraktion würden da nicht mitziehen. Zu groß das Risiko. Zu groß die Angst vor Kontrollverlust.
Zum ersten Mal verstand ich, wie ohnmächtig auch Mächtige sein konnten.
Die Wahrheit ist: Als ich anfing, mich für direkte Demokratie, für Volksabstimmungen in unserem Land einzusetzen, glaubte kaum jemand, dass das etwas bringen würde. Die Menschen konnten mit dieser direkten Demokratie nicht viel anfangen. Seitdem hat sich viel getan. Unsere Organisation wuchs und wurde immer erfolgreicher. Nachdem meine Kollegen 1995 in Bayern per Volksabstimmung den Bürgerentscheid auch für die Gemeinden ermöglichten, hatten wir jetzt den Stadtstaat Hamburg erobert. Weitere Länder folgten. Immer nach demselben Prinzip: Mehr Demokratie machte Vorschläge, wie wir mehr Beteiligung, mehr Demokratie, mehr Wahlrecht durchsetzen konnten, und ließ dann die Bevölkerung darüber abstimmen.
Inzwischen können wir in Deutschland auf über 8000 Bürgerbegehren in den Gemeinden und auf knapp 400 Volksinitiativen in den Ländern zurückschauen. Heute sind die regelmäßigen wissenschaftlichen Berichte von Mehr Demokratie dazu selbstverständlich. Trotzdem ist Deutschland unter 27 Mitgliedsländern immer noch das einzige Land in der EU, das noch nie auf Bundesebene eine Abstimmung erlebt hat. Während andere Länder über die Einführung von Atomkraft oder den Euro abstimmten, bleibt uns nur das Vertrauen in unsere Regierung.
Dass wir die Machtfrage so aktiv stellten, gefiel nicht allen. Unsere Arbeit als Verein ging auch nur so lange so leicht, bis die Mächtigen zum Schlag ausholten. Es folgten die ersten Klagen gegen unsere Initiativen vor den Verfassungsgerichten in den Bundesländern, und wir führen bis heute einen Kampf um angemessene Hürden, zulässige Themen und darüber, ob die Ergebnisse von Volksabstimmungen auch den Haushalt durch Mehrkosten beeinflussen dürfen. Bis heute ist das vor allem auch ein Kampf um Macht – darf die Bevölkerung genauso viel wie das Parlament?
Was uns damals in Bayern und Hamburg gelang, sollte überall gelingen, man müsse nur mit allen Menschen reden können, dachte ich mir. Also beschloss ich, einen alten Berliner Doppeldeckerbus zu kaufen. Ich fand auch einen, ausrangiert, alt und mit Moos überzogen. Ich begann zu hämmern und zu schrauben. Ich baute die Sitzbänke aus, klopfte eine von zwei Treppen in das obere Stockwerk heraus, baute Betten, Küche, Bad und einen Infotresen rein, ließ ihn weiß lackieren sowie mit der Aufschrift »Omnibus für direkte Demokratie in Deutschland – Volksabstimmung« in meiner Lieblingsfarbe Grün versehen. Nebenbei machte ich den LKW-Führerschein, und ab ging’s durchs ganze Land, um auf den Marktplätzen mit den Menschen über die Vorteile von Volksabstimmungen und die tiefe Bedeutung der Demokratie zu sprechen. Der Bus, schneeweiß und mit goldenem Messingband gekrönt, war eine rollende Skulptur und sollte so lange fahren, bis bundesweite Volksabstimmungen rechtlich möglich sind. Seit Herbst 2000 ist er unterwegs auf der Straße und fährt heute immer noch von Mensch zu Mensch – nur ohne mich. Denn ich wurde schwanger, und als der Bauch definitiv nicht mehr hinter das Lenkrad passte, ging ich von Bord.
Das Wichtigste für mich und meine Arbeit ist aber immer noch die Überzeugung, dass Demokratie das Versprechen der größtmöglichen Zufriedenheit aller Menschen ist. Ja, da ist noch viel Luft nach oben. Demokratie erschöpft sich nicht in der bloßen Mehrheit über die Minderheit. Und vor allem erschöpft sie sich nicht in einer Wirklichkeit, in der »die da oben« das Sagen haben und »die da unten« machtlos sind. Es gibt nämlich nicht nur unzufriedene Menschen in der Bevölkerung, sondern auch unzufriedene Menschen in der Politik. Die einen sind unzufrieden, weil die Politik nicht tut, was sie wollen. Und die anderen sind unzufrieden, weil sie nicht regieren können, wie sie wollen, und sie abhängig von lästigen Koalitionen und störenden Oppositionen sind. Oder weil sie wie Ole von Beust in Hamburg als Einzige in ihrer Fraktion an eine Idee glauben.
