Die Dinge, die wir suchten - Damaris Pastow - E-Book

Die Dinge, die wir suchten E-Book

Damaris Pastow

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Beschreibung

Finn weiß nicht, wie es ist, eine Familie zu haben. Seinen Vater und seine Mutter hat er nie gekannt. Er weiß nur, dass er schon sein ganzes Leben lang nach etwas sucht. Aber dann zieht sein Onkel Gideon mit ihm in die Stadt, in der Gideon und Finns Mutter aufgewachsen sind, und Finn schöpft Hoffnung. Wird er dort das Geheimnis seiner Herkunft lüften? In den Zwillingen Dana und Lukas findet er gute Freunde; zusammen begeben sie sich mit ihm auf die Suche nach Antworten. Doch plötzlich verschwindet der kleine Bruder von Dana und Lukas, und Finns Nachforschungen geraten ins Schleudern ... Die poetische Coming-of-Age-Erzählung einer Suche.

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Der SCM Verlag ist eine Gesellschaft der Stiftung Christliche Medien, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-7751-7357-5 (E-Book)ISBN 978-3-7751-5733-9 (Lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book: Beate Simson, Pfaffenhofen a. d. Roth

© der deutschen Ausgabe 2016 SCM-Verlag GmbH & Co. KG · Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen Internet: www.scm-verlag.de; E-Mail: [email protected]

Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen: Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006 SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten.

Umschlaggestaltung: Kathrin Spiegelberg, Weil im Schönbuch Titelbild: stocksy.comHintergrundbild Umschlagrückseite: Sebastian Engler Autorenfoto: privat Satz: Breklumer Print Service, Breklum

Für Bori, ohne die ich kein Wort davon geschrieben hätte.

Inhaltsverzeichnis

Die Autorin

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Danksagung

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Die Autorin

Damaris Pastow, Jahrgang 1993, wuchs in der Schweiz, in Mecklenburg-Vorpommern und in Sachsen-Anhalt auf. 2010 machte sie Abitur und studiert nun Ethnologie in Leipzig. 2013 war sie unter den Finalisten des Nachwuchsautoren-Wettbewerbs der SCM. Mit »Die Dinge, die wir suchten« legt sie ihr Romandebüt vor.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Kapitel 1

Das Geschenk war gut versteckt. Zu gut. Aber Josef hatte ja auch sechzehn Jahre Zeit gehabt, um diese Kunst zu perfektionieren. Jedes Jahr versteckte er Finns Geburtstagsgeschenk, aber noch nie hatte Finn so lange danach gesucht.

Er holte einen Stuhl aus dem Wohnzimmer und schleppte ihn in den Flur. Er kletterte drauf und prüfte die Garderobe, aber dort lag nur Josefs zerbeulter brauner Hut mit der Entenfeder dran. Er nahm den Hut von der Ablage und setzte ihn auf. Staub wirbelte ihm entgegen und kribbelte in seiner Nase. Einen Moment lang wartete er, aber leider musste er nicht niesen. Und dabei nieste er so gern.

Mit wackligen Knien kletterte er vom Stuhl. Seine Grobmotorik war morgens so schwach, dass er sich regelmäßig fast das Genick brach: Wenn er aus der Dusche stieg oder die Treppe hinunterging oder auch einfach nur, wenn er aus dem Bett aufstand. Es wurde tagsüber auch nur geringfügig besser.

Wo war bloß dieses Geschenk?

Er konnte sich einfach nicht aufs Suchen konzentrieren. Jetzt durchwühlte er schon zum dritten Mal die Kissen auf dem Sofa, und zum dritten Mal war da nichts. – Aber so war es auch, wenn er sein Handy suchte: Beim fünften Mal war es dann immer da.

Seine Freunde wünschten sich zu ihren Geburtstagen iPhones und Wiis. Josef hatte ihn gefragt, was er sich wünsche, aber was Finns wirklich größter Wunsch war, das konnte er ihm nicht sagen: Er wollte endlich wissen, wer sein Vater war.

»Opa, kannst du mal kalt oder warm sagen?«, rief er so laut, dass Josef ihn in der Küche hören musste.

»Heiß«, rief Josef.

»Du weißt ja gar nicht, wo ich bin!«

»Ich meinte ja auch den Fliederbeersaft.«

Finn seufzte. Jedes Jahr zu Finns und Josefs Geburtstagen gab es diesen Fliederbeersaft, der dunkellila und sauer war und den Mundraum zusammenzog wie eine Vakuum-Maschine. Er schmeckte gar nicht besonders gut – aber es war eine Geburtstagstradition, und deshalb trank Finn ihn gern.

»Der Fliederbeersaft wird kalt!«, dröhnte Josefs Stimme aus der Küche. »Der Kuchen wird kalt! Alles wird kalt!« Er lachte, und es klang wie weit entfernter Donner.

Wenigstens einer von ihnen hatte gute Laune. Obwohl, korrigierte Finn sich selbst – das stimmte nicht ganz: Kosmo war ebenfalls ganz aufgekratzt. Er beschnüffelte grade die Truhe unter dem Fenster, denn er hatte natürlich gemerkt, dass Finn etwas suchte, und wollte helfen. An seinem Halsband war eine glänzende grüne Schleife befestigt. Und da er sie sich nicht selbst umgebunden haben konnte, folgerte Finn, dass Josef wirklich gute Laune haben musste. Sonst fand er so etwas immer unerträglich albern.

»Gib mir einen Tipp!«, rief Finn. »Bitte!«

Einen Moment war Stille, dann brüllte Josef: »Der frühe Vogel fängt den Wurm!«, und lachte wieder dröhnend.

Finn stöhnte. Was sollte das jetzt heißen? Vielleicht hatte es etwas mit Vögeln zu tun. Oder mit Würmern. Finn verzog das Gesicht. Bitte mit Vögeln!

Und da fiel es ihm ein: die Kuckucksuhr!

Er näherte sich der Uhr, die fleißig und gemächlich tickte, und überlegte, ob er die kleine Tür vorne öffnen sollte. Aber das hätte Josef auch nicht getan. Und zu warten, bis der Kuckuck herauskam und das Geschenk dann schnell hineinzutun, war viel zu kompliziert.

Während er überlegte, wanderte Finns Blick aus dem Fenster – und fiel auf das Vogelhaus. Es stand draußen auf der Fensterbank und war jetzt, am 6. Januar, mit Sonnenblumenkernen so voll gefüllt, dass kein Vogel mehr darin Platz hatte.

Er riss das Fenster auf, eine Taube flatterte erschrocken von der Dachrinne und fegte eine Ladung Schnee durchs Fenster. Finn schob die Hand ins Vogelhaus, und da war es: Ein kleines Päckchen, etwas kürzer als Finns Hand, aber schwer und mit einer Schleife umwickelt.

Kurz darauf saß er, immerhin halb angezogen, am Küchentisch. In einem Topf auf dem Herd dampfte der Fliederbeersaft, und Josef schöpfte ihn mit einer Kelle, die so groß war wie eine Babybadewanne, in die bauchigsten Tassen, die sie hatten. Ein Teil ging daneben und tropfte auf die Fliesen. Kosmo schlabberte ihn glücklich auf.

Finn pustete in seine Tasse, trank und verzog das Gesicht.

»Lecker«, sagte er.

