Die Drachenprinzessin - Ambros Chander - E-Book

Die Drachenprinzessin E-Book

Ambros Chander

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Beschreibung

Die Prophezeiung der Elfen: »Die rechtmäßige Erbin des Drachenthrons Sie kehrt schon bald zurück. Sie floh in die andre Welt davon. Doch getrübt, so ist ihr Blick. Sie weiß nichts von ihrem wahren Ich, Hat sich auf ihr neues Leben eingestellt. Doch fühlt sie so einsam sich In der für sie so fremden Welt. Der Wolff wird sich mit dem Drachen paaren, Und bricht damit den Bann. Das bringt Frieden nach all den Jahren. Wenn sie ihn denn lieben kann. Doch ist der Wolff in die andre Welt gereist, So lausche still und gib gut Acht, Denn alles verlangt doch seinen Preis. Mit unaufhaltsam großer Macht. Für den Tod ein Leben Damit bleibt das Gleichgewicht. Einer muss es geben, Das verhindern, lässt sich nicht!« Eine Geschichte, die in zwei parallelen Welten spielt - die moderne und die "Andere Welt", die dem Mittelalter ähnelt. Emma lebt in der modernen Welt, doch fühlt sich dort nicht zuhause. Im Gegenteil, sie fühlt sich unendlich fremd. Dennoch findet sie ihr Glück mit Jack. Doch Jack ist nicht der, für den Emma ihn hält. Sie findet heraus, dass sie eng verbunden ist mit der "Anderen Welt" und dass sie dort eine Prophezeiung erfüllen muss. Merkwürdige Dinge passieren, die ihr eine Entscheidung abverlangen: Glaubt sie ihrem Verstand oder folgt sie einfach ihrem Gefühl? Wagt sie den Schritt und stellt sich ihrem Schicksal? Doch was hält es wirklich in der "Anderen Welt" für sie bereit?

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Ambros Chander

Die Drachenprinzessin

Band 1

Die Heimkehr

© 2016 Ambros Chander

3. Auflage (Neuauflage)

Autor: Ambros Chander

Umschlaggestaltung, Illustration: Thorsten Perne

Lektorat, Korrektorat: Silke Voß

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN:

978-3-7345-2128-7 (Paperback)

978-3-7345-2129-4 (Hardcover)

978-3-7345-2130-0 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Alles hat seine Zeit!

Dieses Buch ist die Verwirklichung eines Traumes, die nur durch die Unterstützung mir lieber oder wichtiger Personen möglich war.

Mein Dank gilt Thorsten Perne für das Entwerfen des Coverdesigns.

Ebenso danke ich den Bands ASP und Ally the Fiddle, die mich mit ihrer Musik inspirieren und meine Phantasie immer wieder beflügeln.

Ich danke Euch allen aus tiefstem Herzen!

Prolog

Ein perfekter Tag im Dezember! Die Sonne strahlte am blauen Himmel, den nur hier und da kleine Wölkchen mit Weiß durchzogen. Der Schnee glitzerte zauberhaft im Licht der Sonne. Alles wirkte wie eine Szene aus einem Märchen und doch war es ein verhängnisvoller Tag, nach dem für Emma nichts mehr so sein sollte, wie es bis dahin gewesen war. Es war der 21. Dezember 2012 und sie hatten beschlossen, einen Familienausflug zu unternehmen. Ihre Kinder waren zwar schon in einem Alter, in dem man solche Unternehmungen ätzend fand, aber pünktlich zur Weihnachtszeit entdeckten sie ihren Familiensinn doch wieder und da musste ein Besuch auf dem Weihnachtsmarkt eben sein.

Emma war kein großer Fan von Weihnachtsmärkten und auch sonst mochte sie diese Zeit des Jahres nicht besonders. Alles war so hektisch, die Menschen stets in Eile. Immer die Liste der noch zu besorgenden Geschenke im Kopf hasteten sie durch die Einkaufsstraßen der Stadt. Nein, so kam wirklich keine Vorfreude auf. Das war auch der Grund dafür, dass Emma erst so spät im Dezember den Weihnachtsmarkt besuchen wollte. Sie hoffte, dass der Trubel dann vielleicht etwas erträglicher wäre.

Emma mochte die Menschen nicht besonders und schon gar nicht, wenn sie im Rudel auftraten. Solche Situationen verunsicherten sie jedes Mal. Auch aus ihrer Kindheit hatte sie nicht viele Erinnerungen an Weihnachten und die wenigen, die sich hin und wieder in ihre Gedanken schlichen, waren nicht besonders schön. Trotzdem hatte sie stets versucht, ihren eigenen Kindern die Dinge näherzubringen, auf die es in dieser Zeit ankam. Mit mäßigem Erfolg, wie ihr schien. Denn auch an diesem Tag, der eigentlich ganz gemütlich geplant war, artete am Ende wieder alles im üblichen Weihnachtsstress aus. »Oh, Mutti, kann ich mir dort hinten einen Luftballon aussuchen?«, fragte Paul.

Paul war bereits elf Jahre alt und machte sich eigentlich schon lange nichts mehr aus Luftballons. Aber da es sie nun einmal gab, musste er auch einen haben.

Vanessa wollte unbedingt noch in die Drogerie. »Ich brauche noch ein Geschenk für meine Freundin«, sagte sie.

Irgendein Lippenstift, Nagellack oder Ähnliches sollte es sein. Sie war dreizehn und da waren das wichtige Dinge. So war das eben und Mütter verstehen das sowieso nicht.

So ging es die ganze Zeit. Man huschte von Laden zu Laden, von Stand zu Stand. Von Besinnlichkeit keine Spur. Als es zu dämmern begann, konnte selbst der Lichterglanz der Weihnachtszeit nichts daran ändern.

Auch auf Emmas Mann schien all dies nicht wirklich eine Wirkung zu haben. Jack hasste Weihnachtsmärkte, die ganze Weihnachtszeit und überhaupt! Dementsprechend war seine Laune.