Dabei ist die Demokratie die beste Form, unterschiedliche Interessen abzuwägen, zu moderieren und zusammenzubringen. Ein Weg, an dessen Ende gemeinsam getragene Entscheidungen und umsetzbare Beschlüsse stehen! Die Qualität der Demokratie wird bis heute leider oft noch daran gemessen, wie hitzig Diskussionen geführt werden. Ich denke, die Demokratie täte gut daran, Gräben zu schließen und Spaltung zu überwinden. Demokratie kann Andersdenkende zusammenbringen, Extreme integrieren und vernünftige Lösungen und mehrheitsfähigen Konsens ermöglichen – und das, ohne jemanden auszuschließen. Das ist in Zeiten, in denen die Gräben zwischen den Menschen immer tiefer werden, in denen aus Leuten mit unterschiedlichen Meinungen unerbittliche Feinde werden, in denen im Internet gepöbelt, beschimpft und bedroht wird, bitter nötig.
Die Spaltung der Gesellschaft ist eine Gefahr für die Demokratie. Wir brauchen einen Kulturwandel in der Politik, um wieder alle in Sichtweite zusammenzubringen. In der Demokratie liegt die Chance, all die Kontrahenten, die Klimagegner:innen und -aktivisten, die Ideologen und die Zweifler:innen, die Jungen und die Alten wieder zusammenzubringen – wenn sie nur endlich wieder sichtbarer, ja erlebbarer wird. Wenn wir die Demokratie stärken wollen, brauchen wir viele demokratische Erlebnisse.
Durch eigene demokratische Erfahrungen wächst unser Wunsch nach mehr Demokratie. Solange sich diese Erfahrung auf ein Wahlkreuz alle vier Jahre beschränkt, komme ich im Leben auf der Bundesebene vielleicht auf 15 demokratische Erlebnisse. Wenn ich mich aber als aktive Teilhaberin der Demokratie wahrnehmen will, dann brauche ich viel mehr Momente der Wirksamkeit.
Mein erstes politisches Erlebnis damals mit 16 Jahren in der Menschenkette war der erste Ausdruck eines Bedürfnisses nach mehr Demokratie, nach mehr Teilhabe und nach mehr gemeinsamen Entscheidungen. Erlebnisse wie diese zeigten mir, wie wichtig es ist, die Kraft der Demokratie zu erleben. Wie wichtig es ist, Menschen danach zu fragen, was ihr schönstes demokratisches Erlebnis war. Denn wir müssen Demokratie geradezu einatmen, um zu erfahren, welche Bedeutung sie für uns hat. Je mehr wir die Erfahrung machen, dass wir es sind, die unsere Verhältnisse beeinflussen, und nicht die anderen, je mehr wir einen Gemeinsinn herausbilden, desto mehr werden unser Zusammenhalt und unser gesellschaftliches Selbstbewusstsein wachsen. Ein gemeinsames Selbstbewusstsein, die Fähigkeit, die Dinge in die Hand zu nehmen, sind dringend nötig in einer Welt, die sich ständig transformiert – innerlich und äußerlich. Alte Systeme tragen immer weniger, und neue Systeme bahnen sich nur langsam ihren Weg. Egal, ob wir über die Natur (Klimawandel oder Umweltverschmutzung), die gesellschaftlichen Strukturen (Ungleichheit und Spaltung) oder auf die individuelle Entwicklung des oder der Einzelnen schauen: Es gibt sie, die Substanz, die alle integriert und gesellschaftlichen Zusammenhalt schafft. Es gibt sie, die neue Kultur des Miteinander. Aber die Demokratie braucht uns, um diese Kultur des Miteinander voll und ganz für sich zu nutzen.
Ich glaube: Je mehr du dich mit der Demokratie befasst, desto mehr entfaltet sie sich vor dir, desto schöner wird sie. Du kannst sie nicht sehen, du kannst sie nur erleben, und das nur mit anderen. Du kannst in die Demokratie eintauchen und sie fühlen. In hitzigen Diskussionen, wenn du dich traust, deine eigene Meinung zu sagen, sie zu hinterfragen, sie zu ändern, oder herausgefordert bist, sie zu behaupten oder immer neu zu begründen. Wenn du merkst, wie du mit jedem gehörten Beitrag immer tiefer in eine Sache eintauchst, dir die inhaltliche Materie zu eigen machst. Oder wenn du in einer Abstimmung gewonnen oder verloren hast und du siegessicher oder traurig und enttäuscht bist. Wenn du dich von der Kraft einer guten Idee mitreißen lässt oder voller Wut dein selbst gebasteltes Transparent durch die Innenstädte trägst. Wenn du erlebst, dass in unserem Land eine Unterschrift reicht, um Demokratie zu erleben, während in anderen Ländern Menschen ihr Leben dafür lassen müssen. Dann wirst du demütig. Dann liebst du, was du hast.
