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Dieses Buch war einmal als Dissertation geplant und wurde im Vorfeld der Disputatio zur Erlangung des Doktortitels vom Doktorvater zweimal abgelehnt. Da der Autor aber nach wie vor die Auffassung vertritt, dass die Frage des Fortschritts in der Musik gerade unter heutigen kulturellen und künstlerischen Bedingungen eine eminent wichtige ist, und dass der kulturelle und künstlerische Kahlschlag unter Corona-Bedingungen das Problem des Fortschritts in der Musik wie in der Kunst allgemein wieder brandaktuell auf die Tagesordnung gesetzt hat, gibt dieses Buch, am Beispiel der internationalen Darmstädter Ferienkurse für Musik, hochinteressante Einblicke und Ausblicke künstlerischen und kompositorischen Schaffens seit der Nachkriegszeit und könnte möglicherweise einen Beitrag leisten, der Kultur und Musik neue gedankliche und philosophische Wege in Zeiten postkapitalistischer neoliberal-globaler Zurichtung der Gesellschaften zu öffnen. Eine spannende Zeitgeschichte der Neuen Musik zwischen 1946 und 1985.
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Seitenzahl: 765
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Helmut Wäldele
Die Diskussion um den Fortschritt in der Musik unter besonderer Berücksichtigung der „Darmstädter Ferienkurse“ von 1946 – 1985
Wenn die Musik den Biss verliert, besetzen die Zahnärzte die Konzertsäle. (frei nach Heiner Müller)
© 2020 Helmut Wäldele
Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-347-19234-8
Hardcover:
978-3-347-19235-5
e-Book:
978-3-347-19236-2
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Die Diskussion um den Fortschritt in derMusik unter besonderer Berücksichtigungder „Darmstädter Ferienkurse“von 1946 – 1985
Helmut Wäldele
Offenbach 2018
Inhaltsverzeichnis:
Vorwort
Erster Teil
I. Vorüberlegungen
A. Methodische Überlegungen
B. Musiksoziologische Überlegungen
C. Überlegungen zur Form
II. Historischer Abriss des Fortschritts unter ideen- und sozialhistorischen
Aspekten
A. Die Ideenentwicklung des Fortschritts von der Antike bis zur Neuzeit
A.1. Der Fortschrittsbegriff im Entstehungszusammenhang der bürgerlichenGesellschaft
A.2. Die Abkehr von der Fortschrittsidee und die neuen Sichtweisen zumFortschritt im 20. Jahrhundert
B.Der musikalische Fortschritt im Entstehungszusammenhang derbürgerlichen Gesellschaft
B.1. Der musikalische Fortschritt unter ideen- und sozialhistorischen Aspektenim 20. und 21. Jahrhundert
B.2. Zum Fortschrittsbegriff
Zweiter Teil
Die Diskussion über den musikalischen Fortschritt auf den Internationalen Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik 1946 bis 1985
A.Die Jahre des Nachholbedarfs 1946 und 1947
I. Die Jahre zwischen 1948 und 1953
Die Renaissance der Dodekaphonie und die Geburt des Serialismus
A.1. Die Dodekaphonie wird wiederentdeckt – ein Paradigmenwechsel bahntsich an.
A.2. Krise oder neuer musikästhetischer Diskurs?
A.3. Adornos Philosophie der neuen Musik
A.4. Ist Angst vor dem Fortschritt Angst vor dem Leben?
A.5. Karel Goeyvaerts und Karlheinz Stockhausen gehen eigene Wege
A.6. Die Diskussion um den Fortschritt in der Musik: „eine optimistischeBetrachtung über musikalische Grenzsituationen“
A.7. Messiaens „Mode de valeurs et d´intensités“ und die Folgen
A.8. Die serielle Kompositionstechnik wird geboren
A.9. Fortschritt und Tradition – zwei Antipoden?
A.10. Betrachtung der ersten sechs Jahre der Diskussion über denmusikalischen Fortschritt auf den DF
II. Die Jahre zwischen 1954 und 1958
„Revolution in Permanenz“
B.1. Die „jungen Wilden“ formieren sich gegen die Avantgarde
B.2. Der musikalische Fortschrittsbegriff bei Fred Priberg, René Leibowitz,Helmut Schmidt-Garre und Ernst Krenek
B.3. Jubiläum im Rangierbahnhof für musikalische Experimente
B.4. Die serielle Musiksprache spaltet die Avantgarde und führt zurLagerbildung
B.5. Die Positionen radikalisieren sich
B.6. Das Altern der Philosophie der Neuen Musik
B.7. Die Aleatorik, der Zufall in der Musik „ … wie die Zeit vergeht“
B.8. John Cages Erscheinen löst ein Erdbeben aus
B.9. Die Kluft zwischen Fortschrittsbefürwortern und Fortschrittskritikernwird größer
B.10. Betrachtung der Diskussion über den musikalischen Fortschritt auf denDF in den Jahren 1954 bis 1958
III. Die Jahre zwischen 1959 und 1962
Die Diskussion über den musikalischen Fortschritt „theoretisiert“ sich und erreicht ihren Zenit.
C.1. „Geschichte und Gegenwart in der Musik heute“ (Nono)
C.2. Sinn von Musik? Friedrich Blumes Brandrede gegen den musikalischenFortschritt
C.3. Boulez: Musikdenken heute. Die Trias Boulez, Nono Stockhausen brichtauseinander
C.4. „Echt oder gemacht“ – Fortschritt, Tradition, Avantgarde. Plädoyer füreine „Musik der Werktags-Natur“ (Castiglioni)
C.5. Stockhausens „Moment-Form“ und Adornos „Vers une musiqueinformelle“
C.6. Der Skandal um Kreneks Oper: „Das Leben des Orest“
C.7. Steineckes Unfalltod: „Ein ganzer Abschnitt unseres Lebens kommt zuEnde“ (Pousseur)
C.8. Betrachtung zur Diskussion über den musikalischen Fortschritt auf denDF in den Jahren 1959 bis 1962
IV. Die Jahre zwischen 1963 und 1968
Die geistige Wende und die „postserielle Phase“
D.1. Haben die musikalischen Flaneure in Darmstadt ausgespielt?
D.2. Wer sind die „fortschrittlichsten Nachkriegkomponisten“? Istfortgeschrittenste Musik Spiegel gesellschaftlicher Antinomien?
D.3. Der Kampf um Kranichsteins Kurs. Der Fortschritt in der „musikalischenSprache“
D.4. Das Ringen um die Form in der Musik
D.5. Die Ferienkurse werden zur „Arbeitstagung“. Der „unbekümmerte“Zugriff zum musikalischen Material. Hindemith: ein „echter“ Fortschrittsdenker?
D.6. Die Ferienkurse – ein Stockhausen Festival. Sollte man die Opernhäusersprengen? Boulez: Ästhetik und Götzendienst
D.7. Sind die Ferienkurse tot?
D.8. Betrachtung der Diskussion über den musikalischen Fortschritt auf denDF in den Jahren 1963 bis 1968
V. Die Jahre zwischen 1969 und 1973
Der „Widerstand“ formiert sich 394
E.1. Darmstadt triftet in die Unverbindlichkeit ab. Zwei Nachrufe auf Adorno
E.2. „Musik der Revolution – Revolution der Musik“ (Konrad Boehmer)
E.3. Grabgesang oder musikalische Neuorientierung. H. G Helms: Über dieökonomischen Bedingungen der Neuen Musik
E.4. Aufführungseklats in Frankfurt und Hamburg
E.5. Fortgeschrittenste Musik und „Revolution“
E.6. Die Ferienkurse werden zur „Biennale“. Der Einflusswirtschaftspolitischer Interessen auf die Diskussion über den musikalischen Fortschritt
E.8. Der dornige Weg der musikalischen Fortschrittsdiskussion: DieAvantgarde stellt sich auf die Krise ein, wie die Gesellschaft auf die Atombombe (Eimert)
E.9. Die Diskussion über den musikalischen Fortschritt gerät in eineLegitimationskrise
E.10. Betrachtung der Diskussion über den musikalischen Fortschritt auf denDF in den Jahren 1969 bis 1973
VI. Die Jahre zwischen 1974 und 1985
Die Postmoderne setzt sich durch
F.1. Die Tonalität wird wiederentdeckt
F.2. Hundert Jahre Schönberg: Die junge Garde dreht dem Fortschritt denRücken zu
F.3. Das neue Selbstverständnis der musikalischen Avantgarde
F.4. Das Ende der Diskussion über den musikalischen Fortschritt?
F.5. Die revolutionäre Wirkung des Experimentellen auf die Musik
F.6. Bekenntnisse zur Postmoderne. Dahlhaus spricht über: Vom Einfachenzum Schönen, vom Schönen und vom einfach Schönen
F.7. Ist der Diskussionsbedarf erschöpft?
F.8. Friedrich Hommel: neuer leitender Direktor der DF. Ende der „Talfahrt“?
F.9. Vorwärts, und nicht vergessen! oder: Rückwärts, und ja vergessen?
F.10. „Ausufernder Pluralismus“ – „Is Darmstadt alive?“
F.11. Betrachtung der Diskussion über den musikalischen Fortschritt auf denDF in den Jahren 1974 bis 1985
Resümee und Ausblick der Diskussion über den musikalischen Fortschritt auf den InternationalenDarmstädter Ferienkursen für Neue Musik zwischen 1948 und 1985
Literaturverzeichnis
Konsultierte Zeitschriften (nach Jahrgängen)
Musik und Ästhetik (Stuttgart)
Musik-Konzepte (München)
Das Argument (Berlin)
Stimmen (Berlin)
Dissonanz – Kritische Zeitschrift für Musik (Zürich)
Musik und Gesellschaft (Ostberlin/DDR)
Neue Musikzeitung (NMZ) (Regensburg)
die Reihe, Heft I-VII (Wien)
Darmstädter Beiträge für Neue Musik (DBfNM) (Mainz)
Melos (Mainz)
Melos/ NZ (Melos/Neue Zeitschrift für Musik) (Mainz)
Zeitschrift für Neue Musik (NZ) (Mainz)
Zeitschrift für Neue Musik (ZfNM) (Mainz)
MusikTexte (Köln)
Der Spiegel (Hamburg)
Online-Texte und Quellen (nach Alphabet)
Benutzte Archivalien (nach Gattungen und Jahrgängen)
Vorwort
Obwohl der Fortschrittsbegriff nach wie vor in allen Bereichen der Gesellschaft gebräuchlich ist und das politische Handeln immer noch weitgehend bestimmt: „Er ist, nach Meinhard Miegel, das wahrscheinlich wichtigste Substitut, das die Gesellschaft nach dem Verlust transzendenter Ziele anzubieten hat“1, scheint der Fortschrittsgedanke in der Kunst und der Musik weitgehend obsolet geworden zu sein. Der Frage, warum das so ist, möchte diese Arbeit nachgehen.
