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»Danke«, sagte er noch, als er sich bereits zum Gehen wandte. »Wofür?«, fragte Aemiliana. Er blieb stehen und sah über die Schulter zurück. »Du hast uns in Schutz genommen. Das hat bisher kaum einer für uns getan. Die Menschen hassen uns.« »Kannst du es ihnen verübeln?« »Nein.« »Ich auch nicht. Aber es ist einfach an der Zeit, alte Feindschaften zu begraben. Nur so können wir den Kampf gegen Morla gewinnen.« Aemiliana war verzweifelt, denn eine scheinbar unlösbare Aufgabe lag vor ihr. Morlas Stärke wuchs und das Land starb immer mehr unter ihrer Herrschaft. Zehn Völker, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten, litten darunter. Gemeinsame Geschichten, in denen sich ihre Wege kreuzten, hatten sie entzweit und raubten ihnen so die Chance auf den Sieg. Kann Aemiliana sie überzeugen, die Vergangenheit ruhen zu lassen und vereint in den Krieg gegen Morla zu ziehen? Oder wird sie scheitern und das Böse obsiegen?
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Seitenzahl: 368
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Gale - Freude des Vaters
Louan - das Licht
Tjelvar – Krieger des Volkes
Fágri Blakúr – der schöne Schwarze
Faennarthan - weißes Leuchtfeuer
Salérimä Aanon - die Elfenkönigin
Aemiliana - die Ehrgeizige
Trálir - Morlas Berater
Nálani - Ruhe des Himmels
Margarete - Peigi - kleine Perle
Tjure - stark wie ein Stier
Morla - Die Drachenkönigin
Allsvatur - tiefschwarz
Madwegdaw - gefräßiges Feuer
Slàine - Gesundheit
Ossian - kleiner Hirsch
Mîr Aeglír - das Edelsteingebirge
Calolorn Vanyar - die Sanfte
Carden - von der schwarzen Festung
Catríona - die Reine
Althaía - die Heilerin
Brynjolf - der Wolff
Codhnatur - die Stadt im Wolffsthal
Stígandr - Wanderer
Kjartan - Krieger
Fâe Eithél - der Seelenhain
Anouk - die Friedliche
Fâer Eryn - der Geisterwald
Calben dúath - heller Nachtschatten
Hedda - Kampfkraft
Nuín Ôrod - die Stadt der Zwerge
Celu Guldûr - Quelle der dunklen Macht
Fea gwathel - Seelenpartner
Maranwé Onóre - Schicksalsschwester
Wyndam – Dorf, nahe der sich windenden Straße
Sie saß auf dem Rücken von Madwegdaw und hatte die Arme um seinen Hals geschlungen. Gale versuchte, ihre Gedanken zu ordnen.
Ihr Leben hatte sich in kürzester Zeit so verändert. Ihre Mutter hatte sie verloren, stattdessen eine Schwester gewonnen. Sie war Tjelvar begegnet, der sich als ihr Retter aus der Kindheit entpuppt hatte. Jetzt hatte sie ihn gerettet. Dann war da noch seine Mutter, die sie, wie er selbst sagte, wie eine eigene Tochter liebte. Aber Gale musste auch an Meridiana denken, die ihr Leben gelassen hatte, um ihres zu retten. Ebenso kreisten ihre Gedanken um die Elfenkönigin, die sie für den Tod ihrer Tochter verantwortlich machte. Gale war sich sicher, dass die beiden Elfen, die sie auf der Ebene vorm Geisterwald angegriffen hatten, von ihr geschickt worden waren, um Rache zu nehmen. Viele schreckliche Dinge hatte Gale erlebt, aber auch viele neue Freunde gewonnen. Doch immer mehr machte sich in ihr das Gefühl breit, dass sie ihnen nur Unheil brachte. Deshalb hatte sie diese Entscheidung getroffen, auch wenn sie ihr unendlich schwergefallen war. Es war das Beste für alle. Gale war davon überzeugt, dennoch wünschte sie, es gäbe einen anderen Weg, denn sie fühlte sich unendlich allein. Nur sah sie keinen, was nicht an den Tränen lag, die nun ihren Blick verschleierten.
Madwegdaw fühlte ihren inneren Aufruhr. Er empfand aufrichtige Hochachtung vor ihr. Es war eine schwere Entscheidung, alles hinter sich zu lassen und den Weg allein weiterzugehen. Gale hatte sie getroffen, um die Menschen, die sie liebte, zu schützen. Im ersten Moment war er überrascht gewesen, als Gale von ihrem eigentlichen Plan abgewichen war und ihn darum gebeten hatte, sie zum Seelenhain zu bringen. Nachdem sie ihm ihre Beweggründe aber erklärt hatte, musste er zugeben, dass er selbst auch schon darüber nachgedacht hatte. Er sah es ebenso wie Gale, die befürchtete, dass sie Nálani in große Schwierigkeiten bringen würde, wenn sie bei ihr Zuflucht suchen würde. Salérimä würde ihre Auslieferung fordern, aber Nálani würde dies niemals tun. Da war sich Madwegdaw so sicher, wie Gale es war. Damit würde Nálani sich die Elfenkönigin ebenso zum Feind machen. Gale hatte ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass sie das weder zulassen konnte noch wollte. So war Madwegdaw nach anfänglichem Zögern darauf eingegangen, als er Gales Bitte verspürt hatte. Nun glitt er sanft dahin und näherte sich Laeg Eryn, der Elfeninsel. Ihr Vorhaben war nicht ungefährlich, denn der Seelenhain lag tief im Inneren der Insel. Erst dort waren sie in Sicherheit.