Josef lächelte, aber nicht mit dem Mund, nie mit dem Mund, sondern mit den Augen.

Er schlug sein Gesangbuch auf. Jeden Morgen las er als Tischgebet eine Strophe eines alten Liedes vor. Das war meistens schön, aber auch oft seltsam. Gestern hatte er zum Beispiel mit ernster Stimme vorgetragen: Dass Dieb und Räuber / unser Gut und Leiber / nicht angetast’ und grausamlich verletzet, / dawider hat sein Engel sich gesetzet. / Lobet den Herren!

Was Josef heute las, hörte Finn nicht. Er dachte an seinen Vater. Seinen Nicht-Vater. Und an seine Mutter. Sie war achtzehn Jahre alt gewesen, als sie ihn bekommen hatte, nur ein klein wenig älter als er jetzt. Das einzige Bild von ihr, das er besaß, hatte er sich seit Monaten nicht mehr angeschaut – seit er festgestellt hatte, dass sie plötzlich aussah wie die Mädchen in seiner Klasse: Haare, die wie ein Wasserfall auf die Schultern flossen, dunkel geschminkte Augen und ein Lächeln mit eisern geschlossenen Lippen.

Er hatte das Gefühl, dass sie mit jedem Tag, den er älter wurde, mehr verblasste. Und es ärgerte ihn, dass auf dem Foto ihre Augen so geschminkt waren, denn sonst hätte er vielleicht eine Ähnlichkeit feststellen können. Immerhin wusste er, dass sie eine leicht schiefe Nase hatte, so wie er, und aus irgendeinem Grund beruhigte ihn das.

Mit einem Knall klappte Josef das Gesangbuch zu. Finn fiel fast vom Stuhl vor Schreck.

»Mach es auf!«, sagte Josef und deutete auf das Geschenk auf seinem Teller.

Finn griff nach einem Messer, säbelte den Klebestreifen auf und entrollte das Zeitungspapier. Ein kleiner, dunkler Gegenstand klirrte auf seinen Teller.

Ein Taschenmesser!

Nein, nicht irgendein Taschenmesser, sondern Josefs Taschenmesser. Auf der Seite waren die Buchstaben JM eingraviert, und als Finn es umdrehte, entdeckte er auf der anderen Seite eine neue Gravur: FM.

Josef Marschall – Finn Marschall.

»Aber das ist doch deins!«, protestierte er.

»Jetzt nicht mehr«, sagte Josef und wischte sich einen Tropfen Fliederbeersaft aus dem Schnurrbart.

»Du brauchst es aber!«

Josef zuckte die Schultern, was aussah, als würde sich eine Gebirgskette heben und senken. »Du wirst es noch öfter brauchen als ich.«

Finn legte es vor sich auf den Teller. »Danke«, sagte er.

»Freust du dich nicht?«, fragte Josef.

»Doch«, sagte Finn schnell. »Es ist toll! Es hat nichts mit dem Messer zu tun. Es ist bloß …«

Josefs Augenbrauen bogen sich bedrohlich nach unten. »Was?«

Er holte tief Luft.

»Also ich dachte, ich würde gern …« Er verstummte, suchte nach Worten. »Ich bin doch jetzt sechzehn. Kannst du mir nicht etwas über meinen Vater sagen?«

Josef lehnte sich zurück und sah ihn schweigend an. Man hörte die Kuckucksuhr im Wohnzimmer ticken. Finn klappte das Messer auf und zu und wartete.

Josef räusperte sich. »An deinem achtzehnten Geburtstag. Das habe ich doch gesagt.«

Finn ließ das Messer zuschnappen. »Aber ich will das wissen! Bitte, Josef – das ist es, was ich mir wirklich wünsche!«

»Nein.«

»Aber …«

Josef legte seine gewaltige Hand flach auf den Tisch, so flach, dass nicht mal mehr ein Kaffeefleck dazwischengepasst hätte. Und da wusste Finn, dass die Unterhaltung beendet war.

Er hackte seine Gabel in den Kuchen und wusste, dass er vor Wut und Enttäuschung keinen Bissen mehr herunterbekommen würde.

Danas Hände zitterten so sehr, dass ihr der Mascara fast ins Waschbecken fiel.

»Es ist nur eine Party«, erklärte sie ihrem Spiegelbild, packte den Mascara fester und tuschte tapfer weiter. »Kein Grund, nervös zu sein.«

Aber sie war nervös.

Als Maik sie eingeladen hatte, hatte sie sofort Nein sagen wollen, aber die Art, wie er gefragt hatte, ließ sie es sich zweimal überlegen: Er war freundlich gewesen, weder aufdringlich noch übertrieben selbstsicher. Er hatte sie einfach nur gefragt. Und sogar Vani mit eingeladen.

Und seitdem interessierte sie sich für ihn. Aber nicht so, wie alle dachten. Warum, dachte sie, sollte sie ihn nicht kennenlernen? Warum sollte sie nicht mit ihm befreundet sein? Sie war ja auch mit anderen Leuten befreundet. Maik war ein spannender Mensch, und es gab nicht viele spannende Menschen in Helmshafen. Er war ungeheuer großzügig mit seinem Geld, kümmerte sich tatkräftig um seine Freunde und schien die Stärken und Schwächen der Menschen um ihn herum genau zu kennen.

Das Problem war nur: Mit Maik war man nicht einfach befreundet. Entweder, man gehörte zu seinen Jungs, seiner Truppe, oder man gehörte zu den Mädels, die ihn anschmachteten. Niemand glaubte Dana, dass sie ihn einfach nur kennenlernen wollte, nicht mal ihre beste Freundin Vani, die ihr jedes Mal, wenn Maiks Name fiel, verschwörerisch zublinzelte.

Aber das war nicht der Grund, warum Dana nervös war, sondern –

»Luchs!«

Diesmal landete der Mascara tatsächlich im Waschbecken.

Mit verschränkten Armen lehnte ihr Bruder im Türrahmen. Sie sah ihn im Spiegel, direkt neben ihrem Gesicht, aber sie war so mit ihren Wimpern beschäftigt gewesen, dass sie ihn nicht bemerkt hatte.

Luchs und Maik führten Krieg, seit letztes Jahr der Fußballpokal verschwunden und Luchs dafür verantwortlich gemacht worden war. Luchs behauptete, Maik stecke dahinter – dass er ihn aus der Mannschaft ekeln wolle. Aber Dana wusste nicht, ob sie allzu viel darauf geben sollte. Im Endeffekt, dachte sie, sind die Jungs doch auch oft Idioten.

»Du hast wirklich vor, auf diese Party zu gehen?«, fragte Luchs.

Ignorier ihn einfach, dachte sie, aber dann antwortete sie doch.

»Ja.«

»Lass es.«

»Warum?« Dana versuchte, sich auf ihren Mascara zu konzentrieren, aber direkt neben ihrem Gesicht funkelten Luchs’ böse braune Augen.

»Er dealt«, sagte Luchs, und sein Blick wurde noch finsterer.

»Das ist nicht bewiesen«, murmelte Dana.

»Ich hab’s gesehen.« Luchs presste seine Faust gegen das Holz des Türrahmens. »Ist das kein Beweis?«

Dana war mit ihrem rechten Auge fertig und plinkerte, um sicherzugehen, dass der Mascara keine schwarzen Flecken unter ihrem Auge hinterließ.

