Die Diamanten von Selfridges - Erin Bledsoe - E-Book

Die Diamanten von Selfridges E-Book

Erin Bledsoe

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Beschreibung

London, 1920: Während die Stadt von kriminellen Banden beherrscht wird, versucht die junge Alice Diamond alles, um ihre Familie zu schützen. Dafür braucht sie dringen Geld. Es scheint nur einen Ausweg zu geben: Sie muss sich der Diebinnenbande The Forty Elephants anschließen. Doch damit gibt sie auch ihre Freiheit und Unabhängigkeit auf. Immer wieder gerät sie mit der Anführerin Mary Carr aneinander, die Alice’ Familie zum Druckmittel macht. Erneut um die Sicherheit ihrer Liebsten besorgt, plant Alice den größten Raub der Geschichte Londons, mit dem Ziel, Mary vom Thron der Forty Elephants zu stoßen. Sie ahnt nicht, dass sie mit diesem Unterfangen ihre Familie selbst in tödliche Gefahr bringt.

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Seitenzahl: 560

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Buch

Während der Londoner Bandenkriegen in den 1920er-Jahren versucht die junge Alice Diamond alles, um das Viertel ihres im Gefängnis sitzenden Vaters zu schützen und sich vor der Übernahmen von feindlichen Banden zu wehren. Als ihre Familie direkt bedroht wird, braucht Alice dringend Geld und setzt alles auf eine Karte: Sie schließt sich den »Forty Elephants« an. Dabei handelt es sich um eine Gang von Diebinnen, die mit klugen Strategien die Kaufhäuser Londons ausrauben und damit eine Menge Geld kassieren. Schnell arbeitet Alice sich in der Hierarchie nach oben und plant den größten Raub der Geschichte Londons. Während der berühmten Weihnachtsfeier des Selfridges-Kaufhauses wollen die »Forty Elephants« nicht nur die Auslage leerräumen, sondern auch den Schmuck der gut betuchten Gäste mitgehen lassen. Sollte Alice dieser Plan gelingen, hätte sie nicht nur genug Geld, um ihre Familie zu retten, sondern würde sich damit auch als Anführerin an die Spitze der »Forty Elephants« setzen.

Autorin

Bereits in der sechsten Klasse entdeckte Erin Bledsoe ihre Liebe zum Schreiben. Wenn sie nicht gerade an ihren Büchern arbeitet, erkundet sie die Natur oder spielt Dungeons & Dragons. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern in Michigan.

Erin Bledsoe

Die Diamanten von Selfridges

Kriminalroman

Aus dem Englischenvon Peter Beyer

Die englische Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel»The Forty Elephants« bei Blackstone Publishing.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Dataminings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Copyright © 2022 by Erin Bledsoe

Published by Arrangement with Taylor Tatum.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2023by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotive: arcangel / Sudha Peraval; GettyImages/Peter Zelei Images; FinePic®, München

ES· Herstellung: ik

Satz: Mediengestaltung Vornehm GmbH, München

ISBN: 978-3-641-30714-1V001

www.goldmann-verlag.de

Für Papaw:

Du hast alle Versionen dieses Buchs gelesen und an mich geglaubt, als ich den Glauben verloren hatte. Du bist in der gleichen Woche aus dieser Welt geschieden, in der ich feststellte, dass all meine Träume wahr werden.

Danke, dass du auf mich gewartet hast.

Erster Teil

Erstes Kapitel

LONDON 1920

Manche Menschen stehlen aus Verzweiflung. Andere stehlen aus Leidenschaft.

Auf mich treffen beide Beweggründe zu.

»Einen Scotch«, sagt meine Zielperson.

Ich schenke ihm ein Lächeln. »Sonst noch etwas?«

Sein Blick wandert an meinem Körper herab, während ich die goldene Taschenuhr taxiere, die aus der Westentasche seines Zweireihers lugt. Er fordert mich heraus wie die Verkäufer am Piccadilly, die mit frischem Brot und Obst vor den Augen einer Horde hungriger Kinder herumwedeln, die für ihr Leben gern einen Bissen davon haben wollen.

»Wie heißt du denn, Püppchen? Dein Gesicht habe ich hier noch nie gesehen«, fragt er und rückt sich dabei die Hose zurecht, bevor er mir eine Hand auf die Hüfte legt. »Und ich kenne alle von Kates Mädchen.«

»Nicht alle.« Ich zwinkere ihm zu, worauf er sich mit lüsternem Grinsen näher zu mir herunterbeugt. Seine Hand gleitet an meinem Oberschenkel hinunter und nestelt an der eng anliegenden Hose herum, die Teil der skandalösen Uniform ist, die wir Cocktailkellnerinnen im Club 43 tragen müssen.

»Verrat mir deinen Namen, Herzchen, und ich schenk dir was Schönes, wenn du mir meinen Drink geholt hast.«

Ich beuge mich zu ihm vor. »Schön bin ich doch selbst schon.«

Er brüllt vor Lachen. Männer mit Geld lieben die Macht, die damit einhergeht. Genauer gesagt: die Macht, die es ihnen über Frauen verleiht. Sie tun alles – sagen alles – , um uns gefügig zu machen. Zu meinem Glück werden sie dadurch auch unvorsichtig. Je mehr ich mich ihm annähere, desto mehr lässt er seine Wachsamkeit fahren und überlässt es damit mir, Beute zu machen.

Ich drücke meine Wange an seine, flüstere mit rauer Stimme: »Ich mag es, wenn man mich schön nennt«, und schnappe mir im gleichen Moment seine Uhr. Sobald ich sie in den Fingern habe, läuft mir ein Schauer über den Rücken. Die Gänsehaut erinnert mich daran, dass dieser Beruf, in den ich hineingeboren wurde, auch meine einzige Berufung ist.

»Schön bist du wirklich. Kann ich dich nach deiner Schicht treffen? Du kannst von mir alles haben, was du willst.«

Habe ich schon.

»Ich komme gleich wieder mit deinem Drink.« Er will nach meinem Gesicht greifen, aber ich weiche zurück, mache mich auf den Weg zur Bar und verstaue währenddessen seinen Zeitmesser diskret in einer geheimen Tasche in meiner Hemdbluse.

»Ich brauche einen Scotch und zwei Champagner-Cocktails!«, rufe ich dem Barkeeper zu, nachdem ich auf den Tresen geklopft habe, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen.

Während ich warte, drehe ich mich wieder um, um den Blick über die Schar der Gäste schweifen zu lassen. Ich kann nicht anders. Mir kommt es hier vor wie in einem dreimanegigen Zirkus, in dem eine furiose Nummer nach der anderen dargeboten wird.

Es ist Montagabend, aber im Club 43 ist so viel los, als wäre es Freitag. Hier kommt die Hautevolee Londons zusammen. Die Gäste stoßen fröhlich miteinander an und verschütten dabei Champagner auf ihre Savile-Row-Anzüge und ihre maßgeschneiderten Kleider.

Als kleines Mädchen träumte ich immer davon, eine von ihnen zu sein, zur auserwählten Elite zu gehören. Ich stellte mir vor, mein winziges Zimmer wäre ein Stadthaus in Mayfair und meine Baumwollkleider bestünden alle aus feiner Seide. Meine Mum sagte, mit Fantasie wäre es mir möglich, mir alles vorzustellen. Mein Dad hingegen, selbst ein Meisterdieb, sorgte dafür, dass mir klar wurde, dass ich so etwas Feines nur besitze, wenn ich es mir nehme.

Die Kriegsjahre überzeugten mich davon, dass mein Vater mit seiner Ansicht richtiglag – das Träumen würde mich nicht weiterbringen.

»Du bist die Neue. Alice, ja?« Der Barmann schiebt mir meine Getränkebestellungen auf einem stilvollen, verspiegelten Cocktailtablett herüber. »Du hast noch nie in so einem Club gekellnert, stimmt’s?«

Ich lasse sein äußeres Erscheinungsbild langsam auf mich einwirken, Zentimeter für Zentimeter. Er hat einen Körper, mit dem eine Frau Spaß haben könnte, ist schlank und muskulös, hat ein kräftiges Kinn und herrlich volle Lippen. Der einzige Makel, den ich entdecken kann, ist eine kleine Narbe neben seinem linken Auge. Ich stelle mir kurz vor, wie ich mit meinen Fingern durch sein Haar fahre, bevor ich mich etwas näher zu ihm vorbeuge. »Ist das eine Frage oder ein Vorwurf, Rob?«

Seine Augen weiten sich, aber anstatt zu fragen, wie ich seinen Namen so schnell in Erfahrung gebracht habe, zuckt er mit den Schultern und antwortet: »Vielleicht beides?«

Ich spiele das Spiel mit. »Was hat mich verraten?«

»Es ist die Art, wie du die Gäste ansiehst … Ich kann nicht sagen, ob es Faszination ist oder Abscheu.«

»Vielleicht beides?«, ziehe ich ihn auf.

Ein Grinsen umspielt seine Lippen. »Wenn man in einem Laden wie diesem arbeitet, gewöhnt man sich schnell an die Kundschaft.«

Ich erwidere sein Grinsen. »Ich habe gerade gesehen, wie ein Kerl in seinen Zylinder gekotzt hat und ihn sich dann fast wieder auf den Kopf gesetzt hätte, um den Tanz zu beenden. Ich glaube nicht, dass sich irgendwer an so etwas gewöhnen kann.«

Er zieht die Stirn in Falten. »Heute ist also dein erster Tag?«

Daraufhin starre ich ihn wütend an, aber ich kann lediglich Belustigung in seinem breiter werdenden Lächeln ausmachen.