Bekannt ist der Fortschrittsgedanke in der Kunst seit dem klassischen Altertum. Er taucht allerdings in der Musik erst sehr viel später auf, nämlich zu Beginn der Aufklärung im 17./18. Jahrhundert, nachdem die Verurteilung Galileo Galileis die Renaissanceharmonie erschüttert und René Descartes die Metaphysik konsequent von den Naturwissenschaften, den Geist von der Materie abgetrennt hat. Oder mit anderen Worten: Vernunft, Rationalität, Empirie und Natürlichkeit zu allgemeinen Leitbildern und Freiheit, Gleichheit Brüderlichkeit zu geistigen Waffen gegen herrschende Geistliche und adelige Mächte werden. So ist der empfindsame, galante frühklassische Musikstil beispielsweise eines Carl Philipp Emanuel Bach (1714-1788) durchaus geprägt von der aufklärerischen Forderung nach Vernunft, Natürlichkeit und gutem Geschmack.
Vor allem Hegels Dialektik und Geschichtsphilosophie leitet im 19. Jahrhundert einen Paradigmenwechsel ein, der auch in der Musik ein neues Denken hervorbringt. Nicht nur Richard Wagner, Franz Liszt oder Hector Berlioz, sondern das ganze Musikleben werden jetzt vom Fortschrittsgedanken ergriffen, was gleichzeitig heftige Gegenreaktionen auslöst. Mit dem genannten Triumvirat setzt in der Musik eine Entwicklung ein, die man auch als musikalische und ästhetische „Dynamisierung“ bezeichnen könnte. Glauben die Gegner des Fortschritts noch an „überzeitliche“ musikalische Normen, Strukturgesetze und Gattungsprinzipien, so neigen die Befürworter des musikalischen Fortschritts eher zur Empirie bzw. zum Historisch-Progressiven. Sollte das nun aber ein Fortschritt im Sinne der Abkehr von Regeln und Normen, Preisgabe des „Alten“ zugunsten des unbekannten Neuen, oder gar Ausdruck eines kompositorischen Subjektivismus sein? Oder ästhetisch eher einer, die außermusikalischen Ziele, wie Demokratisierung, Humanisierung oder Vervollkommnung des Menschen respektive der menschlichen Gesellschaft, verfolgt?
Die Kontroverse darüber, was und wie musikalischer Fortschritt zu sein habe, setzt sich bis zum heutigen Tag, wenn auch unter verschiedenen Aspekten und in unterschiedlicher Ausprägung, fort.
Die Internationalen Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik – von ihrer Gründung im Jahre 1946 an ein Zentrum der Zusammenkunft der Avantgarde und zudem bis in die 1960er Jahre weltweit einziger Ort, wo ein reger und direkter musikästhetischer Diskurs stattgefunden hat – spielen bis heute in der Diskussion über den musikalischen Fortschritt eine hervorragende Rolle und sie spiegeln zugleich die Problematik des Wechselspiels von technischem, wirtschaftlichem und kulturpolitischem Fortschritt in einer globalisierten, mehr oder weniger am Kapital ausgerichteten Welt wider.
Die vorliegende Arbeit ist vor allem aus der Perspektive einer historisch und hermeneutisch orientierten Kultursoziologie verfasst und weitgehend dem Ansatz der kritischen Theorie wie der aufgeklärten Philosophie verpflichtet. Der Fortschritt wird dabei als ein, seinem Wesen nach, geschichtsphilosophische Idee verstanden, die sowohl die Moderne, die Postmoderne wie die „Zweite Moderne“, als auch die Diskussion über den musikalischen Fortschritt auf den Darmstädter Ferienkursen (DF) beherrscht.
Der Fortschritt hat spätestens seit den zwei Weltkriegen mit ihren katastrophalen Folgen seine Unschuld verloren. Trotzdem sollen nicht seine philosophischen und musikästhetischen Konnotationen aufgegeben werden, was, um mit Adorno zu sprechen, schlicht als ideologischer Versuch zu werten wäre, der „heruntergekommenen Kulturindustrie [und dem] von ihr gezüchteten Anti-Intellektualismus den intellektuellen Segen“ zu geben.2
Der Fortschritt ist, das zeigt die Geschichte, nicht einfach wegzudiskutieren oder aus dem Bewusstsein zu eliminieren. Vielmehr unterliegt er seit einigen Jahren erneut einem Paradigmenwechsel, der nicht ohne Auswirkungen auf die Musik bleibt.
Entzweit die Fortschrittsidee seit dem 19. Jahrhundert Musiker und Komponisten in der Frage der autonomen Formästhetik (Eduard Hanslick) und der heteronomen Ausdrucksästhetik (Franz Brendel)3, so führt dies in der Folge nicht nur zwangsläufig zur Parteienbildung innerhalb der Musikszene (und nicht nur dort) – man denke an die Kontroverse zwischen den „Neudeutschen“ und den „Brahmsianern“ im späten 19. Jahrhundert, an die um die „Wiener Schule“ im frühen 20. Jahrhundert oder an die um den „Serialismus“ in den 1950er und 1960er Jahren –, sondern auch zu einer Legitimations- bzw. Bestimmungskrise des musikalischen Fortschritts überhaupt, die ab Mitte der 1970er Jahre das vorläufige Ende der Diskussion über den Fortschritt in der Musik bedeutet.
Die Postmoderne zumindest, als eine von dem „Projekt“ Moderne enttäuschte Gegenmoderne, hat kaum die Absicht, neue musikästhetische Perspektiven anzubieten, geschweige denn, die Fortschrittsidee weiterzuführen. Mit dem Begriff der „Zweiten Moderne“ versucht man zwar seit Beginn des neuen Jahrtausends, eine Synthese zwischen Moderne und Postmoderne herzustellen und dem musikalischen Fortschritt neues Leben einzuhauchen. So schreibt beispielsweise der Komponist und Vertreter der „Zeiten Moderne“, Peter Ruzicka (geb.1948), dass es die Aufgabe einer Zweiten Moderne sein müsse, in Abkehr von alten Fortschrittsdogmen, ein Konzept von Fortschritt als Widerstand und Widerstehen, als neue Form von Aufklärung zu entwickeln. Denn: „Ich bin in der Tat mit Adorno der Meinung, dass Kunst ohne ein Konzept von Fortschritt nicht auskommen kann, und dass wir folglich dem anything goes den Mut eines wertenden Umgangs mit Kunst und damit auch mit der Tradition entgegensetzen müssen. Ich halte da wenig von falscher Toleranz – aber ich halte auch überhaupt nichts von einem neuen Dogmatismus.“4 Er wünscht den „Diskurs der Vernünftigen“, um dem musikalischen Fortschritt wieder Geltung zu verschaffen. Musikalische Werke sollten danach den Stand der „kompositorischen Produktivkräfte“ repräsentieren, eine „wertende Haltung gegenüber der jeweils vorgefundenen musikgeschichtlichen Situation“ einnehmen sowie Zukunft antizipieren.5
Ob und wie allerdings der 'Diskurs der Vernünftigen' unter diesen Prämissen überhaupt stattfinden kann und wird, sei dahingestellt, denn negative Konnotationen wie 'Fortschrittsglaube', 'lineares philosophisches Geschichtsverständnis' oder 'Fortschritt als Etikettierung von Unheil', erschweren die kritische Auseinandersetzung mit ihm und stehen zumindest bisher einer sinnvollen Auseinandersetzung im Wege.
In diesem Sinne versucht die vorliegende ursprünglich geplante Dissertation über einen einleitenden historischen Abriss des Fortschritts unter ideen-, sozialhistorischen und geschichtsphilosophischen Aspekten, zunächst einen musikalischen Fortschrittsbegriff zu entwickeln, der in Teil II der Arbeit einem hermeneutischen Verfahren anhand der Diskussion über den Fortschritt auf den Internationalen Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik6 von 1946 bis 1985 unterzogen werden soll.
Dabei soll unter anderem der Frage nachgegangen werden, ob sich die Fortschrittsidee des 19. Jahrhunderts als Machbarkeitswahn einer technikverliebten Gesellschaft und einer Avantgarde der künstlerischexperimentellpolitischen Vorhut ins 20. Jahrhundert hinübergerettet hat, oder ob sie aus geschichtsphilosophischer und musikalischer Perspektive heute immer noch eine wichtige Basis der moralischethischen Orientierung, Sinnbildung und Hoffnung darstellt.
Die zeitliche Zäsur von 1985 erfolgt einmal aus Gründen der Materialfülle, zum anderen aber aus der Tatsache heraus, dass die Diskussion über den musikalischen Fortschritt auf den DF in den folgenden Jahren weitestgehend auf Eis gelegt ist. Erst im Jahre 1998 wird sie durch eine Umfrage der Redaktion der Musik-Konzepte zur Frage Was heißt Fortschritt? wieder aufgenommen und durch eine weitere Umfrage der Redaktion des Periodikums Musik & Ästhetik zum Thema Fortschritt, Avanciertheit, Avantgarde, im Sommer 2004, fortgesetzt, mit der Einschränkung, dass beide die Diskussion über den musikalischen Fortschritt die DF nicht oder nur kaum tangierten.
Die Ferienkurse des 21. Jahrhunderts haben sich dieses Themas bisher nicht angenommen, wenngleich im Jahre 2008 von einer Gruppe junger Komponisten eine Protestresolution mit der Schlagzeile „ …It´s a nice piece …“ in einer öffentlichen Versammlung diskutiert wird, worin sie „Unverbindlichkeit und Bedeutungslosigkeit“ der Workshops, Lectures und Foren kritisiert und einen „kreativen Dialog“ über die Bedeutung von avantgardistischer Musik heute einfordert: „We would like to provoke a dialogue about creativity“.7
Die Ablösung des Direktors der Ferienkurse, Solf Schaefer, durch Dr. Thomas Schäfer im Jahre 2009, scheint, bei aller Wertschätzung seines Vorgängers, bereits neue Impulse in dieser Richtung zu setzen. Inwieweit die Diskussion über den musikalischen Fortschritt in diesem notwendigen Diskurs wieder eine musikästhetische Bedeutung auf den DF bekommen wird, ist bis heute offengeblieben. Immerhin standen auf den Ferienkursen 2016 (29.07.-14.08.) unter der Projektierung EXCESS. Forum for Philosophy and Art über mehrere Tage musikphilosophische Fragestellungen auf dem Programm, die das Verhältnis von Musik/Kunst, Wirklichkeit und Politik thematisierten.
