Nisha und die Macht der Schatten - Ambros Chander - E-Book

Nisha und die Macht der Schatten E-Book

Ambros Chander

4,6

Beschreibung

"Es ist Zeit, zu gehen!" Immer wieder hört Katja diesen Satz, wenn sie auf den Schatten trifft. Aufgewachsen im Kinderheim, ist ein altes, handgeschriebenes Buch ihr größter Schatz und die einzige Verbindung zu ihren Eltern. Als ihr sechzehnter Geburtstag näher rückt beginnt es: Katja wird verfolgt, von einem Schatten. Menschen in ihrer Umgebung verunglücken, verschwinden, sterben. Auch diejenigen, die das Mädchen zu kennen glaubt, führen anscheinend ein Doppelleben. Nicht nur die Hüter des Lichts treten in ihr Leben, sondern auch die Schattenkrieger. In ihren Träumen trifft sie auf die geheimnisvolle Nisha. Wem kann sie noch vertrauen? Am Ende muss Katja sich entscheiden - zwischen Licht und Schatten. Oder gibt es für sie doch noch einen anderen Weg?

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Inhaltsverzeichnis

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

I

»Katja?« Frau Wagner stand mit verschränkten Armen vor ihr und wartete ungeduldig auf eine Antwort.

Katja war mit ihren Gedanken jedoch weit weg. Sie sollten einen lateinischen Text übersetzen, aber ihr Blatt war leer. Nicht dass sie es nicht gekonnt hätte, vielmehr unterforderte sie all das hier. So schweifte sie immer wieder ab und träumte vor sich hin.

Der Lateinunterricht war kein Pflichtfach. Katjas Schule bot Latein als fakultative zweite Fremdsprache an. Diesen Kurs hatte sie gewählt, weil fremde Sprachen sie seit jeher faszinierten. Außerdem suchte sie eine echte Aufgabe, aber die fand sie leider auch hier nicht.

»Katja, ich warte«, wiederholte Frau Wagner ihre Aufforderung. Sie klang ziemlich missmutig.

Immer versuchte sie, Katja unvorbereitet zu erwischen, aber es gelang ihr nie. So war es auch dieses Mal. Katja las den Text leise. Während des Lesens wandelte ihr Gehirn die Worte automatisch um. Herausfordernd sah sie ihre Lehrerin an.

»Katja, die Übersetzung!«

Die Ungeduld war deutlich aus Frau Wagners Stimme herauszuhören. Aber Katja blieb gelassen. Dann übersetzte sie, ohne ihre Augen auf den Text zu richten, absolut fehlerfrei. Frau Wagners enttäuschter Blick, den sie nur schlecht verbergen konnte, war für Katja absolute Genugtuung.

Mit ihren fünfzehn Jahren besuchte Katja die zehnte Klasse der Caspar-David-Friedrich-Schule in Greifswald. Ihr Zuhause war das örtliche Kinderheim. An ihre Eltern hatte sie keine Erinnerungen, denn sie war noch viel zu klein gewesen, als sie ins Heim kam. Die Betreuer hatten ihr nichts darüber erzählen wollen, doch sie hatte versucht, selbst etwas herauszufinden. Eines Nachts hatte sie sich in das Büro der Heimleiterin geschlichen und ihre Akte herausgesucht. Aber auch dort stand nichts Genaues. Nur, dass ihre Mutter sie auf den Stufen des Heims ausgesetzt hatte. Über ihren Vater konnte sie nichts finden.

All die Jahre, die sie im Heim gelebt hatte, war sie lieb und brav gewesen. Sie hatte versucht, Besucher zu beeindrucken, die als Adoptiveltern infrage kamen. Doch stets erfolglos. Niemand wollte sie. Also hatte sie ihr Verhalten irgendwann schlagartig geändert. Sie brauchte keine Eltern! Das hatte sie für sich beschlossen und war bisher auch ganz gut damit gefahren.

Dadurch hatte sie sich jedoch viele Feinde gemacht und Frau Wagner gehörte definitiv dazu. Sie war Katjas Klassenlehrerin, unterrichtete neben Latein auch Deutsch und Geschichte. Alles Fächer, die Katja mochte. Durch Frau Wagner aber wurden sie zu einer einzigen Quälerei.

Noch immer stand ihre Lehrerin mit verschränkten Armen vor ihr und überlegte ganz offensichtlich, womit sie Katja doch noch vorführen konnte. Aber das Läuten der Schulglocke erlöste Katja schließlich.

Emsiges Treiben herrschte jetzt unter ihren Mitschülern, was die Lehrerin von ihr ablenkte. Frau Wagner versuchte, den Lärm zu übertönen und die Hausaufgaben für die nächste Stunde aufzugeben.

