Die zerrissene Gesellschaft - Claudine Nierth - E-Book

Die zerrissene Gesellschaft E-Book

Claudine Nierth

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Beschreibung

Das resiliente Wir

Wieviel Polarisierung können wir aushalten und wann bricht eine Gesellschaft einfach auseinander? 2015/2016 führt die Flüchtlingskrise zu einem Erstarken rechtspopulistischer Kräfte; 2020 ändert ein neuartiges Virus schlagartig unsere Lebensrealität und wirkt wie ein Brandbeschleuniger für soziale Ungleichheiten; 2022 beginnt Putin vor den Augen der Welt einen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine, mit schweren Folgen auch für die deutsche Wirtschaft. Und die größte Krise in Form der sich anbahnenden Klimakatastrophe steht uns erst noch bevor. Wie können wir in dieser hoffnungslosen Situation wieder Vertrauen schöpfen, wie kann sich die Gesellschaft stabilisieren? Claudine Nierth und Roman Huber spüren den gesellschaftlichen Gräben im neuen Krisenzeitalter nach, identifizieren kollektive Traumata und deren Einfluss auf politische Ansichten und Entscheidungen. Und sie formulieren unter Rückgriffen auf die Resilienzforschung und die Sozialpsychologie einen heilsamen Fahrplan zu einem neuen, kompetenten Wir, in dem jede*r Einzelne sein Potenzial mobilisieren und entfalten darf.

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Buch

Wie viel Polarisierung können wir aushalten, und wann bricht eine Gesellschaft einfach auseinander? 2015/16 führt die Flüchtlingskrise zu einem Erstarken rechtspopulistischer Kräfte; 2020 ändert ein neuartiges Virus schlagartig unsere Lebensrealität und wirkt wie ein Brandbeschleuniger für soziale Ungleichheiten; 2022 beginnt Putin vor den Augen der Welt einen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine, mit schweren Folgen auch für die deutsche Wirtschaft. Und die größte Krise in Form der sich anbahnenden Klimakatastrophe steht uns erst noch bevor. Wie können wir in dieser hoffnungslosen Situation wieder Vertrauen schöpfen, wie kann sich die Gesellschaft stabilisieren? Claudine Nierth und Roman Huber spüren den gesellschaftlichen Gräben im neuen Krisenzeitalter nach, identifizieren kollektive Traumata und deren Einfluss auf politische Ansichten und Entscheidungen. Und sie formulieren unter Rückgriffen auf die Resilienzforschung und die Sozialpsychologie einen heilsamen Fahrplan zu einem neuen, kompetenten Wir, in dem jede*r Einzelne sein Potenzial mobilisieren und entfalten darf.

Autor:innen

Claudine Nierth ist Politaktivistin und Künstlerin mit einem Schwerpunkt auf der künstlerischen Gestaltung sozialer Prozesse. Sie ist Bundesvorstandssprecherin der Organisation Mehr Demokratie, welche sich für Bürgerbeteiligung, direkte Demokratie durch Volksabstimmungen und geloste Bürgerräte einsetzt. In dieser Funktion führte Claudine Nierth fünf Volksbegehren mit zum Erfolg und setzt sich für die Etablierung von gelosten Bürgerräten ein. Für ihr Engagement erhielt sie 2018 das Bundesverdienstkreuz am Bande. Zuletzt erschien von ihr Die Demokratie braucht uns! bei Goldmann.

Roman Huber ist geschäftsführender Bundesvorstand von Mehr Demokratie und Mitgründer der Gemeinschaft Schloss Tempelhof. Er brachte mit Mehr Demokratie mehrere Volksbegehren auf den Weg und organisierte die größte Verfassungsbeschwerde in Deutschland. Roman Huber lebt mit 150 Menschen in der Zukunftswerkstatt Schloss Tempelhof, einem Ökodorf, das er seit 2010 mit aufgebaut hat. Die Erforschung und Erprobung neuer Formen des Zusammenlebens, der Entscheidungsfindung und des Zusammenhalts sind Kernanliegen seiner Arbeit.

Claudine Nierth und Roman Huber initiierten und organisierten die ersten beiden deutschlandweiten Bürgerräte »Demokratie und Deutschlands Rolle in der Welt«. Mit Mehr Demokratie führen sie aktuell weitere Bürgerräte im Auftrag des Bundestages durch.

Außerdem von Claudine Nierth im Programm

Die Demokratie braucht uns! Für eine Kultur des Miteinander(zusammen mit Katharina Höftmann Ciobotaru)

Claudine Nierth und Roman Huber

DIE ZERRISSENE GESELLSCHAFT

SO ÜBERWINDEN WIR GESELLSCHAFTLICHE SPALTUNG IM NEUEN KRISENZEITALTER

Wir haben uns bemüht, alle Rechteinhaber ausfindig zu machen, verlagsüblich zu nennen und zu honorieren. Sollte uns dies im Einzelfall aufgrund der schlechten Quellenlage bedauerlicherweise einmal nicht möglich gewesen sein, werden wir begründete Ansprüche selbstverständlich erfüllen.

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Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Copyright © 2023: Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Illustrationen S. 42, 48, 226: Liane Haug

Umschlag: Uno Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: gettyimages / David Malan; FinePic®, München

Redaktion: Antje Steinhäuser

Satz: Mediengestaltung Vornehm GmbH, München

EB ∙ CF

ISBN 978-3-641-30333-4V001

www.goldmann-verlag.de

Inhalt

Einleitung

Kapitel 1: Der Zerfall des Zusammenhalts

Innen und Außen – ein Grundmuster von Konflikten

Spaltung der Gesellschaft – andere zum anderen machen

Gibt es eine Krise hinter der Krise?

Krise der Demokratien?

Kultur und Struktur

Mehr politische Bildung und alles wird gut?

Kapitel 2: Politische Macht der Emotionen

Verhalten sich die Klügsten am dümmsten?

Bestätigungsfehler

Die und Wir

Was erlebst du, wenn du entscheidest?

Wie Emotionen unsere Entscheidungen prägen

Sich verantwortlich eine Meinung bilden

Verschwörungstheorien

Faktenchecker

Kapitel 3: Im Labyrinth der Schatten

Die Grünen und der Volksentscheid

Trauma, die emotionale Wunde

Das Trauma der Ahnen, die genetische Vererbung

Soziale und kollektive Traumata

Beispiele für kollektive Traumata

Kapitel 4: Was hat Trauma mit Demokratie zu tun?