1 Miegel, Meinhard: Hybris, die überforderte Gesellschaft, Berlin 2014, S. 163
2 Adorno, Gretel und Tiedemann, Rolf (Hg.): Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt 1974, S. 309. Im Folgenden zitiert: Adorno, Th. W.: Ästhetische Theorie, Frankfurt 1974
3 Dümling, Albrecht (Hg.): Die Verteidigung des musikalischen Fortschritts. Brahms und Schönberg, Hamburg 1990, S. 5
4 Ruzicka, Peter: Zweite Moderne und Musiktheater, in: Musik und Ästhetik, Heft 30, April 2004, S.87
5 Siehe ebenda. Nach Ruzicka muss der Fortschritt „förmlich ins musikalische Material eingeschrieben sein und den ganzen Sinnreichtum des historischen Materials enthalten“, nicht allein im Material objektiv vorfindbar, sondern „als […] individuelle Vision, als subjektive Antizipation, die sich im Kunstwerk genauso ausdrücken kann wie in einer Bewertung von Kunstwerken“. Ruzicka denkt also den Begriff des musikalischen Fortschritts „nicht mehr als objektive Qualität, sondern nurmehr als eine regulative Idee, die uns bei unserem Tun leitet. […]. Letztlich kann man sich also den Fortschritt als eine Art großen Diskurs vorstellen, als unendliches und potentiell für alle offenes Streitgespräch, in dem Visionen verhandelt werden.“
6 Im weiteren Verlauf der Arbeit als Kürzel: DF (Darmstädter Ferienkurse)
7 „Flugschrift: … It´s a nice piece …, in: IMD-Archiv 2008, lose Sammlung
Erster Teil
I. Vorüberlegungen
A. Methodische Überlegungen
Der Verlust des ganzheitlichen Denkens ist ein Phänomen, das erst aus der Zeit der Aufklärung resultiert: „Als sich Männer wie Herder und Hegel der Ästhetik zuwandten“, schreibt dazu der Germanist und Kunsthistoriker Jost Hermand, „war ein solcher Universalismus noch etwas Selbstverständliches. Auch bei den Historikern und Frühpositivisten der Zeit um 1850 ist das Gefühl für diesen ins Menschheitliche tendierenden Grundzug aller kulturellen Äußerungen noch durchaus lebendig. Aufgegeben wurde diese Haltung erst dann, als man den Glauben an die gesellschaftliche Funktion der Geschichte allmählich verlor und die Betrachtung von Kunst und Literatur zum reinen Selbstzweck erhob, also im Spätpositivismus der 80er und 90er Jahre.“8 In der Folge fielen Geist und Empirie bzw. Theorie und Praxis in der methodischen Entwicklung immer weiter auseinander.
Heute befinden wir uns in einer Situation, in der sich die Spezialisten, die ausschließlich an der Faktizität arbeiten und die Philosophen und Theoretiker nicht mehr verständigen können oder wollen. Während sich die Spezialisten reduktionistisch auf ein klar überschaubares Gebiet beschränken und mit eindeutig objektivierbaren Daten ihr gutes Gewissen und das der Gesellschaft bestätigen, werden die Generalisten zunehmend aus dem gesellschaftlichen Diskurs verdrängt, dessen Grund in der Fülle des aufgehäuften Wissens zu suchen ist. So ist ein Wissenschaftler heute von vornherein gezwungen, sich auf sein eigenes Gebiet zu beschränken und jeder methodischen Grenzüberschreitung aus dem Wege zu gehen. Dieser spezialisierten Verengung, der bewussten Antigeschichtlichkeit, meint Hermand, liege weder eine forschungsimmanente Notwendigkeit noch ein methodischer Zwangsmechanismus zugrunde, „sondern eine rein ideologische Entscheidung, die auf dem weitgehenden Abbau des bisherigen Fortschrittsglaubens beruht. Solange man die künstlerischen und kulturellen Entwicklungen noch als sinnvolle Etappenabfolgen und erfolgreiches Fortschreiten ansah, war auch die Wissenschaft in einen stimmigen Sinnrahmen eingebettet und fügte sich ein. Als man jedoch diesen Glauben aufgab […] musste sich Geschichte notgedrungen in ein amorphes Trümmerfeld verwandeln.“9
Demnach haben vor allem historisch orientierte Wissenschaften nur dann Sinn, wenn sie eine Fortschrittsidee verfolgen. Geht diese aber verloren, „fühlt man sich“, so Hermand, „entweder über diese erhaben oder man glaubt, an ihr zweifeln zu müssen [und kann] sich eigentlich nur in Zynisch-Resignierendes, Existenzialistisches oder Abstrakt-Ideelles zurückziehen“.
Die „ideologische Entscheidung“ Ende des 19. Jahrhunderts, den Universalismus im Sinne der Fortschrittsidee bewusst aus der Wissenschaft auszuklammern, hat also eine fundamentale Sinnkrise ausgelöst. Die Feststellung, dass beim Verlust der Fortschrittsidee auch die Sinnhaftigkeit des Lebens verloren geht und das geschichtslose Verbleiben im „Status quo“ notgedrungen in die Orientierungs- und Hoffnungslosigkeit führen muss, scheint zumindest die Frage aufzuwerfen, ob ein Nachdenken über den Fortschritt als universale Idee heute nicht doch noch eine gewisse Berechtigung haben könnte.
In eine ähnliche Richtung tendiert Ernst H. Gombrich bezüglich des späten 20. Jahrhunderts, wenn er von der „Krise des Fortschrittsglaubens“ spricht10 sowie davon, dass die Fortschrittsidee in der Geschichte der Kunstkritik mehr Verwirrung als Klarheit gestiftet habe. So sei es heute nur scheinbar paradox, dass ein Kunstkritiker sich desto „fortschrittlicher“ vorkomme, je mehr er leugne, dass es einen Fortschritt in der Kunst gäbe. Auch in der heutigen Kunstgeschichtsschreibung vermeide man mittlerweile gerne den Begriff des Fortschritts11, was fraglos auch für die Musikwissenschaft gilt.
Dennoch möchte auch er die Idee des Fortschritts retten, weil ohne sie gewisse Entwicklungen der Kunst von der Antike bis heute nicht erklärbar seien, wobei er der allgemeinen Sprachverwirrung entgegenzutreten möchte: „Offenkundig sind im Laufe der Zeit verschiedene Begriffe durcheinander geraten, und es kann vielleicht nicht schaden zu versuchen, sie wieder einzeln herauszupräparieren.“12
Ideengeschichtlich unterscheidet er zwischen der instrumentalistischen, oder klassischen, weil auf Aristoteles zurückgehenden Auffassung des Fortschritts, „eine durchaus rationale Auffassung, denn sobald ein Zweck [z. B. die perfekte Naturnachahmung] festgelegt ist, kann man auch von Verbesserung der Mittel sprechen, die seiner Erreichung dienen“13, und der unbegrenzten Fortschrittsauffassung als Sinnbild der Moderne, in der es nicht mehr um die Vervollkommnung von Mitteln zu einem vorgegebenen Zweck geht, sondern, im Zuge des technischen und wissenschaftlichen Fortschritts, „neue Mittel möglich machen, neue Ziele zu setzen“.14
Letztere führt er auf die Entdeckungen und Erfindungen seit Beginn des 16. Jahrhunderts zurück, die die alte zyklische und organische Fortschrittsauffassung zunehmend infrage stellt und die Absichten eines jeden Individuums und damit auch Künstlers zum eigentlichen Gradmesser des Fortschritts setzt: „Es gab keinen anderen Maßstab als die fortschrittliche Gesinnung.“15 Beide Fortschrittsauffassungen sind in der Kunst und Musik bis heute virulent und spiegeln sich oftmals in polarisierender Weise in der Diskussion wider.
Gombrich geht es um die Legitimation eines Fortschrittsbegriffs für die Kunst/Musik im 21. Jahrhundert, denn „nirgendwo ist es dringender als in der heutigen Kunsterziehung, Distanz zu gewinnen und uns zu fragen, was wir eigentlich von der Kunst wollen. Die gedankenlose Anbetung jeder Neuerung kann nie die menschlichen Werte ersetzen, auf denen auch die Kunst ruhen muss.“16
Die in der Diskussion über den musikalischen Fortschritt häufig vorkommenden Begriffe des Zyklischen und Organischen, eigentlich biologische Metaphern des klassischen Fortschritts, verweisen implizit auf das Naturgedenken einer Kunst- und Musikästhetik, die, als Folge der fortschreitenden Entfremdung des Menschen von der Natur, das Naturschöne zu ihrem Zweck erhoben hat. Nach A-dorno begründet sich das Naturschöne aus der Konzeption, dass alle geschichtliche Existenz unüberspringbar entfremdet ist, dass aber die Kunst die letzte Chance bietet den Entfremdungszusammenhang im Spiegel einer nicht entfremdeten, weil dem Handeln entzogenen Realität (der Schönheit der Natur) erscheinen zu lassen.17
Ähnliches schreibt der Soziologe und Philosoph Moshe Zuckermann in Kunst als Moment des Naturgedenkens in der klassischen Kritischen Theorie: „Nur in der Sphäre der Kunst kann der Mensch der Entfremdung von der Natur entrinnen. In der Zweckwelt der instrumentellen Vernunft ermöglicht sich ein solches Ausscheren aus dem dicht durchfunktionalisierten total Verwalteten einzig in der Sphäre der Kunst, wo die interesselose Hingegebenheit des Subjekts ans Objekt nicht nur 'legitim', sondern letztlich Voraussetzung aller wahrer Kunsterfahrung ist. Das was in der Entfremdung des Menschen von der Natur verlustig gegangen ist, erhält sich gleichsam im 'jähen Entronnensein' ästhetischen Erlebens.“18
Aus dieser Sicht hat fortgeschrittenste Kunst (als Negation bestehender Verhältnisse) der Verstümmelung der ersten „echten“ Natur, durch die zweite „reale“ Natur entgegenzuwirken und das „ganz Andere“ , (die dritte Natur), im Sinne der „Antizipation“ einer geglückten Welt und eines gelungenen Lebens anzumahnen: „Denn“, so Zuckermann, „wenn auch diese [die Anmahnung des ganz Anderen] sich überlebt haben sollte, haben wir es nicht nur mit dem Tod der Kunst als einem Moment des Naturgedenkens zu tun, sondern mit der selbst auferlegten Verkümmerung einer wesenhaften Dimension menschlicher Emanzipation.“19
Drei Denkansätze am Beispiel der Darmstädter Ferienkurse wären also zu überprüfen:
1. Hermands Ansatz, wonach der Verlust der universalen Fortschrittsidee am Ende des 19. Jahrhunderts zum Verlust des geschichtlichen Bewusstseins und damit implizit zur Orientierungs- und Hoffnungslosigkeit geführt habe.
