Die drei ??? und der Mottenmann (drei Fragezeichen) - Christoph Dittert - E-Book

Die drei ??? und der Mottenmann (drei Fragezeichen) E-Book

Christoph Dittert

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Beschreibung

In Rocky Beach taucht plötzlich eine schaurige Gestalt auf: ein geflügeltes Wesen mit leuchtend roten Augen. Können die drei ??? das Geheimnis um den Mottenmann lüften?

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und der Mottenmann

erzählt von Christoph Dittert

Kosmos

Umschlagillustration von Silvia Christoph, Berlin

Umschlaggestaltung von eStudio Calamar, Girona, auf der Grundlage

der Gestaltung von Aiga Rasch (9. Juli 1941 – 24. Dezember 2009)

Hinweis: Dieses Buch wurde vor vielen Jahren geschrieben und veröffentlicht. Es ist ein Produkt seiner Zeit. Daher kann es diskriminierende Darstellungen enthalten, die in der Gesellschaft zu wenig infrage gestellt wurden. Jegliche Art von Diskriminierung passt nicht zu unserem heutigen Verständnis von einer vielfältigen und gleichberechtigten Gesellschaft. Wir haben uns dennoch entschlossen, das Buch in seiner Originalfassung zu belassen. Wir empfehlen, sich kritisch mit dem Thema Diskriminierung auseinanderzusetzen.

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© 2019, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Wir behalten uns auch die Nutzung von uns veröffentlichter Werke für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Mit freundlicher Genehmigung der Universität Michigan

Based on characters by Robert Arthur

ISBN 978-3-440-15797-8

eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Ein entsetzlicher Anruf

Das Telefon klingelte in der Zentrale. Justus, der Erste Detektiv der drei ???, meldete sich, doch der Anrufer ließ ihn nicht aussprechen. »Kommt zu mir, Jungs, schnell … und helft mir!« Panik lag in der Stimme, die aus dem Lautsprecher des Telefons drang. Justus versuchte sie zuzuordnen. Sie gehörte einem alten Mann, so viel stand fest. »Es ist entsetzlich!«, sagte der Anrufer.

Der Erste Detektiv warf seinen Freunden einen Blick zu. »Nun beruhigen Sie sich bitte, Mr …?«

Der Mann am anderen Ende der Leitung reagierte nicht auf den fragenden Tonfall. Stattdessen sagte er erneut: »Es ist entsetzlich!«

»Was ist denn überhaupt passiert?«, versuchte Justus es nun. »Droht Ihnen Gefahr, Sir?«

»Ja … Also ich meine, nein …«

»Wo sind Sie? Brauchen Sie Hilfe?«

Der Anrufer rang hörbar nach Luft. »Ich … Ach, entschuldigt, ich muss mich beruhigen. Ich bin so furchtbar erschrocken. Lasst es mich erklären.«

Justus lehnte sich im Stuhl zurück, sodass die Lehne knarzte.

»Jetzt gerade, ich meine, in diesem Moment bedroht mich niemand«, erklärte der Fremde.

»Also besteht keine akute Gefahr«, sagte Justus.

»Jaja, so nennt man das wohl. Das ändert allerdings nichts daran, dass ich mich fürchte. Ich brauche eure Hilfe. Ihr … Ich meine, ihr seid doch die drei ???, oder? Diese Detektive?«

»Korrekt, Sir.«

»Gut.« Ein nervöses Lachen folgte. »Wäre ziemlich peinlich, wenn ich das jetzt irgendjemandem erzählt hätte. Der könnte mich ja glatt für verrückt halten. Ihr jedoch kennt euch mit seltsamen Phänomenen aus, nicht wahr?«

»In der Tat.«

»Dann kommt zu mir, bitte. Über alles andere können wir unter vier Augen sprechen.«

»Wohl eher unter acht Augen, Sir, wenn wir zu dritt kommen.«

»J-ja. Natürlich. Wann seid ihr bei mir?«

»Dazu müssen wir zunächst wissen, wo Sie wohnen. Wir kennen noch nicht einmal Ihren Namen.«