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Du hast in allen möglichen Clubs in dieser Stadt gearbeitet, ja? Was hältst du dann von Murray’s drüben an der Beak Street? Es heißt, das Publikum dort sei noch übler.«

Er ist mir auf die Schliche gekommen. In Wahrheit habe ich überhaupt keine Erfahrung, bloß eine Liste mit gefälschten Leumundszeugnissen, die Mum für mich getürkt hat, damit ich diesen Job ergattere. Meine Arbeitspapiere werden den Jobs angepasst, mein Name jedes Mal geändert. Ich arbeite, seit ich vierzehn bin, und heute, nach sechs Jahren, entspricht rein gar nichts mehr in meinen Papieren der Wahrheit. Ich bin, wer immer ich sein muss. Tagsüber arbeite ich als Dienstmädchen für einen reichen Theaterbesitzer und warte darauf, dass der richtige Moment kommt, um ihn bis aufs letzte Hemd auszuplündern.

Abends serviere ich Cocktails in diesem Club.

Ich schnappe mir das Tablett und gehe schnellen Schrittes los, serviere Mr Grapscher seinen Drink und bewege mich im Takt der Musik der Jazzband durch den Gastraum. Es ist ein dynamischer Rhythmus, den ihre Instrumente vorgeben und der jeden auf der Tanzfläche mitreißt. Ich wende meinen Blick gerade lang genug von der Band ab, um die beiden Champagnercocktails zwei Prominenten zu servieren, die gerade mit abschätzigen Blicken auf die Menschenmenge deuten. Manchmal frage ich mich, wie es sein muss, zu den Bright Young Things zu gehören, die London mit ihrem Klatsch und Tratsch im Griff haben. Sie werden sich bis zum Morgengrauen hier aufhalten und tanzen, wenn sie nicht gerade trinken oder heimlich Kokain schnupfen.

»Diese Band ist göttlich«, sagt der eine.

Der andere nickt zustimmend. »Wollen wir tanzen, bevor sie sterbenslangweilig wird?«

Ich beobachte, wie sie in der Menge auf der Tanzfläche untertauchen, und das peppige Tempo der Musik lässt mein Herz schneller schlagen. Schweiß rinnt mir den Nacken hinunter, während ich durch die Schwaden von Zigarrenrauch und die sich hin und her bewegenden Körper hinweg nach meinem nächsten Ziel Ausschau halte – und es schließlich ausmache: ein Partygirl in einem schicken Kleid und mit einer juwelenbesetzten Handtasche. Ich schlängle mich durch den Raum, um zu ihr zu gelangen, vorbei an den voll besetzten Tischen und den johlenden Gästen. Urplötzlich vernehme ich nur noch meinen flachen Atmen.

Und habe nur noch Augen für sie.

Bei Frauen ist es schwierig. Ich kann mich ihnen nur nähern, indem ich zufällige Rempler oder Stolperer inszeniere und mir dadurch ein paar Sekunden verschaffe, um das mitgehen zu lassen, auf das ich es abgesehen habe: eine silberne Haarnadel, goldene Ohrringe oder einen Rubinring. Bei Frauen ist es ein Risiko, aber Frauen sind auch Schatztruhen.

Ich trete dicht an sie heran. Doch gerade in dem Moment, als ich der Frau die glitzernde Handtasche von der Schulter gleiten lassen will, fährt sie herum und reißt leise knurrend mein Handgelenk hoch. »Denk nicht mal im Traum dran, Püppchen.«

Instinktiv denke ich mir hundert Ausreden aus und überlege, was ich machen soll, wenn sie mich an Kate verpetzt und meine Chefin die Polizei ruft. Panik steigt in mir auf, aber gerade als ich den Mund öffne, um etwas zu sagen – irgendetwas – , höre ich, dass sie meinen Namen sagt.

»Alice?«

Völlig baff stolpere ich zurück. »Maggie?«, bringe ich als atemloses Flüstern über die Lippen. Obwohl mir immer noch der Schweißgeruch und die abgestandene Luft in der Nase liegen, ist mir plötzlich, als gäbe es nur uns beide. Mich und meine lang vermisste Freundin.

»Du arbeitest hier?« In ihrer Stimme schwingt ebenfalls Überraschung mit. Dann aber schaut sie auf ihre Tasche hinunter, und ihr Mund verzieht sich zu einem teuflischen Grinsen. »Du verlierst dein Gespür.«

Ich ringe um Worte. Ist sie wirklich hier? Nach all diesen Jahren?

»Drei Jahre und acht Monate«, sage ich laut, immer noch wie benommen.

Die Maggie vor mir sieht ganz anders aus als das Mädchen mit den abgetragenen Klamotten und den blutigen Fäusten, mit dem ich aufgewachsen bin. Sie war eine Kämpfernatur, wie ich, hatte Talent für Diebstahl bewiesen und konnte sich durchschlagen. Aber ihr rechter Haken war immer besser als meiner. Als wir uns das erste Mal begegneten, ließen ihre Brüder sie gegen einen Mann im Pit antreten, während die Menge um sie herum lautstark Wetten abgab.

Damals nannte man sie auf der Straße »The Reaper«.

Die Frau, die sie jetzt ist, sieht mit ihrem schweren, elfenbeinfarbenen Pelzcape und dem frisch geschnittenen Bob umwerfend aus, auch wenn kein Make-up der Welt ihren schamlosen Gesichtsausdruck zu verharmlosen vermag.

Ich bestaune sie. »Sieh mal einer an, wie piekfein du dich herausgeputzt hast! Du hast es weit gebracht, seit du in Lambeth Pralinen geklaut hast.«

Sie räuspert sich. »Das ist ewig her.«

Ich schaue mich um, um zu sehen, mit wem sie hier ist. »Wo ist dein Verehrer?«

»Ich habe keinen.«

Ich inspiziere sie erneut, schaue sie noch einmal genauer an – und bin sprachlos. Unter dem Pelz trägt sie ein schwarzes Cocktailkleid, kunstvoll mit Perlen besetzt und mit Fransen am Saum. Ihre Strümpfe haben keine einzige Laufmasche, ihre eleganten T-Strap-Pumps keinerlei Spuren von Abnutzung.

»Deine Brüder haben mir gar nicht erzählt, dass du wieder in London bist«, bringe ich schließlich hervor.

»Ich bin schon seit einer Weile zurück«, gesteht sie. »Ich habe sie bloß noch nicht aufgesucht. Als wir das letzte Mal miteinander gesprochen haben, haben sie mir deutlich zu verstehen gegeben, dass ich zu Hause nicht mehr willkommen bin.«

Blitzartig denke ich an den Abend zurück, an dem sie ohne ein Wort fortging und mich krank vor Sorgen zurückließ, sodass ich mir alle möglichen Schreckensszenarien ausmalte. Bis ich dann eines Morgens, nachdem ich mich monatelang um sie gesorgt hatte, aufgewacht war und für mich akzeptiert hatte, dass sie tot sein musste.

Und wenn sie tot war, gab es für mich keinen Grund mehr, mir zu wünschen, sie würde zurückkehren.

In Wellen kehrt diese vertraute, schmerzhafte Sehnsucht zurück, und die quälende Erinnerung daran, wie viel sie mir einst bedeutet hat, droht mich zu überwältigen. Das darf ich nicht zulassen. Nicht hier und nicht jetzt.

»Es war toll, dich wiederzusehen. Aber jetzt sollte ich mich wieder an die Arbeit machen«, erkläre ich und wende mich um. Ich sehe, dass der Barmann mich in dem Gedränge sucht, vor sich auf dem Tresen ein neues Tablett mit Getränken. Aus dieser Entfernung sieht er sogar noch attraktiver aus, so, wie er da vor den ganzen Flaschen mit Hochprozentigem steht, die vor der verspiegelten Wand hinter ihm aufgereiht sind. »Der da drüben hält mich jetzt schon für ein bisschen unzuverlässig.«

Ich wende mich zum Gehen, aber sie streckt die Hand aus, um mich aufzuhalten.

»Ich habe das mit deinem Dad gehört, Alice.«

Ich zucke gleichmütig mit den Schultern. »Bei guter Führung muss er zwölf Monate absitzen.«

»Wie läuft es in The Mint ohne ihn?«

»Das geht dich doch gar nichts mehr an, oder? Ich muss jetzt wirklich wieder an die Arbeit.«

»Können wir vielleicht nach deiner Schicht reden?«

Ich beäuge sie misstrauisch. »Was willst du, Mags? Damit prahlen, wie gut es die letzten Jahre mit dir gemeint haben und wie furchtbar das Schicksal zu mir war? Dass ich bei meiner Familie geblieben bin und du die deine verlassen hast? Ich kann mir nicht vorstellen, was wir uns sonst noch zu erzählen hätten.«

»Hast du schon mal von Mary Carr und ihrer Diebesbande gehört?«, fragt sie unvermittelt, worauf eine gewisse Unsicherheit Besitz von mir ergreift.

Dad lehrte mich immer, solche Worte nie laut auszusprechen, schon gar nicht an einem so belebten Ort wie diesem hier. »Wenn du im Schatten leben willst, halt den Mund und bleib unsichtbar«, erklärte er mir. Sein Rat ist mir stets teuer.

Ein Dieb muss unsichtbar sein.