Irland – und alles wurde anders
Und dann hörten wir eines Tages von Irland. Als Irland neue Wege in der Politik beschritt, brachte das auch mich auf einen neuen Weg.
Aber von Anfang an: Das Parlament im katholischen Irland wurde sich über Jahre nicht einig, ob es die gleichgeschlechtliche Ehe ermöglichen sollte. Jede Fraktion scheute die Entscheidung, drohte doch der Verlust von Wählenden entweder der einen oder der anderen Position. Das Parlament erkannte seine eigene Not und machte daraus eine Tugend. Es übertrug diese Fragestellungen zur Beratung einer zufällig zusammengesetzten Bürgerversammlung. Die homophoben, also schwulenfeindlichen Bürger:innen saßen dabei den homosexuellen gegenüber, erst verhasst, am Ende befreundet. Am Ende stimmten 64 Prozent der Versammlung für die Homoehe. Das Parlament übernahm die Empfehlung. Um sie jedoch in die Verfassung schreiben zu können, musste die irische Bevölkerung in einer Volksabstimmung zustimmen. So sieht es die irische Verfassung vor. Ebenfalls zwei Drittel stimmten im Referendum am 22. Mai 2015 für die »Homoehe«. Und auch die Presse in Deutschland wurde auf die Ereignisse in Irland aufmerksam. »Irland wagt ein Experiment: Eine Bürgerversammlung diskutiert wichtige Themen und beeinflusst das Parlament« und »So ist lebendige Politik entstanden – und eine Freundschaft zweier Männer, die füreinander erst nur Vorurteile übrighatten«, schrieb der Journalist Bastian Berbner in einer Geschichte im SZ-Magazin mit dem Titel Ich und der ganz andere, für die er den Henri-Nannen-Preis erhielt. Irland bekam mehr Demokratie. Und wir neue Ideen.
Neben Irland, Frankreich, Belgien, Kanada und Spanien experimentieren immer mehr Länder mit dieser neuen Form – auch wir. Die einen nennen sie Citizens’ Assembly, wir nennen sie einfach Bürgerräte. Allen gemeinsam ist das Format und der Prozess: Man versammelt per Losverfahren möglichst alle in der Bevölkerung vertretenen Positionen an einem Tisch und lässt die Menschen gemeinsam die beste Lösung für alle finden. Das Prinzip ist einfach, der Prozess vielschichtig und die Ergebnisse heiß begehrt. Sie könnten neue Wegweiser für die Parlamente und die Öffentlichkeit bei grundsätzlichen Entscheidungen werden. So war es jedenfalls in Irland. Gemeinsam und friedlich fand man die Lösung in einer Sache, die jahrzehntelang unüberbrückbare Gräben durch die Gesellschaft gezogen hatte.
Das ist auch mein Ziel bis heute: eine Bürgerschaft, die Gräben überbrückt und in grundsätzlichen Fragen die bestmöglichen Entscheidungen gemeinsam trifft. Ich will die Weiterentwicklung der Demokratie durch mehr direkte Beteiligung der Menschen – das ist meine Mission. Deshalb bin ich Teil einer breiten Demokratiebewegung.
Wir schreiben 2018, und nach 35 Jahren überzeugter Arbeit für die Demokratie sitze ich schließlich im Großen Saal im Schloss Bellevue. Gemeinsam mit beeindruckenden Persönlichkeiten wie Dunja Hayali und Juli Zeh, direkt neben mir meine beiden Töchter. Ich lasse meinen Lebensweg bis zu diesem Moment dankbar Revue passieren, bis Frank-Walter Steinmeier schließlich auch mich aufruft und meine Arbeit in der Demokratiebewegung mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet. Hätte mir damals, 1983 in der Menschenkette, jemand erzählt, dass ich jetzt hier im roten Kleid und schwarzen Pumps stehen würde, ich hätte gelacht. Ich hätte richtig laut gelacht. Das wäre mir viel zu staatstragend gewesen. Das Kreuz hängt schwer am Bande, aber es ist noch lange nicht die Krönung meiner Arbeit. Das Kreuz ist nur ein weiterer Anfang. Die Demokratie zu entdecken, sie zu gewinnen und zu entfalten, ihr immer näher zu kommen und sie jeden Tag neu zu begreifen ist die schönste Aufgabe meines Lebens.