Emma liebte Jack, aber in solchen Momenten wünschte sie ihn manchmal einfach nur zum Teufel. Doch immer, wenn sie so fühlte, sah sie ihn an und sie wusste, dass er ihr Schwarzer Engel war. Sie liebte ihn aus so vielen Gründen, aber auch weil er ihre Kinder liebte, als wären es seine eigenen, auch wenn dem nicht so war. Natürlich gab es auch bei ihnen einmal dunkle Wolken am Himmel. Aber nach einem reinigenden Gewitter hatte bisher jedes Mal die Sonne wieder gestrahlt und ein bunter Regenbogen hatte über ihrer Welt am Himmel gestanden. Nach diesem Dezemberabend allerdings sollte es all das nicht mehr geben.

Weil es so schneller ging, hatten sie sich auf dem Heimweg vom Weihnachtsmarkt für den Weg über die Autobahn entschieden. Da war es wieder. Schnell! So typisch für diese Welt, in der sich Emma so fremd fühlte. Gerade so, als gehöre sie gar nicht hierher.

Sie waren in Jacks Auto unterwegs, einem kleinen Polo, da Emma nicht gern im Dunkeln fuhr. Da sah sie einfach so schlecht. Wenn sie vielleicht gefahren wäre, vielleicht wäre dann alles anders gekommen.

Wenn sie vielleicht hätte…, dann wäre vielleicht …! Das war so typisch für Emma.

Aus heiterem Himmel fing es plötzlich heftig an zu schneien. Dicke große Flocken fielen vom Himmel, so dass die Straße binnen weniger Minuten zentimeterdick mit Schnee bedeckt war.

Und dann geschah es. Nur wenige Meter vor ihnen kam plötzlich ein LKW ins Schlingern und stellte sich quer. Mehrere Autos krachten hinein. Da es nicht besonders kalt war an diesem Abend, taute die unterste Schneeschicht bereits und alles hatte sich in ein Schnee-Matsch-Gemisch verwandelt. Jack versuchte noch abzubremsen und auszuweichen, doch der Wagen ließ sich auf der rutschigen Fahrbahn nicht mehr steuern. Die Kinder schrien und auch Emma geriet in Panik. Doch nicht der drohende Unfall war der Auslöser für die Angst, die in Emma aufstieg. Zu oft hatte sie diese Szene im Traum schon gesehen und das, was am Ende übrig blieb. Und dann passierte es auch schon. Wie nicht anders zu erwarten gewesen war und wie sie es im Traum so oft gesehen hatte, krachten sie nahezu frontal in die anderen Fahrzeuge hinein.

»Alles okay? Ist jemand verletzt?«, fragte Emma. Die Kinder weinten und die Angst stand ihnen ins Gesicht geschrieben, doch ansonsten schien ihnen nichts weiter passiert zu sein. Auch Jack war nahezu unverletzt. Emma sah sich um. Überall standen demolierte Autos und Menschen versuchten, sich hinter der Leitplanke in Sicherheit zu bringen. Genau das sollten WIR auch tun, dachte Emma. Doch ihr Blick verharrte für einen Moment auf drei Raben, die regungslos auf dem Standstreifen standen und in ihre Richtung blickten. Nein! schrie Emma in Gedanken. Verschwindet!

Sie wusste, dass Raben die Vorboten des Todes waren und in ihrem Traum hatte sie diese drei auch gesehen, bevor alles schwarz wurde. Sie hatte Angst. So oft hatte sie erlebt, wie ihre Träume Wirklichkeit wurden. Manchmal geschah es nicht sofort, aber irgendwann. Manchmal passierte es auch nicht exakt so, wie sie es geträumt hatte, sondern in einer etwas abgewandelten Form. An diese Hoffnung klammerte sie sich, als sie die drei Raben sah.

Emma wollte sich gerade nach hinten umdrehen, um ihren Kindern zu sagen, dass sie sich abschnallen und hinter die Leitplanke gehen sollten. Doch ihr Blick wanderte zum Rückspiegel und sie erstarrte vor Entsetzen. In diesem Moment ahnte sie, dass sich das Schicksal nicht betrügen lässt, denn sie sah, wie sich ein weiterer LKW schlingernd und rutschend auf sie zu bewegte. Sie hörte noch das Hupen und dachte bei sich, dass der Fahrer noch versuchte, die Menschen zu warnen. Sie nahm wahr, wie Menschen schreiend und von wilder Panik gehetzt versuchten, sich aus ihren Autos zu befreien, um dem nahenden Tod doch noch zu entkommen. Emma dachte nur noch, wir müssen hier raus! Doch es war zu spät. Sie fühlte, wie ein Ruck durch das Auto und ihren Körper ging, hörte ein lautes Krachen und das Schreien ihrer Kinder.

Der Lkw schob die Fahrzeuge wie Spielzeugautos ineinander. Als er schließlich zum Stehen kam, war von mehreren Autos nicht mehr viel übrig. Sie waren auf die Hälfte ihrer eigentlichen Größe geschrumpft und auch der Fond des kleinen Polo war wie eine Blechdose zusammengedrückt. Emma sah blutende Menschen orientierungslos über die Fahrbahn irren. Sie hörte ihre Schreie, doch in ihrem eigenen Auto herrschte eine erdrückende Stille. Sie hatte Angst, nach hinten und nach Vanessa und Paul zu sehen, doch sie wusste, dass sie es tun musste. Es war unausweichlich. Also atmete sie tief durch, drehte sich um und sah in die starren Augen ihrer Kinder, die mit verdrehten Gliedmaßen im zerquetschten hinteren Teil des Autos saßen. Alles Leben war aus ihren Augen gewichen und sie starrten kalt in die Nacht. Emma stand völlig neben sich. Ihre Gedanken und Bewegungen liefen nur noch mechanisch ab.

Sie wagte kaum, nach Jack zu sehen, den sie neben sich schwer atmen hörte. Doch sie wandte den Kopf und er sah sie mit all seiner Liebe im Blick an. »Wir sehen uns im nächsten Leben, mein Engel«, sagte er zu Emma. Dann erlosch auch in seinen Augen das Licht.