Madwegdaw spürte, wie sich Gales Gefühlswelt allmählich wieder beruhigte und sich mehr und mehr der Gedanke festigte, dass sie das Richtige tat. Als sie den See Lim Hen überflogen und sich der Elfeninsel näherten, zog er in großer Höhe seine Kreise darüber. Er wollte sichergehen, dass sie nicht in einen Hinterhalt gerieten. Doch nichts regte sich am Ufer von Laeg Eryn, also schlug er den Weg zur Mitte der Insel ein, wobei er die Umgebung unter sich stets wachsam im Auge behielt. Eine ganze Weile flogen sie so übers Land und näherten sich dem Seelenhain. Schon von weitem sahen sie ihn. Eine Ansammlung von Buchen mit strahlend grünen Kronen, die inmitten einer großen Lichtung wuchsen. Bei seinem Anblick war die Magie sofort spürbar, die hier herrschte. So deutlich stach er aus der Umgebung hervor. Die gesamte Landschaft um den Buchenhain herum starb langsam aber sicher, nur er selbst erstrahlte in einem satten Grün. Einst war Laeg Eryn ein immergrünes Eiland gewesen, wie es keinen zweiten Ort in ganz Laingladhdôr gab. Doch inzwischen waren viele Bäume kahl und auch das Gras der Lichtung färbte sich bereits gelb. Umso stärker war der Kontrast, den das Grün der Bäume des Seelenhains hervorrief. Am intensivsten leuchtete jedoch das Blätterdach der großen Esche, die in der Mitte des Buchenhains wuchs und an deren Fuße sich die Quelle der Seelen befand. Die Esche, die wie ein Irrläufer unter all den Buchen wirkte, war um ein Vielfaches höher als die Bäume, die sie umgaben. Schützend breitete sie ihre Äste über deren Kronen. Yggdrasil der Weltenbaum machte den Seelenhain zu einem magischen Ort und wehrte die dunkle Macht Morlas ab, die sich wie ein Geschwür in Laingladhdôr vorwärts fraß. Doch wie lange würde ihre und die Macht der Nornen, die an ihrem Fuße wachten, ausreichen, um diesen Ort zu schützen? Die Drachenprinzessin war nach vielen Jahren nach Hause zurückgekehrt. Jeder hatte gehofft, dass Morlas Herrschaft damit endlich ein Ende haben würde. Doch so einfach sind die Wege des Schicksals nicht zu deuten. Alles brauchte seine Zeit.
Gale hatte die Augen geschlossen und döste vor sich hin, als Madwegdaw langsam tiefer ging. Sie vertraute ihm blind. Daher war sie sich sicher, dass er sie unbeschadet zum Seelenhain bringen würde. Sie fühlte seinen gleichmäßigen Atem und seinen ruhigen Herzschlag. Beides gab ihr Sicherheit. Es beruhigte sie, sodass sie irgendwann einschlief.
Nur einen kurzen Augenblick später schreckte sie hoch, denn sie spürte Madwegdaws plötzliche Unruhe. Sein Herz begann zu rasen und sein Atem ging schneller. Hektisch schlug er mit den Flügeln, um wieder an Höhe zu gewinnen.
Was ist los?, fragte Gale ihn in Gedanken, doch im selben Moment erhielt sie die Antwort in Form eines Pfeils, der sie nur um Haaresbreite verfehlte.
Sie haben uns entdeckt, sandte er dennoch die Antwort in ihren Geist.
Madwegdaw versuchte, den Geschossen auszuweichen, die man von der Elfeninsel nach ihnen aussandte. Von wem sie kamen, sah Gale nicht. Im Grunde war das aber auch nicht nötig, denn es konnten nur die Elfen sein, die sie vom Himmel holen wollten. Immer mehr Pfeile flogen ihnen entgegen und es war nur eine Frage der Zeit, bis einer sein Ziel nicht verfehlen würde.
Halt dich fest, sagte Madwegdaw und verfiel in einen Sinkflug.
Was hast du vor?, fragte Gale erschrocken, während sie sich an seinen Schuppen festkrallte, aber der Drache antwortete nicht.
Mit eng an den Körper gelegten Flügeln näherte er sich rasend schnell dem Boden. Wenige Meter davor, richtete er sich auf und schlug mit den Flügeln, um seine Geschwindigkeit zu verringern. Doch das reichte nicht aus. So landete er unsanft auf der Lichtung.
Nur wenige Meter trennten sie vom Seelenhain. Gale stürzte von seinem Rücken und rollte über den Boden. Für einen kurzen Moment blieb sie benommen liegen, bis sie sich schließlich hochrappelte. Auch Madwegdaw kam langsam und schwerfällig auf die Beine. Er ging auf Gale zu, wobei er stark humpelte.
»Bist du verletzt?«, fragte er.
»Nein, mir geht es gut«, antwortete Gale. »Aber was ist mit dir?«
»Das ist nichts weiter«, wiegelte er ab. »Ich spüre es kaum.«
Beim nächsten Schritt zuckte Madwegdaw zusammen und geriet ins Stolpern, fing sich aber ab.
»Bist du sicher?«, fragte Gale besorgt.
»Ja«, antwortete er, als plötzlich ein Pfeil an ihm vorbeischoss und Gale an der linken Schulter traf, sodass sie laut aufschrie.
Die Wucht des Geschosses hatte sie zu Boden gerissen und der Schmerz machte es ihr fast unmöglich sich zu bewegen.
»Lauf«, rief Madwegdaw, während er sich umdrehte und sich ihren Angreifern entgegenstellte.
»Aber was ist mit dir?«, fragte Gale zögernd, als sie sich unter Schmerzen wieder aufrichtete.
»Ich komme nach«, rief er ihr zu, kurz bevor er seinen Feueratem auf die Elfen richtete, die aus dem umliegenden Wald heraustraten und über die Lichtung auf sie zuliefen. Immer wieder legten sie an, schossen ihre Pfeile auf sie ab. Den Flammen, die Madwegdaw in ihre Richtung aussandte, wichen sie geschickt aus.
Aus einem Reflex heraus duckte sich Gale, als sie im Augenwinkel etwas wahrnahm. Ein Pfeil flog knapp über ihren Kopf hinweg, sodass sie den Luftzug, den er dabei erzeugte, ganz deutlich spüren konnte. Als sie ihren Blick zur Seite wandte, sah sie einen finster dreinblickenden Elfen, der mit großen Schritten auf sie zugerannt kam. Gale wandte sich um und lief in Richtung des schützenden Seelenhains. Immer wieder warf sie dabei nervöse Blicke über die Schulter. Der Elf holte auf. Bald würde er sie erreicht haben.
Plötzlich sah sie vor sich ein gleißend helles Licht, das dann in Form einer Kugel auf sie zugeschossen kam. Gale warf sich zu Boden, was ihre Schulter, in der der Pfeil steckte, erneut mit Schmerz quittierte. Der Lichtball schoss über sie hinweg. Sie fühlte die Hitze, die von der Kugel ausging. Wieder wandte sie den Blick nach hinten. Doch statt des Elfen, der sie eben noch verfolgt hatte, sah sie nun nur noch eine brennende Gestalt.
»Steh auf!«, hörte sie jemanden aus Richtung Seelenhain rufen.
Als sie hinsah, erblickte sie Vásíphel.
»Lauf weiter!«, rief er ihr zu, während er einen neuen Energieball heraufbeschwor.
Gale versuchte, auf die Füße zu kommen und rannte auf Vásíphel zu. Den Schmerz in ihrer Schulter versuchte sie dabei zu ignorieren, so gut es ging. Währenddessen schossen weitere gleißend helle und heiße Lichtkugeln an ihr vorbei.