Katja kramte ihre Sachen zusammen und zögerte den Moment des Gehens hinaus. Die meisten Schüler beachteten sie nicht, ja bemerkten sie noch nicht einmal. Eine kleine Gruppe von Mädchen aus ihrer Klasse hatte es sich allerdings zur Aufgabe gemacht, ihr das Leben so schwer wie möglich zu machen.

Aus dem Augenwinkel beobachtete sie den Strom der Schüler, der sich den Weg durch die Tür hinausbahnte. Als es um sie herum endlich ruhig wurde und sie sich allein im Raum befand, machte auch sie sich auf den Weg. Sie hoffte darauf, ungesehen verschwinden zu können, aber sie hatte sich zu früh gefreut. Auf dem Platz vor dem Gebäude warteten sie schon.

Vanessa, Larissa, Belinda und Jessica unterhielten sich, tuschelten und kicherten. Katja versuchte, sich an ihnen vorbei zu ihrem Fahrrad zu schleichen, aber schon nach wenigen Schritten bemerkte sie, wie sich die Mädchen ihr zuwandten. Sie spürte förmlich, wie deren Blicke auf ihrer Haut brannten.

»Hey, Katja«, rief Vanessa ihr zu.

Sie war die Anführerin der Gruppe und die anderen folgten ihr wie Lemminge. Sie taten, was Vanessa sagte, ohne darüber nachzudenken. Jeder an der Schule versuchte, sich mit dieser Mädchenclique gut zu stellen oder ihnen aus dem Weg zu gehen. Katja gehörte zur zweiten Fraktion, jedoch gelang es ihr selten bis nie. Es schien, als würden die vier sie aufspüren, egal wie sehr sie versuchte, sich unsichtbar zu machen.

»Bleib doch mal stehen«, hörte sie Vanessa rufen.

Doch Katja ging weiter, den Blick stur nach vorn gerichtet. Mit jedem Schritt wurde sie schneller. Sie hörte, wie die vier näher kamen und schließlich rannten. Jemand packte sie an ihrem Rucksack und zog sie zurück, während Vanessa an ihr vorbeilief und sich vor sie setzte.

Sie hatten sie umringt. Nun blieb ihr nichts anderes übrig, als stehenzubleiben. Jessica versuchte, ihr den Rucksack vom Rücken zu reißen. Der hatte nur noch einen Träger, da der andere bereits vor einer Ewigkeit gerissen war. Viele Jahre besaß sie ihn schon und genauso sah er auch aus: schmutzig, alt und verschlissen.

Katja klammerte sich an den Träger und versuchte, ihren Rucksack festzuhalten. Die Schulsachen darin waren ihr egal, aber ein Skizzenblock und ein kleines Buch waren ihr größter Schatz.

Als sie bemerkten, dass Katjas Gegenwehr stärker war, als sie gedacht hatten, griffen auch Belinda und Larissa ein. Nach wenigen Augenblicken hatten sie ihr den Rucksack entrissen.

»Nein«, schrie Katja und versuchte, sich ihr Eigentum zurückzuholen.

Sie rannte auf Jessica zu. Doch die gab den Rucksack an Larissa weiter. Die Mädchen warfen ihn sich reihum zu, während Katja versuchte, ihn zu fangen. Doch es gelang ihr nicht. Schließlich hielt ihn Vanessa in der Hand. Langsam öffnete sie den Reißverschluss. Sie nahm ein Schulbuch nach dem anderen heraus und warf es in hohem Bogen auf den Boden. Es hatte den ganzen Tag über geregnet und überall waren große Pfützen, in denen nun Katjas Schulbücher landeten. Sie würde sie bezahlen müssen und im Heim jede Menge Ärger bekommen. Mal wieder.

»Hör auf«, bat Katja.

Vanessa hielt ihren Zeichenblock in der Hand. Langsam blätterte sie die Seiten um, runzelte dabei die Stirn. Dann sah sie Katja an und bemerkte die Angst in ihren Augen, wodurch sich ihr Gesicht erhellte. Ganz langsam riss sie das erste Blatt vom Block. Katja stürmte auf Vanessa zu, doch Larissa und Jessica packten sie an den Armen und hielten sie fest. Belinda blieb abseits stehen. Ihren Gesichtsausdruck konnte Katja nicht wirklich deuten. Für einen Moment dachte sie, Belinda würde eingreifen, aber vielleicht hatte sie sich geirrt. Denn Belinda stand einfach nur da und sah tatenlos zu, wie die anderen sie drangsalierten.

»Findest du die etwa gut?«, fragte Vanessa spöttisch.

Sie zerknüllte ein weiteres Blatt und warf es in die nächste Pfütze.

Katjas Augen brannten, denn Tränen begannen aufzusteigen, doch sie versuchte, sie zurückzudrängen. Diese Blöße wollte sie sich nicht geben, Vanessa und ihrer Bande diese Genugtuung nicht gönnen.