Polarisiert Trauma die Gesellschaft?

Wie lief der Prozess ab?

Wie lief die Forschung ab?

Was waren die Ergebnisse?

Kapitel 5: Kultur der Innenräume – Kompetenzen

Transparente Kommunikation – Wenn das Innen mitredet

Resilienz – Die emotionale Widerstandskraft

Die innere Autorität finden

Arbeit in Teams, Gruppen und Gemeinschaften

Kulturkompetenz

Demokratie der Zuneigung

Kapitel 6: Wege zu einer kompetenten Gesellschaft

Gesellschaftliches Innen und Außen

Bürgerräte – Die gelosten Bürger – Krafträume der Demokratie

Neue Verbindung für Innen- und Außenräume notwendig

Wie kommen wir zu einer anderen Politik?

Was kann der Staat beitragen?

Unser Zukunftsbild: Gemeinden brechen auf

Zu guter Letzt

Kapitel 7: Praktische Hilfen

Bürgerräte, Bürgerbegehren oder andere kreative Beteiligungsprozesse

Neue Formate

Literaturempfehlungen

Wer ist Mehr Demokratie?

Danke!

Quellen

Der Schatten ist die natürliche Folge davon, dass irgendwo Licht ist.

Einleitung

Wir leben in einer zerrissenen Welt.

Die Welt um uns ist zerstritten, gespalten und in Lager zerteilt. Mobbing, Konkurrenz und Schuldzuweisungen, die »anderen« sind schuld und müssen umerzogen, zur Seite geschoben oder unterdrückt werden. Sie dürfen auf keinen Fall ans Ruder kommen. Gruppen schotten sich voneinander ab und reden nicht mehr miteinander, sondern nur noch übereinander. Man umgibt sich lediglich mit seinesgleichen. Linke sprechen kaum mit Rechtskonservativen, geschweige denn mit Rechten. Und umgekehrt. Gleichzeitig vereinsamen immer mehr Menschen. Sie sind innerlich heimatlos und ohne emotionalen Halt.

Währenddessen türmen sich die Probleme. Klimawandel, Mikroplastik in allen Organismen, Artensterben, tote Meereszonen, Umweltverschmutzung. Die Kluft zwischen Arm und Reich, zwischen dem Globalen Norden und dem Globalen Süden wird größer. Und vieles mehr. Obendrauf zu alledem kommt der Krieg in der Ukraine, der uns bis ins Mark erschüttert und unsere Gewissheiten schwinden lässt.

Als Demokratieaktivisten dachten wir immer, wir müssen unser Regierungssystem nur demokratischer machen und mehr am Gemeinwohl orientieren. Wenn wir immer mehr Menschen einbeziehen, dann kommen wir einen entscheidenden Schritt weiter. Aber selbst da, wo dies gelungen ist, hört der Streit und die Spaltung nicht auf.

Und gleichzeitig haben wir in dreißig Jahren in der Politik, in dreißig Jahren Aufbau von zivilgesellschaftlichen Organisationen oder Lebensgemeinschaften immer wieder eines erlebt: Probleme lassen sich lösen, oder zumindest können wir in einen konstruktiven Dialog miteinander treten und die Umstände ein Stück weit voranbringen und verbessern.

Manche Probleme sind wirklich schwierig zu lösen, wie zum Beispiel soziale Ungerechtigkeit. Es gibt kein Patentrezept dafür. Es gibt keine eindeutig richtigen oder falschen Antworten. Aber auch hier kommen wir mit kreativen Lösungsstrategien für komplexe Probleme weiter.

Es sei denn, es sind neben den Sachfragen ungeklärte emotionale Themen im Spiel. Angst, Neid, Gier, Egoismus, Eitelkeit, Sturheit, Geltungsdrang, ungeklärte und unter den Tisch gekehrte Konflikte. Das Problem ist, dass diese Faktoren fast immer eine Rolle spielen. In fast jedem Meeting, in jeder Talkshow, in jeder Parlamentsdebatte, in jeder Kirchenratssitzung oder in jedem Lehrerzimmer. Und zwar in einem Ausmaß, das einem in der Regel nicht mehr bewusst ist, weil es so normal ist. Dies fällt den Beteiligten erst dann auf, wenn es überraschenderweise einen freien und superkreativen Lauf gibt. Alle tragen bei, die Ideen sprudeln, die Moderation unterstützt den Prozess an der richtigen Stelle und lässt die Energie auch mal laufen. Wenn wir in einer geklärten und psychologisch sicheren Umgebung in einem Team an der Sache arbeiten. Dann werden in kürzester Zeit kreative oder einfach nur alltagstaugliche, kluge Lösungen gefunden. Die Dinge fallen wie von selbst an ihren Platz.

Viel zu oft findet das nicht statt. In manchen Unternehmen oder in der großen Politik fast nie. Je mehr Krise, desto enger wird es. Es gibt kaum mehr langfristiges Denken. Obwohl sich doch alle bemühen und das Beste wollen. Oft bricht die Kommunikation, es wird gelogen und übervorteilt, und jede:r versucht, das Beste rauszuholen. Aber nicht, weil die Menschen schlecht sind. In anderen Zusammenhängen sind dieselben Menschen liebevolle Mütter und Väter, gute empathische Freunde oder kümmern sich aufopfernd um die Umwelt oder Menschen in Not.

Wir kennen es ja selbst, wir nehmen uns vor, anders zu agieren und tappen immer wieder in die gleichen Muster und alte Verhaltensweisen.

Wir folgen einigen Grundannahmen, denen Sie sich nicht gleich anschließen müssen. Wir glauben, dass der Mensch im Grunde gut, willens und in der Lage ist, sich zu verändern. Nahezu alle Menschen streben nach Glück oder Zufriedenheit und wollen auch, dass es anderen gut geht. Das bezieht sich auch auf unsere Umwelt und die ganze Welt. Und alle Menschen brauchen eine Grundstabilität, einen Platz, an dem sie zu Hause und sicher sind, an dem sie anerkannt sind und gesehen werden.