»Hör zu, Luchs«, sagte sie. »Vielleicht hast du recht, aber ich will ihn selbst kennenlernen, okay? Kannst du jetzt bitte gehen?«

»Du glaubst mir nicht«, sagte er und verschränkte die Arme noch fester um seinen Oberkörper.

Dana versuchte, das mulmige Gefühl in ihrem Bauch zu ignorieren. »Ich finde, man sollte einen Menschen erst kennenlernen, bevor man sich eine Meinung über ihn bildet«, sagte sie und konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme gereizt klang. So viel zu damenhaftem Verhalten.

»Ich kenne Maik gut genug«, knurrte Luchs.

»Ich nicht«, sagte Dana und griff zum Eyeliner. Sie überlegte, ob sie Luchs in den Flur schieben und die Tür schließen sollte, aber das war zwecklos: Er war stärker als sie, und sie wusste aus Erfahrung, dass er sich keinen Zentimeter bewegen würde, wenn er es nicht wollte.

»Okay«, sagte Luchs schließlich. »Dann geh hin. Aber sag später nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«

Was soll denn schon passieren? dachte Dana, aber sie sprach es nicht aus, um Luchs nicht zum Weiterreden zu ermutigen.

Er drückte sich vom Türrahmen ab, als würde er das ganze Haus hochstemmen wollen, und verschwand. Dana atmete auf und setzte schon den Eyeliner an, als er so plötzlich wieder auftauchte, dass sie einen dicken schwarzen Strich quer über ihre Wange malte.

Luchs musterte sie erstaunt im Spiegel. »Muss das so?«

»Nein«, zischte sie. »Was willst du?«

»Fragen, ob du meine Handynummer hast.«

»Natürlich habe ich deine Handynummer. Du bist mein Bruder.« Sie griff nach einem Abschminktuch und schrubbte damit über ihre Wange.

»Ruf mich an, wenn was nicht stimmt, okay?«

Sie ließ das Tuch sinken, aber Luchs war weg, bevor sie etwas erwidern konnte.

Sie betrachtete ihr Gesicht, die grauen Schlieren auf ihrer Wange.

Sie hatten beide das Gefühl, dass sie Luchs verriet.

Sie war ein schwereloser, fahler Körper in einem tiefen, eiskalten Meer, ohne Gewicht oder Stimme. Sie ruderte und trat, sie brauchte Luft! Und dann, als die Erschöpfung bis in ihre kleinen Zehen drang und sie fast nicht mehr konnte, war sie endlich oben, brach durch die schillernde Oberfläche und trank Wärme und Licht in tiefen Zügen in sich hinein.

Zuerst war da ein Piepen, rechts von ihr, beruhigend und beängstigend zugleich. Wenn das still steht, dachte Dana, dann auch mein Herz. Und mit ihrem ersten wachen Atemzug stieg ihr ein Geruch in die Nase, stechend und gebieterisch, und sofort wusste sie, wo sie war: im Krankenhaus. Genauso roch ihre Mutter, wenn sie von der Arbeit nach Hause kam, die lockigen Haare fest im Nacken zusammengeknotet.

Warum war sie hier?

Dana blinzelte. Es war hell, als wäre die Welt frisch gestrichen. Ihr wurde klar, dass sie auf dem Rücken lag und an die Decke starrte. Sie drehte den Kopf, und da saß, über ein Klemmbrett gebeugt, ihre Mutter. Der Kugelschreiber in ihrer Hand knabberte an dem Papier, und die Hand, mit der sie das Klemmbrett auf ihr Knie drückte, war fast so weiß wie das Bettlaken. Sie hatte die Ärmel des Kittels bis auf die Oberarme hochgekrempelt und ihr nackter, schmaler Ellbogen stach in die Matratze.

»Hallo, Mama«, sagte Dana und zuckte zusammen, als sie das Krächzen in ihrer Stimme hörte. Hoffentlich war das kein bleibender Schaden!

Das Knabbern des Kugelschreibers verstummte.

»Dana, mein Herz! Wie fühlst du dich?« Die Sorge in ihrer Stimme machte Dana schlagartig hellwach. Ihre Mutter legte die Hand auf ihre Stirn. Den Handrücken. Dana fühlte die Knöchelchen durch die Haut.

»Gut!«, sagte sie schnell und zupfte an der Bettdecke. »Was … was ist denn passiert?«

Ihre Mutter ließ die Blätter zurück auf das Klemmbrett klatschen und warf es nicht grade sanft auf den Tisch.

»Du hattest Ketamin im Blut«, sagte sie. »K.-o.-Tropfen. Gott sei Dank ist dir nicht mehr passiert!« Für den Bruchteil einer Sekunde war da ein Blitzen in ihren Augen, das Dana bisher nur ein einziges Mal bei ihr gesehen hatte, nämlich als ihr kleiner Bruder Robin einmal von der Schaukel fiel und wie tot im feuchten Sand lag.

Dana sah auf ihre Zehen, oder dorthin, wo ihre Zehen gewesen wären, wenn die schwere Bettdecke sie nicht nach unten gedrückt hätte. Sie kramte in ihrem Gedächtnis, aber sie konnte sich an nichts erinnern. Sie hatte sich für die Party fertig gemacht, Luchs hatte versucht, sie davon abzubringen, und dann …

Doch! Sie erinnerte sich an schimmerndes, durchleuchtetes Wasser – der Pool. Und an Musik. Sie hatten getanzt. Sie spürte, wie ihre langen, losen Haare über ihren Rücken flogen, wie der Bass in ihren Lungen vibrierte, Vanis Arm um ihre Schultern, und sie hörte ihr perlendes Lachen dicht an ihrem Ohr.

»Ich habe nur ein einziges Bier getrunken«, murmelte sie.

»Das spielt ja keine Rolle«, sagte ihre Mutter. »Jemand muss etwas hineingetan haben.«

Ihr zuliebe versuchte Dana, nicht so auszusehen, wie sie sich fühlte: Blass und dünn, wie eine Briefmarke unter einer schweren Stempelmaschine.

K.-o.-Tropfen.

Wer machte so was?

Maik bestimmt nicht, dachte sie. Nein, er würde das nicht tun. Sie hatten sich stundenlang unterhalten, Dana war überrascht gewesen, wie gut sie mit ihm reden konnte. Und jetzt erinnerte sie sich auch: Mitten auf der Party hatte sein Handy geklingelt. Seine Mutter wollte, dass er seine Schwester vom Schwimmen abholte. Alle Umstehenden, Dana eingeschlossen, hatten gelacht, weil sie vor diesem riesigen Pool standen, und dann musste die kleine Alex extra ins Schwimmbad? Aber so war das bei den Thormanns. Und Maik hatte nur gegrinst und seine Schlüssel genommen. Und als Dana ihn gefragt hatte, ob sie ihn begleiten sollte, hatte er gesagt, nein, sie solle bei Vani bleiben, Spaß haben und die Pizza abfangen, wenn es klingelte. Er wäre sofort wieder da. Und das war er dann auch gewesen, war kurz nach dem riesigen Turm Pizzas durch die Tür gekommen, hatte dem Lieferanten ein saftiges Trinkgeld gegeben, dass der zu seinem Auto gehüpft war, und dann hatte er eine ganze halbe Pizza für Alex auf einen Teller gepackt, gewartet, bis sie alles verputzt hatte, und sie ins Bett geschickt.