Ich schüttle den Kopf und schaue mich argwöhnisch um. »Nein, sollte ich?«

»Die Forty Elephants. Sie haben sich einen ganz guten Namen gemacht. Liest du denn keine Zeitung? Mary Carr ist unsere Anführerin, und sie ist …«

»Unsere?« Ich ziehe die Brauen hoch. »Du gehörst zu dieser Gang?« Einzeln ergibt jedes einzelne Wort Sinn, nicht aber zusammen. »Du bist Mitglied in einer Gang?«

»Es ist keine Gang im eigentlichen Sinn. Nicht so wie das, was du sonst von Gangs gehört hast.«

Ein wenig spöttisch stoße ich einen tiefen Seufzer aus. »Das bezweifle ich.«

»Mary hat da eine gute Sache am Laufen«, beharrt sie. »Sie ist eine echte Draufgängerin.«

»Also was, hast du das hier alles mitgehen lassen? Das Kleid … die Tasche?«

Die Vorstellung bringt sie zum Lachen. Dann streicht sie sich das Kleid glatt. »Wir tragen nie Diebesgut. Das Kleid habe ich mir selbst gekauft. Dank Mary Carr führe ich ein neues Leben, habe Möglichkeiten, die ich mir früher nie erträumt hätte.« Ihre Miene hellt sich auf. »Willst du sie mal kennenlernen?«

Prompt spannt sich mein Kiefer an. »Du willst, dass ich mich einer Gang anschließe?«

»Fahr nicht gleich aus der Haut, Alice.« Sie hält inne. »Sie ist hier, und ich habe ihr schon erzählt, dass wir als Kinder zusammen um die Häuser gezogen sind. Dass du Talent hast, wie dein Vater. Sie weiß alles. Sie würde sich freuen, dich endlich mal kennenzulernen.«

Ich schließe langsam die Augen und öffne sie wieder, und meine Arme und Beine werden taub. Die Luft im Club fühlt sich heiß und stickig an, und ich habe das Gefühl, als würde ich keine Luft bekommen. Ich werde überflutet von Erinnerungen an das Mädchen, das ich einmal kannte, und an jenes, das ich jetzt anstarre. Wie kann sie mich so etwas fragen? Aber, noch wichtiger: Wie kann sie die ganze Zeit mit unseren gemeinsamen Kindheitserinnerungen ausgerechnet vor der Person prahlen, wegen der sie mich im Stich gelassen hat?

»Ich dachte, du wärst tot, Mags«, erkläre ich schließlich mit eisiger Stimme. »Du hast kein einziges Lebenszeichen mehr von dir gegeben, nachdem du fortgegangen warst. Keine Briefe … nichts.«

Sie zögert einen Atemzug lang. »Wir haben immer davon geträumt rauszukommen. Warum hätte ich zurückblicken sollen?«

»Ich saß oft nachts wach im Bett, schaute hinaus auf die dunklen, düsteren Straßen und wartete darauf, dass eine Droschke vor Mums Laden halten und dich absetzen würde. Aber du bist weggeblieben, hast dich auf eine Gangführerin eingelassen und mit all den Erinnerungen geprahlt, die du so mühelos hinter dir lassen konntest?«

Ihr Blick wandert durch den Raum, bevor er zu mir zurückkehrt. »So ist das nicht, Alice. Ich kann stolz auf das Mädchen sein, das ich war, ohne es erneut sein zu wollen.«

Ich bleibe hart. »Du scheinst vergessen zu haben, dass sich Mitglieder der Familie Diamond keiner Gang anschließen … also kannst du dir dein Angebot an den Hut stecken und dich verpissen.«

Sie legt den Kopf schief. »Stehst immer noch in Daddys Schatten, was?«

Mir wird heiß. »Bist aus dem Schatten deiner Brüder heraus, aber stehst jetzt in einem neuen, was?«

»Mary ist völlig anders als sie.«

»Vielleicht ist sie ja schlimmer?« Ich deute mit dem Finger auf ihr Kleid, schlucke meinen Neid herunter und ersetze ihn durch eine Bitterkeit, die ich geradezu schmecken kann. »Wenigstens haben deine Brüder dich nicht darum gebeten, dich so herauszuputzen.«

Der pulsierende Raum um uns herum fühlt sich plötzlich eng und reizlos an, und Stille breitet sich zwischen uns aus. Einen langen, gedankenschweren Moment starren wir uns nur gegenseitig an. Ich weiß nicht, was sie denkt, aber ich weiß, was ich denke.

Sie ist mir fremd geworden, und das bringt mich um den Verstand.

Schließlich sagt sie zögerlich: »Viel Glück, Alice.«

»Ich brauche kein Glück.«

Rob hat mich schließlich entdeckt und signalisiert mir energisch, dass ich zu ihm herüberkommen soll. Die Ausflucht, gehen zu müssen, ist mir willkommen. Rasch kehre ich wieder zurück zur Bar. Doch seine schelmische Art hat sich nun fast in Luft aufgelöst. »Wenn die Leute ihre Drinks nicht bekommen, bestellen sie keine mehr. Wir verlieren beide Geld. Ich mixe die Drinks, und du servierst sie. So läuft das hier.« Er deutet auf eine Reihe von Cocktailgläsern. »Die sind für die Sitzecke da hinten.«

Bevor ich das Tablett entgegennehme, richte ich mir umständlich meine Hemdbluse und die lange Hose. Ich versuche schon die ganze Woche, mich an das Gefühl des groben Stoffes an den Beinen zu gewöhnen.

»Probleme mit der Kleidung?«, stellt er fest.

»Ich habe noch nie Hosen getragen«, räume ich ein. Dabei zähle ich die seltenen Momente in meiner Kindheit nicht mit, in denen ich mich wie mein Dad verhielt und in seinen Hosen um unser Haus rannte, um meinem Bruder Tommy nachzujagen.

»Weil Frauen keine Hosen tragen. Und eigentlich besitzen sie auch keine Clubs, aber sieh dich nur mal um.«

Mit einem Kopfnicken deutet er auf die Besitzerin des Club 43, Kate Meyrick, die gerade wie ein Schmetterling von Gruppe zu Gruppe schwirrt und dabei mit jedem einzelnen Gast lacht und plaudert. Niemand weiß, wie sie es geschafft hat, die Königin der Nachtclubwelt zu werden, aber sie ist es. Als ich mein Vorstellungsgespräch für diesen Job mit ihr geführt habe, stellte sie mir eine Frage: »Wie reagieren Sie, wenn ein Gast seine Hände nicht bei sich behalten kann?«

Ich gab ihr sofort wahrheitsgemäß Antwort und sagte: »Ich trete ihn dahin, wo es wehtut.«

Sie stellte mich augenblicklich ein.

»Kate hält sich nicht immer an gesellschaftliche Regeln, also gewöhn dich lieber an die Hosen«, sagt er schließlich und deutet mit einer Geste auf seine Uniformhose mit Hosenträgern, deren Bänder über seine nackte Brust verlaufen, und eine dazu passende Krawatte. »Wenigstens bist du vollständig bekleidet. Kate macht sich einen Spaß daraus, ihre Frauen wie Männer zu kleiden und ihre Männer wie« – er sucht nach dem richtigen Wort – »so«.

Ich lächle und mache eine große Sache daraus, ihn schamlos von oben bis unten zu begutachten. »Aber wer kann schon etwas gegen diese Aussicht ins Feld führen?«

Er läuft rot an, deutet erneut auf die Sitzgruppe und tippt dann auf das Tablett mit den Getränken. Ich sehe, wie Maggie hinübergeht und sich zu den Mädchen dort gesellt, und mir wird klar, dass die Cocktails für ihre Gruppe bestimmt sind.

Ich schüttle meine Hände aus, um dann energisch loszuziehen. Das Tablett mit den Getränken balanciere ich auf der Schulter, während ich mich auf den Weg zur Sitzecke mache. Vier Frauen sitzen auf den Polsterstühlen, in schwere Pelze gekleidet und von Kopf bis Fuß mit Juwelen behängt. Perlenketten zieren ihre Hälse, begleitet von rubinroten Tropfenohrringen und goldenen Armreifen, die mir selbst im trüben Licht ins Auge fallen. Sie sehen aus wie die Puppen in den Schaufenstern bei Selfridges.

»Endlich!«, stöhnt eine von ihnen und schnappt sich ungeduldig ein Glas vom Tablett, noch bevor ich es abstellen kann. Ihre Zwillingsschwester neben ihr tut es ihr gleich.

Maggie sitzt auf der gegenüberliegenden Seite des Tischs und grinst für meinen Geschmack ein wenig zu siegessicher, da sie annimmt, dass ich aus eigenem Antrieb zu ihnen an den Tisch gekommen bin. Sie sieht zu ihrer Begleiterin hinüber, einer Frau mit einem rosa gefärbten Chinchillafell und einem gefiederten, silbernen Kopfschmuck, der wie die Krone einer Königin auf ihren goldblonden Haaren thront.

An ihren Fingern zähle ich sieben Diamantringe. Es sind kleine Steine, aber meisterhaft geschliffen. Ich lasse kurz die Erinnerung an meinen Dad Revue passieren, der, als ich noch klein war, neben mir kniete und mir beibrachte, wie man den Unterschied erkennt.