2. Gombrichs Ansatz, den Fortschrittsbegriff für die Kunst als ideen- und sozialgeschichtlichen zu retten.
3. der Ansatz Zuckermanns, der, rückbezüglich auf die kritische Theorie, an das Naturgedenken der Kunst erinnernd, die Aufhebung der Entfremdung des gesellschaftlichen Handlungszusammenhangs zur Diskussion stellen möchte.20
B. Musiksoziologische Überlegungen
Vor diesem Hintergrund verfolgt die vorliegende Arbeit einen ideen- und sozialgeschichtlichen Ansatz, der die Menschen in dem von Max Horkheimer geäußerten Sinne als die Produzenten ihrer gesamten Lebensform zum Gegenstand macht: „Bei aller Wechselwirkung zwischen der kritischen Theorie und den Fachwissenschaften, an deren Fortschritt sie sich ständig zu orientieren hat, und auf die sie seit Jahrzehnten einen befreienden und anspornenden Einfluss ausübt, zielt sie nirgends bloß auf Vermehrung des Wissens als solchem ab, sondern auf die Emanzipation des Menschen aus versklavenden Verhältnissen.“21
Auf die Fortschrittsidee in der Musik bezogen bedeutet das ein Verständnis von musikalischer Sprache, das sich gesellschaftskritisch kommuniziert. Musiksoziologie hätte demnach die Aufgabe, an den Brüchen und Rissen des musikalischen Geschehens anzusetzen. „Sie ist“, nach Adorno, „soziale Kritik durch die künstlerische hindurch“, denn „wo Musik in sich brüchig, antinomisch geartet ist, aber das durch die Fassade des Stimmigen überdeckt, anstatt die Antinomien auszutragen, ist sie allemal ideologisch“, authentisch aber ist sie, wenn sie „ebenso das Kryptogramm [den Geheimtext] des unversöhnten Gegensatzes zwischen dem Schicksal des einzelnen Menschen und seiner menschlichen Bestimmung, wie die Darstellung des wie immer auch fragwürdigen Zusammenhangs der antagonistischen Einzelinteressen zu einem Ganzen, und endlich der Hoffnung auf reale Versöhnung“ entschlüsselt.22
B.1. Die marxistisch orientierte Musiksoziologie hat sich im 20. Jahrhundert explizit den Kunstwerken zugewandt. Vertreter dieser Richtung, wie Anatolij W. Lunatscharski, Günter Mayer oder Boris W. Assafjew23, haben ihre soziologischen Ausführungen eng an den musikimmanenten Gestaltungsprinzipien ausgerichtet. Ihr historisch-dialektischer Ansatz wird heute im westlich-orientierten Wissenschaftsbetrieb kaum noch weiter verfolgt, da die Autoren die Kultur, und damit auch die Kunst und die Musik, angeblich einseitig als Überbauphänomen der wirtschaftlichen Prozesse, und damit die Kunst/Musik dabei lediglich als Spiegel der kapitalistischen Produktionsverhältnisse beschreiben würden, und durch diese „Vergröberungen“ das Problem Kunst und Gesellschaft weder in seiner Komplexität noch in seiner Spezifität ausreichend erfassen könnten.24 Gerade aber der ausgewiesene Marxist Hans G Helms (1932-2012), Komponist und ab 1958 regelmäßiger Teilnehmer der DF, versucht mit seinen theoretischen Beiträgen und musikalischen Analysen diesem Verdikt entgegenzuwirken.25 Ohne Zweifel kann der marxistische Denkansatz auch heute noch durchaus gewinnbringend für die Analyse der Funktionszusammenhänge der Musik im gesellschaftlichen Kontext und für die musikalische Diskussion über den musikalischen Fortschritt sein.
B.2. Die Vertreter der kritischen Theorie, allen voran Theodor W. Adorno, betrachten das Kunstwerk ebenfalls als Objektivation gesellschaftlicher Arbeit, verstehen es dabei aber nicht als bloßes Abbild gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern gleichsam als ihre Antithese: Adorno wie die Vertreter der kritischen Theorie (allen voran Herbert Marcuse) betonen dabei immer wieder, dass das Kunstwerk, einmal zum Sprechen gebracht, die authentischste Informationsquelle über den Zustand einer Gesellschaft sei. Kunst- und Musikwerk seien quasi lebendig und je höher ihre Qualität, je höher zum Beispiel die Musik in ihm rangiere, desto besser erfülle sie ihre gesellschaftliche Funktion.
Denn „wenn sie in ihrem eigenen Material und nach ihren eigenen Formgesetzen die gesellschaftlichen Probleme zur Darstellung bringt, welche sie bis in die innersten Zellen ihrer Technik in sich enthält“ dann „tritt [sie] in gewisse Analogie zur gesellschaftlichen Theorie“.26 Entsprechend lassen sich auch das musikalische Material, die Autonomie, der soziale Tatbestand (fait social) sowie der Fortschritt bestimmen. Sie sind dialektische Bestandteile einer Musik, die sowohl ein vom gesellschaftlichen Leben signifikant geschiedenes Gebilde, als auch Reflex auf die gesellschaftlichen Zustände sind. Der Künstler (Komponist) steht jetzt nicht mehr außerhalb jeglicher Norm und gesellschaftlicher Bedingungen, wie noch zur Zeit der romantischen Autonomieästhetik, sondern er wird gleichsam zum Vollzugsorgan gesellschaftlicher Zustände. Durch sein Werk, insofern es den fortgeschrittensten Stand des Materials wie der Erkenntnis repräsentiert, reflektiert er über den objektiven Stand der allgemeinen gesellschaftlichen Verhältnisse.27 Er ist somit in seiner Produktion sowohl an die Voraussetzungen gesellschaftlicher Produktionsverhältnisse gebunden, als auch ist „das Allersubjektivste“ seines Werkes immer zugleich auch gesellschaftlich vermittelt.28
B.3. Jürgen Habermas sieht im Denkansatz Adornos und Horkheimers „eine vereinseitigende Perspektive“, weil sie dem kommunikativen Element des Geistes keinen Raum ließe. Man könne, behauptet er, aus der „Konstruktion“ musikalischer Werke nicht notwendigerweise auf Gesellschaft reflektieren. Er möchte jedoch die „werkimmanente Ästhetik“ Adornos retten, indem er den werkbezogenen Rationalitätsbegriff Adornos um die „kommunikative Rationalität“ erweitert.29
Sein Grundargument dafür ist, wie der Musikwissenschaftler Albrecht Wellmer betont, ebenso einfach wie überzeugend: „Zur Sphäre eines an Sprache gebundenen Geistes gehört die Intersubjektivität der Verständigung ebenso wie die Objektivierung der Wirklichkeit im Zusammenhang instrumentellen Handelns, gehört die symmetrischkommunikative Beziehung zwischen Subjekt und Subjekt ebenso wie die asymmetrischdistanzierende zwischen Subjekt und Objekt. Im Paradigma einer Bewusstseinsphilosophie, die die welterschließende Funktion der Sprache aus einem asymmetrischen Subjekt-Objekt-Modell des Erkennens und Handelns erklären muss, [wie es bei Adorno und Horkheimer der Fall ist] bleibt dagegen für das kommunikative Moment des Geistes kein Raum.“30 Durch die Hinzuziehung der kommunikativen Dimension, wird ein mehrdimensionaler Effekt erzeugt, der den werkimmanenten Ansatz Adornos erweitern könnte. „Es wäre lohnend“, meint Wellmer, „unter diesem Gesichtspunkt Fragen der aktionistischen, aleatorischen und populären Kunst zu diskutieren, denen Adorno beinahe a priori kritisch gegenüberstand.“31 Habermas zumindest hat mit dem Begriff der kommunikativen Rationalität einen Diskursprozess eingeleitet und mit der musiksprachlichen Schwerpunktverlagerung auf die rezeptionsästhetische Seite, die moderne Kunst und Musik dem Publikum geöffnet.32 Der Idee des modernen Kunstwerks liefert er somit neue Impulse.
B.4. Die Systemtheorie zeichnet sich – ganz in der Tradition des Positivismus und zunächst entgegen der Fortschrittsidee – durch die Ablehnung der Begriffe Moral, Subjekt, Objekt, Mensch und dergleichen mehr aus, da diese rein ideologisch motiviert seien und Gesellschaft nicht erklären könnten.33 Dennoch setzt sie sich dezidiert mit der gesellschaftlichen Rolle der Kunst und Musik auseinander34, ein Paradoxon, lebt doch gerade die Kunst/Musik von der Empathie, Intuition und Imagination ihrer Erzeuger und Rezipienten.
Die Systemtheorie unterscheidet sich streng von der traditionellen Soziologie. Während der Gegenstand der herkömmlichen soziologischen Forschung die Gesellschaft und die in ihr handelnden Menschen sind – empirisch greifbar, beobachtbar und statistisch quantifizierbar –wolle die Systemtheorie, so ihr bekanntester Vertreter, Niklas Luhmann, die Gesellschaft weder abbilden noch verstehen, sondern „lediglich erklären, wie Gesellschaft funktioniert.“35
In der Theorie des auf funktionale Effizienz ausgerichteten Rationalisierungs- und Kommunikationssystems werden Begriffe wie Bürgertum, Klasse, Schicht und Mensch sowie Denken oder Fühlen, durch reine Funktionsbegriffe ersetzt, so beispielsweise die bürgerliche Gesellschaft durch den Begriff der „horizontal funktional ausdifferenzierten Gesellschaft“ oder die Schichtung, Klassen- oder Gruppenbildung durch den Begriff der „asymmetrische Kommunikationssysteme“. Selbst der Mensch „überlebt“ nur als „soziales und psychisches Funktionssystem“.36
Wesentlich für sie ist das Modell der autopoietischen Systembildung, das sie der konstruktivistischen Biologie entlehnt hat.37 Nach ihr grenzen sich organische Systeme nach ihrer Herausbildung zum Zwecke der Selbsterhaltung von anderen Systemen ab, was, so ihre Schlussfolgerung, für alle gesellschaftlichen Systeme, wie Politik, Wirtschaft, Kultur und Musik ebenfalls zutrifft.38 Dabei sind die Systeme als reine, rekursive Kommunikationssysteme zu denken, die spezielle binäre Codes, wie kaufen oder nichtkaufen, arm oder reich, schön oder hässlich, gut oder schlecht, entwickeln. Über strukturelle Koppelungen sind sie nur dann zum Austausch mit anderen Systemen imstande, wenn dabei der Erhalt des eigenen Systems gewährleistet ist.39
Bleibt festzuhalten: Nach der Systemtheorie ist das Kunst- bzw. Musiksystem – wie alle anderen gesellschaftlichen Systeme auch – ein „horizontal funktional ausdifferenziertes System“ mit systemeigener „asymmetrischer Kommunikation“, repräsentiert durch systemeigene Codes.