Nein, Maik hatte nichts damit zu tun.

»Weißt du, wer das getan haben könnte?« Ihre Mutter stützte den Oberkörper auf das Bett und fasste Danas Hand. Das Stethoskop um ihren Hals stand ihr so gut, sie hätte es sogar auf einem Galadinner tragen können.

Dana schloss die Hand fest um die ihrer Mutter. Sie ist nicht böse auf mich, dachte sie und fühlte sich sofort gesünder.

»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Ich habe mit fast keinem geredet. Nur mit Vani und Basti und Maik.«

Wie viele Patienten wohl auf ihre Mutter warteten, während sie hier mit ihr saß? Dana fasste ihre Hand noch fester, sodass sie ihren Ehering fühlte. Er war der einzige Schmuck, den sie je trug.

»Ist Papa zu Hause?«, fragte sie.

»Papa ist …« Ihre Mutter schüttelte den Kopf und lachte leise, aber es klang nicht glücklich. »Ja, er ist jetzt zu Hause. Aber er stand ziemlich neben sich. Er ist zu Maik gefahren und hat ein ernstes Wort mit ihm geredet. Die Polizei ist ihm da nicht gründlich genug.«

Dana hielt ängstlich die Luft an. »Was hat er ihm gesagt?«

»Ach«, ihre Mutter schüttelte den Kopf, sodass sich eine Locke aus dem Knoten löste und auf ihre Wange fiel. »Er hat schon eingesehen, dass es übertrieben war.«

»Oh nein! Mama!« Dana setzte sich auf. »Was hat er gesagt?«

»Ganz ruhig, Süße, leg dich wieder hin!« Sie drückte Dana an den Schultern nach hinten, aber Dana stemmte sich dagegen.

»Was hat er gesagt?«

Sie seufzte. »Wenn ich ihn richtig verstanden habe, hat er nur gesagt, er soll sich bei dir entschuldigen.«

»Aber es war doch nicht seine Schuld!« Dana stöhnte.

»Ja. Das weiß Papa ja auch. Er ist nur in solchen Momenten immer etwas hitzköpfig. Du kennst ihn doch.«

Dana sank zurück auf das riesige Kopfkissen und ließ sich von ihrer Mutter die Decke bis zum Kinn ziehen.

Sie streckte die Hand aus. »Kann ich mein Handy haben?« Sie wollte Maik sagen, dass es ihr gut ging, dass sie ihm nicht die Schuld gab.

»Nein«, sagte ihre Mutter. »Du brauchst Ruhe.«

»Aber …«

»Nein! Versuch jetzt zu schlafen.« Und sie schwang auf dem Drehhocker herum und ließ die Rollläden heruntersausen.

Er war ihr schon oft begegnet, aber in diesem Moment hatte er sie zum ersten Mal wirklich gesehen:

Das Training war grade zu Ende und Maik wollte sich im Supermarkt schnell etwas zu trinken holen, bevor er Basti und Max in der Kaipe traf, der Kneipe am Kai.

Die Schiebetür wich ihm grade noch rechtzeitig aus, er zerrte eine Flasche Mineralwasser aus einem eingeschweißten Sixpack, das schrecklich quietschte, und während er zur Kasse strebte, schraubte er sie auf. Der Sauerstoff entwich mit einem Zischen. Und in dem Moment, als er die Flasche an die Lippen hob, sah er sie.

Sie stand vor dem Tiefkühlregal und studierte ernst das Etikett einer Frischkäsepackung. Sie stand absolut gerade und still wie eine Statue, eine Hand in die Taille gestemmt, den Schal fest um den Hals geknotet.

Sein erster Impuls war, den Gang zu wechseln, ein paar Münzen auf die Kasse zu werfen und zu verschwinden, denn eben beim Training hatten er und ihr Zwillingsbruder Lukas sich mal wieder bis zur roten Karte gefoult, und sie sah ihm wahnsinnig ähnlich. Nur war sie … schöner?

Seine Hand, die die Flasche hielt, sank nach unten.

Sie war klein und musste sich strecken, als sie den Frischkäse wieder ins Regal stellte und nach einer anderen Packung griff. Vielleicht lag es an dem Kühlregal, aber Maik wurde plötzlich kalt, eine angenehme Art von kalt, wie wenn man in der Sommerhitze in einen Pool tauchte. Sein Kopf wurde ruhig und ganz klar.

Das weiße Licht des Kühlregals fiel auf ihre Hände und Arme, und wohl auch auf ihr Gesicht hinter den dunklen Haaren, das er nicht sehen konnte und plötzlich sehen wollte.

Er nahm einen Schluck aus der Flasche, und das Wasser prickelte auf seiner Zunge und den Rachen hinunter.

Dana. So hieß sie.

Vielleicht hätte er sie gerufen. Vielleicht wäre er an den Lichtschienen und Preisschildern entlang über die ultraglatten Fliesen zu ihr gegangen.

Wenn nicht plötzlich eine Frau ihren Einkaufswagen zwischen sie geschoben hätte.

»Dana!«, rief die Frau und lächelte. »Da sind noch Winterjacken im Angebot. Soll ich dir eine kaufen, bevor du vor dem Kühlregal erfrierst?« Sie hielt ihre Haare fest, als sie sich über die gefrorenen Erbsen beugte, und ihr Blick fiel auf Maik – einen Typen, der verschwitzt und breitbeinig mitten im Gang stand und ihre Tochter anstarrte.

Er drehte sich um und schlenderte betont locker davon.

Die Kassiererin beschwerte sich natürlich, weil er die Flasche geöffnet hatte, bevor er sie bezahlte, aber er hörte nicht zu. Sein Blick scannte die Regalreihen, aber Dana sah er nicht mehr.

In den Tagen danach hatte er sie dafür plötzlich überall entdeckt: Auf dem Schulhof, vor den Schließfächern, in der Cafeteria. Er hatte sie auch früher schon gesehen, warum hatte er nie auf sie geachtet? Vielleicht, weil sie immer von Menschen umgeben war. Aber wenn sie so beliebt war, warum war sie ihm nie aufgefallen?

Er hatte sie beobachtet. Er wollte wissen, ob diese angenehme Kühle tatsächlich von ihr ausging oder ob sie nur das Produkt eines mörderischen Trainings an einem kalten Wintertag gewesen war, verstärkt von sprudelndem Mineralwasser und dem gut funktionierenden Kühlsystem des Supermarkts. Seine Beobachtungen hatten ihn fast vergessen lassen, dass sein achtzehnter Geburtstag näher rückte. Aber nur fast.

Er hatte sie eingeladen.

Sie hatte Ja gesagt.

Das hieß, genau genommen hatte sie bloß genickt. Ohne zu lächeln.

Du bist auch eingeladen, hatte er zu ihrer Freundin gesagt, die danebengestanden und ihn mit großen Augen angeplinkert hatte. Und die war total ausgeflippt.

Und dann diese Party. Die Party, auf der er herausgefunden hatte, dass die Kühle tatsächlich aus Dana herauskam, dass sie zu ihr gehörte wie ein Geruch, sie einhüllte, auch in einem stickigen Partykeller, auch in Schwarzlicht und wummernden Bässen. Wer sich ihr näherte, wurde ruhiger, sachlicher, erwachsener – meist ohne es zu merken. Dana redete, lachte und tanzte in diesem frischen, unsichtbaren Nebel.