Nach und nach riss Vanessa die Seiten aus dem Block, zerknüllte eine nach der anderen, um sie anschließend in den umliegenden Pfützen zu verteilen. Das Regenwasser tränkte das Papier und färbte es an den Stellen dunkel, die Katja mit Kohlestift bearbeitet hatte.

Katja sah auf ihre Zeichnungen und schaute entsetzt zu, wie das Papier das Wasser aufsaugte. Dann hob sie den Blick.

»Dafür werdet ihr bezahlen«, presste sie mühsam hervor. »Das schwöre ich euch.«

»Oh, jetzt haben wir aber Angst«, entgegnete Vanessa mit spöttischem Unterton.

Die anderen kicherten nur.

»Lasst sie in Ruhe«, drang plötzlich eine Jungenstimme aus kurzer Entfernung zu ihnen herüber.

Alle wandten ihre Köpfe in diese Richtung. Bis auf Katja. Ihr war es egal, wer da rief. Sie trauerte um ihre Zeichnungen und malte sich in Gedanken aus, was für Qualen sie den vier Mädchen bereiten würde. Larissa und Jessica hatten sie losgelassen. Katja kauerte sich nieder, um eine der Papierseiten aufzuheben, die in der Pfütze vor ihr lag. Vanessas Clique suchte das Weite, jedoch nicht ohne Katja noch einen Stoß zu geben, sodass sie das Gleichgewicht verlor und mit den Knien in der Wasserlache landete.

Doch Katja war auch das egal. Sie faltete die Seite auseinander, die sie eben aufgehoben hatte, und strich sie glatt. Liebevoll fuhr sie darüber. Ganz vorsichtig, um ihre Zeichnung nicht noch mehr zu zerstören, was eigentlich unmöglich war.

Wie auf all ihren Bildern war auch hier eine undeutliche Schattengestalt zu sehen: schwarz, bedrohlich und doch wunderschön. Durch die Nässe verschwamm sie allerdings an den Rändern, bis der Schatten fast das ganze Blatt bedeckte. Je länger Katja darauf starrte, desto stärker hatte sie das Gefühl, dass er immer mehr zerfloss und sich über die Ränder des Papiers hinaus ausbreitete. Als das Schwarz des Schattens ihre Finger berührte, ließ Katja das Blatt fallen, das nun in der Pfütze landete, in der sie nach wie vor kniete. Der Schatten dehnte sich weiter über die Wasseroberfläche aus und näherte sich ihr. Erschrocken sprang Katja auf und stieß mit jemandem zusammen, der hinter ihr stand.

»Vorsicht, Vorsicht«, hörte sie die Stimme von vorhin sagen.

Sie drehte sich um. Es war Karim, der hinter ihr stand. Vor einiger Zeit war er mit seiner Familie nach Deutschland gekommen und besuchte seitdem dieselbe Klasse wie sie. Sie waren aus irgendeinem arabischen Land vor Krieg, Verfolgung und Hunger geflohen. Aus welchem genau, wusste Katja nicht. Damit hatte sie sich nie näher befasst, denn sie hatte genug eigene Probleme und konnte sich nicht auch noch um die anderer kümmern. Außerdem hatte Karim anfangs Ärger regelrecht angezogen wie ein Magnet.

An ihrer Schule gab es eine Gruppe Jugendlicher, die es ausländischen Mitschülern nicht gerade leicht machte. Das Schlimme an ihnen war, dass man sie nicht sofort als ausländerfeindlich erkannte. Sie hatten nicht die typischen kahl geschorenen Köpfe, trugen keine Springerstiefel oder Bomberjacken. Nein, sie sahen aus wie jedermann und genau das machte sie so gefährlich.

Karim jedoch hatte einen Vorteil auf seiner Seite: seine Familie! Seine vier älteren Brüder gingen ebenfalls hier zur Schule oder arbeiteten in der Stadt. In dieser Familie war der Zusammenhalt untereinander alles. So hatten sich seine Brüder der Gruppe entgegengestellt, als sie Karim wieder einmal in die Mangel nehmen wollte, und ihr die Stirn geboten. Die Brüder waren in der Unterzahl, aber der Widerstand war so neu für Mario und seine Jungs, dass sie Karim von nun an in Ruhe ließen und sich andere Ziele suchten. Denn Karim war nicht der Einzige aus einem anderen Land. Viele Flüchtlinge hatten Zuflucht in Deutschland gesucht. Die wenigsten waren freundlich aufgenommen worden. Auch in Katjas Kinderheim gab es Flüchtlingskinder und -jugendliche, die keine Familie mehr hatten. Sie blieben meist für sich und versuchten, Mario aus dem Weg zu gehen, so gut sie konnten, aber manchmal trafen sie doch auf ihn. Die ganze Schule wurde von ihm und seinem Trupp terrorisiert, doch niemand griff ein.