Die drei Raben flogen davon und um Emma herum wurde ALLES SCHWARZ …

Rabenkunde

Ein Rabe flog lautlos durch die Nacht. Auf seinen schwarzen Schwingen brachte er eine Seele zurück nach Haus. Seine schneeweißen Augen leuchteten in der Dunkelheit und sein Flug wurde begleitet von Wolffsgeheul, das von sleibos di iago, dem Eisgebirge, widerhallte. Wolffsgeheul, so unnatürlich und schrill, dass es wie Splitter von berstendem Glas tief in die Seele drang. Eisige Winde, die Schnee und klirrende Kälte brachten, umwehten die Burg Wolffshall am Fuß jener Berge. Still lag die Burg in der dunklen Nacht, nur wenige Fenster waren von Feuerschein erhellt. Wolffshall war der Sitz von König Kylion und seiner Frau Nálani und lag im Herzen der Wolffsebene Lucglénnos.

Alles schlief friedlich, als plötzlich ein markerschütternder Schrei die nächtliche Stille des Schlosses durchschnitt. Nálani wachte mit pochendem Herzen auf. Ihre fast tiefschwarzen Augen füllten sich mit Tränen. Sie schlug die Hände vors Gesicht und weinte leise. »Mutter, was ist geschehen?«, fragte ihr Sohn Iain, der, alarmiert durch ihren Schrei, ins Zimmer gekommen war. Wenige Augenblicke zuvor hatte ihn das Geheul seines Eiswolffes Edan aus dem Schlaf gerissen und noch immer heulte dieser, dass es einem durch Mark und Bein ging. »Jock, dein Bruder. Er ist tot«, hörte Iain seine Mutter sagen. Ihre Stimme war nur ein Flüstern, das man kaum vernehmen konnte. »Mutter, ihr habt nur geträumt«, versuchte er sie zu beruhigen.

Da landete ein Rabe mit leisen Flügelschlägen auf dem Sims des offenen Fensters. Dort blieb er regungslos sitzen und schaute Iain und Nálani mit seinen schneeweißen Augen an. Es herrschte Totenstille, als ein warmer Wind durch den Raum wehte. Iain schloss die Augen, denn der Rabe zeigte ihm zu deutlich, dass seine Mutter recht hatte.

In diesem Augenblick klopfte es an der Tür. Marcellus, der Hofmagier, kam aufgeregt zur Königin gelaufen, nachdem sie ihn hereingebeten hatte. »Euer Majestät, ich habe traurige Kunde … das Portal … es schloss sich und … Euer Sohn, er kehrte nicht zurück …«, stammelte der Magier hilflos. Er war der Wächter des Tores in die andere Welt, in die Jock, der Erstgeborene der Königin und somit rechtmäßiger Thronerbe von Wolffshall, gereist war, um eine alte Prophezeiung der Elfen zu erfüllen. Marcellus war anzusehen, dass er sich äußerst unwohl fühlte. »Jock …«, begann er erneut. »Ich weiß«, unterbrach ihn die Königin und senkte den Blick, als sich ihre Augen erneut mit Tränen füllten. »Das hier ist alles, was durch das Portal zurückgekehrt ist.« Marcellus überreichte ihr ein Amulett. Den Drachenstern.

Nálani erinnerte sich noch genau an den Tag, als Salérimä Aanon, die Königin der Elfen, zu ihr und König Kylion gekommen war und ihnen von der Prophezeiung der Weisen erzählt hatte.

Die rechtmäßige Erbin des Drachenthrons

Sie kehrt schon bald zurück.

Sie floh in die andre Welt davon.

Doch getrübt, so ist ihr Blick.

Sie weiß nichts von ihrem wahren Ich,

Hat sich auf ihr neues Leben eingestellt.

Doch fühlt sie so einsam sich

In der für sie so fremden Welt.

Der Wolff wird sich mit dem Drachen paaren,

Und bricht damit den Bann.

Das bringt Frieden nach all den Jahren.

Wenn sie ihn denn lieben kann.

Doch ist der Wolff in die andre Welt gereist,

So lausche still und gib gut Acht,

Denn alles verlangt doch seinen Preis.

Mit unaufhaltsam großer Macht.

Für den Tod ein Leben

Damit bleibt das Gleichgewicht.

Einer muss es geben,

Das verhindern, lässt sich nicht!

Salérimä hatte ihnen erzählt, wie die Elfen vor über dreißig Jahren ein Portal in eine andere Welt geöffnet hatten, um die Drachenprinzessin Aemiliana vor ihrem eigenen Vater, König Natháir, in Sicherheit zu bringen. »Dies ist der Drachenstern. Mit seiner Hilfe werdet ihr die Drachenprinzessin in der anderen Welt finden, denn der Stern beginnt in ihrer Nähe zu leuchten. Je stärker er leuchtet, desto näher seid ihr der Drachenprinzessin.« Mit diesen Worten überreichte sie dem König und der Königin von Wolffshall ein Amulett – einen Stern, umschlungen von einem weißen und einem schwarzen Drachen.

Dass Nálani es erneut in der Hand hielt, verhieß nichts Gutes, denn es bedeutete, dass ihr Sohn gescheitert war und dass er den Preis zahlte. Nálani stand auf und ging zum Fenster hinüber, wo noch immer der Rabe saß. Sie sah ihm tief in die Augen und lächelte ihn an. Denn auch wenn der Verlust sie schmerzte, zeigte ihr die Anwesenheit des Raben, dass ihr Sohn in innerer Zufriedenheit gestorben war. Dies ließ sie den Schmerz etwas leichter ertragen. Der Rabe krächzte und flog davon. Im selben Augenblick entschwand ein kleiner Grünfink, der ebenfalls auf dem Fenstersims gesessen hatte, in entgegengesetzter Richtung.