Den ganzen Abend lang hatte Maik kaum etwas getrunken. Es hatte gereicht, sie anzusehen.

Und deshalb hatte er jetzt, wenige Stunden später, auch keinen Kater. Nur eine Mordswut.

Als er auf die Terrasse trat, war es etwa zehn Uhr, und kalter Wind schlug ihm entgegen. Er trug nur ein T-Shirt, aber er fror nicht. Eine dichte Wolkendecke hing über dem Hausdach, schien fast den Giebel zu berühren. Das Licht kam von nirgendwo und überallher zugleich.

Mit einem kräftigen Ruck schüttelte er den schwarzen Müllsack auf. Er war so sauer, dass es auf Anhieb klappte. Der Müllsack war groß genug, um auch Schnapsleichen darin zu entsorgen, falls er welche fände.

Er sammelte die leeren Flaschen ein, die um den Pool verstreut lagen, und hätte am liebsten alle gegen die Hauswand gepfeffert.

Scherben bringen keinen Pfand, mahnte er sich.

Er hob den Blick, und da sah er Fix über die Terrasse auf sich zu schlendern. Fix hatte auf dem Sofa im Wohnzimmer geschlafen, anscheinend gar nicht übel, denn er sah einigermaßen ausgeruht aus. Er hatte ebenfalls eine Plastiktüte in der Hand und dazu einen lila Partyhut auf dem Kopf. Seine Haare sahen ohne das übliche Gel darin flauschig aus, wie Kaninchenfell.

Er kickte Maik eine leere Dose zu, sie landete punktgenau vor seinen Füßen.

»Nicht schlecht«, sagte Maik und trat gegen die Dose, aber viel zu heftig. Sie flog an Fix vorbei und in hohem Bogen gegen die Terrassentür.

»Deine Pässe waren auch schon mal besser«, sagte Fix.

»Ich glaube, du kannst dich jetzt nach Hause machen«, sagte Maik. »Den Rest schaffe ich auch allein.«

»Bist du sicher?«, fragte Fix. »Die Küche sieht aus wie Sau.«

»Ja«, sagte Maik. »Du hast mir echt geholfen. Geh nach Hause und hau dich ins Bett.«

Aber Fix blieb stehen.

»War ja ganz schön viel los heute Nacht«, sagte er. »Diese Dana, die geht in die Zehnte, oder?«

»Ja«, sagte Maik knapp.

»Was wollten die Bullen eigentlich von dir?«, fragte Fix und zupfte an der weißen Gummischnur, die den Hut auf seinem Kopf hielt. Sie floppte gegen sein Kinn.

Maik versenkte noch eine Flasche in den Sack. »Ach, nichts«, knurrte er. »Ich sollte eine Liste schreiben mit den Namen von allen, die auf der Party waren.«

Fix zupfte wieder an dem Band. »Muss ’ne lange Liste sein.«

»Jap.«

»Das heißt, ich steh da auch drauf? Die Bullen haben meinen Namen?«

»Jap.«

»Cool.«

»Wieso?«

Aber Fix antwortete nicht. Verträumt starrte er in den Pool.

Maik schüttelte den Kopf. Fix versank gern plötzlich in Tagträumen, eine nervige Angewohnheit, besonders gegen Ende der zweiten Halbzeit. Maik hatte ihren Trainer lange bearbeiten müssen, damit er ihn überhaupt noch aufstellte.

Er knotete den Müllsack zusammen, der inzwischen voll war. »Du kannst echt nach Hause gehen«, sagte er. »Danke noch mal.«

Fix schrak auf und blinzelte, dann stellte er den Müllsack neben die Terrassentür. Er schlug mit Maik ein und sie klopften sich gegenseitig kurz mit der Faust auf den Rücken, und dann verschwand er, den Partyhut immer noch auf dem Kopf.

Der Wind schob einen mit Ketchup beschmierten Pappteller über die Terrasse. Seine Kanten schabten über die rauen Platten. Maik stoppte ihn mit dem Fuß und stopfte ihn in den Müllsack, den Fix zurückgelassen hatte.

Wer war es gewesen? – Diese Frage schoss schon die ganze Nacht und den ganzen Morgen durch seinen Kopf wie ein gut platzierter Elfmeter. Wer hatte die Pille in Danas Glas getan?

Er fühlte sich wie eine Flasche Sprudel, die jemand unablässig schüttelte: Die Wut ballte sich in ihm, wollte seinen Körper sprengen, wollte raus. Er brauchte nur jemanden, der den Deckel aufdrehte.

Es war seine Party gewesen. Er war es, der Dana eingeladen hatte. Und irgendjemand, der ganz offenbar nicht wusste, mit wem er sich anlegte, hatte ihr etwas untergemischt.

Aber was ihn hier nach einer Nacht ohne Schlaf im Januar im T-Shirt auf der Terrasse stehen und unempfindlich für die Kälte sein ließ, war noch etwas anderes: Es war das, was Danas Vater, Henning Verkamp, zu ihm gesagt hatte, nachdem er durch das Foyer im Krankenhaus auf ihn zu marschiert war. Maik hatte ihn vorher noch nie gesehen, aber er wusste sofort, dass er Danas Vater war, wegen des Ausdrucks in seinem Gesicht und weil er das silberne Täschchen trug, das auf der Party in Danas Schoß gelegen hatte.

Was er gesagt hatte, war: Lass meine Tochter in Ruhe! Du wirst dich ihr nur noch ein einziges Mal nähern, und zwar um dich zu entschuldigen. Hast du verstanden?

Maik war zuerst sprachlos gewesen. Er hatte den Mund geöffnet, um es ihm zu sagen: Er hatte nichts mit der Sache zu tun. Aber dann war ihm plötzlich aufgefallen, dass er überhaupt nicht mit diesem Typen reden wollte. Er hatte ihn angesehen und sich gewundert: ein zwar beeindruckend großer, aber ansonsten hässlicher Mann mit schiefen Schneidezähnen und wulstigen Augenbrauen. Und das sollte Danas Vater sein? Sie war schön. Lukas war auch nicht schlecht geraten. Und die Frau, die bei Dana im Supermarkt gewesen war … Maik erinnerte sich an ihre dunklen Locken und ihr freundliches Lächeln und wie sie ihn aus braunen Augen neugierig angesehen hatte. Wie hatte Henning Verkamp bloß diese Frau bekommen? Zum Glück hatte Dana ihre Gene geerbt und nicht seine.

Der Wind zerrte an der Plastiktüte in Maiks Hand. Ihm wurde klar, dass er jetzt schon minutenlang so dastand und ins Poolwasser starrte, in dem sich der trübe Himmel spiegelte. In einer Ecke hüpften Salamischeiben auf den Wellen, der Wind hatte sie zusammengetrieben. Das kam dabei heraus, wenn man für seine besoffenen Freunde Pizza bestellte. Maik holte einen Kescher aus dem Schuppen, fischte eine Scheibe heraus und klatschte sie auf die dunklen Fliesen am Beckenrand. Wie gut, dass seine Eltern nach dem Geburtstagsfrühstück gestern weggefahren waren und dieses Chaos nicht sahen!

Jakob!, dachte er plötzlich. Jakob und Reik! – Er hatte sie nicht auf die Liste für die Polizei geschrieben!