»Bist du in Ordnung?«, fragte Karim.

Katja nickte nur, während sie einen Blick über die Schulter zu der Pfütze warf. Darin lag ihre vom Wasser durchtränkte Zeichnung. Der Schatten jedoch war verschwunden. Inzwischen hatte der Regen wieder eingesetzt und durchweichte das Papier noch mehr.

»Katja?« Karim berührte sie am Arm. Sie zuckte zusammen.

Beschwichtigend hob er die Arme.

»Ja, mir geht’s gut«, antwortete Katja schließlich. »Nichts passiert.«

Karim war nicht allein unterwegs. Zwei seiner Brüder begleiteten ihn, standen etwas im Hintergrund. Katja hatte mittlerweile damit begonnen, ihre Sachen einzusammeln, zuerst ihre Zeichnungen, denn sie waren das Wichtigste für sie. Aber sie waren allesamt nicht mehr zu retten, ebenso wenig wie ihre Schulbücher und Hefte. Katja sah sich um. Das Buch, das ihr so wichtig war, konnte sie nirgends entdecken, also kramte sie in ihrem Rucksack. Doch auch dort fand sie es nicht. Sie war den Tränen nahe. Nur dieses Buch war ihr von ihren Eltern geblieben. Obwohl! Buch war vielleicht übertrieben. Irgendwann war es wohl mal eines gewesen. Nun handelte es sich nur noch um einzelne Seiten, die durch ein Lederband zusammengehalten wurden. Am linken Rand waren sie ausgefranst, geradeso als wären sie irgendwo herausgerissen worden. Im Grunde war es nichts Besonderes, nur eine Sammlung handgeschriebener Märchen und Sagen, uralt und vergilbt. Aber Katja hütete sie, als wären sie das Kostbarste auf der Welt. Sie tat zwar immer so, als wäre sie wütend auf ihre Eltern, doch insgeheim vermisste sie Mutter und Vater, obwohl sie sich nicht an sie erinnern konnte. Deshalb klammerte sie sich so sehr an dieses Buch.

Als Katja alles aufgelesen hatte, ging sie zu ihrem Fahrrad.

Karim lief ihr nach.

»Katja, warte«, rief er.

Sie blieb stehen und drehte sich zu ihm um.

»Danke«, murmelte sie und wollte aufsteigen, aber er hielt sie zurück. »Was willst du?«, fragte sie missmutig.

Karim hingegen lächelte sie nur an.

»Du bist völlig durchnässt, deine Sachen sind auch klitschnass«, begann er. »Warum kommst du nicht mit zu uns nach Hause? Wir trocknen deine Schulbücher und meine Schwester kann dir etwas Trockenes zum Anziehen geben.«

Katja schaute Karim skeptisch an, schielte dann an ihm vorbei zu seinen Brüdern.

»Hast du etwa Angst?«, fragte Karim.

Damit traf er Katjas Stolz.

»Ich habe keine Angst, vor niemandem!«

Wütend verzog sie das Gesicht und stolzierte mit ihrem Fahrrad an ihm vorbei auf seine Brüder zu.

Karim holte zu ihr auf.

»Wenn du willst, kannst du auch zum Essen bleiben«, sagte er nach einer Weile. »Meine Mutter kocht meistens so viel, dass es für die halbe Nachbarschaft reichen würde.«

Erwartungsvoll sah er Katja von der Seite an, während sie weitergingen.

Sie hielt den Blick starr nach vorn gerichtet und schob ihr Fahrrad weiter vorwärts.

»Mal sehen«, sagte sie knapp.

Aus dem Augenwinkel bekam sie mit, dass Karims Brüder Blicke miteinander wechselten und still vor sich hin lächelten.

Nach kurzer Zeit näherten sie sich einem der vielen Neubaublöcke, die in dieser Gegend standen. Sie steuerten einen der Eingänge an. Karim und seine Brüder gingen hinein. Katja blieb jedoch unschlüssig vor der Eingangstür stehen.

Da kam Karim zurück.

»Bring dein Fahrrad rein«, sagte er. »Du kannst es solange in unserem Keller einschließen.«

Stumm folgte Katja ihm ins Haus und die Treppe hinunter. Etwas mulmig war ihr schon zumute, aber sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.

Als sie ihr Fahrrad eingeschlossen hatten, sah Karim sie eindringlich an.

»Wir sind nicht so, wie du denkst«, erklärte er.

»Du weißt nicht, was ich denke«, entgegnete sie trotzig, denn sie fühlte sich ertappt.

»Nein, vielleicht nicht, aber die Angst, die Angst vor uns, steht dir ins Gesicht geschrieben.«

Katja senkte den Blick.

Karim sagte nichts weiter, sondern sah sie nur an.