Iain war von hinten an seine Mutter herangetreten und legte ihr liebevoll die Hand auf die Schulter. Sie wandte ihm ihren Blick zu und ihre Augen schimmerten silbern unter dem Schleier ihrer Tränen. Er nahm sie in den Arm und versuchte ihr, so gut er konnte, Trost zu spenden, wenngleich auch er tiefen Schmerz über den Tod seines Bruders empfand.

In dieser Nacht hörte man unaufhörlich das eisige Heulen von Edan.

Erst drei Tage waren vergangen, seit Nálani Kunde vom Tod ihres Sohnes erhalten hatte, doch nun saß sie schon wieder mit ihrem Ratgeber und Iain zusammen. Sie war eine starke Königin. Sie musste es sein, da ihr Mann seit einer Ewigkeit die Grenzen des Landes gegen Morla, die Königin des Nachbarlandes Dracobéria verteidigen musste. Also leitete Nálani indessen die Amtsgeschäfte.

Die wichtigste Aufgabe, die es zu lösen galt, war, die Drachenprinzessin zurück nach Hause zu holen. Das wusste Nálani. Also musste sie jemanden finden, der erneut in die andere Welt reisen würde. Irgendjemand! Nur nicht mein anderer Sohn, dachte sie.

»Euer Majestät, ihr wisst, es ist unumgänglich«, redete ihr Ratgeber Kiron auf sie ein. »Der Prinz muss gehen. Die Prophezeiung ist eindeutig!« Oh ja, sie wusste es, aber sie wollte ihn nicht gehen lassen. Sie hatte schon einen Sohn in der anderen Welt verloren und wollte nicht auch noch Iain betrauern müssen. »Mutter, ich werde gehen, notfalls auch ohne Eure Zustimmung«, warf nun ihr Sohn ein. »Sonst war alles umsonst! Sonst war Jocks Tod umsonst!«

Unter dem Klang von Jocks Namen zuckte Nálani zusammen. Sie stand auf und lief unentschlossen umher. Dann sah sie Iain an und bemerkte die eiserne Entschlossenheit in seinem Blick. Sie wusste, er würde gehen, und was sie auch sagte, es würde ihn nicht davon abhalten. Traurig schloss sie die Augen und seufzte tief. Dann nickte sie nur wortlos und sah aus dem Fenster. Ihr Blick fiel auf die Untertanen, die im Schlosshof Zuflucht gesucht hatten. Zuflucht vor Hunger, Krieg, Zerstörung und Tod. Nálani wusste, dass es sein musste.

Sie ging zu ihrem Sohn, überreichte ihm den Drachenstern und wies Marcellus an, das Portal zu öffnen. »Pass auf dich auf, mein Sohn, und kehre heil zurück«, sagte sie und verließ den Raum. Sie wollte nicht, dass man sie weinen sah.

Marcellus begab sich in seinen Zaubererturm und bedeutete Iain, ihm zu folgen. Dieser hatte sich unterdessen den Drachenstern um den Hals gehängt und verwahrte ihn nun unter seinem Hemd. Im Turm angekommen, begab sich Marcellus zu einem mit Ornamenten verzierten Spiegel, auf dem ein weißgoldener Drache saß. Dann begann er vor sich hin zu murmeln und fiel in eine Art Trance. Iain kannte das bereits. Er war dabei gewesen, als sein Bruder damals durch das Portal gegangen war.

Iain wartete geduldig, bis der Spiegel endlich zum Leben erwachte. Ein gleißend helles Licht hüllte ihn ein. Er wusste, dass nun der Zeitpunkt gekommen war, hindurchzugehen. Er streichelte noch einmal seinen Eiswolff Edan, den er von der Elfenkönigin an seinem sechzehnten Geburtstag zur Seite gestellt bekommen hatte. Jedes der Königskinder von Wolffshall erhielt dieses Geschenk und wurde in einer magischen Zeremonie mit dem Wolff verbunden. Dadurch erhielten die Königskinder einen magischen Schutz. Dieses unsichtbare Band konnte nur der Tod durchtrennen. Edan war kein Haustier, er war und blieb ein wildes Tier mit einem eigenen Willen, doch er folgte Iain aus Freundschaft überall hin. Dieses Mal allerdings musste er zurückbleiben, denn nun war es an Iain, die Prophezeiung zu erfüllen. Er schritt durch das Portal und blickte nicht zurück.

Im Nachbarland Dracobéria schritt Morla unruhig auf und ab. Sie herrschte über dieses Land, auch wenn sie diese Herrschaft mit Blut erkauft hatte. Gnade und Nachsicht kannte sie nicht, sie regierte mit Willkür und Grausamkeit und ihre Armee von Orluks verbreitete Angst und Schrecken im Land. Die Orluks hatte Morla durch Schwarze Magie erschaffen. Sie waren Untote, gepaart mit Echsen. Da sie weder tot noch lebendig waren, war es schwer, sie zu töten. Sie heilten sich selbst und abgetrennte Körperteile wuchsen ihnen einfach wieder nach. Nur das Abschlagen des Kopfes und anschließendes Verbrennen aller Körperteile konnte ihnen Einhalt gebieten. Zu Tausenden durchstreiften sie das Land, seit Morla dort herrschte. Sie zogen von Dorf zu Dorf, von Hof zu Hof und raubten, brandschatzen und mordeten ohne jeglichen Plan. Sie taten es einfach, weil sie Spaß daran hatten. Das war ihre grausige Natur.

Morla war außer sich vor Wut, während sie vor einem Mann mit Hakennase auf und ab schritt. Seine langen schwarzen Haare hingen ihm in fettigen Strähnen ins Gesicht und seine Augen zuckten mit linkischem Blick nervös in den Augenhöhlen hin und her. Der Kristall an der Kette um Morlas Hals pulsierte mit einem blutroten Licht. »Das Portal ist erneut geöffnet worden«, schrie sie und ihre Stimme bebte vor Zorn. »Trálir, du sagtest, das könne nie wieder passieren. Mit dem Tod des großen Wolffes, würde sich auch das Portal für immer schließen und der Zauber der Prophezeiung wäre damit gebrochen.«

Trálir trat unsicher von einem Bein auf das andere. »Ja doch, Euer Majestät, das dachte ich auch«, versuchte er seine Haut zu retten. »Wahrscheinlich haben sie einen Weg gefunden, es wieder zu öffnen. Vielleicht mit Hilfe der Elfen …«

Trálir war Morlas Ratgeber, doch als solcher lebte man äußerst gefährlich. Vor allem, wenn man sie nicht nach ihren Vorstellungen zu beraten pflegte. »Diese Elfen werden allmählich richtig lästig.« Langsam schritt Morla auf Trálir zu und fixierte ihn mit zornigem Blick.