»Ein gut geschliffener Diamant ist leuchtend und brillant, ein schlecht geschliffener ist stumpf.«

Ich schaute damals neugierig lächelnd zu ihm auf und wollte wissen: »Was für ein Diamant bin ich?«

»Ein brillanter, mein Mädchen. Brillant.«

Ich schüttle die Erinnerung ab und konzentriere mich auf ihre Finger. Im Gegensatz zu den anderen Frauen, die keine Notiz von meiner Anwesenheit nehmen und nur ihre Cocktails in sich hineinkippen, lächelt sie mich direkt an. Sie muss mindestens zwanzig Jahre älter sein als die anderen, aber sie ist in Würde gealtert, hat nur wenige Falten in den Augenwinkeln. Angesichts ihrer freundlichen Ausstrahlung sollte ich mich entspannen, aber dass sie über das ganze Gesicht grinst, bewirkt stattdessen, dass ich mich verspanne und mich das Gefühl beschleicht, dass sie in ein Geheimnis eingeweiht ist und ich nicht.

Ist das die berühmte Mary Carr?

»Entschuldigen Sie die Wartezeit, Ladys.«

»Bringst du uns doch lieber einen Whisky?«, bittet Maggie grinsend. »Du weißt doch, dass ich kein Gin-Mädchen bin.«

»Man könnte meinen, du wärst gar kein Mädchen«, stichelt die eine der Zwillinge, worauf die andere kichert.

»Wenn du dein Maul weiter aufreißt, Norma, schiebe ich meine Faust hinein«, gibt sie wie aus der Pistole geschossen zurück.

Die ältere Frau schnippt mit den Fingern. »Maggie, sei artig heute Abend.«

»Das kann ich nicht versprechen, Mary«, erwidert Maggie und rollt dabei mit den Augen.

Mary wendet ihren Blick wieder mir zu, während sich Norma und ihre Schwester an ihr vorbei zur Tanzfläche schieben.

Ich räuspere mich. »Kann ich Ihnen sonst noch etwas bringen?«

»Du hast schnelle Hände«, lobt Mary. »Ich habe dich beobachtet, wie du aus der Menge kassiert hast. Du hast Talent. Woher kennst du unsere Mags hier?«

Unsere Mags? Ich schürze die Lippen und ignoriere die Bemerkung. »Kassiert?«

»Gestohlen«, erklärt sie, wobei sich ihre Stimme zu einem Flüstern senkt. »Aber wir bevorzugen den Begriff Kassieren. Das klingt nicht so kriminell, und außerdem ist Stehlen ein so freudloses Wort. Wir wollen doch nicht, dass jemand mithört, wie wir darüber plaudern.«

»Wir?«

»Wir sind wie du.« Sie deutet auf Maggie und dann hinüber zu den Zwillingen, die gerade Foxtrott tanzen. »Kassierer. Nur dass wir uns an die Läden im West End halten, wo es fette Beute zu machen gibt.«

Das übersteigt mein Vorstellungsvermögen. »Ihr klaut in Kaufhäusern?«

Ein solches Risiko einzugehen, habe ich mich noch nie getraut. Jedes Mal, wenn mein Vater es versuchte, drückte ihn kurz darauf ein Polizist auf das Kopfsteinpflaster nieder und führte ihn ab, bevor er auch nur Zeit hatte, eine Hutnadel einzustecken.

»In allen möglichen Läden«, antwortet sie und streicht selbstgefällig mit den Fingern über ihren rosa Pelz. »Manche Frauen sind dazu geboren. Für die schönen Dinge des Lebens.« Sie starrt hinüber auf die vornehmen Damen im Club. »Manche nicht. Manche Frauen kämpfen jeden Tag darum, auch nur einen Vorgeschmack auf das zu bekommen, was für andere Frauen eine Selbstverständlichkeit ist.«

Leider bin ich wie hypnotisiert von ihren Worten, klebe förmlich an ihren Lippen in Erwartung dessen, was sie als Nächstes von sich geben wird. »Ich und meine Mädchen wurden nicht in die schönen Dinge hineingeboren, aber wir besitzen sie. Willst du wissen, wie wir das schaffen?«

Meine Kehle wird trocken. Ich drehe mich um und schaue zurück zur Bar, hinter der Rob steht und mich unverwandt anstarrt.

»Willst du?« Marys Stimme dröhnt in meinem Ohr. Ich lenke meinen Blick wieder zu ihr zurück.

»Wie?«

»Wir haben den Mumm, es mit ihnen aufzunehmen.«

Ich brauche einen Moment, um die Sprache wiederzufinden. »Es ist ein schmaler Grat zwischen Mumm und Dummheit. Ich wette, mein Mumm ist genauso groß wie Ihrer. Ich bin nur vorsichtiger, wo ich ihn einsetze.«

Sie prustet und schenkt mir dann ein breites Lächeln. »Oh, ich mag dich! Ich würde dir gerne eine Chance zu einer Probe geben.«

»Ich hole Ihnen erst einmal Ihren Whisky.« Ich räuspere mich und verziehe mich zügig, wohl wissend, dass Mary mir hinterherschaut. Meine Taschen sind gefüllt mit Dingen, die ich geklaut habe, kassiert, und jemand hier drinnen weiß davon – meine Gedanken schlagen Purzelbäume. Ich kehre zur Bar zurück und lehne mich über den Tresen, um nach Rob zu rufen.

»He! Kennst du diese Mädchen?«

»Ich würde nicht behaupten, dass ich sie kenne, aber sie kommen immer am Montagabend hierher, um zu feiern.«

»Um was zu feiern?«

Ich bekomme den Eindruck, dass ihm mein Interesse nicht gefällt. »Die bringen nur Ärger.« Er holt die Zeitung von heute unter der Theke hervor, knallt sie vor mir auf den Tresen und zeigt auf die Titelseite. »Das sind Mitglieder der Forty Elephants.«

Ich werfe einen Blick auf die Zeitung und überfliege die ersten Zeilen. »Eine Gang von Ladendiebinnen?« Merkwürdig, dass Dad noch nie von ihnen geredet hat. Normalerweise lässt er sich über alle Gangster aus, die Londons Straßen unsicher machen, besonders die McDonald-Brüder, die gerade Krieg gegen die Italiener führen wegen der Buchmacherei auf den Pferderennbahnen. Über sie kann er gar nicht genug reden, aber über eine Mädchengang hat er noch nie ein Wort verloren.

Rob kichert trocken. »Eher ein Schwarm Heuschrecken, die ehrliche Leute ausrauben. Ihre Anführerin, Mary Carr, stand allein in diesem Jahr schon fünfmal vor Gericht.«

»Wurde aber nicht verurteilt? Wieso nicht?«

»Sie können sie schnappen, so oft sie wollen, aber solange sie die Diebesware nicht bei ihr finden, bleibt alles nur Spekulation. Es heißt, sie bewahrt alles irgendwo in einem Lagerhaus auf und verhökert es, bevor die Polizei es ausfindig machen kann. Sie hat alle möglichen Verbindungen in dieser Stadt und zu den Männern, die diese Stadt in der Hand haben. Ich weiß, dass sie mit den McDonalds im Bunde ist, mindestens.«

Meine Finger graben sich in meine Handflächen und hinterlassen tiefe, geschwungene Kerben. »Du meinst die Elephant-and-Castle-Gang?«

Er nickt.

»Weiß Kate Meyrick, wer sie sind? Warum sollte sie sie in ihren Club lassen?«

»Ich vermute, sie zahlen ihr ein hübsches Sümmchen dafür, dass sie hier feiern dürfen. Bei Kate wäscht immer eine Hand die andere.«

»Woher weißt du das alles?«

Er schenkt Champagner in die Kelche ein. »Ich spitze die Ohren. Ich kenne alle möglichen Geheimnisse. Das ist die Bürde, wenn man der Typ ist, der die Drinks mixt.« Er klingt nicht verärgert, bloß genervt. »Aber du weißt ja, was man sagt: In Soho hat jeder eine Leiche im Keller.«

Ich merke erst, wie besorgt ich dreinschaue, als ich sehe, wie der lässige Ausdruck auf seinem Gesicht in Besorgnis umschlägt, die die meine widerspiegelt. »Was ist los?«

»Nichts«, beteure ich und mache eine geringschätzige Handbewegung. »Erzähl keinen Stuss. Ich höre bloß schreckliche Dinge über die Gangs.«

Er weiß, dass ich lüge, denn er beeilt sich zu sagen: »Ich werde ein anderes Mädchen bitten, ihnen ihre Drinks zu servieren.«

»Nein.« Das Wort kommt rasch und rau über meine Lippen. »Ich erledige das schon.«

»Hör zu, Alice: Wenn du weißt, was das Beste für dich ist, ziehst du den Kopf ein und hältst dich von diesen Mädchen fern.«

Ich atme tief durch und richte mich auf, weil ich seine Besorgnis erahne. »Ich bin kein Kind mehr. Ich kann selbst auf mich aufpassen. Wenn ich mir dein Babyface so anschaue, könnte ich sogar älter sein als du.«

Seine Lippen verziehen sich zu einem Schmollmund, und er wirkt verärgert, als er mir den Whisky für Maggie reicht. »Bist du sicher, dass es nicht eine andere Kellnerin übernehmen soll?«

»Ich sagte, ich erledige das schon.« Ich schnappe mir das Glas.

Als ich mich auf den Weg zur Sitzecke mache, schreit er mir hinterher: »Behaupte nie wieder, ich hätte ein Babyface! Ich habe das Gesicht eines Mannes, hörst du? Ein Männergesicht!«

Ich marschiere zu Maggie und Mary Carr hinüber und setze das Glas stirnrunzelnd ab. Ich denke, es ist das Beste, wenn ich die Angelegenheit jetzt ein für alle Mal hinter mich bringe.