»Ja, ich habe Angst, ein wenig«, gab sie leise zu. »Man erzählt sich viel. Ich weiß nicht, was ich davon glauben soll und was nicht. Allerdings hast du mir gegen Vanessa und ihre Bande geholfen. Das ist mehr, als mancher Deutsche je getan hat. Dafür danke ich dir.«

Katja hob den Blick, sah ihm in die Augen und versuchte, ein kleines Lächeln zustande zu bringen.

Karim grinste zurück.

»Dann komm«, entgegnete er.

Sie gingen hinauf. Als sie die Wohnung betraten, empfing sie bereits lautes Stimmengewirr. Karim führte Katja ins Wohnzimmer, in dem die ganze Familie versammelt zu sein schien. Karim stellte alle vor. Seine vier Brüder Muaz, Thani, Racheed und Zahid. Dann waren dort noch Karims kleine Schwester Hanifah, seine Mutter Djamila, sein Vater Farouk und zwei Frauen, Soraya und Aylin. Soraya hielt ein weinendes Baby im Arm und wiegte es sanft zur Beruhigung. Die beiden waren die Ehefrauen seiner zwei ältesten Brüder, Muaz und Thani. Sie alle begrüßten Katja herzlich und nahmen ihr damit langsam die Unsicherheit. Dass keine der Frauen verschleiert war, verwunderte Katja allerdings sehr. Denn das hatte sie eigentlich erwartet.

»Hanifah, such doch bitte für Katja etwas Trockenes zum Anziehen und zeige ihr das Bad«, ergriff nun Karims Vater das Wort.

Ohne etwas zu sagen, verließ Hanifah den Raum. Kurz darauf kam sie mit ein paar Sachen zurück. Im Türrahmen blieb sie stehen und wartete.

Karim nickte Katja aufmunternd zu. Schließlich ging sie zu Hanifah, die sie ins Bad führte.

Karims Schwester legte alles auf einem kleinen Hocker neben der Dusche ab, dazu ein Badetuch.

»Du kannst gerne auch duschen, wenn du magst«, sagte sie freundlich, aber dennoch zurückhaltend. »Die Tür lässt sich abschließen.«

Daraufhin ging Hanifah und ließ sie allein zurück.

Katja sperrte die Tür ab. Eine Dusche war eine gute Idee, denn inzwischen fror sie erbärmlich. Sie entkleidete sich und stellte das Wasser an. Als es die richtige Temperatur hatte, stieg sie in die Dusche und ließ es sich über den Körper laufen. Katja schloss die Augen und dachte über die Erlebnisse des Tages nach. Einen klaren Gedanken konnte sie jedoch kaum fassen.

»Es wird Zeit zu gehen«, hörte sie plötzlich jemanden sagen.

Erschrocken öffnete sie die Augen. Die Stimme war so nah, als würde derjenige direkt neben ihr stehen. Aber da war niemand. Sie drehte das Wasser ab, stieg aus der Dusche und wickelte sich das Badetuch um den Körper. Dann sah sie sich nervös um.

»Hallo?«, fragte sie zaghaft. Eisige Stille umfing sie.

Nur das Stimmengewirr von Karims Familie drang dumpf durch die geschlossene Badezimmertür. Sie lauschte so angestrengt, dass sie zusammenzuckte, als es an der Tür klopfte.

»Das Essen steht auf dem Tisch«, hörte sie Karim sagen.

»Ja«, antwortete sie. »Ich komme sofort.«

Sie trocknete sich ab und zog die Sachen an, die ihr Hanifah hingelegt hatte. Sie passten wie angegossen. Wie alt Karims Schwester war, konnte Katja nur schwer einschätzen. Ihr Gesicht wirkte sehr reif, aber sie war so zierlich gebaut.

Katjas stoppeliges Haar war durch den Regen klitschnass geworden und hatte in sämtliche Himmelsrichtungen vom Kopf abgestanden. Nun hatte sie es wieder einigermaßen hergerichtet. Sie betrachtete sich im Spiegel. Ja, so konnte sie sich sehen lassen. Sie raffte ihre nassen Sachen zusammen, verließ das Bad und ging den Flur entlang zum Wohnzimmer. Am reich gedeckten Esstisch saßen alle bereits auf ihren Plätzen. Unschlüssig blieb sie im Türrahmen stehen, als Karims Mutter auf sie zukam.

»Gib mir die Sachen«, sagte sie freundlich. »Ich wasche sie für dich.«

»Das ist nicht nötig.« Katja wollte sie davon abhalten, aber Djamila nahm ihr alles ab und eilte davon.

Karim kam auf Katja zu.

»Deine Bücher trocknen auf der Heizung.«

Dabei zeigte er in Richtung Fenster.

Katja ging hinüber und begutachtete den Schaden, den das Wasser angerichtet hatte.

»Sie werden wohl nicht zu retten sein«, sagte Karim. Er war ihr gefolgt und stand nun hinter ihr.