Mit letzter Kraft warf sie sich mit einem großen Satz über die unsichtbare, magische Grenze des Seelenhains, hinter der sie in Sicherheit war. Dort blieb sie liegen und wartete darauf, dass das Pochen, das ihre Schulter durch ihren Körper schickte, nachließ. Dann setzte sie sich auf. Sie richtete ihren Blick auf Madwegdaw, der noch immer seinen heißen Atem gegen die Übermacht der Elfen aussandte. Mehrere Pfeile hatten inzwischen seine Flügel durchbohrt und gerade sprang ein Elf auf seinen Rücken. Gale ahnte, was dessen Ziel war: Die ungeschützte Stelle im Nacken des Drachen! Noch im Lauf legte er an und schoss.
»Nein«, schrie Gale und ihre Stimme schallte dabei weit über die Ebene.
Sie sprang auf und wollte Madwegdaw zu Hilfe eilen, aber Vásíphel hielt sie zurück. Gale wehrte sich mit aller Macht gegen seinen festen Griff. Ohne Erfolg. Kurz bevor der Pfeil sein Ziel erreichte, vergrub sie ihr Gesicht an Vásíphels Brust. Sie wollte nicht mit ansehen, wie ihr Freund starb. Denn genau das war Madwegdaw inzwischen für sie: Ein Freund! Sie schluchzte. Doch dann ...
Ein lautes, wütend klingendes Brüllen ließ sie zusammenzucken. Gale drehte sich um, blickte ungläubig auf die Ebene vor dem Seelenhain hinaus. Da stand Madwegdaw mit abgespreizten Flügeln und schickte ein Brüllen wie Donnergrollen den Elfen entgegen.
»Was ist passiert?«, fragte Gale überrascht, ohne sich aus Vásíphels Armen zu lösen.
»Der Pfeil ist an seinem Genick abgeprallt. Durch das zweite Leben, das wir ihm noch vor kurzem geschenkt haben, wurde ein magischer Schutz geschaffen, der die einzige Stelle, an der man ihn töten könnte, schützt.«
»Das heißt, er ist unsterblich?«
»Nahezu!«
Vásíphel lächelte und hielt seinen Blick ebenso wie Gale auf den Drachen gerichtet. Es schien, als wäre sich Madwegdaw seiner Unverwundbarkeit bewusst geworden und eine Stärke schien in ihm zu wachsen, wie Gale sie nie zuvor an ihm gesehen hatte. Laut ließ Madwegdaw sein Brüllen ertönen. Dann wendete er seinen Schritt und lief gemächlich in Richtung Seelenhain. Die Elfen mussten ebenfalls bemerkt haben, dass sie ihm nichts anhaben konnten. Dennoch schossen sie weiter ihre Pfeile auf ihn ab. Aber wie zuvor, prallten diese alle an seinem dicken Panzer ab. Als Madwegdaw Vásíphel und Gale erreicht hatte, drehte er sich noch einmal zur Lichtung um und ließ erneut sein lautes Brüllen ertönen. Gale löste sich zaghaft aus Vásíphels Armen. Sie konnte es noch immer nicht glauben, aber da stand er - direkt vor ihr.
Madwegdaw hatte sich ihr inzwischen zugewandt. Er sah ihr in die Augen, die noch feucht waren von den Resten ihrer Tränen. Gale zögerte, dann rannte sie auf ihn zu und schlang überglücklich ihre Arme um seinen Hals.
Er blickte durch die weiße Haut seines Kokons, in dessen Inneren das Pochen unaufhörlich dröhnte und immer mehr anschwoll. Louan konnte nichts Genaues erkennen, sah nur zwei schemenhafte Gestalten, die davorstanden. Aber er wusste, wer sie waren. Mehr noch: Er fühlte es! Aemiliana - seine Mutter. Auch den Mann oder vielmehr das Wesen neben ihr erkannte Louan, ohne dass ihm wirklich bewusst war, wer oder was es war.
Louan sah zu, wie beide gebannt auf das weiße Gespinst starrten, das vor ihnen an der Decke der Höhle hing und in dem er hockte. Geduldig! Wartend! Bis der richtige Zeitpunkt kommen würde.
Immer lauter wurde das Pochen und die Wand der Hülle, die ihn umgab, immer durchsichtiger. Erschrocken nahm er wahr, wie Aemiliana sich die Ohren zuhielt. Offensichtlich war der Lärm für sie kaum zu ertragen. Louan wünschte, das Pochen würde aufhören. Er wollte seiner Mutter nicht wehtun. Sie hatte ihn beschützt, als ...
Louan bemühte sich, seine Gedanken zu ordnen, suchte in seinen Erinnerungen nach Erklärungen. Nur allmählich kam alles zurück. Wie er am Ufer im Gras gelegen hatte. Seine Mutter hatte ihn dort abgelegt. Dann der schwarze Nebel, der ihn hochgehoben hatte und mit ihm verschwunden war.
Die Erkenntnis traf ihn wie ein Blitz. Das merkwürdige Wesen war der schwarze Nebel, der ihn seiner Mutter entrissen hatte. Ein Gefühl von Wut stieg in Louan auf und er behielt ihn - Allsvatur, wie er sich seiner Mutter vorgestellt hatte - genau im Auge. Ihm schien der Lärm nichts auszumachen.
Das Wesen stand regungslos da, hielt seinen Blick fest auf das weiße Gebilde gerichtet, in dem er hockte.
Louan beobachtete ihn eine ganze Weile so, bis sich plötzlich etwas in ihm veränderte. Andere Gefühle drangen in ihm hoch, die nicht seine eigenen waren. Das spürte er deutlich. Besorgnis! Liebe! Hoffnung! Nach den Gefühlen kamen Gedanken, von denen er im gleichen Moment wusste, dass es die von Allsvatur waren.
So oft hatte er diese Verwandlung schon beobachtet, denn jeder seines Volkes machte sie durch. Doch Louan war anders. Er war sein Sohn, ja. Aber nur zu einer Hälfte war er ein Mahre, so wie er. Zur anderen war er ein Mensch. Allsvatur wusste also nicht, was aus dem Kokon hervorbrechen und ob dieses Wesen Aemiliana etwas antun würde. Auch wenn sie ihn geboren hatte, war das gut möglich, denn Mahre hatten keinen Familiensinn. Sie wurden geboren und nur die ersten Tage kümmerte sich die Mutter um sie. Doch bald schon verwoben sie sich in einem Kokon und brachen schließlich als Geisterwesen hervor, die weder Familie noch Freunde oder gar Liebe kannten. Allsvatur wusste aber auch, dass es Ausnahmen gab, denn er selbst war anders. Er verspürte Liebe, kannte das Gefühl von Freundschaft oder hatte es einmal gekannt, als er noch jünger war. Und nun spürte er zum ersten Mal, was es hieß, eine Familie zu haben. Aemiliana und Louan waren seine Familie und er würde alles tun, um beide zu beschützen. Er hoffte nur, dass er sich nicht eines Tages zwischen beiden würde entscheiden müssen. Mehr noch hoffte er aber, dass dieser Tag nicht heute sein würde.