»Danke, aber ich bin nicht interessiert. Und ich würde es begrüßen, wenn Sie für sich behalten, dass ich hier kassiert habe. Ich brauche diesen Job.«

Maggie ignoriert mich, nimmt das Whiskyglas und kippt den Inhalt mit einer einzigen routinierten Bewegung herunter. Mary Carr hingegen ergreift meine Hand, und ihre langen, eleganten Finger umschließen mein Handgelenk. »Warum nicht?« Sie beobachtet mich gelassen. »Maggie hat mir alles über dich und deine Familie erzählt, und ich habe gesehen, dass du bereits recht geschickt bist.«

Ich entziehe ihr meine Hand und zucke leise fauchend zurück. Der Neid, mit dem ich gerade noch eine Freundin angestarrt habe, die weit über ihre bescheidene Herkunft hinausgewachsen ist, ist jetzt, da ich weiß, dass sie eine unsichtbare Kette um den Hals trägt, verblasst. »Verschwenden Sie nicht Ihren Atem für Schmeicheleien. Ich schließe mich keiner Gang an. Das ist eine Diamond-Familienregel.«

Ihre Augen weiten sich. »Vielleicht ist das der Punkt, an dem deine Familie die falsche Entscheidung getroffen hat. Eine Gang ist eine Familie. Eine Gang ist ein Zuhause. Bei unserer handelt es sich um eine Schwesternschaft. Ich kümmere mich um meine Mädchen.«

Bei dem unkontrollierten Gackern, das aus mir herausbricht, legt Maggie die Stirn ein wenig in Falten, aber ich schere mich nicht um sie. Sie hätte wissen müssen, dass es zwecklos ist, mich für so etwas anzuwerben, hat es aber nichtsdestotrotz getan. »Die Antwort lautet immer noch Nein.«

Das bringt Mary Carr zum Schweigen. Stattdessen schaut sie mir tief in die Augen, als hoffe sie, dort etwas zu entdecken – eine Schwachstelle vielleicht? Etwas, das es ihr ermöglicht, mich zu manipulieren, um mich auf ihre Seite zu ziehen? Vielleicht hat sie solche Schwachstellen bei anderen Mädchen schon gefunden.

Bei mir wird sie keine ausfindig machen.

Ich bin die Tochter meines Vaters. Ich habe keine Achillesferse und auch keine Schwäche. Ich lasse mich weder manipulieren noch brechen. Ich bin aus Stahl.

»Darf ich fragen, warum nicht?«

»Ja«, entgegne ich kühl. »Aber ich kann Ihnen nicht versprechen, dass ich die Wahrheit sage.«

Sie kichert, aber es klingt unnatürlich. »Maggie hatte recht damit, als sie sagte, dass du stur und dickköpfig bist.«

»Dickköpfig?« Ich stoße das gleiche Kichern aus wie sie. »Und das aus Maggie Hills Mund?«

Maggie blickt nicht einmal von ihrem leeren Glas auf.

Mary verschränkt die Arme vor der Brust. »Vielleicht änderst du deine Meinung noch.«

»Sagt mir Bescheid, wenn ihr etwas zu trinken braucht, Ladys.«

Als ich weggehe, höre ich Maggie sagen: »Ich hab dir doch gesagt, dass du nur deine Zeit verschwendest.«

Als meine Schicht endet, eile ich durch die Hintertür auf den gut beleuchteten Bürgersteig in Soho. Am Straßenrand parken schnittige Automobile, und Paare flanieren oder küssen sich unter Laternenpfählen. An einigen Straßenecken spielen immer noch Musikanten, und obwohl auf dem Berwick Street Market zu dieser späten Stunde kaum noch etwas los ist, kann ich das leise Echo der fliegenden Händler erahnen, die tagsüber an den Ständen ihre Waren anpreisen. Ich atme tief ein, lasse die Nachtluft durch meine Nase strömen und bereite mich trotz meiner jetzt schon schmerzenden Füße auf den Heimweg vor.

»He!«, ruft plötzlich eine Stimme aus einem privaten Seiteneingang des Clubs, von dem ich annahm, dass er ausschließlich Kate vorbehalten ist. Der Ruf kommt von einem breitschultrigen Kerl, der eindeutig angetrunken ist. Er zwinkert mir zu. »Bist eins von Kates Mädchen? Sechs Schilling für einen Tanz und zwei Pfund für mehr, okay? Das ist der Preis für ein bisschen Spaß.«

Ich werfe erneut einen Blick auf den Nebeneingang. Kate hatte mir gegenüber nichts von einem geheimen Eingang erwähnt für Männer, die ein wenig Spaß haben wollen, und das war auch ganz sicher kein Teil meiner Stellenbeschreibung.

»Ich bin bloß eine Cocktailkellnerin«, sage ich ihm. »Und da du anscheinend keine Drinks mehr nötig hast, verpiss dich, ja?«

Er kommt näher. »Drei Pfund also? Ich mag groß gewachsene Frauen.«

Um mein Temperament zu zügeln, brauche ich meine ganze Willenskraft, und ich atme tief durch. »Ich stehe nicht auf fette Betrunkene.«

Das Grinsen, das sich auf seinem Gesicht ausgebreitet hatte, verfliegt. »Hast eine große Klappe, du freches Luder. Wie wäre es, wenn ich Kate Meyrick Bescheid sage, damit sie dich in die Wüste schickt?« Er zieht die Hand aus der Hosentasche und betatscht gierig meine Brüste. »Oder können wir eine andere Vereinbarung treffen?«

Blinde Wut kocht in mir hoch. Ohne nachzudenken, reiße ich seinen Arm zurück und verdrehe ihn kräftig, bis er vor Schmerz wimmert.

»Ich bin bloß eine Cocktailkellnerin«, sage ich noch einmal, dieses Mal mit Nachdruck.

Er zappelt und stöhnt.

»Alles in Ordnung?«, höre ich Robs Stimme. Ich wirble herum. Er steht vor dem Haupteingang, raucht eine Fluppe, ist aber aufmerksam und erwartungsvoll wie ein Jagdhund an der Leine. Knurrend lasse ich den Mann los.

»Alles wunderbar.«

Rob deutet mit dem Kinn auf den Mann. »Vielleicht sollten Sie sich eine Droschke rufen, Sir. Es ist Zeit für Sie, nach Hause zu fahren.«

Der Mann starrt uns beide an, doch sein Blick verweilt auf Robs geschmeidiger, muskulöser Statur, bevor er wegtorkelt. Ich schüttle den Kopf und zwinge mich dazu, meine zu Fäusten geballten Hände wieder zu öffnen.

Rob sieht mich an. »Hat dieser Idiot dir wehgetan?«

»Ich habe ihm wehgetan«, entgegne ich entschlossen. »Ich hätte ihm den Arm brechen können, wenn ich gewollt hätte.«

»Schade. Welcher Mann will nicht ein Mädchen retten wollen, um ein Held zu sein?«

»Ich bin weder ein Mädchen, noch muss ich gerettet werden.« Ich weiß, ich bin ihm gegenüber zu schnippisch, aber das Adrenalin strömt immer noch durch meinen Körper, und ein Teil von mir möchte diesem Arsch hinterherrennen und ihn bereuen lassen, dass er mir je begegnet ist.

»Das sehe ich.« Er zwirbelt die Zigarette zwischen den Fingern und bietet sie mir dann an. Ich nehme einen Zug und reiche sie ihm zurück. Der Rauch füllt meine Lunge, und mein rasender Herzschlag beruhigt sich.

»Wer hat dir das beigebracht?«, will er wissen.

»Wer hat mir was beigebracht? Einem Mann Nein zu sagen? Oder wie man ihm den Arm bricht, wenn er nicht bereit ist, eine Abfuhr zu akzeptieren?«

Er grinst. »Beides.«

»Mein Dad.«

»Es ist schon seltsam, so etwas einem jungen Mädchen beizubringen.«

»Es sollte mehr Väter geben, die ihren Töchtern beibringen, genauso zu kämpfen wie ihre Söhne. Die ganz Welt ist ein gewalttätiger Ort. London ist es auch.«

»Teile von London«, gibt er zu bedenken. »Teile dieser Welt. Es muss nicht immer alles oder nichts sein. Es gibt auch andere Möglichkeiten.«

Ich lache gackernd. »Willst du damit sagen, ich hätte stattdessen ein vernünftiges Gespräch mit diesem Vollidioten führen sollen? Einem Arschloch, das überhaupt nicht zuhören wollte?«

»Das habe ich damit nicht gemeint. Ich will damit nur sagen, dass es manchmal auch Wege gibt, einen Kampf zu vermeiden.«

Ich straffe die Schultern und mustere ihn jetzt ernst. »Wie viele Kämpfe hast du vermieden?«

»Nicht genug.« Seine Stimme klingt distanzierter, und er blickt auf seine Füße hinunter. »Ich will damit nur sagen, dass man die Dinge anders sieht, wenn man einen richtigen Krieg miterlebt hat.«

Eine heftige Welle des Bedauerns erfasst mich. Zwar können die meisten Männer in dieser Stadt von sich sagen, dass sie nach Frankreich übergesetzt haben, um zu kämpfen, doch wegen seines unbekümmerten Charmes und seiner Schlagfertigkeit hatte ich gedacht, Rob wäre irgendwie davon ausgenommen. »Ich hätte nicht so auf dich losgehen dürfen. Mein Bruder Tommy war im Krieg, und er kehrte mit einem Sack voller Dämonen im Kopf zurück.«

Er nickt. »Das gilt für die meisten von uns.«

Ich sehne mich danach, seine Stimmung wieder aufzuhellen, um dieses Grinsen wieder zu sehen. »Nun, ich danke dir … dafür.«

Er gluckst leise. »Das zu sagen, ist dir jetzt nicht leichtgefallen, nicht wahr?«

»Es war mir zuwider.« Ich rolle dramatisch mit den Augen.