Besorgt sah sie ihn an. Das hatte sie schon befürchtet. Katja versuchte, sich bereits auf das Theater vorzubereiten, das sie im Heim erwarten würde.

»Du kannst meine haben«, sagte Karim.

»Das geht nicht. Dann musst du sie doch bezahlen.«

»Das ist schon in Ordnung.«

Karim lächelte sie an, was Katja mehr als nervös machte.

Sie wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Zum Glück kam in diesem Moment Djamila zurück und rief sie zum Essen. Katja setzte sich an den Tisch und betrachtete die Gerichte, die Karims Mutter aufgetischt hatte. Die meisten kannte sie nicht, aber direkt vor ihr standen Würstchen, Rührei und ein lecker duftender Tomatensalat. Sie sah Djamila an, doch die lächelte nur. Dann fassten sich alle Familienmitglieder an den Händen und Farouk sprach ein Tischgebet, ein christliches Tischgebet. Katja versuchte, ihr Erstaunen zu verbergen, um nicht unhöflich zu erscheinen. Als Karims Vater geendet hatte, begannen sie zu essen. Nebenbei unterhielten sich alle, erzählten vom heutigen Tag, lachten und scherzten.

Katja genoss die familiäre Atmosphäre und fühlte sich gerade rundum wohl, als das Klingeln ihres Telefons sie wieder in die Wirklichkeit zurückholte. Ein Blick auf ihr Display verriet ihr, dass sie in großen Schwierigkeiten steckte, denn dort leuchtete die Nummer der Heimleiterin auf. Sie sah auf die Uhr, die ihr zeigte, dass sie viel zu spät dran war. Wegen der guten Stimmung hatte sie die Zeit völlig vergessen.

»Es tut mir leid«, setzte sie an und ihr Gesichtsausdruck unterstrich ihre Worte. »Ich muss gehen.«

Sie stand auf, bedankte sich höflich für alles und wandte sich zur Tür.

»Warte«, sagte Karim.

»Ich muss wirklich los.«

Katja trat unsicher von einem Bein aufs andere.

Karim war aus dem Wohnzimmer gerannt und kam nun mit seinen Schulbüchern zurück.

»Ich hatte doch gesagt, du kannst meine haben.«

»Das geht nicht …«

»Doch, das geht.«

Damit drückte er ihr die Bücher in die Hand.

Katja stand da und wusste nicht, was sie sagen sollte. Schließlich seufzte sie nur und packte sie hektisch in ihren Rucksack.

»Danke«, presste sie nebenbei hervor. »Jetzt muss ich aber wirklich …«

Noch einmal bedankte sie sich bei Farouk und Djamila. Dann verließ sie zusammen mit Karim die Wohnung. Sie gingen in den Keller, um ihr Fahrrad zu holen. Als er sein eigenes ebenfalls hinausschob, sah Katja ihn fragend an.

»Es ist schon dunkel«, sagte Karim nur und zuckte mit den Schultern.

Er ging an Katja vorbei und stieg auf. Mit einem Kopfschütteln folgte sie ihm.

Inzwischen hatte es aufgehört zu regnen.

Schweigend fuhren sie die zehn Minuten bis zum Heim nebeneinander her. Als sie dort angekommen waren, schob Katja ihr Fahrrad in den Unterstand und blieb unsicher stehen. Was sollte sie sagen? Sie hatte heute Abend viel erlebt und gesehen. Sehr schöne Dinge, wenn sie ehrlich war, jedoch hatten diese sie auch total verwirrt.

»Bis morgen«, verabschiedete sich Karim, so als ob er ihre Unsicherheit spürte.

Katja nickte nur und betrat das Haus.

Drinnen wurde sie schon von der Heimleiterin, Frau Lorenz, mit verschränkten Armen erwartet. Bei dieser Pose musste sie unwillkürlich an Frau Wagner denken, die heute Nachmittag ähnlich vor ihr gestanden hatte.

»Was hast du zu deiner Entschuldigung vorzutragen?«

Frau Lorenz' Stimme unterstrich die Strenge, die ihre Körperhaltung ausstrahlte.

Katja sah nur zu Boden und entgegnete nichts.

»Geh auf dein Zimmer«, sagte Frau Lorenz schließlich nach einer gefühlten Ewigkeit. »Über deine Strafe sprechen wir morgen.«

Katja ging, froh darüber, dieser angespannten Situation entkommen zu sein. Alle Zimmertüren standen einen Spalt offen. Katja spürte, wie die Blicke der anderen ihr folgten.