Louan versuchte die Gedanken von Allsvatur einzuordnen.
Sein Sohn? Aemiliana etwas antun? Anders?
Verwirrung machte sich in ihm breit. Und Angst! Angst davor, was mit ihm passieren und was kommen würde. Dann sah er, wie Aemiliana ihre Hände immer fester auf ihre Ohren presste. Sie musste die Vibration, die das Dröhnen aus dem Kokon verursachte, unter ihren Füßen spüren.
Plötzlich sackte sie zusammen, ging in die Knie. Louan versuchte, sich aus seinem Gefängnis zu befreien, wollte ihr helfen. Er stemmte sich gegen die Wände des Kokons, bis er aufbrach. Im selben Moment verstummte das Pochen. Nun herrschte gespenstische Stille. Er hatte es geschafft. Ein langer tiefer Riss zog sich von oben bis ganz nach unten an seinem Kokon hinab. Louan lugte vorsichtig hinaus.
Allsvatur half Aemiliana wieder auf die Beine. Sie richtete ihren Blick sofort auf den Kokon. Den Riss musste sie sehen. In Louan wuchs der unbändige Drang, auszubrechen, um sich wieder mit seiner Mutter zu vereinen.
Mit seinen langen, knorrigen Fingern tastete er sich aus dem Inneren hervor und umfasste die Ränder des Risses. Ein leises Knistern erfüllte die Luft, als seine Hände den Spalt immer weiter dehnten und er sich schließlich einen Weg hinaus bahnte. Nun stand Louan vor Allsvatur und Aemiliana. Unschlüssig sah er von einem zum anderen. Wieder drangen Gefühle zu ihm durch - von Allsvatur. Louan spürte Überraschung und Abscheu. Dieses Mal erreichten ihn nicht nur Allsvaturs Gedanken, sondern auch ein Bild. Die Verwirrung in Louan wuchs, die schließlich einer Erkenntnis wich: Er sah durch Allsvaturs Augen und ...
Er sah sich:
Eine Gestalt mit viel zu langen Armen und Beinen. Auch seine Hände waren für den kleinen, dürren Körper viel zu groß, seine Finger lang und dünn. Sein leichenblasser Leib war umhüllt von einer hauchzarten, schwarzen Haut, die daran klebte.
Aemiliana wollte auf ihn zugehen, doch Allsvatur hielt sie zurück.
»Das ist nicht mehr dein Sohn«, hörte Louan ihn flüstern.
Doch Aemiliana wollte ihm offensichtlich nicht glauben und löste sich aus seinem Griff. Langsam ging sie auf Louan zu. Dabei lächelte sie ihn mit der Liebe an, die nur eine Mutter aufbringen kann.
»Aemiliana, nicht!«, versuchte Allsvatur weiterhin, sie von ihrem Vorhaben abzubringen.
Dabei lief er ihr nach. Als er ihr seine Hand auf die Schulter legte, schnellte Louan nach vorn. Er entfaltete die dünne, schwarze Haut, die seinen Körper bedeckt hatte. Das Bild, das Allsvaturs Blick ihm zeigte, brachte zwei riesengroße schwarze Flügel zum Vorschein. Der Anblick wäre selbst für Louan furchterregend gewesen, wenn er nicht gewusst hätte, dass er es ist, den er da sah. Noch als Louan darüber nachdachte, was er als Nächstes tun sollte, umhüllte Allsvatur Aemiliana als schwarzer Dunst und verschwand mit ihr.
Louan blieb zurück ... allein und verwirrt.
Er war durcheinander. Suchend blickte er sich um. Wo war sie nur? Eben war sie noch auf ihn zugekommen. Als dieser Mann sie an der Schulter packte, war etwas in ihm erwacht. Er hatte sich auf ihn stürzen wollen, um sie vor ihm zu beschützen. Aber er war nicht schnell genug gewesen. Nun war sie fort. Er legte die Flügel wieder eng an seinen Körper und trat aus der Höhle. Draußen sah er sich um. Dieser Ort und der Wald, der ihn umgab, hatten etwas Beängstigendes an sich. Dunkle Tannen standen dicht an dicht und ließen kaum einen Sonnenstrahl hindurch. Louan spürte, dass etwas Böses und Dunkles in diesem Wald hauste. Eine Erkenntnis drang in sein Unterbewusstsein. Nur ein Name, eine Bezeichnung, von der Louan nicht wusste, woher er sie kannte: Der Geisterwald!
Angst stieg in ihm auf. Er wünschte sich, sie wäre jetzt hier. Aemiliana, die Frau, die ihn geboren hatte, seine Mutter. Er erinnerte sich an sie. Sie hatte ihn beschützt und um ihn gekämpft. Sie hätte es auch jetzt getan, ganz bestimmt.
Louan sah zum Himmel und überlegte, wie er sie finden sollte. Er brauchte sie, fühlte sich so allein ohne sie und eine unbändige Angst fraß sich durch sein Innerstes. Plötzlich knackten Zweige in unmittelbarer Nähe. Ein Rauschen ging durch die Bäume. Erschrocken wich Louan zurück und versuchte die Dunkelheit des Waldes zu durchdringen. Ohne Erfolg! Nervös blickte er um sich. Als direkt vor ihm zwei Bäume wie Strohhalme umgeknickt wurden, trat ein riesiger Troll auf den unbewachsenen Platz vor der Höhle. Louan hatte eine beachtliche Größe und Aemiliana wirkte gegen ihn, wie eine Zwergin, doch im Vergleich zu diesem Monstrum war er der Zwerg.