Prompt taucht das Grinsen wieder auf. Ich erwidere es und deute auf den Privateingang. »Ich wusste nicht, dass der Club 43 auch ein Bordell ist.«

In seinen Augen liegt keine Verurteilung, als er sagt: »Eine Menge einsamer Männer kamen aus dem Krieg nach Hause und brauchten ein wenig Trost. Das bieten sie auch im Piccadilly Hotel. Fünf Schilling für ein Lied und einen Tanz.«

»Aber hier kann man für zwei Pfund ein Mädchen ins Bett kriegen?« Ich vermag den bösen Blick nicht zu unterdrücken, der sich auf meinem Gesicht abzeichnet.

»Kate hat dich nicht gefragt, ob du beides machen willst? Im Club arbeiten und als Trostmädchen?«

»Trostmädchen?«

»So nennt sie sie.«

»Huren«, korrigiere ich ihn und schüttle den Kopf. »Ich dachte, Kate wäre anders. Deshalb wollte ich hier arbeiten. Für eine Frau, die einen Nachtclub besitzt! Die Polizeirazzien vermeidet, den Arm des Gesetzes bei jeder Gelegenheit herausfordert und dabei als Siegerin aus der Sache herausgeht.« Ich kann hören, wie meine Stimme lauter wird. »Aber wie ich feststelle, ist sie genau wie all die Männer, die auch nur das ausnutzen, was Frauen zwischen ihren Beinen haben.«

»Ausnutzen würde ich es nicht nennen«, sagt er und deutet in Richtung einiger Trostmädchen, die gerade nach draußen treten. Sie sind in glitzernden Lamé gekleidet und tragen Perlenketten um den Hals. Sie sehen nicht ganz so blendend aus wie Mary und ihre Gangmitglieder, sind aber weitaus besser dran als alle, mit denen ich aufgewachsen bin.

»Willst du mir sagen, dass ich, wenn ich etwas Schickes oder Schönes haben möchte, es entweder klauen muss wie Mary, oder meinen Körper verkaufen muss wie diese Frauen? Denkst du, wir haben nur zwei Möglichkeiten im Leben?«

»Ich denke rein gar nichts«, platzt er heraus. »Ich verurteile eine Frau nicht dafür, was sie für ein paar schöne Perlen tut. Ich bin auch kein Heiliger. Und deswegen werfe ich nicht mit Steinen.«

Ich verschränke meine Arme vor der Brust. »Du hast vorhin gesagt, in Soho hat jeder eine Leiche im Keller. Wie also sieht deine aus?«

»Ich verrate es dir«, erklärt er. »Aber du musst dich von mir zum Frühstück einladen lassen.«

Ich blinzle. »Ich habe gerade vor deinen Augen einem Mann fast den Arm gebrochen, und du lädst mich zu einem Rendezvous ein?« Ich spüre, dass ich rot werde. »Führst du alle Frauen, die gerade hier anfangen, zum Frühstück aus, oder nur die hübschen?«

»Nur die hübschen«, erwidert er mit schelmischem Blick und bietet mir erneut seine Zigarette an.

Diesmal lehne ich sie mit einer Handbewegung ab. »Ich kann nicht.«

»Kannst nicht oder willst nicht?«

Ich gehe an ihm vorbei. Aber nicht, ohne noch hinzuzufügen: »Vielleicht beides?«

Zweites Kapitel

So spät treibt sich niemand mehr auf den Straßen in Lambeth herum, und ich vermisse das Hufgetrappel auf Kopfsteinpflaster und das Rattern der vorbeifahrenden Omnibusse. Die Stille macht mir deutlich, dass ich alleine bin, und veranlasst mich dazu, ständig nach Bewegung in der Dunkelheit Ausschau zu halten. Ein stilles London ist ein gefährliches London.

Plötzlich rast von hinten ein hupendes Automobil auf mich zu, und ich erschrecke mich beinahe zu Tode. Ich habe schon nach dem Messer in meinem Strumpfband gegriffen, als ich sehe, dass Maggie aus dem Ford Model T springt, der auf meiner Höhe gehalten hat.

»Du solltest dir eine Droschke nehmen. Es ist nicht sicher, hier nachts herumzulaufen.«

Ich fuchtle mit dem Butterflymesser in meiner Hand herum, bemüht, mir meine Unsicherheit nicht anmerken zu lassen. »Du weißt doch, dass ich immer ein Messer bei mir trage, Mags.«

Ich halte Augenkontakt und gebe mein Bestes, ihr Automobil nicht zu offensichtlich anzuglotzen. Es übersteigt meine Vorstellungskraft, ein eigenes Automobil zu besitzen, von neuen Seidenstrümpfen mal ganz abgesehen. Eine Welle des Neids überkommt mich, aber dann erinnere ich mich daran, wie sie sich das alles erarbeitet hat.

»Du solltest wissen, dass es zwecklos ist, mich darum zu bitten, mich einer Gang anzuschließen«, sage ich mit ausdrucksloser Stimme.

»Lass mich dich nach Hause fahren. Wir müssen auf der Fahrt nicht darüber reden. Sieh es einfach als einen Gefallen unter Freundinnen an. Bestimmt tun dir die Füße weh.«

Tatsächlich habe ich Füße wie Blei von dem langen Abend, an dem ich durch den Club gehetzt bin. Aber ich nehme ihr nicht ab, dass sie nur eine gute Tat vollbringen will. Die Maggie, die ich kannte, würde nicht so schnell aufgeben. »Ich bin durchaus noch in der Lage, zu Fuß zu gehen.«

»Ich will, dass du mich begleitest«, beharrt sie und dreht sich um, um mir die Beifahrertür zu öffnen. »Es ist doch nur eine Fahrt.«

Und als ob sie die Kontrolle über das Wetter hätte, fängt es an zu nieseln. Ich werfe ihr einen scharfen Blick zu, und ihre Lippen verziehen sich zu einem schalkhaften Lächeln. »Du willst doch nicht etwa im Regen nach Hause laufen, oder?«

Ich stöhne entnervt auf, gebe dann aber nach und gleite auf den Beifahrersitz. »Du fährst mit diesem Automobil und in diesem Outfit in The Mint? Dir sollte klar sein, dass nicht ich schuld daran bin, wenn du ein halbes Dutzend Mal überfallen wirst.«

Sie lacht, schweigt aber und hält ihr Wort, Mary oder die Gang während der Fahrt nicht zu erwähnen. Es herrscht ein seltsames Schweigen zwischen uns – zwei Freundinnen, die sich auseinandergelebt haben. Ich möchte sie so viel fragen, starre aber stattdessen aus dem Fenster und beobachte, wie gepflegte Wohnhäuser und Geschäfte von Minute zu Minute immer seltener am Straßenrand zu sehen sind.

Bei Tageslicht ist es in Lambeth ein Traum. Im hellen Sonnenschein erscheint das Leben auf den Straßen in einem ganz anderen Licht. Auf dem Weg zur Arbeit komme ich an Ständen von Gemüsehändlern vorbei, unter deren hellen Markisen lauter prall gefüllte Körbe und Kisten stehen, an Gebrauchtbuchläden, deren Verkäufer am Bordstein ihre Ware lautstark feilbieten, an Männern und Frauen, die mit strahlendem, fröhlichem Lachen in maßgeschneiderter Kleidung flanieren.

Auf dem Heimweg hingegen ist die einzige angenehme Begegnung, die sich uns entlang der im Schlaf liegenden Straßen bietet, ein zerlumpter Leierkastenmann, der vor sich hin schlurft und dabei mit seinem Hut um Münzen bettelt. Ich habe mit beiden Seiten meinen Frieden geschlossen: mit dem quirligen Wesen des Londoner Tags und mit der unheimlichen Stille, die dem Mondaufgang auf dem Fuße folgt.

Ich atme tief ein und lockere meine Schultern, bis meine ruhige Gelassenheit verschwindet, als mein Viertel in Sicht kommt – ein Viertel, das The Mint genannt wird und in dem die Straßenzüge vom Londoner Ruß geschwärzt sind.

Commissioner Horwood hat es das »Kriminellenviertel« getauft, eine düstere Gegend, in der sich der Ruß aus den Schornsteinen auf Kleidung und Haut niederlässt und sich nie wieder ganz entfernen lässt. Wenn hier jemand ermordet wird, macht sich die Polizei nicht einmal die Mühe, herzukommen, weil sie wissen, dass die Leiche und die Beweise vor ihrer Ankunft längst vom Erdboden verschwunden sind. Es ist ein Unterschlupf für Diebe, Mörder und Betrüger – Leute, die nur dank ihrer zweifelhaften Talente über die Runden kommen.