Die Frage, ob die „Systeme“ der Biologie überhaupt auf Gesellschafts- oder gar Kunsttheorien übertragbar sind muss allerdings offen bleiben, denn im Gegensatz zur Biologie können Gesellschaften tiefgreifende strukturelle Veränderungen und Umwälzungen erfahren, die ihre Grenzen sprengen, ja gar zu ihrem Zusammenbruch führen.40 Ebenso wäre zu beachten, dass sich die Systemtheorie allein schon durch ihre Orientierung an der neurobiologisch hergeleiteten Autopoiesis als herrschaftslegitimierendes, auf Effizienz ausgerichtetes Rationalisierungsmodell versteht, deren Entwicklungsbegriff naturgemäß stark vom Fortschrittsbegriff differieren muss. Andererseits kommt sie durch ihre speziellen Analyseverfahren zu interessanten gesellschafts- und kulturkritischen Ergebnissen und hat überdies in den letzten Jahren einen enormen Bedeutungszuwachs in der Diskussion über den musikalischen Fortschritt erfahren.41
B.5. Ergänzend dazu berücksichtigt die vorliegende Arbeit idealistische, aufklärerische und fortschrittsorientierte Philosophien, wobei sie sich auf Kant, Hegel, Adorno und Habermas sowie auf die dritte Generation der kritischen Theoretiker, Albrecht Wellmer und Axel Honneth stützt. Aber auch die französischen Philosophen und Postmodernisten wie Jean-Francois Lyotard, Jean Baudrillard oder Michel Foucault sowie die Musikwissenschaftler und Systemtheoretiker, Lutz Lehmann und Klaus Lippe, werden bezüglich ihrer Aussagen zum musikalischen Fortschritt herangezogen, haben sie doch allesamt die Diskussion über den musikalischen Fortschritt in Darmstadt zumindest indirekt mitgetragen. Selbstverständlich werden auch Komponisten, Rezipienten, Kritiker und Dozenten zu Wort kommen, soweit sie Beiträge zum musikalischen Fortschritt geleistet haben.
C. Überlegungen zur Form
Entsprechend der Vorüberlegungen enthält der Erste Teil der Arbeit einen historischen Abriss des Fortschritts unter ideen- und sozialhistorischen Aspekten sowie der Herausarbeitung des Bedeutungswandels der Fortschrittsidee im Zuge der sozialpolitischen und ökonomischen Umwälzungen seit dem 18. Jahrhundert.
Daran an schließt ein ideen- und sozialhistorischer Vergleich mit dem musikalischen Fortschritt im Entstehungszusammenhang der bürgerlichen Gesellschaft und dem Versuch einer Begriffsbestimmung des musikalischen Fortschritts.
Der Zweite Teil der Arbeit ist historischchronologisch angelegt und gliedert sich durch Zäsuren bzw. Teilbetrachtungen. Sie enthalten sowohl die inhaltliche Schwerpunktsetzung der Diskussion über den musikalischen Fortschritt auf den DF, als auch die außermusikalischen Einflussfaktoren.
Gleichzeitig wird zwischen den Vorgängen innerhalb und außerhalb Darmstadts formal (Gliederung) als auch inhaltlich (Texte) unterschieden, wenngleich es notwendig zu Überschneidungen kommt.
Er ist in sieben Abschnitte unterteilt:
1946 bis 1947: Die Jahre des Nachholbedarfs (In dieser Zeit spielt die Diskussion über den musikalischen Fortschritt noch keine Rolle auf den DF.)
1948 bis1953: Die Renaissance der Dodekaphonie und die Geburt des Serialismus
1954 bis 1958: „Revolution in Permanenz“
1959 bis 1962: Die Diskussion über den musikalischen Fortschritt theoretisiert sich und erreicht ihren Zenit.
1963 bis 1968: Die geistige Wende und die 'postserielle' Phase
1969 bis 1973: Der Widerstand gegen den Fortschritt formiert sich.
1974 bis 1985: Die Postmoderne setzt sich durch.
Am Schluss steht ein Resümee der Diskussion über den musikalischen Fortschritt auf den DF zwischen 1946 und 1985, die Überprüfung der Begriffsbildung und der Versuch, eine Antwort auf die Frage zu geben, welche Bedeutung die Fortschrittsidee heute noch in der Kunst/Musik hat und inwieweit sie noch Relevanz besitzt.
8 Hermand, Jost: Das Dilemma der Interpretationsmethoden, in: Schlingmann, Carsten: Methoden der Interpretation (Arbeitstexte für den Unterricht), Stuttgart 1989, S. 168. „Daran hat auch der forcierte Neuidealismus der Zeit um 1900 wenig geändert“, schreibt Hermand weiter, „denn der neue Universalismus, zu dem sich diese Richtung in Anlehnung an Dilthey und den Marburger Neukantianismus bekennt, wird meist so stark ins Subjektiv-Idealistische verzerrt, dass er sich nur allzu oft im Bereich der reinen Spekulation verliert.“
9 Ebenda, S. 170
10 Gombrich, Ernst H.: Kunst und Fortschritt. Wirkung und Wandel einer Idee, Köln 2002, S. 8
11 Ebenda, S. 8
12 Ebenda, S. 9
13 Ebenda, S. 20 f. und S. 79 f.
14 Ebenda, S. 81
15 Ebenda, S. 96
16 Ebenda, S. 116
17 Vgl. Gethmann-Siefert, Annemarie: Einführung in die Ästhetik, München 1995, S. 238. Nach Adorno besitzt „das Naturschöne einen ganz spezifischen Modellcharakter für das Kunstschöne […], weil die Konzeption des Kunstschönen selbst ihrem eigentümlichsten Sinn nach mit dem Naturschönen […] verwachsen ist.“ Aus: Th.W. Adorno: Ästhetische Theorie, S.44
18 Zuckermann, Moshe: Kunst als Moment von Naturgedenken in der klassischen Kritischen Theorie, in: Böhme, Gernot und Manzei, Alexandra (Hg.): Kritische Theorie der Technik und Natur, München 2003, S. 87. Das „jähe Entronnensein“ wird hier verstanden als das Entronnensein von der instrumentellen Vernunft, die Adorno als Ursache der Zerstörung der Vernunft überhaupt ansieht.
19 Siehe ebenda
20 Gethmann-Siefert, A.: Einführung in die Ästhetik, a.a.O, S. 238/239. Gethmann-Siefert schreibt dazu: „Adorno sieht […] in der Kunst die letzte Möglichkeit, bestehende Gesellschaftsstrukturen aufzulösen, da nur die Kunst die Gesellschaftskritik in dem radikalen Sinne einer durchschlagenden Entfremdungskritik betreiben kann. Nur die Kunst hat nämlich die Chance, den Entfremdungszusammenhang im Spiegel einer nicht entfremdeten, weil dem Handeln entzogenen Realität (der Schönheit der Natur) erscheinen zu lassen. […]. Die Kunst wird zur Entfremdungskritik durch die Möglichkeit, Vorgeschichtlich-Vorsubjektives, »Natur« darzustellen, um in der Nachahmung (Mimesis) einer Schönheit der Natur, im geglückten formalen wie inhaltlichen Gegenentwurf, der Realität den Zerrspiegel der Entfremdung vorzuhalten.“
21 Horkheimer, M.: Traditionelle und kritische Theorie, Frankfurt 2005, 6. Auflage, S. 263. Weiter schreibt Horkheimer: „Wenn strenge Untersuchung seit je die Isolierung von Strukturen erfordert hat, so bilden heute nicht mehr wie bei Adam Smith bewusste, weitertreibende, historische Interessen dabei den Leitfaden; die Zugehörigkeit moderner Analysen zu irgendeinem auf die wirkliche Geschichte zielenden Ganzen [bzw. Universellen] der Erkenntnis ist verschwunden. Man überlässt es anderen oder einer späteren Zeit oder dem Zufall, die Beziehung zur Wirklichkeit und zu irgendwelchen Zwecken herzustellen“ (ebenda).
22 Adorno, Th. W.: Einleitung in die Musiksoziologie, Frankfurt 1975, S. 81 und S. 87
23 Assafjew, Boris W.: Die musikalische Form als Prozess, Berlin/Ost, 1976; Mayer, Günter: Zur Dialektik des musikalischen Materials, in: Kneif, Tibor (Hg.): Texte zur Musiksoziologie, Köln 1975, S. 200 ff. Lunatscharski, Anatolij W.: Fragen der Musiksoziologie, in: Kneif, T. (Hg.): Texte zur Musiksoziologie, Köln 1975, S. 76 ff.
24 An dieser Stelle ist auf die musikwissenschaftlichen Kongresse in den 1960er Jahren zu verweisen, bei denen Musikwissenschaftler aus Ost und West über die Zukunft der Musik debattierten und die marxistisch orientierten Musikwissenschaftler differenzierte musiksoziologische Analysen vorstellten, vor allem als Reaktion auf das Referat Fortschritt und Avantgardismus von Heinz-Alfred Brockhaus (DDR) von 1966, in: Internationaler musikwissenschaftlicher Kongress in Leipzig, Bonn 1970 und Kassel 1971, S. 40 ff. Hinzuweisen ist auch auf das Buch von Ulrich Dibelius und Frank Schneider (Hg.): Neue Musik im geteilten Deutschland, Bd. 1, (4 Bde.), Berlin 1993, S. 78 ff., das die nicht zu vernachlässigende Debatte zwischen Ost und West um den Fortschritt dokumentiert und kommentiert.
25 Siehe vor allem Helms, Hans G: Zu den ökonomischen Bedingungen der Neuen Musik, Referat vom 28.08.1970 auf den DF, in: IMD-Archiv, Sep 18. Siehe auch seine diversen Vorträge auf den DF in den entsprechenden Kapiteln.
26Adorno, Th. W.: Zur gesellschaftlichen Lage der Musik, in: Adorno, Th. W.: Gesammelte Schriften, Bd. 18, Frankfurt/M. 1984, s. S. 731 ff. Siehe auch: Adorno, Th. W. und Horkheimer, M.: Dialektik der Aufklärung, Amsterdam 1968, S. 144 ff. oder auch Adorno, Th. W.: Ideen zur Musiksoziologie, in: Musikalische Schriften I-III, Bd.16, S. 9-24.
27 Am Schluss des Kapitels IV seiner Einführung in die Musiksoziologie zitiert Adorno aus seinem Aufsatz Zur gesellschaftlichen Lage der Musik folgendes: „Heute und hier vermag Musik nichts anderes als in ihrer eigenen Struktur die gesellschaftlichen Antinomien darzustellen, die auch an ihrer Isolation Schuld tragen. Sie wird umso besser sein, je tiefer sie in ihrer Gestalt die Macht jener Widersprüche und die Notwendigkeit ihrer gesellschaftlichen Überwindung auszuformen vermag; je reiner sie, in den Antinomien ihrer Formsprache, die Not des gesellschaftlichen Zustandes ausspricht und in der Chiffreschrift des Leidens zur Veränderung aufruft. Ihr frommt es nicht, in ratlosem Entsetzen auf die Gesellschaft hinzustarren: sie erfüllt ihre gesellschaftliche Funktion genauer, wenn sie in ihrem eigenen Material und nach ihren eigenen Formgesetzen die gesellschaftlichen Probleme zur Darstellung bringt, welche sie bis in die innersten Zellen ihrer Technik in sich enthält. Die Aufgabe der Musik als Kunst tritt damit in gewisse Analogie zu der gesellschaftlichen Theorie.“ (S. 89)
28 Adorno, Th. W.: Ästhetische Theorie, Frankfurt 1974, s. S. 316 und S. 285. Siehe dazu auch Nowak, Adolf: Geschichtsbewusstsein neuer Musikästhetik, Mainz 1973, in: Zwischen Tradition und Fortschritt. Über das musikalische Geschichtsbewusstsein, Mainz 1973, S. 31 ff.