»Oh. Wirklich? Entschuldigt. Vor Schreck ist mir … Ach, egal. Verzeiht einem alten Mann. Ich gehe stark auf die achtzig zu, wisst ihr? Da vergisst man schon mal das eine oder andere. Ich heiße Mason Huntington.«

»Gut, Mr Huntington. Und könnten Sie uns nicht doch kurz erläutern, worum es genau geht?«

»Ich werde verfolgt! Der Mottenmann ist hinter mir her … wie schon hinter meinem Vater! Er hat mich gefunden.« Die Stimme zitterte stark bei den letzten Worten. Kein Zweifel, Mr Huntington hatte Angst.

»Der Mottenmann?«, hakte Justus nach. »Was meinen …«

»Bitte kommt zu mir, dann erzähle ich euch alles.«

»Einverstanden. Wo wohnen Sie?«

Er nannte die Straße. »Wisst ihr, wo das ist?«

»Klar, das ist im Villenviertel.« Die drei ??? kannten Rocky Beach so gut wie ihre Westentasche. Oder wie Justus Jonas den Schrottplatz, Bob Andrews die hiesige Bibliothek und Peter Shaw sein Surfbrett.

Der Erste Detektiv versicherte, dass sie sich so schnell wie möglich auf den Weg machen würden. »In spätestens einer halben Stunde sind wir bei Ihnen.«

»Danke«, sagte Mr Huntington, um im letzten Augenblick, ehe er die Verbindung unterbrach, noch einmal hinzuzufügen: »Es ist entsetzlich!«

»Was haltet ihr davon?«, fragte Bob, nachdem auch Justus aufgelegt hatte.

»Solange uns weitere Infomationen fehlen, lässt es sich nicht einschätzen«, meinte der Erste Detektiv.

Peter stand auf. »Er hat den Mottenmann erwähnt – ist das nicht irgend so ein Schreckgespenst?«

»Ja«, sagte Bob. »Eine Schauergestalt aus einer Sage, wenn ich mich nicht irre.«

»Da irrst du dich nicht«, erklärte Justus. »Eine Mischung aus Mensch und Motte, mit Flügeln und unheimlich leuchtenden Augen.«

»Schade, wir haben keine Zeit, das genauer zu recherchieren«, sagte Bob. »Aber vielleicht ist es ohnehin gut, erst einmal zu hören, was Mr Huntington zu sagen hat.«

Peter verließ als Erster den Campinganhänger, in dem sich die Zentrale – das Detektivbüro der drei ??? – befand. Seine Freunde folgten. Der Wohnwagen war auf dem Schrottplatz der Familie Jonas unter einem Haufen Gerümpel versteckt. Um hinauszukommen, gingen sie durch einen kurzen Tunnel, der zu einem ausrangierten Kühlschrank ohne Rückwand führte – dem sogenannten Kalten Tor.

Draußen brannte die Sonne auf sie herunter. Die Luft über dem Schrottplatz flimmerte in der Spätnachmittagshitze.

Es war Freitag. Vor ein paar Stunden hatten die drei ??? noch die Schulbank gedrückt und erfahren, dass sie am Wochenende als Hausaufgabe für ihren Geschichtskurs ein Referat zum Thema Stadtgründung von Rocky Beach vorbereiten sollten. Doch daran verschwendeten sie nun keinen Gedanken mehr. Sie schwangen sich auf ihre Fahrräder. Peter trat fest in die Pedale und düste voraus Richtung Villenviertel – hinein in das Abenteuer, das dort hoffentlich auf sie wartete.

Ein hüfthoher Lattenzaun, der den Zutritt auf das Gelände verhindern sollte, umgab die alte Villa von Mr Huntington. Die Klingel befand sich in einer der beiden Säulen eines Metalltors. Darauf saß ein kleiner Steinelefant, der den Besuchern ins Gesicht schaute.

»Der Hausbesitzer scheint einem besonderen Geschmack zu frönen«, kommentierte Justus auf seine geschraubte Art, während er das Tier musterte.

Bob klingelte.