Das Schaufenster des Ladens meiner Mutter ist klein, und die Schrift auf dem Schild, auf dem Wahrsagerei beworben wird, blättert ab. Es ist nicht gerade eine einladende Werbung, aber Mum hat viele Kunden, die verzweifelt nach Antworten suchen und inständig hoffen, ihren Laden mit erfreulichen Neuigkeiten verlassen zu können. Sie enttäuscht niemanden.

Maggie parkt auf der gegenüberliegenden Straßenseite und schaut angewidert aus dem Autofenster. Die Mitglieder ihrer Familie, die Hills, waren die rechte Hand meines Vaters, bevor sie nach Chinatown zogen.

»Ich verstehe nicht, wie du hier ausharren kannst«, sagt sie schließlich. »Wieso kehrst du jeden Tag hierhin zurück, nachdem du Zeit in Soho verbracht hast, unter Menschen, die es verstehen, ihr Leben wirklich zu genießen?«

»Die Familie«, bringe ich ihr in Erinnerung, greife nach dem Türgriff und steige aus.

Rasch hüpft auch sie aus dem Automobil und kommt um den Wagen herum, um mir Auge in Auge gegenüberzustehen, bevor ich in den Laden eilen kann. »Ich hatte versprochen, dass ich während der Fahrt die Klappe halte.«

Ich schüttle den Kopf. »Es hätte auch einfach eine Begegnung von zwei Freundinnen sein können, die sich Hallo sagen, aber du musstest es ja zu einer persönlichen Sache machen. Du musstest etwas tun, das mir das Gefühl gibt, dass du mich gar nicht mehr kennst und dass du dich auf eine Art verändert hast, die ich dir nicht verzeihen kann.«

»Das klingt furchtbar dramatisch, wenn man bedenkt, dass du das Geld bestimmt gut brauchen könntest.«

»Wir kommen schon zurecht. Wir kommen immer irgendwie durch.«

»Dein Plan für die Zukunft ist also, immer nur irgendwie durchzukommen, obwohl du reich werden könntest?«

Ich zwicke mir in den Nasenrücken. »Warum drängst du so? Du warst die ganze Zeit in London und hast mich nie aufgesucht.«

»Mary hat mich schon vor Jahren gebeten, dich anzuwerben, aber ich habe mich geweigert. Als sie mir dann mitteilte, sie wolle versuchen, dich selbst ausfindig zu machen, habe ich sogar gedroht fortzugehen, wenn sie das täte.«

Ich ziehe leicht die Augenbrauen hoch. »Wo war diese Zurückhaltung heute Abend?«

Statt einer Antwort strafft sie die Schultern. »Als ich dich sah … erkannte ich so viel Potenzial. Ich weiß zwar zu schätzen, was Mary aufgebaut hat, aber ich weiß auch, dass wir noch mehr erreichen könnten. Es gibt noch größere Herausforderungen, denen sie den Rücken kehrt, weil sie glaubt, wir sollten lieber auf Nummer sicher gehen. Aber ich weiß, dass ich zu mehr fähig bin, und die Mädchen sind ebenfalls zu mehr in der Lage. Man muss es ihnen nur zeigen. Wenn du und ich ihnen – Mary – die Möglichkeiten aufzeigen, wären wir mehr als nur Unterhaltungsstoff für die Zeitungen. Wir wären eine ernst zu nehmende Größe in London. Wir hätten etwas ganz Eigenes.«

Bei dieser Vorstellung beginnt sich in meinem Kopf alles zu drehen, und erneut kommt Neid in mir auf. Als wir noch Mädchen waren, gab es nichts, was wir nicht hätten gemeinsam erreichen können. Die Möglichkeiten jetzt, als erwachsene Frauen, fühlen sich grenzenlos an. Aber das Gefühl von Vorsicht überkommt mich – nicht nur bei der Vorstellung, mich einer Gang anzuschließen, sondern auch dabei, Maggie wieder zu vertrauen. Ich glaube nicht, dass ich das kann.

Ich verschränke die Arme vor der Brust und kneife die Augen zusammen. »Du willst mich rekrutieren, weil es mir nichts ausmacht, die Ärmel hochzukrempeln und mir die Hände schmutzig zu machen? Oder weil du schon immer versucht hast, deinen Brüdern zu beweisen, dass du sie nicht brauchst, um eine große Nummer zu sein?«

»Es geht hier nicht um sie.«

»Lüg mich nicht an! Das Mindeste, was du tun kannst, ist, ehrlich zu mir zu sein.«

»Willst du denn nicht mehr erreichen als das hier?« Sie fuchtelt mit den Armen herum, gestikuliert hinauf in die Dunstglocke, die über dem Viertel hängt. »Davon haben wir doch immer geträumt, als wir noch Mädchen waren – mehr zu erreichen und The Mint hinter uns zu lassen. Solange ich dich kenne, hast du dich immer nur für deine Familie aufgeopfert und hinter Tommy den Dreck weggeräumt. Wann wirst du entscheiden, dass es genug ist?«

Ich schäume. »Wir waren Mädchen, die von einer Welt träumten, die es nicht wirklich gibt.« Ich lasse dieses großkotzige Model T gründlich auf mich einwirken, da ich nie wieder darin fahren werde. Ich präge es mir für immer ins Gedächtnis ein, bevor ich sage: »Viel Glück, Mags.«

Dann lasse ich sie stehen und gehe hinein.

Die rostige alte Glocke, die über der Tür hängt, kündigt mich an. Der schwache, flackernde Lichtschein, der den Laden erhellt, ist kaum heller als das Licht in den schummrigen Straßen. Mum schaut auf, während sie die auf einem Tisch ausgebreiteten Tarotkarten aufsammelt. Der Tisch ist mit einem abgenutzten, ausgefransten Tuch bedeckt, das tiefrot ist – ihre Lieblingsfarbe. Als ich jung war, bewohnten wir beide Stockwerke des Gebäudes, aber als Tommy dann auszog und meine Mum ihr Geschäft eröffnete, verwandelte sie die untere Etage in eine gespenstische, bunte Kulisse, die von über einem Dutzend Kerzen beleuchtet wird. Gerahmte Tierbilder hängen verstreut an den Wänden, Flaschen mit Erde und Kräutern, lila Kristalle und sogar ein paar Tierschädel übersäen Tische in der Nähe der Sitzgruppe an der Tür.

Mein persönlicher Favorit ist ihr »Buch der Toten«, ein kleines Notizbuch mit Kritzeleien und Zeichnungen, das während ihrer Séancen zur Anwendung kommt. Ihre Methoden variieren von Kunde zu Kunde. Manchmal liest sie aus den Karten, manchmal aus der Hand. Gelegentlich schaut sie sogar in eine Glaskugel und murmelt unverständliche Worte, die sie sich ausgedacht hat, damit es so klingt, als würde sie in fremden Zungen sprechen.

Alles Lügen – eine brillante Scharade, die sie im Laufe der Jahre immer weiter perfektioniert hat. Ihre einzige wirkliche Begabung ist das Lesen von Menschen – eine Fähigkeit, die wir, wie ich finde, gemeinsam haben.

»Alice!« Sie huscht über die knarrenden Dielen, um mich am Kinn zu packen und auf die Wange zu küssen. »Wie war dein erster Abend? Sind Kate und ihr Club das, was du dir erhofft hast?«

Nicht unbedingt, aber es gibt keinen Grund, ihr das zu verraten. »Klar doch, ich bin sehr zufrieden. Der Laden ist voll mit reichen Wichsern, die alle besoffen sind von dem Champagner, der dort in Strömen fließt.«

Sie grinst und öffnet erwartungsvoll die Hände. »Dann zeig mal, was du in die Finger bekommen hast!«

Ich leere meine Taschen mit der ganzen Beute der Nacht aus, und sie sortiert und entscheidet, was sie verkaufen kann und was klugerweise behalten werden sollte. Die Dinge, die wir behalten, sind die, die nützlich sein könnten, solange Dad weg ist. Manchmal kommen Tommys Kumpel vorbei und faseln etwas von unbezahlten Schulden, und dann kann etwas Glänzendes sie besänftigen. Manchmal ist es auch bloß jemand aus The Mint, der neue Schuhe oder eine warme Mahlzeit braucht.

»Ein lohnender Abend«, lobt sie.

»Bei dir auch?«, frage ich und deute auf den Stapel Tarotkarten.

Ihre Wangen erröten leicht. »Eine Frau kam vorbei und suchte nach einem Weg, ihren Mann zu beseitigen. Ich habe ihr gesagt, dass das nicht in mein Metier fällt.«

Ich merke, dass sie lügt – ich bin die einzige Person, die dazu in der Lage ist. Ihre Nasenlöcher blähen sich dann auf, und sie wird ganz zappelig. Jede Art von Bewegung deutet auf eine Lüge hin. Ich stöhne auf und gehe hinüber zum Bücherregal, in dessen Boden ein Geheimfach eingebaut ist. Darin bewahrt Dad seine Trapper-Messer auf. Es sind insgesamt sechs, aber als ich die Schachtel öffne, zähle ich nur fünf.

Er verachtet Schusswaffen und ist der Ansicht, dass sie nur als letzter Ausweg benutzt werden sollten. Deshalb besitzt er auch nur eine einzige, die er unter Mums Matratze versteckt, aber unter den Dielenbrettern in der Küche verbirgt er über hundert verschiedene Messer.