Wenn wir – mit wir ist sowohl jede:r Einzelne als auch wir als Gesellschaft gemeint – uns nun verändern wollen, aber es nur schwer schaffen, muss es dafür Gründe geben. Einer der wichtigsten Gründe sind die unbewältigten Schatten der Vergangenheit, die uns immer wieder einholen. An diesen können wir arbeiten. Das ist die eigentliche Aufgabe und das Schicksal unseres Lebens. Wir gehen also davon aus, dass wir nicht einfach nur so sind, wie wir sind und unveränderbare Charaktere haben, sondern jede:r kann sich an dem Platz, an dem er oder sie gerade steht, ein wenig dem Licht zuwenden. Nach dem Wahren, Guten und Schönen streben. Wäre dies nicht so, wären wir wahrscheinlich gar nicht mehr da.

Eine weitere Annahme, von der wir ausgehen, ist: Hinter allen fixierten Problemen und schlechten Eigenschaften oder Mustern, in denen wir uns befinden und die wir kaum selbst gelöst kriegen, die sich nicht verändern lassen oder immer wiederkehren, liegen meistens Traumata. Alte und unbewusste Wunden aus der Vergangenheit. Wir definieren Trauma breiter, verwenden also nicht nur die klassische Definition, die auf Opfer von Gewalt, Krieg oder Missbrauch zutrifft. Sehr viele Menschen haben ein Entwicklungs- bzw. Bindungstrauma, das bereits in ganz frühen Jahren entstanden ist. Meist vergessene und verdrängte Kindheitserfahrungen können die Psyche vergiften und einem das ganze Leben im Weg stehen.

Der für uns jetzt neue Ansatz ist, dass Traumata nicht nur individuell wirken und entstehen, sondern dass auch die schlimmen Wunden der Vergangenheit, die Traumata unserer Ahnen auf uns bis in die Gene wirken. Und noch frappierender gibt es sogar gesellschaftliche oder kollektive Traumata.

Da wir uns von jeher mit Gesellschaft beschäftigen, hat dies eine hochpolitische Dimension. Denn dann hätte jedes Kollektiv, also jede Gruppeneinheit, sei es ein Unternehmen, ein Dorf, ein Land oder eine Nation, nicht nur eine Licht-, sondern auch eine Schattenseite. Nicht nur spezifische Qualitäten und Kompetenzen, sondern auch kollektive Traumata. Darauf wollen wir besonders eingehen. Denn dies hat unseren Blick auf Politik und die mögliche Veränderung von gesellschaftlichen Verhältnissen stark verändert und bereichert. So vieles ist dadurch einfacher zu verstehen.

Gehen wir noch mal einen Schritt zurück: Sie meinen, so einfach ist das nicht. Es gibt doch auch handfeste ökonomische Interessen oder den Einfluss von Macht, wenn es um Politik geht. Es macht doch keinen Sinn, die Politik so zu psychologisieren. Wir müssen jetzt die Probleme lösen, die uns zu überrollen drohen. Wir haben einfach keine Zeit für solche Luxusthemen. Ja, wir haben wenig Zeit, und das Leben wird immer schneller. Denn wir leben in einem Wirtschaftssystem, das wachsen muss, nur um den Status quo zu halten, allein dadurch beschleunigt sich die Welt.

Aus unserer Sicht braucht es nicht weniger, sondern mehr Psychologie in der Gesellschaft und in der Politik, also mehr Wissen um die Seele des Menschen (Psyche altgriechisch »Seele, Schmetterling«). In der Politik geht es fast nur um Psychologie, denn Politik wird immer von Menschen gemacht. Oder wie es Abraham Lincoln, der berühmte amerikanische Präsident, formulierte, »Demokratie ist die Regierung der Menschen, durch die Menschen und für die Menschen«. Im Original heißt es Volk statt Menschen. Doch eines der deutschen kollektiven Traumata bewirkt, dass wir dem Volk misstrauen und uns sogar physisch unwohl fühlen, wenn wir »Volk« hören, zumindest in manchen Kreisen.

Auch nicht zu stillende Gier nach Reichtum und Macht lässt sich letztlich auf unerfüllte Grundbedürfnisse des Menschen nach Sicherheit und Selbstausdruck zurückführen.

Wir glauben, dass wir eine neue Herangehensweise in unserer krisengeschüttelten Zeit brauchen, ein neues Paradigma. Wir brauchen mehr als das mechanistische Denken, wir brauchen ein fühlendes Denken. Auch in der Politik. Wir brauchen nicht nur eine Demokratie der Gewaltenteilung, sondern zusätzlich eine Demokratie der Zuneigung. Wir wollen Rationalität nicht überwinden, sondern mehr Denken, Kreativität und Innovation ermöglichen, indem wir sie um die emotionale Ebene erweitern. Dafür brauchen wir ein umfassenderes Herangehen, wir brauchen den Menschen mit allen seinen Kompetenzen. Mit seinen Gedanken, seinen Empfindungen und seinem Handeln. Und dies ist wenig überraschend, denn wir sind ja sowieso immer als vollumfänglich da, auch mit unseren Emotionen, nur blenden wir dies meistens aus.

Neue Kompetenzen, ein neues Bewusstsein, ein neuer Blick auf die Welt wird nicht einfach entstehen, nur weil wir einmal die Notwendigkeit dazu verstanden haben. Wir bekommen das nicht geschenkt, sondern das bedeutet Arbeit, Inner Work.

Wir stellen in den Raum: Politische Arbeit wird sich ohne Persönlichkeitsentwicklung nicht grundlegend weiterentwickeln. Wir können heute diese Kompetenzen ausbilden, Selbstreflexion, Empathie und Mitgefühl lassen sich lernen. Transparente Kommunikation erfordert Übung. Selbstkontakt und Selbstreflexion ist eine lebenslange Schulung. Konfliktfähigkeit auch. Wer in der heutigen Zeit dauerhaft und wirksam politisch tätig sein will, ohne auszubrennen, braucht auch ein inneres Training, um stabil zu bleiben. Eine Form der An- und Rückbindung, des inneren Rückhalts.

Viel von dem Wissen um Achtsamkeit, Beziehungskompetenzen, agile Strukturen und Transformation wird in modernen Unternehmen und kulturellen Gruppen seit vielen Jahren entwickelt. Wir wollen davon mehr in der ganzen Gesellschaft, vor allem aber in der Politik und Verwaltung. Und wir sind sicher: Menschen sehnen sich danach!