Ein stechender Schmerz drang in seinen Kopf. Er sank auf die Knie und wand sich unter ihrem Blick. Er hörte sie in seinem Geist.

Wenn ich dich nicht noch brauchen würde, würde ich dich für deine Unfähigkeit auf der Stelle töten. Morla wandte sich ab und damit verschwand auch der Schmerz in Trálirs Kopf. »Noch ist nicht alles verloren. Ich werde verhindern, dass Aemiliana zurückkehrt und du wirst mir dabei helfen!« Mit Wahnsinn in den Augen sah sie Trálir an, der ahnte, was ihm bevorstand. »Aber, Majestät…«, wollte er widersprechen, doch sie sah ihn mit einem Blick an, der jegliche Gegenwehr in ihm erlöschen ließ.

Morla hatte lange daran gearbeitet, ihren Plan in die Tat umzusetzen und ihre Macht auszuweiten. Zu lange, um sich das von Aemiliana zerstören zu lassen. Lange hatte sie versucht, mit dem Drachenkönig ein Kind zu bekommen, um auch die Macht der Drachen nutzen zu können. Denn jedes Königskind von Dracobéria erhielt dieses Geschenk von den Elfen. Sie banden das Kind und einen Drachen mit Magie aneinander, ähnlich wie die Königskinder aus Wolffshall an einen Wolff gebunden wurden. So wollten die Elfen den Frieden im Land wahren. Die Drachen und die Eiswölffe mit ihrem sanftmütigen Wesen übernahmen in diesem Bündnis die Rolle der Vernunft.

Morla jedoch sah in den Drachen etwas anderes. Macht, grenzenlose Macht. Doch immer wieder waren ihre Kinder tot und missgebildet zur Welt gekommen. Erst als sie ihre dunkle Magie eingesetzt hatte, konnte sie ein Kind austragen und gebar ein gesundes Mädchen. Beinahe dreizehn Jahre war dies nun her. Morla verzog wütend das Gesicht bei diesem Gedanken, denn ihr Plan war dennoch nicht aufgegangen. Die Elfen hatten ihrer Tochter Gale das ihr rechtmäßig zustehende Geschenk verweigert. Ihren Drachen. Sie sagten, sie sei nicht rein, keine echte Drachenprinzessin. Andreana, die erste Frau von König Natháir und Aemilianas Mutter, entstamme der Drachenlinie und Kinder, die der König mit einer neuen Frau zeuge, hätten kein Anrecht auf den Drachen. Das war Haarspalterei und Morla wusste, dass die Elfen ihrer Tochter den Drachen nur verweigerten, weil sie sie durchschauten. Morla fluchte laut. Aber im Grunde machte es keinen Unterschied mehr, denn sie hatte einen neuen Plan gefasst. Doch damit dieser aufging, durfte Aemiliana keinesfalls zurückkehren. Das musste Morla um jeden Preis verhindern. Dann würde die Zeit für sie arbeiten. Manchmal muss man eben einfach etwas Geduld haben, dachte sie.

Morla ging zum Fenster und jagte einen kleinen Grünfink davon, der auf dem Fenstersims saß. Sie schaute in den Innenhof hinab und beobachtete, wie sich zwei Orluks um einen toten Ochsen stritten. Der eine stieß den anderen, der daraufhin ins Stolpern geriet und einen weiteren Orluk zu Boden riss. Und schon war eine ordentliche Rauferei im Gange, an deren Ende der Ochse einfach in mehrere Stücke gerissen wurde. Oh ja, diese Orluks sind das Beste, das ich je erschaffen habe. Sie werden mir noch sehr nützlich sein, dachte Morla, als sie sich vom Fenster ab- und Trálir zuwandte, der sie ängstlich anstarrte.

Auch Morla besaß einen Spiegel mit einem Drachen darauf. Er war das exakte Ebenbild des Spiegels, der sich in Wolffshall befand. Früher hatte er ihrem Ehemann König Natháir gehört, der einmal ein freundlicher Mann gewesen war, als seine erste Frau Andreana noch lebte. Doch nachdem er Morla zur Frau genommen hatte, hatte sich sein Wesen immer mehr verändert.

Morla ging zu dem Spiegel und wob mit entschlossenem Blick ihren Zauber, bis sich schließlich, eingehüllt in einen blutroten Lichtschein, das Portal öffnete.

In Laeg Eryn, dem Reich der Elfen, das auf einer Insel inmitten des Sees Lim Hen lag, flog ein kleiner Grünfink durch die Nacht. Er hatte eine lange und weite Reise hinter sich. Der kleine Vogel flog durch den Wald und landete in der großen Halle der Elfen direkt vor dem Thron von Königin Salérimä Aanon. Im selben Augenblick verwandelte er sich in die Elfe Meridiana. Mit ihren langen braunen Locken und den kastanienfarbenen Augen strahlte Meridiana eine Anmut aus, die wirklich jeden in ihren Bann zog. Meridiana begrüßte die Königin mit einer Verbeugung. »Sprich, welche Kunde bringst du mir aus Dracobéria und Lucglénnos?«, fragte diese schließlich. »Der große Wolff ist gescheitert und zahlte den Preis. Der kleine Wolff wird sich auf die ihm vorherbestimmte Reise begeben. Doch die dunkle Königin sieht ihre Macht in Gefahr und wird nicht ruhen«, berichtete Meridiana kurz und knapp. »Das sind nicht die besten Nachrichten. Ich werde den Elfenrat einberufen, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Folge mir, damit du dort auch alles berichten kannst.« Salérimä verließ den Raum und trat hinaus. Die große Halle bestand ganz und gar aus Bäumen, deren Äste so ineinander verwachsen waren, dass sie Wände bildeten, wobei sie zwischen ihren Zweigen Fenster- und Türöffnungen offenließen, so dass die Halle von Sonnenlicht durchflutet wurde. Die Kronen der Bäume waren so dicht, dass sie sich zu einer Kuppel schlossen. Vor der großen Halle ging Salérimä zu einer kleinen Schwarzweide. Einst waren deren Blätter von dunkelgrüner Farbe gewesen, doch seit Morla begonnen hatte, Angst und Schrecken, Zerstörung und Tod über das ganze Land zu bringen, verdorrte auch der kleine Baum zunehmend und die Blätter färbten sich tiefschwarz. Ein stummes Zeichen für das langsame Sterben von Laingladhdôr.