29 Der Begriff der kommunikativen Rationalität weist auf drei Ebenen hin: „Das Verhältnis des erkennenden Subjekts zu einer Welt von Ereignissen bzw. Tatsachen, das Verhältnis des praktischen, in Interaktionen mit anderen verstrickten und handelnden Subjekten zu einer Welt der Sozialität, und schließlich des Verhältnis des […] Subjekts zu seiner eigenen Natur, zu seiner Subjektivität und zur Subjektivität anderer“ (in: Pinzani, A., Jürgen Habermas, München 2007, S. 108. Pinzani zitiert aus: Habermas, J.: Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt 1981, Bd.1., Kapitel VI.2 und VI.4).
30 Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt 1981, Bd.1, Die kommunikative Vernunft, s. S. 497 und S. 523. Siehe auch: Wellmer, A.: Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, Frankfurt 1985, S. 20 f.
31 Wellmer, A.: Wahrheit, Schönheit, Versöhnung, a.a.0., S. 38
32 Habermas, J.: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt 1971, s. S. 265 f., in: Pinzani, A.: Jürgen Habermas, München 2007, s. S. 75. Die Berücksichtigung der rezeptionsästhetischen Seite und die demokratische Öffnung der Kunst gegenüber der Gesellschaft muss aber nicht die Abschaffung der Institution Kunst und der Expertenkultur bedeuten, sondern ist, nach Wellmers Einschätzung, „auf die Herstellung eines dichteren Netzes von Verbindungslinien zwischen Expertenkultur und Lebenswelt einerseits, Expertenkultur und populärer Musik andererseits“ ausgerichtet. In ihr steckt „die Wiederannäherung des Ästhetischen und Praktischen, des Hohen und Niederen.“ (Wellmer, A.: Wahrheit, Schönheit, Versöhnung, a.a.0., S. 40)
33 Luhmann, Niklas: Erkenntnis als Konstruktion, in: Luhmann, N.: Aufsätze und Reden, Stuttgart 2001, s. S. 218 ff. Nicht Theorien, sondern nur „wahre“ Aussagen seien zu wissenschaftlicher Erkenntnis geeignet. Philosophie könne lediglich beschreiben, Metaphysik und Spekulation seien Scheinprobleme und damit grundsätzlich abzulehnen und – ein enger Bezug zu Wittgenstein – nur die glasklare Sprache sei kommunikationswürdig, das sind die wichtigsten Axiome seines Systemkonstrukts. Luhmann umschreibt das Funktionieren von Systemen mit einer „kognitiven Leistung“, bei der die Sprache eine überragende Bedeutung einnehme (vgl. S. 301).
34 Siehe Luhmann, N.: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt 1997. Siehe auch seine vielfältigen Aufsätze zu dieser Thematik, unter anderem in: Aufsätze und Reden, Stuttgart 2004
35 Luhmann, N.: Erkenntnis als Konstruktion, a.a.O., s. S. 300
36 Hierzu erübrigt sich ein Beleg, da Luhmann dieses Begriffskonvolut in sämtlichen seiner Werke immer wieder verwendet.
37 Siehe ebenda, S. 319 f. Luhmann übernimmt hier „Konzepte“ aus der konstruktivistischen Biologie von Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela.
38 Die angebliche „griffige Definition“ für Luhmanns autopoietisches System lautet: „Ein System, das sich mittels der Reproduktion seiner Elemente, aus denen es besteht, durch die Elemente aus denen es besteht, reproduziert.“, zitiert nach Baecker, Dirk: Womit handeln Banken?, Frankfurt 1992, S. 33 (in: Luhmann, N.: Aufsätze und Reden, Stuttgart 2004, S. 320).
39 Jahraus, Oliver (Hg.): Zur Systemtheorie Niklas Luhmanns, in: Jahraus, O.: Niklas Luhmann: Aufsätze und Reden, Stuttgart 2001, s. S. 320 ff. Luhmann selbst beschreibt diesen Vorgang als Ausdifferenzierung des sozialen Lebens in autonomen Funktionssystemen mit je eigenen Codes.
40 Habermas, J.: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt 1971, S. 150 f., in: Pinzani, A.: Jürgen Habermas, a.a.O., s. S. 74. Habermas schreibt dazu: „Aus einem Esel kann keine Schlange werden […]. Eine Sozialordnung kann dagegen tiefgreifende strukturelle Änderungen erfahren.“
41 Man denke dabei vor allem an Arbeiten von Lutz Lehmann, Claus-Steffen Mahnkopf, Michael Lingner, Alexander Filipovic und andere.
II. Historischer Abriss des Fortschritts unter ideen- und sozialhistorischen
Aspekten
A. Die Ideenentwicklung des Fortschritts von der Antike bis zur Neuzeit
Unter der Idee des Fortschritts wird heute im Allgemeinen die geschichtliche Höherentwicklung der menschlichen Gesellschaft bzw. einzelner Bereiche des gesellschaftlichen Lebens wie z. B. auch der Kultur oder der Kunst verstanden. Vor allem seit Immanuel Kant gewinnt der Fortschrittsbegriff eine Bestimmung, die bis heute die Fortschrittsdiskussion weitestgehend zu tragen scheint. So nimmt er den Fortschritt „als 'Fortschritt vom Schlechteren zum Besseren', zur Vollkommenheit, als kontinuierlichen Fortschritt zum Guten […] bis ins Unendliche“ an42, und versteht ihn als Vollziehung eines verborgenen Plans der Natur mit dem Ziel einer vollkommenen Staatsverfassung bzw. eines Weltbürgerrechts, „in welchem die Natur alle ihre Anlagen in der Menschheit völlig entwickeln kann“43
Schon die antiken Philosophen operierten mit dem Begriff des Fortschritts, verstanden ihn aber eher als ein „sittliches Fortschreiten“: „In dem Maße, wie der Stand vollendeter Weisheit und Tugend als Ziel unerreichbar wird, gilt Fortschritt auf das Ziel hin als der eigentliche Stand menschlichen Lebens, so für Plutarch und für Cicero.“44 Allerdings gehört zum Fortschrittsbegriff der Antike auch die Vorstellung vom kosmischen Untergang (Lucretius) oder die Suche nach dem „goldenen Zeitalter“, wie es Platon vorschwebte, der den Fortschritt als „das Erreichen des ursprünglichen Stands der Menschheit“ verstand, in dem es weder Reichtum noch Armut, weder Unrecht noch Krieg gäbe und die edelsten Sitten nach väterlichen Bräuchen herrschten.
Bei Lucretius (97-55 v. Chr.) liegen allerdings schon Fortschrittsvorstellungen vor, die für die moderne Fortschrittstheorie konstitutiv werden. So finden sich bei ihm Vorstellungen der wachsenden Erfahrung des Geistes, der verständigen Erschließung der Natur sowie der fortschreitenden Ausbildung der Künste und der politischen Ordnung, die, das sei einschränkend erwähnt, dennoch vom alten platonischen Geist des kreisförmigen Umlaufs der Welt getragen sind, von der Überzeugung, dass alle politischen und geistigen Ordnungen, die sich fortschreitend bilden, eine Zeit bleiben und dann vergehen: „Möge Fortuna es uns ersparen“, heißt es entsprechend bei ihm, „dass unsere Vernunft nicht auch durch Erfahrung über den Untergang der Weltordnung belehrt werde“45
Auch das Mittelalter kennt den Fortschrittsbegriff, der allerdings untrennbar mit der Einmaligkeit des Erscheinens Christi, von der Weltentstehung bis zu ihrem Untergang respektive bis zur Wiederkehr Christi, verknüpft ist. So versteht beispielsweise der Kirchenlehrer und Philosoph Augustinus (354-430) den Weltenlauf durchaus als linear fortschreitenden, als weltgeschichtlichen Agens, schließt ihn aber nichtsdestotrotz in den Zusammenhang von Schöpfungsgeschichte, Geburt und Wiederkehr Christi ein, so dass der Inhalt weltgeschichtlichen Fortschreitens auf der Hoffnung und den Glauben an die Wiederkehr Christi beruht, und somit eine Wirkungsgeschichte des Fortschritts im eigentlichen Sinne auch bei ihm nicht stattfindet. Dennoch, auch bei ihm, ähnlich übrigens wie achthundert Jahre später, beim Dominikaner und Kirchenphilosophen Thomas von Aquin (1225-1274), ist die sittliche Vervollkommnung, das Fortschreiten des menschlichen Geistes als Fortschreiten auf Gott zu, ein wesentliches Element des Fortschrittsbegriffs: „In der Patristik und Scholastik [bleiben] Fortschritt wesentlich Fortschreiten auf Gott zu, im geistigen Leben zum ewigen Leben.“46
Allerdings relativieren bereits der Kirchenlehrer und Bischof von Regensburg, Albertus Magnus (1206-1280), und der englische Franziskanermönch und Philosoph, Roger Bacon (1219-1292), die Autorität der Lehrtradition der christlichen Kirche (ohne allerdings den christlichen „Fortschrittsgedanken“ infrage zu stellen), indem sie den Wissenschaften neue Bedeutung für den Fortschritt beimessen. So schreibt Bacon: „Wenn die Späteren, wie es notwendig ist, in der Wissenschaft fortschreiten, werden sie, vom Fortgang der Zeit begünstigt, vervollständigen, was den Früheren fehlt.“47 Als Grundlage für eine in Gewissheit und ohne Irrtum fortschreitende Erkenntnis in allen Wissenschaften versteht man zu ihrer Zeit vor allem die mathematischen Disziplinen, wozu auch die Astrologie und die Musik gehören. Bacon wie auch Magnus mussten mit ihrer Vorstellung von Fortschritt unweigerlich in Gegensatz zur herrschenden theologischen und scholastischen Lehre geraten, verwarfen sie doch die durch die Lehrtradition vorgegebenen Einsichten und damit die Autorität des von der katholischen Kirche maßgeblich vorgegebenen Fortschrittsgedankens. Aus heutiger Sicht sind es aber gerade sie, die den Weg für einen technischen Fortschrittsbegriff bereiteten: „Man werde künftig vieles kennen, was uns unbekannt ist“, schreibt Bacon in seinem opus maius und prognostiziert: „Die Wissenschaft werde die Verlängerung des Lebens, die Erfindung von Flugmaschinen, selbstfahrenden Wagen, Instrumenten zur Fortbewegung unter Wasser möglich machen.“48
Der qualitative Sprung zum heutigen Fortschrittsbegriff vollzieht sich allerdings erst im 17. und 18. Jahrhundert. Mit den globalen geographischen Entdeckungen und den technischen Erfindungen erhält man Erkenntnisse und Wissensstände, die sich nicht mehr aus der Tradition und der verbindlichen Autorität herleiten lassen. Jetzt erst beginnt die moderne Geschichte des Fortschritts, eine Geschichte von mechanisch-technischen sowie geschichtsphilosophischen Fortschrittskonzeptionen, die die Diskussion um den Fortschritt bis heute „befeuert“.