Der Troll war stehengeblieben und schaute irritiert auf Louan herab. Offensichtlich hatte er jemand anderen erwartet. Den Moment seiner Verwirrung nutzte Louan, entfaltete seine Flügel und stieß sich vom Boden ab. Mit kräftigen Schlägen gewann er an Höhe, aber der Troll erwachte aus seiner Starre und rannte ihm schwerfällig nach. Er versuchte Louan zu packen, doch der war außerhalb seiner Reichweite, also riss er eine der riesigen Tannen aus dem Boden. Er entwurzelte sie mühelos und warf sie schwungvoll nach Louan, aber der wich ihr geschickt aus. Weitere Bäume flogen an ihm vorbei, aber auch sie trafen ihr Ziel nicht. Als er so hoch flog, dass er den Geisterwald nur noch als dunkelgrüne Fläche unter sich wahrnahm, wurde Louan langsamer und glitt nun auf den Luftströmungen dahin. Seine Flucht vor dem Troll hatte ihn nach Norden getrieben und das Land unter ihm wurde allmählich karger. Das Grün wurde weniger und wich einem felsigen Untergrund, bis sich schließlich ein einheitlicher, weißer Teppich unter ihm ausbreitete. Lange flog er über die schneebedeckte Landschaft, als sich vor ihm etwas Graues erhob. Louan ging tiefer und erkannte, dass es sich um einen Berg handelte, auf dem eine Burg erbaut worden war. Als er näherkam, sah er allerdings, dass die Burg nicht viel mehr als eine Ruine war. Die Mauern waren teilweise eingestürzt und es sah so aus, als hätte jemand sie einfach niedergerissen. Sofort musste Louan wieder an den riesigen Troll denken. Er ging noch tiefer und erblickte im nächsten Moment einen verwesenden, riesigen Leichnam, der am Fuße des Berges lag. Unzählige Falken hockten darauf und stillten ihren Hunger daran. Als Louan über sie hinwegflog, ließen sie von ihrem Mahl ab, reckten die Köpfe nach oben und versuchten, ihn mit ihrem schrillen Kreischen zu vertreiben. Doch Louan hatte nicht vor, ihnen ihre Beute streitig zu machen. Er kreiste einmal über der Burg und landete schließlich auf dem, was einmal der Burghof gewesen war. Suchend sah er sich nach einem Unterschlupf um. Als er ein aus den Angeln gehobenes eisernes Tor sah, ging er hindurch. Eine Steintreppe führte hinab tief unter die Burg. Louan folgte ihr. Ratten huschten über den Boden und wichen ihm aus. Er lief die dunklen Gänge entlang, die sich wie ein Labyrinth unter der Burg entlangzuziehen schienen. Trotz der Finsternis hier unten hatte er keine Schwierigkeiten, sich zu orientieren, gerade so, als ob er im Dunkeln sehen könnte. Er bog in einen weiteren Gang ab, der in einer Sackgasse endete. In den Wänden dieses Ganges waren mehrere kleine Nischen in den Stein gehauen. In eine von ihnen zog Louan sich zurück. Er zog die Beine an den Körper und schlang seine Flügel eng um sich. Dann schlief er ein.
Ein Geräusch ließ ihn aus dem Schlaf aufschrecken. Eng presste Louan sich an die Wand der Nische und lauschte angestrengt. Stimmengewirr drang an seine Ohren. Vorsichtig und absolut lautlos verließ er sein Versteck in Richtung Ausgang. Nach ein paar Metern blieb er jedoch stehen, als die Stimmen so laut wurden, dass er vernehmen konnte, dass sich Männer lautstark unterhielten. Sie mussten direkt über ihm sein. Louan wandte seinen Blick nach oben. Er sah ein Gitter, das in die Decke des Ganges eingelassen war. Vorsichtig ging er weiter, stieg schließlich die Stufen hinauf, die in den Burghof führten. Inzwischen war die Nacht hereingebrochen und Louan spürte, wie er ein Teil davon wurde. Als schwarzer Dunst bewegte er sich weiter vorwärts, direkt auf die Männer zu, die um ein Feuer herum saßen.
»Sie wird uns viel Geld einbringen«, hörte er den einen sagen.
»Oh ja, die schwarze Königin wird uns reich belohnen«, stimmte ein anderer zu.
»Lass sie das bloß nicht hören«, flüsterte ein dritter ängstlich. »Du weißt, sie hasst es, wenn man sie so nennt und bestraft jeden fürchterlich, der es dennoch wagt.«
»Ach sei nicht immer so ein Angsthase«, entgegnete der erste. »Sie hockt auf ihrer Burg und schert sich nicht um unsereinen.«
»Und doch sag ich, sei vorsichtig.«
Doch die anderen beiden lachten nur. Louan sah sich weiter um. Von wem redeten sie? Wer war die schwarze Königin und wer würde ihnen viel Geld einbringen?
Dann sah er sie. Ein zartes Mädchen, mit blondgelocktem, schulterlangem Haar und stahlblauen Augen, die im Feuerschein wild funkelten. Etwas abseits vom Feuer lag sie gefesselt und blutete aus einer Wunde am Kopf.
»Meine Mutter wird euch die Haut bei lebendigem Leibe abziehen«, presste sie zwischen den Zähnen hervor.
»Ach ja?«, rief einer der drei vom Feuer herüber. »Dazu müsste sie uns aber erst einmal finden.«
Wieder ertönte lautes Gelächter, das jedoch sogleich erstarb, als Louan seine ursprüngliche Gestalt annahm und zu den Männern ans Feuer trat. Seine riesigen Flügel hatte er weit vom Körper abgespreizt und sich zu seiner vollen Größe aufgerichtet. Die Männer sprangen auf und griffen nach ihren Waffen. Mit Schwertern stürmten sie auf Louan zu, doch er wehrte sie ab und entwand jedem von ihnen in Windeseile die Waffe. Dann stürzte er sich auf den ersten. Er umklammerte ihn mit seinen dürren Fingern und presste ihm das Leben aus dem Leib. Dann nahm er sich den zweiten vor, der sich ihm entgegengestellt hatte und mit bloßen Händen gegen ihn kämpfen wollte.
Louan packte ihn und warf ihn zu Boden, dann kniete er sich über ihn. Wie ihm Wahn sah er ihn an, riss den Mund weit auf und bleckte seine spitzen Zähne. Noch bevor er richtig begriff, was er tat, biss Louan zu und labte sich an den Eingeweiden des Mannes. Dieser schrie auf vor Schmerz, bis er schließlich verstummte. Der dritte, es war der Ängstliche, hatte inzwischen die Beine in die Hand genommen und rannte über den Burghof. Er wollte offensichtlich so schnell wie möglich weg von hier. Doch Louan breitete die Flügel aus und erhob sich in die Luft. Er setzte dem Mann nach und holte ihn ein. Dann stürzte er auf ihn herab und biss ihm die Kehle durch. Der Mann röchelte noch kurz und fiel dann zu Boden. Wieder drangen fremde Gefühle und Gedanken zu Louan. Schlagartig wurde ihm bewusst, dass das Mädchen sein Treiben beobachtet hatte. Er spürte ihr Entsetzen und ihre Angst, fühlte, wie sie sich Gedanken darum machte, was er jetzt mit ihr tun würde, auch wenn er ihr das Leben gerettet hatte.
Sie schien unfähig, sich zu rühren, als sie ihm entgegen starrte. Louan ging auf sie zu. Er fühlte, wie das Blut der Männer noch von seinen Zähnen tropfte, war sich bewusst, dass sein bleicher Körper blutverschmiert sein musste.