»Bist du übergeschnappt? Du hast ihr eins von den Messern verkauft?«

Sie stemmt eine Hand in die Hüfte und stößt laut den Atem aus. »Es war schwer, ihr Angebot abzulehnen. Sie kam hierher und suchte nach Antworten, hoffte darauf, dass ich ihr aus der Hand lese und ihr prophezeie, dass er eines Tages sein Ende finden wird. Aber so was passiert nicht, Alice. Er tut ihr weh, und ich gab ihr die Möglichkeit, sich zu wehren.«

»Wir verkaufen keine Waffen, wir verkaufen keine Drogen.«

»Wir gehen auf Nummer sicher, solange dein Vater weg ist.« Genervt beendet Mum die oft wiederholte Parole.

»Sicher«, betone ich mit einem Fingerschnippen. »Ich bin eine Taschendiebin, und du manipulierst Menschen. So lauten Dads Anweisungen.«

»Es kann nicht zurückverfolgt werden«, beruhigt sie mich. »Und es war nur eine einmalige Angelegenheit.« Sie senkt ihre Stimme zu einem Flüstern. »Unser kleines Geheimnis? Dein Vater muss es nicht erfahren.«

Ich stöhne auf und verdrehe die Augen. Genau in diesem Moment kommt Louisa die Treppe heruntergerannt. Ihr langes, geflochtenes Haar streift mein Gesicht, als sie ihre dünnen Arme um meinen Hals schlingt. Sie kam kränklich zur Welt, und unsere Mutter war davon überzeugt, dass sie nicht durchkommen würde. Aber sie hat sich durchgekämpft.

Wir versuchen, sie von unseren dunklen Familienaktivitäten fernzuhalten. Ich möchte, dass sie sich ihre Kindheit so lange wie möglich bewahren kann, auch wenn sie immer neugieriger wird auf die illegalen Seiten unserer Tätigkeit.

»Mum hat einer Frau ein Messer verkauft«, platzt sie heraus. »Ich habe alles mitgehört!«

»Sei still, Louisa!«, zischt Mama ihr zu.

»Ich habe ihr gesagt, dass sie nicht darüber reden soll. Dad wird fuchsteufelswild sein. Sie hat mich heute Abend mehrere Kunden die Hand lesen lassen. Ich habe sie auch schön reingelegt.«

Unsere Mutter holt Luft und sagt: »Ich habe dir gesagt, du sollst ins Bett gehen. Ich will keine Frechheiten mehr von dir hören!«

Louisa wendet sich mir zu, verdreht die Augen und ignoriert Mum. »Findest du, er hat es verdient? Ihr Mann?«

»Rede nicht so!«, schimpfe ich mit ihr und bugsiere sie die Treppe zu unserem gemeinsamen Schlafzimmer hinauf. »Ich komme gleich nach. Wärm schon mal das Bett an.«

Sie runzelt die Stirn und verschwindet. Sobald sie weg ist, sammeln meine Mutter und ich meine Beute zusammen. Es ist seltsam: Je länger ich all die schönen Dinge betrachte, die ich kassiert habe, desto mehr denke ich an Mary Carr mit ihrem schönen rosa Pelz, und an ihre Diebesbande. An das Gefühl, in Maggies Automobil mitzufahren.

Bilder von ihrem kunstvollen Kopfschmuck spuken in meinem Kopf herum.

»Hast du schon mal etwas von den Forty Elephants gehört?«

»In allen Zeitungen wurde über sie berichtet«, sagt Mum desinteressiert. Dann kichert sie. »Die sind in ganz London unangenehm aufgefallen.«

»Maggie hat sich ihnen angeschlossen.«

Ich sehe, wie sie skeptisch eine Augenbraue wölbt. »Maggie Hill?«

Ich presse die Lippen zusammen und nicke dann. »Ich habe sie heute Abend getroffen.«

»Du meine Güte, das muss ja Jahre her sein.« Sie stützt eine Hand auf ihre Hüfte. »Hat sie schon ihre Brüder besucht?«

»Nein … und das hat sie auch nicht vor. Sie war mit Gangmitgliedern im Club 43. Ihre Anführerin hat gesehen, wie ich kassiert habe, und mir bescheinigt, ich sei talentiert.«

Sie schnaubt. »Kassiert?«

Ich zucke mit den Schultern. »So hat sie es ausgedrückt. Mum, du hättest mal sehen sollen, was sie anhatte. Hinrei …«

»Nein, Alice«, unterbricht sie mich sofort und lässt die Schultern hängen. »Es ist mir egal, welche Flausen sie dir in den Kopf setzen wollte oder was sie anhatte. Die sind mit der Elephant-and-Castle-Gang verbündet, das heißt, sie sind Feinde der Italiener, der Gangster, die auf der Straße einen immerwährenden Krieg führen. Da lassen wir unsere Finger aus dem Spiel, und das weißt du auch.«

Ich grinse höhnisch. »Du kannst einer Fremden ein Messer verkaufen, aber ich kann nicht über Mary Carrs Gang reden, ohne dass du mir eine Standpauke hältst?«

»Maggie hat sich entschieden. Wie man sich bettet, so liegt man.«

Ich schüttle den Kopf und steuere die Treppe an, als ich drei Teller auf dem Küchentisch entdecke. Ich halte inne und drehe mich um, um Mum anzuschauen. »Hattet ihr heute Abend Gesellschaft?«

Sie zögert. »Jetzt komm, Alice, bleib ruhig. Mach keinen Zirkus deswegen!«

Meine Kehle schnürt sich zusammen. »Tommy ist zu Hause. Wo steckt er?«

»Er ist bloß zum Abendessen gekommen.«

»Wo ist er?«

»Es ist nichts.«

»Wo zum Teufel ist er?« Ich kreische zu laut, wie ein wildes Tier, das nichts in einem Haus zu suchen hat. Ich habe das Temperament meines Vaters geerbt, das ist wahr, und manchmal übermannt es mich.

In null Komma nichts späht Louisa über das Treppengeländer hinab und glotzt mit offenem Mund auf die Szene. »Ich wollte es dir sagen, aber Mum hat es mir verboten.«

»Du hast Louisa für dich lügen lassen?« Ich platze beinahe vor Wut.

»Er ist unten im Pub«, verrät Mum. Ihre Stimme ist nur ein zittriges Flüstern. »Bitte, Alice, mach kein Theater. Ich sehe meinen Jungen fast nie. Jag ihn nicht zum Teufel.«

Ich stürze aus der Tür. »Ich habe dir doch beim letzten Mal schon gesagt, dass du ihn nicht wieder reinlassen sollst.«

Sie folgt mir bis auf die Straße hinaus und wendet ein: »Das hast du nicht zu entscheiden!«

Ich lache ihr schallend ins Gesicht. »Das habe ich bereits.«

Ich eile zu Ralphs Pub. Es ist der einzige Ort in The Mint, an dem man einen anständigen Happen und ein Getränk genießen kann, ohne sich ständig über die Schulter schauen zu müssen. Während des Kriegs hat Ralph sechs feindliche MG-Schützen mit einem einfachen Gewehr ausgeschaltet und den Rest der Einheit dann mit einem Flammenwerfer bearbeitet, bis sie kapitulierten. Als er nach Hause kam, legten alle zusammen und kauften ihm die Kneipe.

Kaum dass ich reinkomme, deutet die Bardame auch schon auf Tommy, der gerade zwei Prostituierte anquatscht. Sie bräuchte gar nicht auf ihn zu deuten, denn ich würde ihn überall entdecken. Er hat das gleiche hellrote Haar wie unser Vater und trägt wie dieser sein Markenzeichen, eine Brille. Wer ihn nicht kennt, könnte meinen, er wäre intelligent, weil belesen. Ein großer Irrtum.

»Alice, fang hier drinnen keinen Ärger an«, mahnt Ralph, als er mich erblickt. »Tragt eure Scharmützel draußen aus.«

Beim Klang meines Namens erhebt sich Tommy und sprintet los. Ich setze ihm durch den Hinterausgang nach draußen nach und packe ihn am Kragen, um ihn in eine nahe gelegene Pfütze zu tunken.

Er kommt mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden auf und stöhnt auf. »Ist mir immer ein Vergnügen, Schwesterherz.«

»Was zur Hölle hast du wieder getan?«

Er rollt sich auf die Seite und betastet seinen Ärmel, der nun mit Schlamm bedeckt ist. »Ich bin nur auf eine Stippvisite zurückgekommen.«

»Nein«, herrsche ich ihn an. »Du bist zurückgekommen, weil wieder irgendwas schiefgelaufen ist. Das ist der einzige Grund für dich, zurückzukommen. Du glaubst, diese Straßen bieten dir Schutz, weil unser Dad dafür gesorgt hat. Aber wir haben die Nase gestrichen voll von dir, Tommy. The Mint wird nicht das Geringste für dich tun. Ich genauso wenig.«

»Mum hat gesagt, ich kann bleiben.« Er rappelt sich auf.

»Und ich sage, verpiss dich.«

»Hältst du dich jetzt für Dad?«

»Jemand muss seinen Platz einnehmen, wenn er weg ist, und das bist weiß Gott nicht du. Was hast du getan, Tommy? Sag es mir!«

Er lehnt sich an die steinerne Fassade des Pubs und holt einen Flachmann aus seiner Manteltasche. Er gönnt sich zwei große Schlucke und schüttelt die Flasche dann stirnrunzelnd. »Entschuldigung, ich muss mir nachschenken lassen.«

Ich stelle mich vor ihm in den Türrahmen und versperre ihm den Weg in den Schankraum. »Was hast du getan?«