In der Krone des kleinen Baumes schien ein Kristall zu schweben. Bei genauerem Hinsehen war zu erkennen, dass er von einem Geflecht hauchdünner, winziger Ästchen gehalten wurde. Die Königin hielt die Hände über den Kristall und schloss die Augen. Einen kurzen Augenblick später erschienen drei Elfen, Calolorn Vanyar, Fornósûl Beor und Vásíphel Deldúwath. Sie bildeten einen Kreis um die Königin und den Kristall. Dieses war der Elfenrat, der über schwerwiegende Entscheidungen beriet. Und dies war eine schwerwiegende Entscheidung, denn der kleine Wolff würde Unterstützung brauchen, wenn er seine Aufgabe erfüllen wollte. »Meridiana, bitte berichte dem Rat, was du mir eben erzählt hast«, forderte die Königin Meridiana auf. Diese erzählte alles noch einmal, ohne irgendetwas auszulassen. »Das Schicksal wird entscheiden«, sagte nach einer kurzen Pause des Schweigens Fornósûl Beor bestimmt. »Wir sollten aber bedenken, dass wir uns damals der Drachenprinzessin verschrieben haben, als ihre Mutter Andreana ihr Leben für einen der Unseren gab«, warf Calolorn Vanyar ein. Sie war eine sehr angesehene Elfe, deren Wort viel galt in Laeg Eryn. »Diese Schuld ist längst beglichen!«, gab Fornósûl erbost zurück. »Die Menschen sind ein grausames und blutrünstiges Volk. Sie verdienen unsere Hilfe nicht!« Er lieferte sich mit Calolorn ein wildes Wortgefecht, wobei er immer mehr in Rage geriet. Er mochte die Menschen nicht und machte auch keinen Hehl daraus. Er fand, es wäre besser, man ließe sie sich gegenseitig umbringen. Dann wäre Laingladhdôr endlich wieder der friedliche Ort, der er einmal war. »Schluss jetzt!«, erhob Vásíphel Deldúwath seine Stimme und augenblicklich herrschte absolute Stille. Er war ein Elf mit schlohweißem langem Haar. Doch sein Äußeres täuschte, denn für einen Elfen war er noch jung an Jahren. Dennoch strahlte er eine Autorität und gleichzeitig eine sanftmütige Ruhe aus, der man sich nicht entziehen konnte. »Wir haben damals geschworen, das Leben von Aemiliana zu schützen. Diese Schuld ist erst dann beglichen, wenn sie auf natürliche Weise ihre letzte Reise angetreten hat. Der kleine Wolff ist viel zu unerfahren, um diese Aufgabe allein zu meistern. Deshalb werden wir einen von uns in die andere Welt schicken, um sie zu beschützen. Wen schlägst du also für diese Aufgabe vor, Salérimä?« »Ich ahnte damals schon, dass der große Wolff vielleicht scheitern könnte und auch, dass der kleine Wolff es nicht allein schaffen würde, wenn seine Zeit gekommen wäre, seinem Bruder zu folgen. Deshalb habe ich meine Tochter Meridiana ihr ganzes Leben lang nur auf diesen einen Moment vorbereitet. Sie ist die Einzige, die dieser Aufgabe gewachsen ist.« »Gut, dann soll sie gehen«, sagte Vásíphel und sah dabei die anderen beiden Elfen des Elfenrates fragend an.

Calolorn nickte mit einem Lächeln und auch Fornósûl stimmte nach kurzem Zögern mit grimmigem Blick zu. »So sei es!«

Vásíphel wandte sich an Meridiana. »Du solltest sofort aufbrechen. Dein ganzes Volk und ganz Laingladhdôr zählen auf dich.«

Bei dem Gedanken, dass das Schicksal von ganz Laingladhdôr von ihrem Gelingen oder Scheitern abhing, wurde Meridiana ein wenig unwohl und so nickte sie nur. Salérimä trat zur Seite und der Elfenrat schritt näher an den Kristall heran.

Vásíphel bat Meridiana in die Mitte. »Halte nun die Hände über den Kristall!«, wies er sie an.

Als die drei Elfen sich anschließend an den Händen fassten, begann der Kristall grün zu leuchten und vor Meridiana tat sich das Portal zur anderen Welt auf. Sie blickte noch einmal zu ihrer Mutter, die ihr aufmunternd zunickte. Dann schritt sie hindurch und das Portal schloss sich hinter ihr.

Ein neues Leben oder Tod

Emma öffnete die Augen. Ihre Gedanken kreisten und sie versuchte sich zu orientieren. Sie ließ ihren Blick umherschweifen und stellte fest, dass sie in einem Bett lag, das in einem sterilen, weißen Raum stand. Überall an ihr hingen Schläuche und Drähte und ein Gerät neben ihr piepste rhythmisch vor sich hin. Ich bin im Krankenhaus, dachte sie. Als eine Schwester das Zimmer betrat, fragte Emma, was passiert sei, obwohl sie eigentlich die Antwort auf diese Frage schon kannte. »Sie hatten einen Autounfall und mussten operiert werden«, sagte die Schwester. »Ich werde gleich einen Arzt holen, damit er nach ihnen schaut.« Und schon war sie aus dem Zimmer verschwunden.