Einschneidende Veränderungen, die mit großer Wahrscheinlichkeit auf uns zukommen, müssen von möglichst allen Bürger:innen mitgetragen werden. Dazu müssen sie beteiligt werden. Einschnitte, die wir verstanden und bewusst mitentschieden haben, werden auch gemeinsam umgesetzt. Durch die Beteiligung der Bürger:innen wird die Politik besser und letztlich sogar schneller.

Wir wollen konkrete Vorschläge machen, wie wir dies im Politischen ein- und umsetzen können. Wir haben Ideen, wie Bürgerräte weiterentwickelt werden oder wie Gemeinderäte besser zusammenarbeiten können. Wie verfeindete Gruppen miteinander in Kontakt kommen können. Oder Menschen miteinander in Beziehung gehen, die einander nie begegnen würden. Wir wollen weiter daran forschen, wie mit kollektiven Traumata gesellschaftlich und politisch praktisch umgegangen werden kann.

Wir können uns eine zerrissene Gesellschaft nicht leisten, in der einzelne Menschen oder ganze Gruppen sich abspalten oder verloren gehen. Wir können auf die Kraft aller nicht verzichten. Wir brauchen die Bürgerschaft, die Verwaltung, die Politik, die Wirtschaft.

Es geht uns um die Stabilisierung der Gesellschaft und um die Voraussetzungen, überhaupt demokratisch agieren und politische Entscheidungen treffen zu können. Und dabei stoßen wir offensichtlich an ganz menschliche Grenzen, und diese wollen wir nicht verdrängen oder negieren, sondern bewusst einbeziehen.

Wir Autor:innen sind Politaktivist:innen, kommen aus der Zivilgesellschaft und haben mit unserer Organisation Mehr Demokratie an über vierzig Verfassungs- und Gesetzesreformen mitgewirkt. Wir haben Gesetze initiiert oder Vorschläge dafür erarbeitet. Wir haben mit mehreren Hundert Politikern bis in die höchsten Ämter gesprochen oder zusammengearbeitet, Verfassungsbeschwerden eingereicht und für den Bundestag die ersten bundesweiten, gelosten Bürgerräte organisiert. Und wir haben mehrere erfolgreiche Volksbegehren durchgeführt für die Erleichterung demokratischer Teilhabe durch Volks- und Bürgerentscheide. Wir haben viele Kampagnen in großen Bündnissen im Schulterschluss mit demokratischen Parteien durchgeführt. Das heißt, wir sind mit dem politischen Betrieb vertraut, von innen und außen, seit über dreißig Jahren.

Aber heute erkennen wir die Grenzen unseres Handelns – und die Grenzen des politischen Systems. Heute fragen wir in Anbetracht der zerrissenen Gesellschaft und der politischen Herausforderungen: Was brauchen wir eigentlich wirklich? Woran scheitert dringend notwendiges Handeln? Warum sind Bürger:innen und Politiker:innen verdrossen?

Wir sind der Überzeugung: Wir brauchen eine Demokratie der Zuneigung! Dafür brauchen wir ein umfassenderes Bewusstsein im Umgang sozialer Prozesse.

Die Demokratie braucht Streit und Auseinandersetzung. Ja, natürlich. Aber der derzeit vorherrschende Konkurrenz- und Machtkampf ist nicht das einzige und wichtigste Lebensprinzip. Wir brauchen mehr Kooperation. Wir brauchen eine erhöhte soziale Fähigkeit, zu besseren Lösungen zu kommen, die von vielen Menschen getragen werden.

Und wir sind selbst auf der Suche nach Antworten und Lösungen. Wir erarbeiten Modelle und bringen sie ein. Wenn sie sich bewähren, werden sie sich etablieren, wie zum Beispiel die gelosten Bürgerräte. Einige der Perspektiven, die wir Ihnen vorstellen, mögen neu und ungewohnt sein. Viele stammen nicht aus der traditionellen Politikwissenschaft, sondern eher aus der Soziologie oder Psychologie. Manche – wie die Wirkung von kollektiven Traumata – beginnen die Wissenschaft erst zu erforschen.

Die Welt wird noch komplexer, dies erfordert Mut und Bereitschaft, alles, auch sich selbst, infrage zu stellen. Die eigenen Meinungen und Lebensweisheiten zu entlarven. Wir beschreiben einen aus unserer Sicht unverzichtbaren Ansatz. Er wird vielleicht nicht genügen, aber ohne ihn werden wir es sicher nicht schaffen, aus dieser fragilen Weltenlage, in der wir uns befinden, herauszukommen, die eingangs genannten Probleme – und viele mehr – zu bewältigen. In die Situation, in der sich die Welt gerade befindet, hat sich die Menschheit selbst hineinmanövriert. Jetzt stehen wir vor der notwendigen Aufgabe, diese Entwicklungen zu wenden, um neue, lebenswertere Perspektiven zu ermöglichen.

Jede:r von uns kann dazu beitragen und trägt ungeahntes Potenzial in sich. Wie kreieren wir eine global fairere Gesellschaft in Verbindung mit einer gesunden Umwelt? Vielleicht nennen wir sie auch Mitwelt, denn sie umgibt uns nicht nur. Wir sind nicht getrennt von der Welt, in der wir leben, sondern sind Teil von ihr.

Nach Jahrhunderten von Zerstörung und Ausbeutung stellen wir uns nun auf viele Jahre der Wiederherstellung ein. Wir werden dies nicht nur mit Aktivitäten in der Welt da draußen erledigen können, sondern müssen auch bei uns selbst in unserem Inneren beginnen. Die anderen für unsere Probleme verantwortlich zu machen, ist ein Teil des Problems, weil wir uns damit aus der Verantwortung ziehen.

Wir müssen unsere eigenen Unzulänglichkeiten annehmen und in unserem Inneren die Lösungen suchen. Wie kann im Äußeren Frieden und Zusammenhalt entstehen, wenn wir in unserem Inneren Konflikte schüren und Zwietracht säen? Wie können wir zur Welt eine Beziehung und Mitgefühl entwickeln, wenn wir uns selbst nicht fühlen? Wie können wir äußerlich Moral fordern, wenn wir im Inneren unsere Werte verlieren? Die innere Auseinandersetzung mit den äußeren Herausforderungen muss politisch und von öffentlichem Interesse werden!