In ihrem Zimmer stellte sie seufzend ihren Rucksack ab. Eigentlich müsste sie noch ihre Hausaufgaben erledigen, aber sie fühlte sich dazu nicht in der Lage. Morgen früh vor der Schule würde noch genügend Zeit dafür sein. Jetzt drehten sich ihre Gedanken um etwas anderes: ihr Buch! Sie hatte es heute nicht dabei gehabt, das war sehr ungewöhnlich. Sie trug es immer bei sich, weil es ihr so wichtig war. Normalerweise ließ sie es nie im Heim zurück, doch irgendwo musste es sein und ihr Zimmer war die einzige Möglichkeit. Sie durchsuchte ihren Schrank, ihren Nachttisch, aber es war nirgends zu finden.

Verzweifelt warf sich Katja auf ihr Bett und weinte. Dieses Buch war alles, was sie mit ihrer Vergangenheit verband, doch nun war es verschwunden. Sie grub ihr Gesicht tief ins Kissen und fuhr mit den Händen darunter. Plötzlich hielt sie inne. Sie spürte etwas, etwas Hartes.

Katja sprang auf, warf alles zur Seite. Eine riesige Last fiel von ihr ab, als sie es sah: ihr Buch. Klein, alt und abgegriffen. Sie schlug es auf, blätterte darin, strich zärtlich über die mit alter Schrift beschriebenen Seiten. Katja hatte es so oft gelesen, dass sie die Geschichten inzwischen auswendig kannte.

Sie schloss das Buch und presste es an ihre Brust. Ein tiefer Seufzer entwich ihr. Nach einer Weile packte sie es in ihren Rucksack. Danach zog sie ihren Pyjama an und ging ins Bad, um sich die Zähne zu putzen. Wieder zurück im Zimmer lief sie zum Fenster und blickte zum Lichtermeer am Nachthimmel hinauf. Helle Sterne und blinkende Flugzeuge, die dort oben ihre Kreise zogen. Katja liebte diesen Anblick.

Endlich legte sie sich in ihr Bett. Sie glaubte kaum, dass sie bald einschlafen würde, so wie ihre Gedanken in ihrem Kopf kreisten. Sie dachte an ihre zerstörten Zeichnungen, an Vanessa und ihre Freundinnen. Wut packte sie. Eines Tages würde sie es ihnen heimzahlen. Irgendwann! Während sie den Tag noch einmal erlebte, legten sich die Schatten der Nacht über sie und sie schlief ein.

II

»Es ist Zeit, zu gehen«, hörte Katja jemanden sagen.

Langsam öffnete sie die Augen und richtete sich in ihrem Bett auf. In der Tür stand eine Gestalt, aber Katja sah nur einen Schatten.

»Es ist Zeit, zu gehen«, wiederholte er.

»Wohin?«, fragte sie. Doch sie erhielt keine Antwort.

Der Schatten bewegte sich auf sie zu. Neben ihrem Bett blieb er schließlich stehen. Er breitete sich allmählich aus und näherte sich ihr. Als er über ihre Bettdecke floss, spürte sie eisige Kälte. Sie zog die Beine eng an den Körper. Angst stieg in ihr auf, als er sie fast berührte. Da sprang sie auf der anderen Seite aus dem Bett.

»Es ist Zeit, zu gehen!«

»Nein!«, schrie Katja und rannte aus dem Zimmer.

Während sie über die dunklen Flure lief, blickte sie nicht zurück. Schwärze umfing sie und ihr wurde immer kälter. Sie wusste nicht, ob der Schatten ihr folgte, wusste nicht, ob ihr irgendjemand folgte. Dennoch rannte sie einfach weiter. Nur weg, schrie es in ihr. Weit weg!

In diesem Moment zog es ihr den Boden unter den Füßen weg und sie fiel. Sie fiel und fiel und fiel. Etwas schnürte ihr den Atem ab. Während sie weiter ins Nichts stürzte, rang sie nach Luft. Kurz bevor sie drohte, ohnmächtig zu werden, löste sich der Druck, der auf ihren Lungen lastete. Gierig sog sie Luft ein, die jetzt jedoch modrig roch. Übelkeit überkam Katja. Im selben Moment landete sie auf einem weichen Untergrund, der sie federnd auffing. Es war noch immer dunkel um sie herum, also versuchte sie, ihre Umgebung zu ertasten. Der Boden fühlte sich beinahe flauschig an, feucht und angenehm warm. Das Aufstehen gestaltete sich schwierig, da er sich unter ihr zu bewegen schien. Als sie es endlich geschafft hatte, ließ sie den Blick schweifen und versuchte, die Dunkelheit zu durchdringen. Nach einer Weile entdeckte sie in weiter Entfernung kleine Lichtpunkte.

Vorsichtig ging Katja in diese Richtung, wobei der Boden unter ihr bei jedem Schritt federte. Die Lichtpunkte bewegten sich ebenfalls und hüpften ihr entgegen. Immer näher kamen sie und tauchten die Umgebung in ein schwaches Licht. Noch immer konnte Katja den Boden unter ihren Füßen kaum erkennen, genau wie alles andere um sich herum. Doch durch die Lichtpunkte wurde bald alles deutlicher sichtbar.