Emma dachte nur, dass sie ihr wohl nicht die traurige Nachricht überbringen wollte, dass …

Sie schloss die Augen und eine Träne lief ihr über die Wange. Sie wollte den Gedanken nicht zu Ende führen. Als ob sie es damit ungeschehen machen könnte?!

Die Tür öffnete sich und ein hochgewachsener Mann um die Fünfzig betrat das Zimmer. »Hallo, ich bin Dr. Gregorius«, stellte er sich vor. »Ich habe Sie operiert, nachdem Sie hier eingeliefert wurden. Sie hatten riesiges Glück.« Glück? Dass ich nicht lache, dachte Emma verbittert. »Ein Teil des Armaturenbretts hatte sich in ihren Unterleib gebohrt«, erzählte er weiter. »Sie hatten bereits sehr viel Blut verloren. Ein paar Minuten später, und wir hätten nichts mehr für sie tun können.«

Emma wünschte sich, es wäre so gekommen. Ein Leben ohne Jack, Vanessa und Paul konnte sie sich einfach nicht vorstellen. Sie schloss die Augen, denn sie war von Herzen müde. Der Arzt erklärte noch ein paar Dinge, die Emma nicht mehr hörte. Irgendwann verließ er mit einem mitfühlenden Blick das Zimmer und Emma fiel in einen tiefen Schlaf.

Emma lief über eine Wiese und spürte das saftig grüne Gras unter ihren nackten Füßen. Ihr weißes Kleid, das nur hauchzart verdeckte, was nicht gesehen werden sollte, flatterte leicht im warmen Wind. Die Vögel sangen und die Sonne tauchte alles in ein goldenes Licht. Sie kam an einen kleinen Buchenhain, und hörte das Plätschern eines Baches. Zu Füßen einer großen stattlichen Esche, die wie ein Irrläufer zwischen all den Buchen wirkte, setzte sich Emma nieder und genoss die Sonnenstrahlen, die durch die Baumwipfel drangen. Die Blätter der Bäume hinterließen ein tanzendes Schattenspiel auf dem Boden. Während sie dort so saß, durchströmte sie ein Gefühl unendlichen Glücks und innerer Zufriedenheit. Sie atmete die klare Luft tief ein, schloss die Augen und ließ sich von dem Gefühl treiben. Als sie die Augen wieder öffnete, stand ein grazil gebauter Mann vor ihr. Mit seinem langen, schlohweißen Haar und seiner anmutigen Ausstrahlung wirkte er auf Emma wie ein Engel. Ein Engel ohne Flügel. »Bin ich tot?«, fragte sie ihn deshalb. »Noch nicht«, antwortete der Mann und lächelte. »Aber du musst wählen. Ein neues Leben oder Tod!«1 Während er das sagte, zeigte sein Gesicht keine Veränderung. »Komm, ich möchte dir etwas zeigen«, sagte er und streckte ihr die Hand entgegen.

Emma nahm die ihr dargereichte Hand und stand auf. Seine Finger fühlten sich so kühl an und doch beruhigte sie diese Kühle. Er führte sie tief in den Wald hinein, bis zur Quelle des Baches, die in einem Felsen entsprang und fröhlich vor sich hin gurgelte. Die Wassertropfen schienen zu einer lautlosen Melodie förmlich zu tanzen und das Sonnenlicht tauchte alles in ein buntes Licht, als es sich in ihnen brach. Die Quelle ergoss sich in eine Vertiefung im Stein, die im Laufe der Zeit durch die Kraft des Wassers entstanden war. Dann wuchs sie von einem kleinen Rinnsal zu einem Bach an. Der Mann trat an das Becken heran und vollführte eine kreisende Handbewegung über der Wasseroberfläche, woraufhin sich das Wasser im Kreis zu bewegen begann und weißer Nebel daraus aufstieg. Von Neugier gepackt, trat Emma ebenfalls an das Becken heran. Als sich der Nebel senkte, sah Emma auf der nun glatten Wasseroberfläche das Bild eines mit Ornamenten verzierten Spiegels, auf dem ein weißgoldener Drache saß. Dann sah sie sich selbst, wie sie in einem weißgoldenen Kleid durch den Spiegel hindurchging und sich in einer anderen Welt wiederfand. Emma gefiel dieses Bild und die Vorstellung, sie könne dies wirklich tun. Sie dachte sich oft solch verrückte Sachen aus. Von anderen Welten, in die sie flüchten konnte, da ihr diese, in der sie lebte, so fremd erschien. »Du wirst trauern, eine Zeit lang, doch der Schmerz wird für dich heilend sein und dich öffnen für das, was kommen wird«, sagte der Mann. »Wenn der Zeitpunkt gekommen ist, wirst du dich an das, was du gerade gesehen hast, erinnern und du wirst wissen, was dann zu tun ist.«

Während Emma sich noch über seine Art, in Rätseln zu sprechen, wunderte, war er auch schon verschwunden. Sie sah sich um, doch sie konnte den geheimnisvollen Mann nirgends entdecken. Daher ging sie den Weg zurück zu der alten Esche, an deren Fuß sie vorhin gesessen hatte, während ihre Gedanken um das eben Erlebte kreisten. Sie setzte sich nieder und schloss die Augen.