Mit diesem Buch eine Liebeserklärung an die Demokratie zu schreiben war eine besondere Herausforderung. Euch auf diese Reise mitzunehmen eine besondere Ehre. Also lasst es uns anpacken. Denn unsere Demokratie verlangt nach mehr Demokratie! Und was könntest du für deine Beziehung zu Demokratie beitragen? Warum liest du diese Zeilen? Was hat dich zu diesem Buch greifen lassen? Wie würdest du mir deine Geschichte, deinen Zugang zur Demokratie erzählen?
Warum braucht die Demokratie dich und uns?
KAPITEL 1: Die Macht und die Ohnmacht
»Die Stärke des Leoparden besteht in der Furcht vor dem Leoparden.«
SPRICHWORT
Es war ein Dienstagnachmittag, 14:30 Uhr, als ich von drei Ministerialbeamten zum Büro des Innenministers eines Bundeslandes geführt wurde. Als der Minister den Raum betrat, sprangen die drei Männer in Dunkelblau auf, senkten den Blick und machten routiniert ihre angedeutete Verbeugung, während ich mich durchstreckte und kerzengerade den Blick des Ministers mit einem Lächeln erwiderte. Kurzes Händeschütteln, dann nahmen wir gegenüber voneinander Platz, zwischen uns der Schreibtisch. Schnell kamen wir zur Sache, und ich bat den Minister um seine Hilfe. Ich wusste von seiner Offenheit gegenüber unseren Anliegen für mehr direkte Demokratie, auch auf Bundesebene. Er war inhaltlich völlig bei mir. Jedoch, gestand er mir dann, seine Möglichkeiten zur Mithilfe seien begrenzt. Er könne nicht viel ausrichten, über ihm stehe der Ministerpräsident, der hätte mehr Einfluss auf den Bund.
Wenig später sprach ich mit dem Landeschef, immerhin Mitglied der erfolgreichsten Partei in Deutschland. Auch ihn bat ich um Hilfe. Eindringlich erklärte ich ihm, dass wir ohne ihn in der Sache nicht weiterkämen. Gleiches Spiel. Obwohl inhaltlich bei uns, seien ihm doch die Hände gebunden. In der Ministerpräsidentenkonferenz aller Bundesländer müsse man klug vorgehen und den richtigen Zeitpunkt abwarten. Die Machtbalance zwischen A- und B-Ländern sei hier entscheidend. Gemeint waren die Mehrheitsverhältnisse von rot oder schwarz regierten Bundesländern. Letztendlich müsse man Verbündete finden, ohne sich unbeliebt zu machen.
Also besuchte ich gleich den nächsten Landeschef. Ich fragte ihn ganz unverfroren, ob er uns helfen könne, schließlich sei er auch nah an der Kanzlerin. Ja, genau das sei das Problem. Sie stehe über ihm. Hier seien ihm die Hände gebunden, denn sie sei anderer Meinung. Selbst das Gespräch mit dem Bundespräsidenten verlief ähnlich. Er war inhaltlich nur begrenzt für unser Anliegen, machte aber vor allem deutlich, dass er so oder so keine große Hilfe sein könne, da sein Amt ihn verpflichte, sich aus der Arbeit des Parlaments und der Regierung herauszuhalten. Seine Aufgabe sei zwar, die Gesetze in letzter Instanz zu unterzeichnen, aber auf ihren Entstehungsprozess dürfe er keinen Einfluss nehmen.
Ich war verzweifelt.
Mir wurde von Gespräch zu Gespräch bewusster, dass mit der Ranghöhe des Amtes auch die Abhängigkeiten zunahmen und der Gestaltungsspielraum für politisches Handeln immer enger wurde. Je höher das Amt, desto ohnmächtiger der Politiker oder die Politikerin? Wie frei war ich dagegen? Okay, verdrehte Welt. Ich begriff: Da, wo die größte Macht vermutet wird, im verantwortlichen politischen Amt, ist das Korsett am engsten und die Ohnmacht oft am größten. Und da, wo gefühlt die Ohnmacht am größten ist, bei den Menschen auf der Straße, ist die Unabhängigkeit und Macht größer, als man meint.