Vor ihr ging er in die Knie. Louan nahm das Mädchen sanft auf seine dünnen Arme und ging mit ihr den Weg zurück zu der Treppe, die in das unterirdische Labyrinth führte. Sie rührte sich nicht, war regelrecht zu Stein erstarrt und ließ es geschehen. Louan nahm wieder den Weg in den Gang, in dem die Nischen in die Wände eingelassen waren. Vorsichtig legte er das Mädchen in der hintersten ab und löste ihre Fesseln. Sie wich vor ihm zurück, presste sich tief in die Nische hinein, sprach kein Wort. Louan selbst machte es sich inmitten des Ganges gegenüber ihrer Nische bequem. Den Blick richtete er auf den Ausgang und wachte über das Mädchen. Er spürte ihren Blick auf sich ruhen und wie sie ihn aus der hintersten Ecke im Auge behielt, bis sie schließlich doch einschlief.
Tjelvar lag auf dem Bett und starrte an die Decke.
So vieles ging ihm durch den Kopf.
Die verlorene Schlacht am Geisterwald. Der Tod der tapferen Männer von Wolffshall. Sie war besser damit umgegangen als er selbst. Seine Mutter! Tjelvar hatte damit gerechnet, dass sie außer sich sein würde, hatte erwartet ihre Enttäuschung zu spüren, vielleicht sogar ein wenig erhofft. Stattdessen hatte er nur ihre Liebe ihm gegenüber und ihre Vergebung gespürt.
»Wenn ich dort geblieben wäre ...«, hatte er zu ihr gesagt.
»... dann wärst du jetzt vermutlich tot und ich hätte dich erneut verloren«, hatte sie ihm entgegnet.
Tjelvar wusste, dass das für Nálani schlimmer gewesen wäre. Er schaffte es jedoch nicht, keine Schuld am Tod der Männer zu empfinden oder sich nicht als Feigling zu fühlen. Also versuchte er, seine Gedanken in eine andere, eine schönere Richtung zu lenken.
Gale!
Noch immer hing ihr Geruch in dem Zimmer, das sie bei ihrem ersten Besuch in Wolffshall bezogen hatte. Hierher hatte Gale ihn gebracht, als sie ihn aus dem Verlies befreit hatte. Er war kaum bei Bewusstsein gewesen, doch er hatte ihre Anwesenheit und ihre Fürsorge gespürt. Seit seiner Rückkehr vom Geisterwald, kreisten Tjelvars Gedanken immer wieder um sie. Als Gale zum Seelenhain aufgebrochen war, hatte ihm das einen Stich versetzt, den er nicht einordnen konnte und nun, da sie fort war, fehlte sie ihm unheimlich. Nachdem er zurückgekehrt und die beiden Elfen, die Gale angegriffen hatten, seiner Mutter übergeben hatte, hatte Tjelvar sich hierher zurückgezogen. In diesem Zimmer fühlte er sich ihr wenigstens ein bisschen nahe.
Die Tür wurde geöffnet und Tjelvar setzte sich auf. Nálani, seine Mutter, stand vor ihm. Er hatte ihr in dem Moment, in dem sie ins Zimmer getreten war, angesehen, dass sie aufgewühlt war und offensichtlich ein wichtiges Anliegen an ihn hatte. Was auch immer es war, sie schien es bei seinem Anblick vergessen zu haben. Nálani musste in seinen Augen gesehen haben, dass er unendlich traurig war. Nun konnte er ihre Sorge um ihn nicht nur sehen, sondern regelrecht spüren. Tjelvar war dankbar dafür, denn er musste über seinen inneren Aufruhr mit jemandem Reden. Gleichzeitig regte sich ein schlechtes Gewissen in ihm, da seine Mutter ihre eigenen Sorgen vergessen hatte. Doch Tjelvar unterdrückte es und sah seine Mutter fragend an.
»Was ist mit dir?«, fragte sie, während sie in der Tür stehenblieb.
»Woher weiß man, dass es Liebe ist?«, platzte er heraus.
»Gale?«
Tjelvar nickte und wandte den Blick von Nálani ab. Er hörte, wie die Tür geschlossen wurde und Nálani näherkam. Er spürte, wie sie sich zu ihm auf den Bettrand setzte.
»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Man spürt es einfach.«
Tjelvar hob den Blick.
»Ja, aber woran? Wie war das damals bei dir und ...«
Tjelvar stockte. Noch immer fiel es ihm schwer, Nálani und
Kylion als das zu bezeichnen, was sie waren.
»... deinem Vater?«, beendete Nálani für ihn den Satz.
Wieder nickte Tjelvar. Nálanis Blick nahm einen seligen Ausdruck an. Dann begann sie zu erzählen.
»Ich war lange Zeit die Spielgefährtin von Morla, als diese noch ein Kind war. Doch behandelte sie mich schlimmer als ein Tier. Eines Tages hielt ich es nicht mehr aus und lief davon.«
»Wie alt warst du da?«, unterbrach Tjelvar sie.
»In etwa so alt, wie Gale jetzt.«
»Und ... mein Vater?«
»Er war in deinem Alter.«
Tjelvar musste schmunzeln und auch Nálani lächelte.
»Erzähl weiter«, bat er.