Sophie saß mit gefalteten Händen und geschlossenen Augen an Emmas Bett. Als Emma endlich die Augen aufschlug und sie verwundert ansah, schien es ihr, als würde Sophie beten. »Oh, Gott sei Dank«, sagte Sophie freudig. »Endlich bist du wieder aufgewacht. Es sah aus, als würdest du ewig schlafen wollen.«

Emma fragte sich, wer diese Frau bloß sein mochte, denn sie hatte absolut keine Ahnung. Und doch kam sie ihr irgendwie sehr vertraut vor. Ihr Gesicht schien offenbar Bände zu sprechen. »Erinnerst du dich nicht? Ich bin Sophie. Wir haben uns in einem Forum kennengelernt, Mails geschrieben, telefoniert und du hast mich damals auch schon …«, Sophie stockte, »… mit deinem Mann besucht und dann sind wir gemeinsam zu einem Konzert von unserer Lieblingsband gefahren«, fuhr sie etwas leiser und mit belegter Stimme fort. »Erinnerst du dich denn nicht?«

Emma schloss die Augen und versuchte, das, was Sophie erzählte, in ihren Erinnerungen zu finden. Ganz tief in ihrem Innern regte sich etwas. Es erschienen schemenhafte Bilder. Bilder von Sophie, von ihrem Mann, von sich selbst. Sie sah einen merkwürdig anmutenden Mann auf der Bühne, der ganz offensichtlich sang, doch hören konnte sie die Musik nicht. Sie sah Sophie fragend an. »Hier, hab ich dir die ganze Zeit vorgespielt, als du im Koma lagst.« Sophie schaltete einen MP3-Player ein und reichte Emma einen der Kopfhörer. Emma nahm ihn und lauschte der Musik. Ein Mann mit außergewöhnlicher und ausdrucksstarker Stimme sang gerade Weißt du nun endlich, wer ich bin? Ich bin der Schwarze Schmetterling!2

Emma schloss die Augen und genoss die Musik. Ja, das kam ihr bekannt vor, auch wenn sie sich nach wie vor nicht wirklich an das erinnern konnte, was Sophie gerade erzählt hatte. Aber die Musik tat ihr gut und sie versuchte, nicht weiter darüber nachzudenken. Irgendwann wird die Erinnerung schon wiederkommen, sagte sie sich. Komisch ist es allerdings schon, dass ich mich an den Unfall erinnern kann, aber nicht an Sophie. Müsste meine Seele denn nicht diese schreckliche Erinnerung verdrängen, wenn sie mich schützen wollte? Doch Emma fehlte die Kraft, weiter darüber nachzudenken. Deshalb schob sie diese Gedanken beiseite und ließ sich von der Musik treiben. »Ich werde dann erstmal gehen. Du musst dich schließlich ausruhen, damit du wieder zu Kräften kommst«, verabschiedete sich Sophie. Emma blieb allein zurück. Allein mit dem Schwarzen Schmetterling, der sie mit seiner Musik heilte, Stück für Stück.

Emma war wieder zuhause. Ihre Heilung war unerklärlich schnell vorangeschritten, so dass sie nur wenige Tage nach Sophies Besuch darauf bestanden hatte, nach Hause zu gehen. Nun stand sie in ihrem Schlafzimmer vor dem Spiegel. Sie trug ein schönes bodenlanges Kleid mit Fledermausärmeln. Das Kleid war schwarz, nur den Halsausschnitt und die Ärmel zierte ein blutroter Saum. Im selben Farbkontrast war auch der breite Gürtel gehalten, der in der Mitte spitz zulief. In der Mitte des Gürtels prangte eine Brosche, auf der eine filigran gearbeitete rote Rose abgebildet war. Diese Brosche hatte Emma schon zur Hochzeit auf ihrem weißgoldenen Hochzeitskleid getragen. Am Anfang und am Ende, dachte Emma, als sie sich so im Spiegel betrachtete. Zum fünften oder sechsten Mal öffnete sie ihr hochgestecktes Haar. Sie konnte sich einfach nicht entscheiden, ob sie es offen tragen sollte oder nicht.

»Lass es offen, das steht dir besser«, sagte Sophie, die gerade den Raum betreten hatte. »Du siehst wunderschön aus. Wie ein Engel eben. So schön, doch aus so traurigem Anlass.« Sophie sprach es aus, ohne nachzudenken und ärgerte sich im selben Augenblick darüber. Emma seufzte nur, anstatt etwas zu erwidern. Es fühlte sich an, als würden ihr die Worte im Hals stecken bleiben und sie kämpfte gegen die Tränen, die erneut in ihr aufzusteigen drohten. So ging es schon den ganzen verdammten Tag!

Sie sah Sophie an und versuchte ein kleines Lächeln, was ihr allerdings misslang. Dann wandte sie sich wieder dem Spiegel zu und betrachtete sich, wie sie dort stand. Sie sah eine gebrochene Frau mit leerem Blick.

Vier Wochen hatte sie im Krankenhaus gelegen, bevor sie sich auf eigene Verantwortung entlassen ließ. Die Ärzte hatten auf sie eingeredet, aber sie hatten sie nicht davon abhalten können. »Du bist so verdammt stur!«, hätte Jack bestimmt zu ihr gesagt. Und er hätte recht gehabt. Doch Emma hatte es im Krankenhaus einfach nicht mehr ausgehalten. So oft hatte sie einfach nur in ihrem Bett gelegen und die Tränen waren ihr von ganz allein über die Wangen gelaufen, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte. Es war ihr peinlich, dass man sie so sah. Auch die mitleidigen Blicke der Schwestern konnte sie einfach nicht mehr ertragen. Sie wollte allein sein und sich zurückziehen. Auch um ihre Hündin Loona hatte sie sich wieder selbst kümmern wollen, anstatt das anderen zu überlassen. Nicht, dass sie es ihnen nicht zugetraut hätte, sie mochte es einfach nicht, Hilfe annehmen zu müssen und jemandem etwas schuldig zu bleiben. Außerdem vermisste sie ihre Hündin.

Loona sah aus wie ein weißer Schäferhund. Allerdings war sie um einiges größer als ein durchschnittlicher Hund dieser Rasse. Emma und Jack hatten sie aus dem Tierheim zu sich geholt. Eigentlich hatte Emma sich geschworen, nie wieder einen Hund zu halten, nachdem sie ihren ersten Hund Rocky nach sechzehn Jahren einschläfern lassen musste. Er war ihr ein treuer Begleiter und Freund gewesen und hatte ihr so oft geholfen, schlimme Situationen durchzustehen.