Das Phänomen der Polarisierung, die Zerrissenheit bis hin zum Zerfall der Gesellschaften ist der Anlass, nicht aber die Ursache für unsere bedrohten Demokratien. Offensichtlich befinden wir uns bereits mitten in einem neuen Krisenzeitalter. Doch Krisen sehen wir hier auch als Chance für positive Veränderung.

Wie viele Krisen können wir aushalten, und wann bricht eine Gesellschaft einfach auseinander? Vor wenigen Jahren hat die Flüchtlingsfrage die Gesellschaft herausgefordert und gespalten. Dann kam die Pandemie. Angst, Krankheit, Tod und unbekannte Einschränkungen unseres Lebens. Kaum tauchen wir daraus auf, folgt der Krieg in der Ukraine und damit verbunden die Bedrohung unserer Weltordnung. Und die eigentliche Krise des Klimawandels steht uns noch bevor.

Mit jeder Krise scheint der Stress, der uns belastet, die Konflikte, die damit einhergehen, größer zu werden. Wie viel Puffer haben wir noch? Wie gefestigt ist unsere Gesellschaft? Und wie stabil ist unser demokratisches System?

Sich immer weniger in der Meinung der anderen wiederzufinden, sie als fremd zu erleben, ist der Preis einer zunehmend sich individualisierenden Gesellschaft. Jeder von uns muss irgendwann schmerzlich feststellen: Du bist nicht ich!

Unsere Gesellschaft scheint sich schneller zu entwickeln als wir, und dabei bleiben unsere Werte auf der Strecke. Jede:r kennt jemanden, die plötzlich Dinge sagt, die einen befremden. Doch wie gehen wir damit um? Sich auseinanderzudividieren, in Freunde und Feinde zu teilen, geht schneller, als Freunde zu finden und Bündnisse zu schließen. Doch was ist, wenn der gesellschaftliche Kitt, das gesellschaftliche Immunsystem selbst in die Brüche geht?

Dieses Buch soll helfen, Krisen anzunehmen. Es soll uns einen anderen Umgang mit den Herausforderungen ermöglichen und unsere Sichtweisen erweitern. Und es soll helfen, Ressourcen zu mobilisieren, die die Gesellschaft dringend braucht, um ihre Zerrissenheit zu überwinden. Wer für die anstehenden Herausforderungen gerüstet sein will, sollte beginnen, sich auf den Weg zu machen, Kulturkompetenzen zu entwickeln. Es geht nicht darum, weniger Probleme zu haben, sondern darum, anders mit ihnen umgehen zu können.

Alle werden ihren Beitrag leisten müssen, die Politik, die Zivilgesellschaft, die Wirtschaft, aber auch jede:r Einzelne von uns. Es ist ein Plädoyer für die Hoffnung und die Perspektive, dass jede:r von uns Einfluss auf eine friedlichere, die Umwelt schützende und erhaltende Welt hat.

KAPITEL 1: Der Zerfall des Zusammenhalts

»Jede Spaltung in den Meinungen schwächt eine Kraft, die bisher als eine einzige gewirkt hat.«

Johann Friedrich Herbart

Der Rückzug in die eigene Meinungsblase wirkt heute wie das Leben auf einer Insel der noch einzig Normalen. Verzweiflung, Empörung und Fassungslosigkeit greifen um sich. Die Welt um einen scheint sich in Konflikte zu zerlegen, das persönliche soziale Netzwerk ist gefährdet oder bereits zerbröselt. Und gesellschaftlich stehen immer mehr Bevölkerungsgruppen am Rand oder haben sich bereits isoliert und vom großen Teil der Gesellschaft abgemeldet. Die einen ziehen sich still zurück, andere wandern aus, und wieder andere radikalisieren sich. Wie jüngste Umfragen1 offenbaren, wächst der Anteil jener dramatisch, die glauben, nur noch in einer Scheindemokratie zu leben.

Bei vielen Themen sind wir gefordert, uns auf die eine oder andere Seite zu stellen. Schnell kommt es darauf an, die »richtige« von der »falschen« Seite zu unterscheiden und sich für eine zu entscheiden. Natürlich für die richtige. Das Problem: Auch auf der richtigen Seite sind wir immer noch auf einer Seite. Warum verspüren wir den Drang, uns eindeutig positionieren zu müssen? In unserer Erfahrung bedeutet sich zu positionieren, sich Sicherheit zu verschaffen. Solange unsere Meinung noch nicht gebildet ist, müssen wir uns mit der Sache auseinandersetzen, unterschiedliche Informationen »auswählen« und »prüfen« und die Spannung aushalten – das ist anstrengend! Hinzu kommt der gesellschaftliche Druck, sich positionieren zu müssen. »Wie, du hast dazu keine Meinung? Hast du nicht die Nachrichten gesehen?« Unser Umfeld fordert unsere Positionierung regelrecht heraus, nicht zuletzt aus einem Solidarisierungsbedürfnis. Nach dem Motto: »Ah, schön, dass wir einer Meinung sind.« Und damit sind wir nicht mehr allein.

Die einen behaupten, die anderen dementieren, dass es überhaupt Zerrissenheit gebe. Zerrissenheit entsteht immer dann, wenn Themen besonders emotionalisieren, mit Ängsten aller Art aufgeladen sind und Teile der Gesellschaft sich abspalten oder abgespaltet werden. Zerrissenheit bedeutet nicht in erster Linie eine quantifizierte Größe, nach dem Motto, wenn 80 Prozent einer Meinung sind und 20 Prozent anderer Meinung, dann gäbe es keine Spaltung, weil die Mehrheit weiß, was sie will. Nein, mit Spaltung sind jene qualitativen Erlebnisse gemeint, wenn sich Menschen nicht mehr zugehörig, sondern ausgestoßen, verachtet, verdrängt, missachtet, moralisch abgewertet fühlen, egal ob sie einer kleiner Minderheit oder einer großen Mehrheit angehören. Und zwar bevor sich jemand radikalisiert oder antidemokratisch wird!