»Nun, ich lief davon und hauste von da an in den Wäldern im Osten Laingladhdôrs, nördlich von Mîr Aeglír, dem Edelsteingebirge. Manchmal stahl ich mich nach Brôg Caras, der Bärenstadt, wenn das, was ich in den Wäldern als Nahrung fand, nicht ausreichte. Anschließend zog ich mich wieder in die Wälder zurück. Es war kein schlechtes Leben, besser als das zumindest, welches ich bei Morla bis dahin gehabt hatte. Doch leider gab es in dieser Gegend unzählige Bären, mit denen ich mir den Wald teilen musste. Eines Tages begegnete ich einem von ihnen und er griff mich an. Ich wehrte mich, so gut ich konnte, aber wäre ich dort nicht auf deinen Vater getroffen, hätte der Bär wohl mein Leben beendet. Als der Bär sich letztendlich auf mich stürzte, begrub er mich zwar unter sich, doch als ich den ersten Schreck überwunden hatte, stellte ich fest, dass der Bär tot war. Denn genau in diesem Augenblick war dein Vater hinzugekommen und hatte ihn mit einem gezielten Schuss mit seinem Pfeil mitten ins Herz niedergestreckt. Er war glücklicherweise gerade mit seinem Freund Lord Fearghas auf der Jagd gewesen. Nachdem dein Vater den Bären erlegt hatte, half er mir unter ihm hervor. Ich hob den Blick und als ich in seine Augen sah, die so blau waren wie der Ozean, war es um mich geschehen.«
»Und er?«
»Ihm ging es genauso. Magie!«
»Das ist eine schöne Geschichte«, sagte Tjelvar. »Doch ganz so einfach ist es bei Gale und mir nicht.«
»Einfach war es auch bei uns nicht. Wir haben hart für unser Glück kämpfen müssen. Deine Brüder, deine Schwester und dich hätte es nie gegeben, wenn dein Vater nicht so hartnäckig gewesen wäre. Er hat niemals aufgegeben.«
»Du sagst, du liebtest ihn und er liebte dich. Wo lag dann das Problem?«
»Bei seinem Vater, König Mártainn, deinem Großvater. Für ihn war ich nur eine ehemalige Sklavin und nicht standesgemäß für seinen Sohn.«
»Und wie habt ihr ihn dann doch überzeugt?«
»König Mártainn wollte der Hochzeit nicht zustimmen. Er fühlte sich der Tradition verpflichtet. Dein Vater jedoch wollte das nicht akzeptieren und lief mit mir davon. Wir schlugen uns nach Süden bis zum Hafen von Hâlcôf, der Fischbucht, durch. Als wir gerade auf der Suche nach einem Schiff waren, das uns nach Süden in meine Heimat bringen würde, kam ein reiches Handelsschiff im Hafen an. An Bord befand sich König Maolmuire aus Nimérubór, der sich als mein Vater entpuppte.«
»Also bist du doch von königlichem Geblüt?«
»So ist es. Mein Vater erzählte mir dann die Geschichte, wie ich nach Laingladhdôr gekommen bin, denn ich selbst konnte mich daran und auch an ihn nicht mehr erinnern. Ich wusste nur, dass ich aus einem warmen Land kam, in dem Palmen wuchsen. Mehr wusste ich nicht, denn als ich von ihm getrennt wurde, war ich noch viel zu klein. Er erzählte mir von dem Tag, an dem er mich verlor und wie oft er diesen Tag verflucht hatte. Sein Königreich war sehr klein und lebte vom Handel mit Laingladhdôr. Dies war so wichtig, dass er es niemand anderem überließ und selbst mit seinem Handelsschiff immer wieder nach Norden segelte. Nie hatte er mich mit auf See genommen, doch an jenem Tag hätte ich so lange gebettelt, bis er schließlich nachgegeben hatte. Es kam, wie es kommen musste. Wir trafen auf Piraten und sie raubten neben seiner wertvollen Fracht auch mich. Damals war ich gerade fünf Jahre alt. Die Jahre danach hatte er die Meere befahren, immer auf der Suche nach mir. Nie hatte er die Hoffnung aufgegeben, dass ich noch lebte und dass er mich eines Tages finden würde. An diesem Tag hatte ihn die Spur an die Gestade von Laingladhdôr geführt. Das Schicksal wollte es schließlich, dass er genau in dem Moment im Hafen anlegte, als wir dort nach einem Schiff suchten, das uns weg von hier brachte.«
»Aber wenn du damals noch so klein warst, woran habt ihr euch dann erkannt?«
»Ich könnte jetzt sagen, es waren unsere Herzen, die zueinander fanden. Das würde diese Geschichte noch mehr zu etwas Besonderem machen, als sie ohnehin schon ist. Doch so war es leider nicht.«
Nálani lachte.
»Was war es dann?«, fragte Tjelvar.
»Ein auffälliges Muttermal an meinem Handgelenk in Form einer Sonne, die über einem Berg aufgeht, verriet meinem Vater sofort, wer ich war. Als er das schließlich erkannte, war die Freude groß, weil er mich endlich wieder in die Arme schließen konnte.«
Tjelvar sah sie skeptisch an.
»Solche Muttermale gibt es nicht«, sagte er dann.
»Ach nein?«, konterte Nálani mit einem Schmunzeln im Gesicht.
Sie trug, wie die ganze letzte Zeit schon, ihre Kampfkleidung und schob nun den Ärmel ihres Hemdes nach oben. Nálani drehte die Unterseite ihres Handgelenkes nach oben und zum Vorschein kam ein Muttermal, wie sie es beschrieben hatte. Sie lächelte ihren Sohn an, der fasziniert auf ihr Handgelenk starrte.
»Und dann?«, löcherte er sie weiter.
»Wir ritten zurück nach Wolffshall. König Mártainn war überglücklich, als sein Sohn wieder nach Hause zurückkehrte. Nachdem ihn mein Vater darüber aufgeklärt hatte, wer ich war, konnte er keine Einwände mehr gegen die Hochzeit vorbringen. Er war glücklich darüber, denn die Flucht seines Sohnes und dessen Verzicht auf den Thron hatten ihm gezeigt, wie sehr dein Vater mich liebte. Er selbst hatte damals auf seine große Liebe verzichten und die Frau ehelichen müssen, die ihm sein Vater ausgesucht hatte. Sie war eine gute Frau und Mutter gewesen, doch seine wahre Liebe hat er nie vergessen können. Umso glücklicher war er, dass sein Sohn nun seinem Herzen folgen konnte, ohne mit der Tradition brechen zu müssen. Nur mein Vater war enttäuscht darüber, dachte er doch, dass er mich mit nach Hause nehmen könnte, wo er mich doch endlich wiedergefunden hatte. Doch meiner Liebe zu deinem Vater konnte auch er sich nicht verwehren und so wurde die Hochzeit noch am selben Abend vollzogen, da wir einfach nicht länger warten wollten. Es wurde ein riesiges Fest gefeiert, das drei Tage und drei Nächte dauerte.«
»Bereust du es manchmal, dass du nicht mit deinem Vater nach Hause zurückgekehrt bist?«
»Nein, nie! Denn durch diese Entscheidung konnte ich die größte Liebe erleben, die es in meinen Augen je gegeben hat und sie hat mir euch beschert, vier wundervolle Kinder. Eines Tages werde ich ihn wiedersehen, da bin ich mir sicher. Und bis dahin genieße ich mein Leben hier in Wolffshall, denn trotz aller Widrigkeiten ist es mein Zuhause.«
Nálani sah ihrem Sohn fest in die Augen.
»Kämpfe für deine Liebe und trotze dabei allen Widrigkeiten!«, sagte sie abschließend. »Dann werdet auch du und Gale euer Glück, euer gemeinsames Glück, finden«.
Einen Moment lang saßen sie so da. Nálani hatte inzwischen seine Hände in die ihren genommen.
»Es war schön, mit dir so zu reden«, begann Tjelvar zaghaft. »Wie mit ...«
»... einer Mutter?«
Tjelvar nickte.