Dort, wo sie ihren weißen Schein verbreiteten, sah Katja, dass der Untergrund mit einem Teppich aus Moos überzogen war. Mit jedem Schritt sank sie tief darin ein. Für einen Moment blieb sie stehen, hob dann langsam ihren linken Fuß. Ein Stück weiter vorn setzte sie ihn ab. Dabei spürte sie wieder dieses Federn, bevor sie erneut bis zum Knöchel im Boden versank.

Immer mehr Lichtpunkte fanden zueinander. Wie kleine Insekten schwirrten sie um Katjas Kopf, berührten sie allerdings nicht, sondern hielten immer einen gewissen Abstand zu ihr. Eines der Lichter schwebte ganz dicht vor ihrem Gesicht und Katja erkannte, dass es sich tatsächlich um eine Art Insekt handelte. Ein schmaler weißer Körper wurde von zarten, hauchdünnen Flügeln, die sich rasend schnell bewegten, in der Luft gehalten. Katja sah sich um. Die ganze Umgebung war in ein gespenstisches weißes Licht getaucht. Aber trotz der Helligkeit konnte Katja nicht viel erkennen. Sie war nur schwach ausgeprägt, dennoch blendete sie immer mehr, je länger Katja hineinstarrte.

Zu Anfang hatte sie das Gefühl, die Insekten würden wild durcheinanderfliegen, aber je länger sie zuschaute, desto mehr erkannte sie ein Muster in ihren Bewegungen. Sie flogen auf und ab, aber nicht planlos. Während die einen vom Boden aufstiegen, ließen sich andere hinabsinken. Wenn sie den Untergrund beinahe berührten, brachen im selben Moment Pflanzen daraus hervor. Dünne Blütenstiele in hellem Grün, an deren Ende sich orangefarbene, glockenförmige Kelche befanden. Da sie bisher ihren Blick fasziniert auf die Lichter statt auf den Boden gerichtet hatte, bemerkte Katja die Pflanzen erst jetzt.

Die Insekten glitten in die Kelche hinein und verharrten dort einen Moment, bevor sie wieder aufstiegen. Im selben Rhythmus verschwanden die Pflanzen im Moos, um abermals zu erscheinen, sobald sich die Insekten erneut dem Boden näherten. Gebannt sah Katja zu und bemerkte daher nicht, dass sich die Insekten mit jedem Herabsinken weiter von ihr entfernten. Ebenso entging ihr, dass sie ihnen folgte.

Allmählich veränderte sich die Umgebung. Der moosige Untergrund wurde von Sandboden abgelöst. Noch immer führten die leuchtenden Insekten Katja weiter voran, doch sie sanken nun nicht mehr zu Boden. Jetzt flogen sie als Schwarm in gerader Linie vorwärts und Katja folgte ihnen wie unter Hypnose. Plötzlich sammelten sie sich und formten eine hell leuchtende Kugel, die Katja aus ihrer Trance riss. Sie schirmte die Augen mit der Hand ab, dann ließ die Leuchtkraft allmählich nach. Dennoch machte sie es möglich, alles klar und deutlich wahrzunehmen. Katja sah sich um, wobei sie sich im Kreis drehte. Sie befand sich in einer Einöde. Sand bedeckte den Boden und der einzige Pflanzenwuchs, den sie sehen konnte, bestand aus knochigen Dornenbüschen. Sie standen einzeln, aber auch in kleineren oder größeren Gruppen.

Katja drehte sich weiter im Kreis. Als sie wieder am Ausgangspunkt ankam, zuckte sie erschrocken zusammen. Vor ihr stand ein kleines Mädchen von vielleicht neun Jahren. Ihr Haar war so milchig weiß wie das Licht der Insekten und sie selbst umgab eine strahlende Aura.

»Hallo, ich bin Nisha«, erklärte das Mädchen und legte den Kopf schief. »Du bist Katja.«

Dies kam mit einer solchen Selbstverständlichkeit, dass es Katja für einen Moment die Sprache verschlug.

»Woher weißt du das?«, fragte sie nach einer Weile.

Noch immer hielt Nisha den Kopf schief und sah sie mit ihren eisblauen Augen durchdringend an.

»Komm mit«, forderte sie Katja auf.

Hüpfend lief sie tiefer in die Einöde hinein.

Katja wusste nicht wieso, doch sie folgte dem Mädchen, das nun den Weg vor ihnen erhellte.

Nisha führte sie durch die Dornenbüsche. Mit jedem Schritt wippte ihr langes, weißes Haar, das aus reinem Licht zu bestehen schien, auf und ab. Immer dichter drängten sich die Büsche und der Platz dazwischen wurde ständig enger, sodass Katja sich