Bereits die Querelle des Anciens et des Modernes (der Streit der Alten und Neuen) im Jahre 1687, ausgelöst durch den Schriftsteller und Märchensammler, Charles Perrault (1628-1703), einem der herausragenden Wortführer der Moderne und des mechanisch-technischen Fortschritts, kreist um die Frage, ob die Zeit, die später ist, der früheren allein schon deshalb überlegen sei, weil die modernen Errungenschaften die der Alten durch die Zunahme an Wissen und Beweisen überträfen. „Es gibt nichts, was nicht die Zeit vollendet“, fokussiert er seine Fortschrittsidee und erregt damit in der Académie Française heftigen Protest.49
Ähnlich wie Perrault argumentieren auch der englische Philosoph und Wegbreiter des Empirismus, Francis Bacon (1561-1626), der Cartesianer, Charles Sorel (1602-1674), der Mathematiker und Religionsphilosoph, Blaise Pascal (1623-1662), und nicht zuletzt der französische Geistliche, Sozialphilosoph und Publizist, Abbé de Saint Pierre (1658-1743), deren Fortschrittsvorstellungen auf der Herrschaft des Menschen über die Dinge basiert und ihrer Auffassung nach nur über die Wissenschaften zu erreichen ist: „Indem die Vernunft in den Wissenschaften und in den auf sie gegründeten Künsten zum Träger menschlicher Praxis wird, verbürgt dies, dass die Menschheit in Umkreis der Erde auf ihrem Weg aus dem Naturzustand zur Herrschaft über die Natur gelangen wird. Fortschrittsgeschichte ist Befreiung des Menschen aus dem Naturzustand zum Herrn der Natur.“50
In diesem Sinne erhofft sich beispielsweise Sorel die Vollendung des Menschen in einem künftigen „goldenen Zeitalter“, das die science universelle heraufführen wird oder wünscht sich Abbé de Saint Pierre ein zukünftiges menschliches Geschlecht „zusammengesetzt aus allen Nationen, die auf der Erde gewesen sind und sein werden“, das „im Unterschied zum hinfälligen Individuum unsterblich in der immerwährenden und unendlichen Folge seiner Zeit ist, immer zunehmend an Vernunft und Weisheit.“51 Gemeinsam aber ist allen genannten Fortschrittsdenkern, dass ihre Fortschrittsidee, weg von den Bindungen des Denkens an einen Kanon von vorgegebenen Wahrheiten und religiösen oder herrschaftlichen Dogmen, auf eine unbestimmte, aber goldene Zukunft der Menschheit ausgerichtet ist.
Für den letzten Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) bedeutet dies z. B. die Glückseligkeit, die nicht mehr aus einem vollkommenen Besitz aller irdischen Güter besteht, denn der würde nur „unempfindlich und gleichsam stumpf machen“, sondern aus „einem dauernden und ununterbrochenen Fortschritt, der ständig von Unruhe begleitet sein wird.“52
Ohne Fortschritt, könnte man die Fortschrittsideen zusammenfassen, ist kein Denken und daher auch keine Lust, kein Glück und keine Glückseligkeit möglich.
A.1. Der Fortschrittsbegriff im Entstehungszusammenhang der bürgerlichen Gesellschaft
Angesichts der unterschiedlichen geistigen und materiellen Entwicklungsstufen der Völker der Welt versteht man im Zeitalter der Entdeckungen und der europäischen Expansion zu Beginn des 16. Jahrhunderts, die Bewegung der Geschichte als eine des Fortschritts. Man glaubt an eine Fortschrittsgeschichte allein schon deshalb, weil mit ihr die Menschheit im Ausgang von ihrem „Primitivstand“ in einer ständigen und unbegrenzten Vermehrung der Vernunft schließlich zum Subjekt vernünftiger Herrschaft über die Natur werden und damit zur Freiheit gelangen soll: „Reflektiert man auf die Distanz, die Kunst, Wissenschaft und vernünftige Bildung in Paris und London von den Kaffern und Wilden Afrikas trennt“, schreibt dazu Abbe die Saint Pierre, „dann hat man die Distanz vor Augen, die die Weisesten in 20 oder 30 Jahrhunderten von den weisesten Franzosen und Engländern seiner Epochen trennen wird.“53
François Marie Voltaire (1704-1788), Anne Robert Jacques Turgot (1727-1781), Marie Jean Antoine Nicolas (1743-1794) und Marquis de Condorcet (1743-1794) sehen das ähnlich, glauben aber, dass die Ungleichheit zwischen den primitiven Völkern und den aufgeklärten Europäern durch fortschreitenden Handel und Verkehr abgebaut und am Ende der Entwicklung, quasi in einer vollendeten Weltgesellschaft, aufgehoben werden wird. Zwar sieht man durchaus die Verachtung, den Sittenverfall und die Tyrannei der aufgeklärten Europäer gegenüber den Menschen niederer Herkunft, geringeren Wohlstands, anderer Hautfarbe und anderen Glaubens, hofft aber auf die Vernunft der 'fleißigen Menschen, die ihre Freiheit festhalten' und dadurch die 'wilden Nationen, die dort noch weite Gebiete innehaben, zivilisieren' und unter ihnen die Grundsätze der Freiheit, der Aufklärung und der Vernunft Europas verbreiten: „Der Weg dieser jetzt noch missbrauchten Völker zur Zivilisation wird rascher und sicherer sein als der unsere: Sie übernehmen von uns, was wir erst nach langem Irren entdeckten, so dass eine Zeit kommen wird, da die Sonne auf Erden nur noch freie Menschen bescheinen wird, die nichts über sich anerkennen als ihre Vernunft und es Tyrannen und Sklaven, Priester und ihre […] Werkzeuge nur noch in den Geschichtsbüchern und auf dem Theater geben wird.“54
Der Fortschritt wird also in gleicher Weise an den technisch-wissenschaftlichen, ökonomischen wie auch an den aufgeklärten, freiheitlichen und Vernunft bestimmten gekoppelt. Durch seinen geschichtlichen Kontext erhält er zudem das historische Vermögen, aus den Erfahrungen und Lehren der Vergangenheit die Ereignisse der Zukunft voraussehen und die Fortschritte der „Gattung“ Mensch gar lenken und beschleunigen zu können. Die daraus ableitbare Dreiteilung der Geschichte des Fortschritts in das Stadium des Naturzustandes (das primitive Leben der sogenannten Naturvölker), in das der seit den Griechen gemachten Entdeckungen und Erfindungen und schließlich in die beide Stadien zusammenfassende Zukunftsvision einer Welt-Gesellschaft unter den Bedingungen eines bürgerlichen Rechtsstaats und eines weltbürgerlichen Friedensarrangements, wird in der Folgezeit die Theorie des Fortschritts tragen.55
Der moderne Fortschrittsbegriff wird identisch mit der Gesellschaft als Ganzes und ihres konkret-historischen Zivilisationstands, das heißt von nun an gehört der Fortschritt retro- wie prospektiv zur Gesellschaft als potentiell sich durchsetzender, vollkommen gerechter bürgerlich-verfasster Weltgesellschaft in der Funktion, eine geistige, politische, sittliche, wissenschaftliche, künstlerische und technische Entwicklung zu markieren und, wenn möglich, zu dirigieren. Kurz: Das Fortschrittsprinzip tritt ab jetzt in alle Sphären des Lebens ein.
Betrachtet Friedrich Schiller (1759-1805) in seiner Universalgeschichte – Thema seiner Antrittsvorlesung in Jena im Jahre 1789 – noch den „verfeinerten“ Europäer des 18. Jahrhunderts als einen „fortgeschrittenen Bruder“ des „neuern Kanadiers und alten Celten“, der mit ihnen, durch die wenigen Jahrtausende verbunden, „alle Schöpfungen der Vernunft“ und „Riesenwerke des Fleißes“ entwickeln und „aus ihnen herausrufen“ konnte56, sieht er also vor allem den fortgeschrittensten Europäer in der positiv aufstrebenden Linie seiner Vorfahren, so erkennen Johann Wolfgang Goethe (1749-1832), Jean Jacques Rousseau (1712-1778), Johann Gottfried Herder (1744-1803) und Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) schon die Aporien, die mit dem Fortschrittsdenken verbunden sind. So weist beispielsweise Goethe, der sich trotz seiner Distanz zur Französischen Revolution keineswegs als „Freund des Bestehenden“ versteht, im Gespräch mit Eckermann in kritischer Vorausschau darauf hin, dass das um das Jahr 1800 vollkommen Erscheinende schon im Jahre 1850 ein „Gebrechen“ sein könnte.
Die Frage stellt sich ihm also, und nicht nur ihm allein, ob nicht in dem Maße, wie die Wissenschaften und Künste zur angestrebten Vollkommenheit fortschreiten, „unsere Seelen verderbt“ werden könnten.57 Man spürt bereits die „Entzweiung“ von Subjekt und Objekt, von Mensch und Natur als Ausdruck wachsender gesellschaftlicher und ökonomischer Widersprüche, führt diese aber eher noch auf den 'Rückstand im noch nicht vollendeten Prozess des Fortschritts' zurück. Man hofft, wie Herder, auf den Geist der Erfindung zum Gebrauch der Natur als unbeschränkte und fortschreitende Gewähr für die Perfektibilität oder Idealität einer zukünftigen Gesellschaft58, oder sieht die strahlende Zukunft in der Erziehung des Menschen zu seinem Besten im Interesse des Erreichens der Vollkommenheit seiner Gattung, wie es Lessing bevorzugt.59
Erst Immanuel Kant (1724-1804) formuliert den Fortschritt als einen vom „Schlechteren zum Besseren bis hin zum Vollkommenen sich vollziehenden Prozess“ mit dem Ziel einer Staatsverfassung und eines Weltbürgertums, in welchem die Natur „alle ihre Anlagen in der Menschheit völlig entwickeln kann.“60 Sein „Natur-Plan“ aber zielt auf die „Gattung“ Mensch, nicht aber auf das Individuum ab, da das „Subjekt“ nach Kant zwar durchaus alle Anlagen zum Guten besitze, man ihm aber als freihandelndes Wesen nicht trauen dürfe. Er hält das Individuum schlicht für selbstsüchtig, eitel, ehrsüchtig, alles Eigenschaften, die sich aus seiner Vereinzelung ergäben, glaubt aber gleichzeitig auch an seine Fähigkeit, sich aus eigener Kraft aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien.