»Ich fand es auch schön«, antwortete Nálani mit einem Lächeln.
Dann verfinsterte sich ihr Blick. Die Freude, die Tjelvar eben noch in jedem ihrer Gesichtszüge gesehen hatte, wich tiefer Trauer.
»Ich bin allerdings wegen etwas anderem zu dir gekommen, mein Sohn ... wegen deiner Schwester.«
»Was ist mit ihr?«, fragte Tjelvar besorgt und sprang aus dem Bett.
Jede Faser seines Körpers war in Alarmbereitschaft. Das Zusammentreffen mit seiner Mutter und seiner Schwester, dem was er an Familie noch hatte, hatte ihn verändert. Dadurch war ein Gefühl in ihm erwacht, wie er es nie zuvor gekannt hatte. Er wollte diese beiden Menschen beschützen, für sie sorgen und er würde jeden, der ihnen ein Leid zufügen wollte, in Stücke reißen.
»Sie ist verschwunden«, begann Nálani unter Tränen zu erzählen. »Niemand weiß wohin. Ihr Pferd fehlt im Stall. Gestern Abend hatten wir Streit und sie ist davongelaufen.«
Nálani schlug die Hände vors Gesicht und begann bitterlich zu weinen. Tjelvar ging zu ihr und legte tröstend den Arm um sie. Nachdem Nálani sich wieder gefasst hatte, erzählte sie weiter.
»In der Nacht, als alle schliefen, muss sie wohl ihr Pferd gesattelt haben und einfach davongeritten sein. In diesen Zeiten! Sie ist noch so jung, naiv und unvernünftig. Sie kann doch gar nicht abschätzen, was alles passieren kann.«
Wieder schluchzte Nálani.
»Vielleicht hätte ich anders reagieren sollen, vielleicht hätte ich ...«
Nálani stand auf und lief unruhig im Zimmer hin und her.
»Hör auf, dir Vorwürfe zu machen«, versuchte Tjelvar seine Mutter zu trösten. »Du kannst nicht mehr ändern, was geschehen ist.«
Dann ging er auf Nálani zu und nahm ihr Gesicht liebevoll in seine Hände.
»Ich werde sie suchen und ich werde sie finden, Mutter«, sagte er entschlossen.
»Genau deshalb bin ich hergekommen. Die Männer sammeln sich schon im Burghof. Lord Gavin wird einen Trupp nach Osten führen, um sie dort zu suchen. Lord Fearghas bricht mit ein paar Männern nach Norden auf und ein dritter Trupp sucht sie im Süden. Ich möchte dich bitten, mit einem weiteren Trupp nach Westen zu reiten.«
»Das werde ich, Mutter. Mach dir keine Sorgen. Wir finden sie, ganz bestimmt!«
Dann lief er hinunter. Er musste seine Schwester finden, bevor es jemand anderes tat. Er musste und er würde!
Tjelvar betrat den Burghof, in dem die Männer schon warteten. Ein Stallbursche hielt die Zügel seines Pferdes, das unruhig umhertänzelte. Es spürte wohl, dass es seinen Reiter auf eine wichtige Mission tragen musste. Tjelvar stieg auf und warf einen letzten Blick zum Fenster des Thronsaals hinauf, an dem Nálani stand, bevor er von seinen Männern gefolgt zum Tor hinausritt.
Während er vorwärts ritt, kreisten Tjelvars Gedanken. Vor nicht allzu langer Zeit war er diesen Weg schon einmal geritten. Da war er auf dem Weg zum Geisterwald gewesen, um ein Wesen zu suchen, das der Dunkelheit entsprungen war. Damals war er ebenfalls mit den Soldaten von Wolffshall unterwegs gewesen. Als Begleitschutz für Aemiliana und Gale, die Drachenprinzessinnen, hatte er sie angeführt. Hundert Mann stark war sein Trupp gewesen, doch außer ihm war keiner zurückgekehrt. Die Erinnerung daran schmerzte erneut und so lenkte er seine Gedanken in eine andere Richtung. Er dachte an seine kleine Schwester, die irgendwo da draußen war, allein, hilflos und vielleicht in großer Gefahr. Er fühlte sich schuldig an ihrem Verschwinden. Auch wenn seine Mutter nichts gesagt hatte, ahnte er, dass es in dem Streit der beiden um ihn gegangen war. Er war zwar froh, seine Familie wiedergefunden zu haben, doch manchmal fragte er sich, ob es nicht doch besser gewesen wäre, wenn er weiterhin verschollen geblieben wäre.
Immer weiter ritten die Männer über die weite, schneebedeckte Ebene. Dabei schonten sie sich nicht. Jeder einzelne der Soldaten kannte Prinzessin Margarete und ihre einnehmende Art. Sie war ein Wirbelwind und freundlich zu jedem von ihnen. So würden die Männer ihr letztes bisschen Kraft einsetzen, um sie zu finden, da war sich Tjelvar sicher.
Nachdem sich das Land gewandelt hatte und der Schnee schwand, brach bereits der Abend an. Sie kamen an Uolcos Uron, der Falkenfeste, vorbei. Doch sie ritten weiter. Tjelvar wollte zum Geisterwald und Aemiliana um Hilfe bitten. Vielleicht konnte sie ihm helfen, seine Schwester aufzuspüren.
Sie ritten die Nacht hindurch und als der Morgen graute, waren sowohl die Männer als auch die Pferde am Ende ihrer Kräfte. Auch Tjelvar konnte sich kaum noch im Sattel halten, also ließ er den Trupp stoppen. Auf einer weiten, mit dörrem Gras bewachsenen Ebene hielten sie an. In der Ferne konnten sie die dunklen Tannen des Geisterwaldes bereits erkennen. Es war nicht mehr weit, doch sie brauchten eine kurze Pause.
»Wir rasten hier für ein paar Stunden«, sagte Tjelvar deshalb und stieg ab.
Dankbar saßen auch seine Männer ab, wobei manche von ihnen sich mehr aus ihrem Sattel gleiten ließen, als dass sie wirklich abstiegen. Tjelvar teilte noch die Wachen ein, bevor er sich niederlegte. Sein Pferd hatte er einem seiner Männer übergeben, der es absattelte und es zusammen mit den anderen grasen ließ. Viele der Soldaten legten sich ebenfalls ins Gras. Manche schliefen auf der Stelle ein, andere dösten nur ein wenig und versuchten, auf diese Weise wieder zu Kräften zu kommen. Auch Tjelvar war sofort eingeschlafen.
Selbst den Wachen, die er eingeteilt hatte, fielen schon bald die Augen zu. So erschöpft waren sie von dem anstrengenden und erbarmungslosen Ritt.
Tjelvar schlief unruhig. Diese Ebene, auf der er vor