Wie hatte er Jakob und Reik vergessen können, diese nervigen Elfer, die ständig den Fußball gegen die Terrassentür gedonnert hatten? Plötzlich erinnerte er sich auch an Wiebke. Wiebke mit den gruselig großen Augen, wie ein Insekt.

Maik zückte sein Smartphone und tippte die Namen ein. Er würde sie der Polizei nachreichen. Er glaubte zwar nicht, dass Jakob, Reik oder Wiebke etwas mit den Pillen zu tun hatten, aber vielleicht wussten sie etwas? Außerdem hatte er keinen Bock darauf, dass die Polizei später bei ihm aufkreuzte, nur weil die Liste unvollständig war.

Er überlegte kurz, dann scrollte er durch seine Kontakte und drückte das Handy an sein Ohr. Es tutete. Mit der freien Hand kescherte er weiter.

Eine träge Stimme meldete sich. »Hallo, Maik.«

»Basti«, sagte er. »Wo bist du?«

»Zu Hause?«

»Wer ist bei dir?«

»Niemand?« Maik schnaubte. Es nervte ihn sensationell, dass Basti nicht normal antworten konnte, sondern alles wie eine Frage klingen ließ.

»Weißt du, was gestern passiert ist?«

»Party?«, sagte Basti.

»Ja, du Genie, Party«, sagte Maik. »Wer hatte die Pillen dabei?«

»Keine Ahnung, Mann.«

»Das warst nicht du, oder?«

»Nein, Mann.«

Endlich redet er vernünftig, dachte Maik und sagte: »Hör dich um. Ich will das wissen.«

»Was ist denn mit hier … Dana … wie geht’s ihr?«

»Keine Ahnung. Ich glaube, sie ist immer noch im Krankenhaus.«

»Scheiße.«

»Ja. Ihr Alter hat mir jeglichen Kontakt verboten.«

Basti lachte. Nein, er lachte nicht, er kicherte. Wie Maiks Oma, wenn sie einen Schwips hatte.

»Hältst du dich daran?«

Maik schnaubte. »Bis morgen. Trink nicht so viel.«

»Du auch, Mann.«

Er legte auf. Eine einsame Scheibe Salami schwamm noch in der Mitte des Pools, außerhalb der Reichweite des Keschers. Maik ließ sie dort. Irgendeine Möwe würde sie sich holen.

Er betrachtete das Sprungbrett, das einen unsteten Schatten auf das Wasser warf. In der Nacht hatten dort noch Leute gesessen, sich gegenseitig kaltes Wasser in den Nacken geträufelt und gekreischt.

Er hatte vermutet, dass etwas nicht stimmte. Dana war so ausgelassen und wie betrunken gewesen, obwohl sie nur ein Bier gehabt hatte. Aber er kannte sie nicht gut, deshalb hatte er nichts gesagt – vielleicht war sie immer so? Doch dann war sie plötzlich umgekippt, und er hatte sie nicht auffangen können. Immerhin – hätte er nicht neben ihr gestanden, wäre sie mit dem Kopf womöglich gegen die Tischkante geknallt. Zum Glück war sie weit weg vom Pool gewesen.

Es stimmte nicht ganz, was er Basti erzählt hatte: Henning Verkamp hatte ihm den Kontakt nicht verboten. Er gewährte ihm noch eine Audienz bei seiner Tochter – um sich zu entschuldigen.

Aber wofür? Dafür, dass er als Einziger genug Grips gehabt hatte, sofort den Krankenwagen zu rufen?

Maik schnaubte, knotete den Müllsack fest zu und schleppte ihn Richtung Garage. Es konnte ihm doch egal sein, was Henning Verkamp dachte. Aber dann wurde er langsamer, schleifte den Müllsack hinter sich her.

Was war mit Dana? Gab sie ihm auch die Schuld daran, was passiert war?

Wenn ja, dann wollte er das wissen.

Er ließ den Müllsack stehen und ging auf die Terrassentür zu, durchquerte das Wohnzimmer und nahm seine Schlüssel von der Kommode im Flur. Was musste Dana von ihm denken? Dass er sie eingeladen hatte, um ihr das anzutun? Nein, sicher wusste sie, dass er kein perverses Arschloch war. Hoffte er.

Mit der Hand auf der Türklinke hielt er inne.

Es war so einfach, das zu denken. Es war so einfach, ihn nie wieder sehen zu wollen – er war so nah dran, für immer weit weg zu sein von der frischen Kühle, die sie umgab.

Er riss die Tür auf und drückte auf den Knopf auf seinem Schlüssel.

Und in dem Moment, als die Lichter seines Autos aufblinkten, sah er, dass jemand an der Fahrertür lehnte.

Henning Verkamp.

Als er Maik sah, zog er die Hände aus den Taschen, stieß sich vom Wagen ab und kam auf ihn zu.

Er war sicher zwei Meter groß. Seltsamerweise kam er Maik jetzt noch größer vor als heute Nacht, als er sich vor ihm aufgebaut hatte.

Maik ging auf ihn zu – und an ihm vorbei. Er schloss den Kofferraum, den er offen stehen gelassen hatte, damit nicht alles nach Bier stank. Er war voller Bierkästen mit leeren Flaschen.

Henning Verkamp räusperte sich.

»Maik«, sagte er. »Ich will mich bei dir entschuldigen. Für das, was ich heute Morgen gesagt habe. Das war nicht richtig.«

Maik sagte nichts. Er spuckte auf einen Fleck auf der Windschutzscheibe, rieb ihn mit dem Ärmel weg und würdigte den Mann keines Blickes. Und ja, er wusste, dass das unhöflich und arrogant war.

»Ich bin einfach ein Vater«, sagte Henning Verkamp. »Ich hatte Angst um Dana, deshalb war ich dir gegenüber ungerecht. Es tut mir leid.«

Maik ging um das Auto herum zur Fahrertür, dann sah er den Mann an.

»Wissen Sie«, sagte er, »ich habe auch einen Vater. Und der sagt immer: Wenn Menschen Angst haben, zeigt sich, wer sie wirklich sind. Auch wenn Sie mir nicht glauben: Es tut mir leid, was mit Dana passiert ist. Aber die ganze Geschichte hat einen Vorteil: Ich habe gesehen, wie sie wirklich sind, und dass sie mich nicht leiden können, und ich bin fertig mit Ihnen.«

Henning sah ihn entsetzt an, doch Maik stieg einfach ins Auto, ließ den Motor an und gab Gas.

Er empfand große Genugtuung. Und so etwas wie ein schlechtes Gewissen, aber er beruhigte es, indem er sich in Erinnerung rief, was sein Vater schon immer gesagt hatte: Wenn Menschen Angst haben, zeigt sich, wer sie wirklich sind.

Er war zutiefst davon überzeugt, dass das stimmte.

Er raste die Einfahrt hinunter und bog in die Hauptstraße ein. Es war wenig Verkehr, die Straße vor ihm frei, und er genoss es, sich ausführlich mit seinem neuen besten Freund, dem Gaspedal, vertraut zu machen. Ein Blitzer und ein Strafzettel an seinem ersten Tag als Achtzehnjähriger waren fast Ehrensache.

Es hatte Vorteile, achtzehn zu sein. Und es hatte Vorteile, Eltern zu haben, die es sich leisten konnten, ihm ein Auto zu schenken.