Dennoch, schreibt er in Der Streit der Fakultäten: „Wir haben es aber mit freihandelnden Wesen zu tun, denen sich zwar vorher dictiren lässt, was sie tun sollen, aber nicht vorhersagen lässt, was sie tun werden“, so dass der Standpunkt der Natur bei der Vorhersage freier Handlungen nicht möglich ist.61 Damit räumt er mit der Vorstellung auf, als werde nach einem Naturgesetz des Fortschritts die Natur des Menschen als solche zum Besseren verwandelt. Auch der bürgerliche (aufgeklärte) Mensch bleibt seinem Wesen nach sowohl Naturmensch, worunter er die dem Menschen eigene Natur der Ungeselligkeit,
Ehrsucht, Habsucht und nicht zuletzt seinen Trieb zur bedingungslosen Selbsterhaltung versteht, als auch ein mit Vernunftfähigkeit begabtes Tier, das allein durch sein Handeln die Natur überschreiten und „alle Kultur und Kunst […] die schönste gesellschaftliche Ordnung hervorbringen und, indem es sich diszipliniert, durch abgedrungene Kunst die Keime der Natur vollständig zu entwickeln“ vermag.62
Damit wird der Fortschritt zum Bestandteil des geschichtlichhandelnden Menschen, ohne allerdings ein „goldenes Zeitalter“ der Zukunft versprechen zu können oder gar zu wollen, aber immerhin in der erklärten Absicht der Gewinnung einer vollkommenen bürgerlichen Verfassung eines Weltstaates, in dem die Individuen ihre Freiheit zum vernünftigen Handeln verwirklichen können aber nicht müssen. Weil aber der geschichtliche Fortschritt vom Handeln des Menschen abhängt, bleibt er ständig von den Unzulänglichkeiten der menschlichen Natur bedroht, und davon, „in alte Rohigkeiten zurückzufallen.“63
Hegel wiederum kritisiert diesen von Kant vertretenen Ansatz als einen, der „ewig dem Ziel fernbleibt“ und es folglich „in der moralischen Vollendung nicht ernst meint“. Er vertritt demgegenüber einen Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit des Geistes, der mit der politischen Revolution in Frankreich und mit der Durchsetzung der bürgerlichen industriellen Gesellschaft im Prinzip bereits Wirklichkeit geworden ist.64
Kritisch sieht aber auch er, dass die politischen Probleme mit der Befreiung weiterhin existieren und ihre Lösung wohl erst „künftigen Geschlechtern“ vorbehalten sein wird, glaubt allerdings auch, dass diejenigen Völker „nicht mehr in der Weltgeschichte zählen und damit in die Epoche des Verfalls und Verderbens“ eintreten, die der historischen Aufgabe einer bürgerlichen Gesellschaft als endlicher Gestalt von Freiheit, Moral und Sittlichkeit nicht genügen können.65 Seine geschichtsphilosophische Zukunftsdeutung, die dem Plan vom objektiven „Willen des Weltgeistes“ nachempfunden ist, wonach sich die „List der Vernunft“ als Versöhnung des Interessenkonflikts zwischen Besonderen und Allgemeinen, zwischen Staat und Gesellschaft, zwischen egoistischem Individuum und allgemeinen Zwecken sowie zwischen Natur und Mensch historischdialektisch durchsetzt, bezieht aber auch das aktive Handeln des aufgeklärten Bürgers mit ein.66
Wenn seine Kritiker, allen voran der Wissenschaftskritiker und Gründer des kritischen Rationalismus, Karl R. Popper, seine Fortschritts- und Geschichtsphilosophie als Teil eines weltumfassenden kosmischen Prozesses kritisieren, der sich mit „unerbittlicher“ Logik entfalte und insofern ein „totalitär rechtfertigendes Argument“ enthalte, als es die Aufopferung des Individuums an die nur vermeintlichen allgemeinen Zwecke unter dem Deckmantel der absoluten Geistes fordere67, dann muss zur Verteidigung Hegels eingewendet werden, dass sein geschichtsphilosophischer Fortschrittsbegriff immerhin an einem versöhnlichen Endzweck der Geschichte im Sinne der vollkommenen Freiheit der Menschen68 festhält, der hier und heute vorzubereiten ist. Hegel dazu: „Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit, ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben.“69
Während Kant also den Fortschritt quasi ins Unendliche verlegt und dabei an einem philosophisch hergeleiteten Sollzustand moralischsittlicher und rechtlicher Verhaltensweisen und Normen orientiert ist, geht Hegel davon aus, dass sich Fortschritt retrospektiv als die Herausbildung von Freiheit erfassen lässt und dass diese in einem wie immer gearteten bürgerlichen Staat als verwirklichbar angesehen werden kann. In diesem Sinne könnte auch seine Kritik an Kant verstanden werden: „Der Mensch soll moralisch sein, es bleibt beim Sollen stehen. Das Resultat ist, dass dieses Ziel nur in unendlichem Prozess zu erreichen sei. Es bleibt daher bei diesem Gerede von Moralität stehen. Was aber moralisch ist, oder an ein System des sich verwirklichenden Geistes, ward nicht gedacht.“70 Hegel erscheint also gegenüber Kant eher als „Fortschrittspragmatiker“, orientiert er sich doch, was vor allem in seinem Spätwerk der Grundlinien der Philosophie des Rechts angesprochen wird, an den politisch-gesellschaftlichen Gegebenheiten des Preußischen Staates unter Friedrich II., die für ihn die konkrete Form von Sittlichkeit im Sinne der Versöhnung und damit „die Wirklichkeit der konkreten Freiheit“ verkörpern.71
Dennoch greifen kritische Philosophen auch heute noch auf Hegels Rechtsphilosophie zurück, weil darin Denkansätze für eine wünschenswerte Form von Gesellschaft bei gleichzeitiger Wahrung der jeweils höchstentwickelten Rationalitätsstandards des Staates enthalten sind.72 Vor allem seine darin enthaltene sozialethische und kapitalismuskritische Haltung, die im Vernunft- und Sittlichkeitsbegriff zum Ausdruck kommt, wird gerne zur Diagnose aktueller gesellschaftspolitischer Zustände benutzt. So attestiert beispielsweise der Sozialphilosoph und kritische Theoretiker, Axel Honneth, „Tendenzen des Sinnverlustes“ in der heutigen Gesellschaft, die aus einer ungenügenden Aneignung der objektiv bereits möglichen Vernunft resultierten und stellt einen dialektischen Bezug zwischen geschichtlichem Fortschritt und Ethik her.73 Vernunft – fährt er dann im Sinne Hegels fort – entfalte sich im Geschichtsprozess in einer Weise, dass sie auf jeder neuen Stufe eine höhere allgemeine Sittlichkeit schaffe. Das erlaube den Individuen, ihr Leben auf gesellschaftlich anerkannte Ziele hin zu entwerfen. Wer dies aber versäume, der leide unweigerlich an den Folgen seiner Unbestimmtheit, an den Symptomen der Orientierungslosigkeit, an einer sozialen Pathologie.74
Ebenso beruft sich der Philosoph und Musikwissenschaftler, Albrecht Wellmer, auf Hegels Rechtsphilosophie, wenn er das mit der Komplexität moderner industrieller Systeme wachsende Maß an „Entfremdung, Atomisierung, Fragmentierung und Entwurzelung“ als „Verlust der Sittlichkeit“ in der bürgerlichen Gesellschaft beschreibt.75 Der technischökonomische Fortschritt und die technischbürokratische Rationalisierung hätten einen Grad der Zerstörung angenommen, meint er, lasse es immer unwahrscheinlicher werden, „dass Systemnotwendigkeiten, ein universalistisch gewordenes Bewusstsein und die Ansprüche und Bedürfnisse der Individuen sich noch zur Form eines zugleich richtigen und guten Lebens miteinander vermitteln könnten.“76
Hegel hätte beiden Analysen durchaus zugestimmt, galt ihm doch die Versöhnung des Menschen mit dem Leben bzw. der Natur als wesentlicher geschichtlicher Prozess.
Karl Marx (1818-1838) und Friedrich Engels (1820-1895), die führenden Repräsentanten des Fortschritts, betrachten ihn weder als ein Naturgesetz noch als eine reine Idee, sondern vielmehr als Ausdruck eines Antagonismus der Gesellschaft und zugleich als Aufgabe seiner Überwindung. So schreibt Marx im Kommunistischen Manifest: „Die theoretischen Sätze der Kommunisten beruhen keineswegs auf Ideen, auf Prinzipien, die von diesem oder jenem Weltverbesserer erfunden oder entdeckt sind. Sie sind nur allgemeine Ausdrücke tatsächlicher Verhältnisse eines existierenden Klassenkampfes, einer unter unseren Augen vor sich gehenden geschichtlichen Bewegung.“77
Ähnlich interpretieren sie die Natur des Menschen. Der Mensch, lautet ihre Grundannahme, habe immer eine geschichtliche Natur und eine natürliche Geschichte vor sich. Dementsprechend bestehe eine grundsätzliche Einheit von Mensch und Natur, die durch das sinnliche Schaffen des Menschen, seine praktische Auseinandersetzung mit den natürlichen Gegebenheiten, historischdialektisch immer wieder von Neuem hergestellt wird, was prinzipiell auch für die kapitalistisch-industriellen Arbeitsbedingungen zutrifft.
Fortschritt gebe es von daher für die Menschheit nur in der praktisch-politischen Lösung der mit den spezifischen Produktionsbedingungen einhergehenden Ungerechtigkeiten und Unmenschlichkeiten, denn die Lösungselemente seien in den materiellen Bedingungen der Arbeit schon enthalten. So sei der Kapitalismus, „die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses“, in dessen Schoß zugleich die materiellen und geistigen Bedingungen zur Lösung dieses Antagonismus heranwüchsen: „Der Fortschritt der Industrie, dessen willenloser und widerstandsloser Träger die Bourgeoisie ist, setzt an die Stelle der Isolierung der Arbeiter durch die Konkurrenz ihre revolutionäre Vereinigung durch die Assoziation. Mit der Entwicklung der großen Industrie wird also unter den Füßen der Bourgeoisie die Grundlage selbst hinweg gezogen, worauf sie produziert und die Produkte sich aneignet. Sie produziert vor allem ihren eigenen Totengräber.“ 78
Der gesellschaftliche Fortschritt wird somit bei Marx und Engels grundsätzlich aus der Praxis der Menschen definiert. Die Kriterien dafür lassen sich als Entwicklung der Arbeitsproduktivität, des Anwachsens der frei verfügbaren Zeit, der Erweiterung des menschlichen Wissens, der allseitigen Ausbildung der menschlichen Persönlichkeit und als Grad der Naturbeherrschung zusammenfassen. All das geschieht im dialektischen Widerspruch von Produktivkraft (Technik, Wissenschaft, Mensch) und Produktionsverhältnis („kapitalistische“ Produktion, Staat), von Basis und Überbau sowie von Theorie und Praxis.79