Machttaktik statt echter Zusammenarbeit
Der Glaube oder die Überzeugung, dass wir nur den Klügsten unter uns ausfindig und zum Chef der Nation zu machen brauchen, schmilzt mit jeder Wahl und ihren Folgen dahin. War es früher relativ einfach, dass sich zwei oder drei Parteien die Macht und ihre Aufgaben teilen, bilden sich heute immer mehr Parteien und schaffen es in die Parlamente. Das Regieren wird immer schwieriger. Abgeordnete werden gewählt und können am Ende aufgrund der vielen politischen Zwänge nichts von dem umsetzen, wofür sie gewählt wurden. Machttaktik verhindert echte Zusammenarbeit zwischen Parteien. Über das Gelingen eines Gesetzesvorhabens entscheidet, wer im Parlament die Regierungsmehrheit stellt. Im Grunde entscheidet mehr die Regierung als das Parlament. Wenn die Opposition, also die nicht an der Regierung beteiligten Parteien, eine Idee (ein Gesetz) einbringen, wird sie prinzipiell abgelehnt. Jede noch so gute Sache wird torpediert, eben weil sie aus der Opposition kommt, mit der man in der Regel so gut wie nichts gemeinsam macht. Überhaupt entscheidet sich fast die gesamte Politik einer Legislatur in den ersten Wochen nach der Wahl mit den Koalitionsverhandlungen. Da wird quasi die Tagesordnung für die kommenden vier Jahre festgelegt. Hier wird von einer Handvoll Spitzenpolitiker und -politikerinnen ausgehandelt und in den Regierungsvertrag geschrieben, was dann in den folgenden vier Jahren umgesetzt wird. Und alles, was da nicht drinsteht, wird in der Regel auch nicht gemacht.
Aber schauen wir uns doch mal an, wie solche Koalitionsverhandlungen vonstattengehen. Am besten an einem prominenten, weil leider böse gescheiterten Beispiel: den Jamaika-Sondierungen im Herbst 2017, als CDU/CSU, FDP und BÜNDNIS90/DIEGRÜNEN nach den Bundestagswahlen vom 24. Oktober 2017 versuchten, erstmals eine schwarz-gelb-grüne Regierung zu bilden.
Gleich nach der Wahl hatte die SPD, die schwere Verluste verzeichnen musste, angekündigt, keine große Koalition mehr zu bilden und stattdessen in die Opposition zu gehen. Die Grünen wiederum verkündeten nach der Wahl, nur dann in Koalitionsverhandlungen zu treten, wenn Kernvorhaben ihres Zehn-Punkte-Plans wie Klimaschutz, sozialer Zusammenhalt und soziale Gerechtigkeit ein politischer Schwerpunkt der zukünftigen Bundesregierung bilden würden. Gleichzeitig bemühte man sich bei den Grünen von Anfang an, eine Kultur des Kompromisses zu betonen. Aber vor allem wollte man mal wieder regieren. Denn während die Partei auf Landesebene an vielen Regierungskoalitionen beteiligt war, in Baden-Württemberg sogar als stärkste Kraft, lag die letzte und einzige Regierungskoalition auf Bundesebene mehr als zehn Jahre zurück. Für die Grünen ging es also echt um was.
Und auch die CDU/CSU hatte viel zu verlieren: Immerhin hatte die AfD mit 12,6 Prozent ein erdrutschartiges Ergebnis eingefahren. Einen Anteil, der die CDU/CSU in ganz besonderer Weise bedrohte, denn in vielen Positionen mussten die Christdemokraten nun in den Koalitionsverhandlungen klarmachen, dass die konservative Wählerschaft weiter auf sie setzen konnte. Man müsse, so CSU-Chef Horst Seehofer damals, die »Polarisierung« bekämpfen und »politisch-radikale Kräfte« zurückdrängen. Sowohl für die Grünen als auch für die CDU/CSU ging es in dieser potenziellen Koalition also auch darum, die eigene Identität zu wahren und die eigene Wählerschaft nicht zu enttäuschen.
Und dann war da noch die FDP, zutiefst traumatisiert, dass sie in der Wahl 2013 nach ihrer Regierungsbeteiligung von 2009 bis 2013 aus dem Bundestag geflogen war. So traumatisiert, dass die Partei eine Beteiligung an der Regierung eigentlich von Anfang an ausschloss? Wenn man Insiderinformationen und Medienberichten glaubt, dann ja. Anscheinend hatte das Team um Parteichef Christian Lindner von Anfang an nicht vorgehabt, sich wirklich ernsthaft auf die Sondierungsgespräche oder gar Koalitionsverhandlungen einzulassen. Der Schock bei CDU/CSU und den Grünen war dennoch riesig, als Christian Lindner im letzten Moment, kurz vor der vermeintlichen Einigung und Unterzeichnung eines Koalitionsvertrages, den Ausstieg aus den Verhandlungen verkündete.