Er fuhr Richtung Krankenhaus. Der Motor schnurrte leise, die Armaturen glänzten, und die Sitze rochen so neu und teuer, dass selbst das billige Bier im Kofferraum nicht dagegen ankam.

Er stützte den Ellbogen auf die Kante unter dem Fenster.

Was würde Dana sagen? Und was sollte er ihr sagen? Er könnte ihr sagen, dass es ihm leidtat – nicht als Entschuldigung, sondern dass es ihm leidtat, dass ihr so etwas passiert war. Andererseits: Wenn der Vorfall ihm zeigte, mit was für Menschen er es zu tun hatte, wie die Verkamps wirklich waren, dann war er dankbar dafür.

Und worüber wunderte er sich? Lukas konnte ihn nicht leiden. Warum sollte es beim Rest der Familie anders sein?

Nein, Dana war anders. Sie war zu seiner Party gekommen. Sie hatte ihm so viel erzählt: Von dem Café, das sie eines Tages eröffnen würde, von den Orten, an die sie reisen wollte. So etwas erzählte man nicht, wenn man jemanden nicht mochte.

Er schaltete das Radio ein. Und wieder aus.

Dana war jetzt sicher wach. Nach einer K.-o.-Pille war man ein paar Stunden lang weggetreten, aber dann wachte man auf, und Folgeschäden gab es, soweit er wusste, nie. Vielleicht war sie sogar schon unterwegs nach Hause.

Plötzlich zuckte ein Gedanke durch seinen Kopf. Er packte das Lenkrad fester.

Hannes! Der war auch in der Zwölften, er war auf der Party gewesen, und Maik wusste, dass er hin und wieder Deals abwickelte. Hatte er was damit zu tun?

Maik stoppte den Wagen. Er starrte durch die Windschutzscheibe, auf die Linie zwischen Asphalt und gefrorenem Wintergras. Dann wendete er.

Wenn Hannes dahintersteckte, würde er es herausfinden.

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Kapitel 2

Finn stapfte langsam die Treppe hinauf, vorbei an einer Pflanze, die fast aus ihrem Topf fiel bei dem Versuch, etwas Licht zu erhaschen. Er freute sich darauf, Kosmo zu sehen. Er freute sich nicht darauf, das Sodannchen zu sehen. Sie würde bestimmt wieder anfangen zu weinen. Das tat sie jetzt immer. Aber Finn nahm es in Kauf, denn er kannte sonst niemanden, der sich um Kosmo kümmern würde, und im Jugendheim waren Hunde verboten.

Das Sodannchen wohnte in der Wohnung gegenüber, schon immer. Und schon immer war sie für Finn und Josef das Sodannchen – außer natürlich, wenn sie dabei war. Dann war sie Frau Sodann. Finn wusste nicht mehr, ob Josef oder er sie so getauft hatte, oder warum. Wahrscheinlich, weil sie so niedlich war: eine alte Dame, die gern Cola trank, mit aufgeplusterten Haaren, die wie eine Wolke um ihren Kopf schwebten und so dünn waren, dass man ihre Kopfhaut sehen konnte.

Dann war er im dritten Stock. Er starrte die Tür vom Sodannchen an, aber er konnte sich nicht überwinden, auf die Klingel zu drücken. Er drehte den Schlüsselbund langsam um seinen Finger, fühlte das kühle Metall und war froh, dass das Sodannchen zu klein war, um ihn durch den Türspion zu beobachten.

Er wollte nicht klingeln. Er wollte Kosmo sehen, aber er wollte nicht sehen, wie sich in den hellen Augen des Sodannchens Tränen sammelten. Er blickte zur Tür gegenüber. Josefs und seiner Tür.

Sicher hatten die Spatzen und Meisen das Vogelhaus vor dem Fenster inzwischen leer gepickt. Die Nachfüllpackung stand links hinter der Gardine auf der Fensterbank. Die Vögel konnten sie quasi sehen, wenn sie im Vogelhaus saßen.

Finn schob langsam den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn um und stieß die Tür auf.

Das Licht, das durch das Fenster fiel, legte sich müde und schwer auf die zwei Sessel. Auf einem von ihnen lag Josefs Hut. Die Entenfeder war zerzaust, und er war voller Fussel.

Der Hut gehörte dort nicht hin.

Wer hatte ihn dorthin gelegt? Die Sozialarbeiterin? Ja, sie hatte Finn nach Hause gefahren, nachdem das Krankenhaus den Jugendnotdienst informiert hatte. Er konnte sich kaum daran erinnern. Er wusste nicht einmal mehr, wie die Frau aussah. Er wusste nur noch, dass sie ihm immer wieder gesagt hatte, dass alles gut werden würde, dass alles in Ordnung kommen würde, und er fragte sich: Wie?

Finn durchquerte schnell den Raum, packte den Hut, ging zur Garderobe und schob ihn auf die Ablage. Dann sprang er hinaus in den Flur, schlug die Tür hinter sich zu und schloss drei Mal ab.

Er lehnte den Rücken gegen die Tür. Der Flur kam ihm plötzlich sehr dunkel vor.

Es war doch egal, wo Josefs Hut lag. Er war tot, er würde ihn nie mehr aufsetzen.

In diesem Moment öffnete sich die Tür gegenüber, und das Sodannchen stand vor ihm. Sie trug eine Schürze mit Katzen drauf und wirkte noch zerbrechlicher als sonst. Über ihre Wangen, die erstaunlicherweise kein bisschen runzlig waren, liefen jetzt schon Tränen. Finn stöhnte innerlich.

»Finn, du Lieber!«, schnüffelte das Sodannchen. »Hab ich mir doch gedacht, dass du es bist. Komm doch rein! Magst du ein Glas Cola?« Sie drehte sich um, in ihren flauschigen Pantoffeln, und ging in die Küche, mit ganz kleinen Schritten, die kaum den Boden verließen.

Finn zögerte, dann folgte er ihr.

Wo war Kosmo? Warum war er nicht zur Tür gekommen, um ihn zu begrüßen?

Als er die Tür hinter sich schloss, stand da ein Hocker. Er hörte, wie das Sodannchen mit den Gläsern klapperte, und musste wider Willen lächeln. Von wegen, zu klein für den Türspion!

Er ging in die Küche, es roch nach Rosenkohl und Speck, und nach Cola, und dann sah er Kosmo: Er kroch unter dem Küchentisch hervor und schlich auf ihn zu. Finn kniete sich hin und kraulte seine Ohren.

»Er frisst immer noch nichts«, jammerte das Sodannchen und stellte zwei Gläser auf den Tisch. »Nicht mal Speck wollte er.«

Finn sagte nichts. Er strich über Kosmos Flanke. Er konnte seine Rippen spüren, jede einzelne. Acht Tage. Seit acht Tagen hatte er nichts gefressen.

Kosmo stemmte seine Pfote gegen Finns Knie.

»Bei meiner Sissi war es das Gleiche«, sagte das Sodannchen und tupfte sich die Wangen ab. »Als Georg gestorben ist … da hat dein Großpapa ihr was mit der Pipette eingeflößt, weißt du noch?« Jetzt fing sie richtig an zu heulen, und Finn wünschte, er könnte Kosmo nehmen und verschwinden, aber Kosmo sah nicht aus, als ob ihm der kalte Nieselregen draußen guttun würde. Dann besser des Sodannchens warme Küche.