Viele fühlen sich mit Aufteilungen in Freund-Feind-Lager zunehmend unwohl. Manche machen die Erfahrung, bevor sie sich eine Meinung gebildet haben, nach einer unbedachten Frage oder Äußerung sofort ausgegrenzt zu werden. Zwischen Befürworter- und Gegnerschaft von strengen Coronamaßnahmen, beispielsweise, war die Polarisierung so stark, dass eine der jeweils anderen Seite Bosheit oder Dummheit vorwarf. Man empfindet die eigene Meinungsgruppe, die eigene »Bubble« als rational, aufrecht und solidarisch und die andere Meinungsgruppe als irrational, gefährlich und egoistisch. Auffallend war, dass beispielsweise heftige Impfskeptiker:innen und Impfbefürworter:innen ähnlich abwertend übereinander sprachen. Sie unterstellten sich oft gegenseitig »falsch« informiert zu sein, »unwissenschaftlich« zu argumentieren oder »manipuliert« und »angstgesteuert« zu sein.

Die Demokratie hat es hier mit soziologischen und psychologischen Einflüssen und Auswirkungen zu tun, die die Gesellschaft belasten. Nämlich dann, wenn diese Lagerbildung den demokratischen Rahmen verlässt. Wenn die jeweils andere Gruppe so abgewertet oder verstoßen wird, dass man sich mit ihr nicht mehr auf den gemeinsamen demokratischen Boden begeben will, sondern ihr das Recht abspricht, sich im demokratischen Rahmen zu befinden, wird es eng. Wenn Impfbefürworter:innen und Impfgegner:innen einander für solche »Idioten« halten, dass man mit den jeweils anderen nicht mehr gemeinsam Teil der Gesellschaft sein will, drängen sich die jeweiligen Lager an den Rand. Sie gehen sich so aus dem Weg, dass sie auch für andere politische Themen mögliche Gemeinsamkeiten kategorisch ausschließen. Nach dem Motto: »Mit Impfbefürwortenden/Impfgegner:innen können wir weder gemeinsame Gesundheitspolitik machen, noch werden wir uns mit ihnen in der Schulpolitik einigen können, weil sie einfach Deppen sind. Mit denen setzen wir uns erst gar nicht an den Tisch.«

Die Ausschließlichkeit macht einen Teil des Problems aus. Junge Menschen, die sich in der Genderpolitik engagieren, halten es für nutzlos, mit alten weißen, nicht gendernden Männern gemeinsame Klimapolitik zu machen, und umgekehrt übrigens auch. Diese apodiktischen Haltungen sind problematisch, und wir Autor:innen sprechen uns davon auch nicht frei, solche ebenso einzunehmen, ohne es zu bemerken.

Demokratie lebt durch eine Gesellschaft, die voraussetzt, dass sie unterschiedliche Meinungen und Interessen in sich birgt und gerade die Demokratie jene Wiese ist, auf der die jeweiligen Interessenkonflikte ausgehandelt werden. Wenn aber die Verhandlungspartner einander die Kompetenz zum Verhandeln absprechen, nützt auch die schönste demokratische Wiese nichts. Diese Haltung läuft am Ende auf Spaltung hinaus, jede:r baut sich dann seine eigene demokratische Wiese und bestimmt, wer sie betreten und mitspielen darf.

Menschen, die sich nicht mehr mit dem Staat, in dem sie leben, und mit den öffentlichen Institutionen und der Demokratie identifizieren wollen oder können, fühlen sich zwangsläufig verloren in der Demokratie. Sie haben den Eindruck, nichts beeinflussen zu können, chronisch überstimmt zu werden, und fühlen sich abgewertet. Sich als Demokrat in einer Demokratie nicht demokratisch zu fühlen, ist ein Problem.

Jede Polarisierung ist so lange verkraftbar, wie sie sich in einem gemeinsamen Rahmen abspielt, der beide Seiten umfasst. Ein handfester Ehestreit am Küchentisch ist aushaltbar, solange die Ehe selbst nicht in Frage gestellt wird. Erst wenn diese selbst Teil des Konflikts wird, droht die Scheidung. Ähnlich ist es gesellschaftlich. Die Demokratie ist der Rahmen für kontroverse Debatten und Auseinandersetzung. Wird jedoch die Auseinandersetzung und damit die Polarisierung so groß, dass die Demokratie selbst angezweifelt wird, droht der gesellschaftliche Zusammenhalt auseinanderzubrechen. Ein Diskurs ist so lange fruchtbar, wie er einer höheren, allgemein umfassenderen Ordnung dient. Ein Ehestreit über den zukünftigen Wohnort dient der höheren Gemeinsamkeit und wird so lange diskutiert, bis er ausgehandelt ist. Wenn gesellschaftlich ein Aushandeln der Positionen der politischen Stabilität dient, stärkt es die Demokratie. Gelingt dies nicht, kann es zum gesellschaftlichen Bruch und damit zum Schaden der Demokratie kommen. Was im Kleinen das persönliche Konfliktpotenzial ist, ist im Großen der Kampf von Nationen um das bessere Lebenskonzept oder der Systemwettbewerb zwischen Demokratien gegenüber Autokratien.

Warum ist Streiten, Trennen und die Konzentration auf das Unversöhnliche scheinbar erfolgreicher als das Verbindende? Welche Macht des Unverrückbaren geben wir unseren Positionen?

Innen und Außen – ein Grundmuster von Konflikten

Aus unserer Beobachtung im Umgang mit gesellschaftlichen Konflikten stellen wir fest, wer innerlich nicht ausgeglichen, sondern reizbar und wenig belastbar ist, wird auch zur Belastung für sein Umfeld. Uns selbst eingeschlossen, können wir immer wieder erleben, wie die innere Verfassung, ob bewusst oder unbewusst, auch das äußere Umfeld prägt. Kommt einer von uns mit inneren oder persönlichen Problemen in ein Meeting, wirkt sich das natürlich auf die Sitzungskultur aus. Auch in größeren Veranstaltungen können wir bemerken, dass eine einzelne Person im Raum durch ihre innere Verfasstheit – im Positiven wie im Negativen – die Atmosphäre der gesamten Versammlung beeinflussen kann. Um es zugespitzt zu sagen, eine Person kann eine ganze Veranstaltung kippen, wenn man damit nicht bewusst umgehen kann. Ähnliches können wir auch gesellschaftlich beobachten: Einige wenige können das ganze gesellschaftliche Gefüge beeinflussen. Wie zum Beispiel der Youtuber Rezo 2019 mit seinem Video zur Diskreditierung der CDU.2

Es ist nicht egal, in welcher inneren Verfassung die Einzelnen in der Gesellschaft sind, weil sich diese innere Verfassung auch auf das jeweilige Umfeld auswirkt. Das mag eine selbstverständliche Tatsache sein, aber gerade weil sie so selbstverständlich ist, wird sie oft viel zu wenig berücksichtigt, auch im Gesellschaftspolitischen.

Kommt es zu Konflikten, können wir beobachten, dass es im Äußeren schwierig ist, weil es eine innere Entsprechung dafür gibt. Wir würden sogar sagen, es kracht sozial im äußeren Umfeld immer dann, wenn die inneren Räume nicht geklärt, sondern belastet sind. So unsere Erfahrung in politischen Kontexten. Wenn eine Person im Inneren einen starken Konflikt mit »Neuem« und »Fremden« hat, wirkt sich das nach unserer Beobachtung sowohl auf ihr berufliches Feld als auch auf ihr gesellschaftliches Feld aus. Immer wenn etwas »Neues« in ihr Leben tritt und sie konfrontiert, entsteht automatisch eine ablehnende Haltung, unabhängig davon, ob neue Arbeitskolleg:innen eingestellt werden, neue Bewohner:innen in die Nachbarschaft ziehen oder unbekannte Menschen in das Land kommen. Je fremder, desto heftiger ist die Ablehnung unter Umständen. Ob das immer so ist, mag dahingestellt sein, aber wichtig für uns ist die These, dass es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen äußeren Konflikten und inneren Abläufen gibt.

Es scheint ein persönliches, ein gesellschaftliches und auch ein politisches Verhältnis zwischen inneren Räumen und äußeren Umfeldern zu geben. Gibt es Konflikte, gibt es immer auch eine Diskrepanz zwischen innerem Zustand und äußerer Interaktion. Wenn das Innere im ausgeglichenen Zustand ist, gelingt die Interaktion mit dem Äußeren problemloser. Der Transfer fließt von innen und außen kaum merklich hin und her, und alles scheint stabil. Das ist der Normalzustand. Tauchen aber emotionale Reizungen auf, können sie zu Konflikten führen und damit zur Abspaltung vom äußeren Umfeld.

In der Regel wird die Ursache und die Lösung für die Konflikte im Äußeren gesucht, nicht im Inneren. Im Zweifel – um im Beispiel von oben zu bleiben – wird versucht, die Konfrontation mit allem »Ungewohnten«, mit allem »Fremden« zu vermeiden. Politisch kann sich das in einer weniger einwanderungsfreundlichen Haltung ausdrücken bis hin zur Fremdenfeindlichkeit. Zwei Lösungsansätze kommen in Betracht: Entweder jegliche äußere Konfrontation mit »Fremden« wird vermieden oder die innere »Belastbarkeit«, sich mit Fremden auseinandersetzen zu können, wird gefördert.

Um in der politischen Arbeit voranzukommen, müssen wir aus unserer Sicht auch den inneren Ursachen auf die Spur kommen und Antworten finden, wie wir diese inneren Ursachen gesellschaftlich einbeziehen können, damit wir politischen Herausforderungen angemessener begegnen können und innerlich belastbarer werden.

Gibt es keinen gesunden Flow zwischen innerer Befindlichkeit und äußerer Anforderung, sondern ein chronisches Reiz-Reaktions-Muster, kann dies bis zur Spaltung der Gesellschaft führen. Irgendwann ist es dann egal, um welche politischen Themen es sich handelt, die Konfliktmuster sind so eingefahren, dass es nur noch um das Konflikthafte an sich geht. Ist es erst einmal so weit gekommen, ist alles gerechtfertigt, um die eigene innere Bastion zu verteidigen. Das Außen – das andere – ist im Unrecht, das Innere – ich – bin im Recht. Im Grunde ist die Verbindung zwischen beiden verloren. Der Diskurs dient dann nicht mehr der Demokratie, sondern beginnt, sie zu zerstören. Weil die Abgrenzung sich auch auf den Raum bezieht, in dem die Auseinandersetzung stattfindet. Wer sich allem, was ihn umgibt, entziehen will, der fällt auch als Gestalter des gemeinsamen Ganzen aus.

Besonders anstrengend wird es, wenn die eigene Position nicht nur als richtig und die andere als falsch betrachtet wird. Sondern wenn die eigene Sicht als »moralisch gut« überhöht und die des Gegners als »böse« bezeichnet wird. Dann wird die Moral benutzt, um die eigene Position aufzuwerten. Im nächsten Schritt wird auch der Gegner als Mensch verteufelt. Jedenfalls gibt einem das die Rechtfertigung, nicht mehr mit ihm sprechen zu müssen, sich nicht mehr austauschen zu müssen. Und Bösem muss Einhalt geboten werden, das muss man stoppen, und man darf es ausschließen und »canceln«. Es mag auch Situationen geben, wo es gerechtfertigt ist, klare Grenzen zu setzen, zum Beispiel in der Auseinandersetzung mit Neonazis und Holocaustleugnern. Aber bei Fragen um gendersensible Sprache oder die eigene sexuelle Identität geht so ein Verhalten zu weit und führt selbst zu Spaltung. Wenn ich recht habe und gut bin und die anderen nicht nur falschliegen, sondern auch böse sind, wird die Auseinandersetzung überflüssig. Die politische Gegnerschaft muss also immer »wählbar« bleiben.

Was vielen negativen Konfliktsituationen zugrunde liegt, im Großen wie im Kleinen, ist oft das Erleben einer Bedrohungssituation, einer existenziellen Gefahrenlage, die einen regelrechten Reaktionszwang aktiviert. Wer sich an einen handfesten Streit erinnert, wird vielleicht Ähnliches beobachten können. Sind wir in einen richtigen Streit verwickelt, haben wir schnell unseren Handlungsspielraum verloren. Impulskontrolle wird schwierig. Wir müssen jetzt so handeln, wir können gar nicht mehr anders. Reflexhaft bestimmen flight, fight oder freeze, also Flucht, Angriff oder Erstarrung – unser Urreaktionsverhalten bei Gefahr – die weiteren Handlungsmuster. Gerade wenn wir streiten. Es gibt in der zwischenmenschlichen Interaktion unzählige Einflüsse, die uns ruhig oder kaltlassen, aber wie aus dem Nichts gibt es plötzlich einen Treffer, der uns anders agieren lässt als normal. Warum?