»Kosmo wird schon wieder«, sagte er, denn er hatte das Gefühl, er müsste sie trösten. Er hatte schon früher manchmal den Eindruck gehabt, dass sie ein bisschen in Josef verliebt gewesen war. »Soll ich noch was einkaufen gehen?«

Das Sodannchen schüttelte den Kopf, und ihre Haare schimmerten golden und weich im Licht der Lampe. »Nein, nein. Das habe ich alles heute Vormittag erledigt. Aber du bist ein lieber Junge. Ein sehr, sehr lieber Junge.«

Sie brach wieder in Tränen aus, und Finn griff nach dem Colaglas und trank es schnell leer.

»Ich glaube, ich muss jetzt wieder gehen«, sagte er. »Ich muss noch Hausaufgaben machen.«

»Gehst du denn schon wieder zur Schule?«, fragte das Sodannchen, deren Tränen so plötzlich versiegt waren, wie sie zu fließen begonnen hatten.

»Ich muss«, sagte Finn.

»Ich finde, sie könnten dir noch etwas Zeit geben«, sagte das Sodannchen, und es klang, als säße in ihrer Kehle ein kleiner, empörter Zwerg. »Das ist doch alles sehr schwierig für dich. Die Beerdigung ist ja erst fünf Tage her, und dann diese Ungewissheit … Haben sie denn deinen Onkel schon gefunden? Ihr werdet doch sicher wieder hier in eurer Wohnung leben, oder nicht? Wie ist es denn eigentlich in dem Heim? Sind sie dort nett zu dir? Ich verstehe nicht, warum du nicht hier wohnen kannst, in deinem Zuhause, ich bin ja da und kann mich um dich kümmern …«

Finn wollte, dass sie aufhörte zu reden, und er wollte weg, aber er wollte nicht, dass sie sich schlecht fühlte, deswegen ging er zu ihr und nahm sie fest in die Arme. »Danke«, sagte er. »Danke für alles!«

Dann verabschiedete er sich schnell und verließ die Wohnung in der Hoffnung, dass er ihr mit seiner Umarmung nichts gebrochen hatte. Morgen würde er Kosmos Lieblingshundekuchen kaufen und nicht eher gehen, als bis er ihn bis zum letzten Krümel aufgefressen hatte.

Er ging zurück zum Heim.

Als er durch die Tür ging, hielt er den Blick gesenkt. Die Fassade machte ihn traurig, diese graue Fassade mit den Regenflecken. Und die bunten Graffiti, die sie freundlicher machen sollten, machten es aus irgendeinem Grund nur schlimmer.

Er stapfte die Treppe hinauf. Er teilte sich im zweiten Stock ein Zimmer mit Jannik, einem dicken Jungen, der dicke Bücher las. Ihr Zimmer war perfekt symmetrisch, zwei Betten, zwei Schränke und zwei Schreibtische. Man hätte einen großen Spiegel in die Mitte stellen können und es wäre dasselbe gewesen. Nur auf jeder Seite ein anderer Junge.

Dann, als er den ersten Stock passierte, hörte er plötzlich eine Stimme hinter sich:

»Finn, kommst du bitte mal kurz in mein Büro?«

Das war Vera.

Irgendetwas musste passiert sein. Veras Ton war sonst immer rau und munter, es war das erste Mal, dass Finn sie bitte sagen hörte.

Er steckte den Kopf ins Büro, wo sie hinter ihrem Schreibtisch saß und mit einem Stift in einem Stoß Papiere stocherte. Er mochte Vera. Sie hatte einen Stern in den Nacken tätowiert und trug die Haare immer so, dass man ihn sah. Außerdem war sie es, die ihn den Schlüssel zu Josefs und seiner Wohnung hatte behalten lassen, gegen den Willen der anderen Betreuerinnen.

Er lehnte sich an den Türrahmen. »Hallo!«, sagte er.

Sie blickte ihn abwesend an. Aber dann kam plötzlich Leben in sie: Sie setzte sich kerzengerade hin und wedelte mit der Hand.

»Komm rein!«, rief sie. »Und mach bitte die Tür zu.«

Bitte. Schon wieder. Was war nur los? Hatten sie etwa seinen Onkel gefunden?

Finn ließ sich auf einen Stuhl vor dem Schreibtisch fallen. Das Polster war so durchgesessen, dass er das Metall darunter fühlte. Er versuchte, nicht zu zappeln.

»Wir müssen etwas besprechen«, sagte Vera, zog die Kappe von ihrem Stift und steckte sie wieder an.

Zog sie ab und steckte sie an.

Und ihr Blick verlor sich irgendwo zwischen der Tür und Finns rechtem Ohr.

Finn trommelte mit den Fingern auf sein Knie und wartete, aber sie sagte nichts mehr, kaute nur auf ihrem Piercing herum, einem schmalen, silbernen Ring in ihrem Mundwinkel.

»Ich würde ja anfangen«, sagte Finn, »aber ich weiß nicht, worum es geht.«

Vera lachte, stand auf, ging zu einem niedrigen Schrank in der Ecke und schaltete den Wasserkocher an. Das Fenster hinter ihr war ein pechschwarzes Rechteck.

»Ich habe Neuigkeiten«, sagte sie und nahm eine Tasse aus dem Schrank. »Tee?«

»Nein«, sagte Finn, und dann noch schnell: »Danke.«

Er rutschte nach vorn auf die Stuhlkante. »Was für Neuigkeiten?«

»Sie haben deinen Onkel gefunden«, sagte Vera und lächelte.

Finn hörte auf zu trommeln und setzte sich aufrecht hin. »Wo?«

Sie zögerte. »In Tansania.«

Wahrscheinlich wusste sie nicht, wo Tansania lag. Finn wusste es auch nicht, irgendwo in Afrika. Es klang toll.

Er holte tief Luft. »Ich soll nach Tansania?«, fragte er.

Vera lachte, aber es klang unsicher. »Das ist noch nicht ganz sicher.«

Finn stand halb aus seinem Stuhl auf. »Ich soll echt nach Tansania?!«

Sie streckte die Hand aus. »Ganz ruhig, ganz ruhig! Pass auf: Er ist jetzt dein gesetzlicher Vormund, das hat er mit dem Jugendamt geklärt. Aber es ist noch nicht klar, wo ihr in Zukunft leben werdet. Soweit ich weiß, will er mit dir darüber sprechen. Und deshalb werden wir ihn jetzt erst mal anrufen, und dann wissen wir mehr. In Ordnung?«

Finn nickte und wackelte nervös mit den Knien.

Vera ging zum Schreibtisch. »Wie heißt er denn noch mal?« Sie blätterte in einem dicken Ordner und fuhr mit dem Finger über die Seite.

»Gideon«, sagte Finn.

»Ach ja, hier steht’s auch.« Sie tippte mit dem Finger auf das Papier. »Gideon Marschall. Bist du ihm schon mal begegnet?«

Finn schüttelte den Kopf. »Nur, als ich ganz klein war.«

Vera zog einen kleinen, gelben Zettel aus einer Klarsichthülle. Eine Zahlenreihe war daraufgekritzelt. Eine Telefonnummer. Vera schwang den Zettel durch die Luft wie eine Fahne zum Start eines Autorennens.