Aus unserer gesellschaftspolitischen Erfahrung passieren negative Konflikte – der Zerfall eines harmonischen Zustandes –, Spaltung und Polarisierung nicht einfach so, sie beginnen immer im Inneren. Obwohl genau das Gegenteil erlebt oder behauptet wird. Nein, sie beginnen nicht im Außen. Das Außen liefert nur den Anlass, den Reiz. Es hängt aber von unseren persönlichen und unseren gesellschaftlichen Innenräumen ab, wie wir auf diese Reize reagieren, unsere Reaktion und unsere Fähigkeit, angemessen zu reagieren, hängt davon ab, wie gelassen wir sind. Eine krisenfeste Gesellschaft weiß um ihre Sollbruchstellen und ist in der Lage, Kompetenzen zu entwickeln, um den Krisen und Belastungen bewusst begegnen zu können. So haben wir als Gesellschaft aus den Erfahrungen im Umgang mit der Flüchtlingswelle von 2015 / 16 vielleicht auch gelernt. Damals polarisierte die Aufnahme von 1.187.000 Geflüchteten die Gesellschaft heftig und wurde zum schier unlösbaren Konflikt. Heute (Stand März 2023) mit 1.205.730 Geflüchteten3 ist der gesellschaftliche Umfang reifer. Manche erheben den Vorwurf, dass sich hierin auch ein latenter Rassismus ausdrücke, da die Geflüchteten aus der Ukraine aus einem uns ähnlicheren, christlichen Kulturkreis kämen. Selbst wenn dies in mancherlei Hinsicht auch stimmen mag, hat sich die Integrationskraft in Deutschland vertieft. Gesellschaft und auch die Politik gehen anders damit um, und darauf kommt es an! Wir werden nicht verhindern können, dass Krisen uns schütteln, aber wir können Verantwortung dafür übernehmen, wie wir mit ihnen umgehen.

Als Fazit können wir festhalten: Inhaltliche Konflikte sind fruchtbar, solange der innere Zustand und die äußere Anforderung auf eine Weise im Flow sind, dass Lösungen möglich sind. Sind die inneren Befindlichkeiten aber so gestresst, dass der Flow Anspannung weicht und die Bewegung einfriert, stagniert auch die Lösungsfindung. Wir haben es politisch mit zwei Problemen zu tun: Entweder scheitert die Lösungsfindung an sachlichen Hindernissen oder an inneren Hindernissen. Meistens gibt es eine Vermischung von beidem. Neu wäre, das eine vom anderen unterscheiden zu können und für die Lösung innerer Hindernisse ein Bewusstsein und Handlungsoptionen zu entwickeln.

Spaltung der Gesellschaft – andere zum anderen machen

In Deutschland erleben wir eine andere Art von gesellschaftlicher Spaltung und Zerrissenheit, als es in den USA oder in England der Fall ist. Das liegt vor allem an deren Mehrheitswahlsystem. Es hat zur Folge, dass der Gewinner eines Wahlkreises alle Stimmen bekommt. Deswegen bilden sich zwei große Lagerparteien heraus, weil kleine Parteien in der Regel keine Chance mehr haben, einen Wahlkreis zu gewinnen. In den USA sind das die Demokraten und die Republikaner, in England Labour und Tories. Durch solche Wahlsysteme ist eine Spaltung der Gesellschaft schon in der Verfassung angelegt, sie gehört sozusagen zur DNA des Landes. In Ländern wie Deutschland wird nach dem Verhältnisprinzip gewählt, also jede Partei bekommt so viele Sitze, wie sie Stimmen bekommt. Damit haben auch kleinere Parteien eine Chance. Das System ist von vornherein auf mehr Vielfalt und Pluralismus angelegt. Das ist ein besonderer Wert unserer Kultur.

In den 1960er- und 70er-Jahren gab es in Deutschland vielleicht sogar heftigere Debatten und schärfere politische Auseinandersetzungen als heute. Neu ist aber, dass durch die Sozialen Medien »gefühlte« Verzerrungen und Wahrnehmungen darüber erzeugt werden, was »Mehrheiten« sind. Sowohl die Anzahl der Nutzer:innen der Sozialen Medien sind gesellschaftlich eine Minderheit als auch viele der dort geteilten Meinungen. Hinzu kommt, dass durch die weitgehend anonymisierten Interaktionen in relativ kurzer Zeit distanzlose Debatten entstehen können, die jegliche Reflexion und Impulskontrolle erschweren. Kein Mensch würde so im realen Leben agieren. Es gibt hier eine Kluft zwischen tatsächlicher und bloß wahrgenommener Spaltung. Und nicht alles ist so zugespitzt, wie wir glauben. Ein Podcast des DLF widmet sich der Frage »Die polarisierte Gesellschaft – eine herbeigeredete Debatte?4«.

Vielleicht empfinden wir Spaltung heute stärker, weil wir alle an einem Tisch sitzen und die Unterschiede deutlicher wahrnehmen. Debatten sind Voraussetzungen der Demokratie, und Gesetze sind immer Freiheitseinschränkungen, die begründungspflichtig sind, heißt es weiter. Doch entscheidend ist, wie die Debatte geführt wird. Heute wird es immer schwieriger, die Argumente der anderen mal stehen zu lassen, sie einfach mal auszuhalten.

Es macht einen Unterschied, wenn ich anderer Meinung bin als die Mehrheit der Gesellschaft und dafür dennoch als verantwortliche:r Bürger:in respektiert werde. Oder ob ich das Gefühl habe, meine Berechtigung an der Teilhabe verloren zu haben, und den Eindruck gewinne, ich bin »falsch«, ich habe hier in diesem Staat mit dieser Meinung nichts verloren. Diese Wahrnehmung erleben zum Beispiel ältere Generationen in der Genderdebatte, religiöse Menschen bei der gleichgeschlechtlichen Ehe, Impfskeptiker:innen mit der Impfpflicht, Pazifist:innen im Krieg, Fleischesser:innen gegenüber Veganern, Autofahrer:innen gegenüber Radfahrer:innen, konventionelle Landwirte gegenüber den Biobäuerinnen, usw., usw.