Aus der Sprechanlage knarzte ein »Ja bitte?«.

»Mr Huntington«, sagte der dritte Detektiv. »Wir sind’s, die drei ???.«

»Sehr gut! Kommt rein!«

Es summte. Bob drückte das Tor auf und ging voraus. Seine beiden Freunde folgten ihm auf dem Weg, der durch recht gut gepflegte Rasenflächen führte. Unter ihren Füßen knirschte schwarzer Kies. Neben der Villa stand ein Geräteschuppen aus Holz. Ein gläsernes Gewächshaus schloss sich an und endete bei einer gepflasterten Terrasse. Darauf stand eine riesige Hollywoodschaukel.

Das Anwesen war sicher einmal sehr nobel gewesen, sah mittlerweile allerdings ziemlich in die Jahre gekommen aus. So, als hätten die Hausbesitzer einmal eine Menge Geld gehabt und jetzt nicht mehr.

Ehe sie die Villa erreichten, öffnete sich bereits die Haustür. Ein Mann trat ins Freie. Fingerlange, wuschelige graue Haare hingen ihm in die Stirn. Lachfältchen um die Augen machten ihn sofort sympathisch. Er hatte erwähnt, dass er auf die achtzig zuging, sah aber eher zehn Jahre jünger aus. Die Kapitänsmütze passte nicht richtig zu dem locker fallenden T-Shirt und der blauen Jeanshose … und schon gar nicht zu den Filzpantoffeln an seinen Füßen. »Gut, dass ihr endlich hier seid!«

»Wir sind so schnell gekommen, wie wir konnten«, sagte Peter freundlich.

Mr Huntington führte die drei ??? ins Haus und dort in ein Wohnzimmer. In den Ecken glänzten vergoldete Stehlampen. An den Wänden hingen Ölgemälde mit Landschaftsbildern. Vor einem davon hing ein weißes Leintuch. Es bewegte sich leicht im Luftzug, denn ein großes Fenster stand offen. Seltsam – musste das Bild vielleicht vor Licht geschützt werden?

Die gewaltige Couch jedenfalls wirkte gemütlich. Auf dem Tisch davor standen einige Flaschen Limonade. Mr Huntington wies beiläufig darauf. »Bedient euch. Ich bin wirklich dankbar, dass ihr gekommen seid.« Er wirkte nervös und unruhig.

»Mögen Sie uns nun ausführlich berichten, worum es geht?«, fragte Justus, während Peter eine Limoflasche öffnete und sich etwas einschenkte. »Sie haben den Mottenmann erwähnt – eine Schauergestalt aus einer Sage.«

»Das denken die meisten, ja. Aber mein Vater hat ihn leibhaftig gesehen, mehrfach sogar … und das hat ihm kein Glück gebracht, im Gegenteil. Er ist vor ihm geflohen, über buchstäblich tausende Kilometer. Und das vor vielen, vielen Jahren. Ich hätte nicht gedacht, dass der Mottenmann mich … jetzt, nach so langer Zeit … aber …« Der alte Mann seufzte. Er ließ die Schultern hängen.

»Sie sagten, der Mottenmann habe Sie gefunden«, meinte Bob.

Mr Huntington nickte. »Die Vergangenheit hat mich eingeholt. Die Vergangenheit meines Vaters. Deshalb habe ich mich an euch gewandt. Weil ihr euch mit …«, er stockte, »… mit seltsamen Erscheinungen auskennt.« Bei diesen Worten sah er sich ängstlich um und warf hektische Blicke über die Schulter, als rechne er damit, dass ein Gespenst durch die Wand trat und ihn angriff.

Als Justus genauer hinsah, fiel ihm auf, dass Mr Huntington das verhängte Gemälde fixierte. »Das stimmt, Sir. Und wir erleben bei unseren Auftraggebern häufig eine Scheu, offen zu berichten, was vorgefallen ist. Ich versichere Ihnen, das ist nicht nötig. Bitte reden Sie völlig frei. Es geht auch um das Bild, das Sie mit dem Laken verhängen?«

»Wie … wie … Ja, das stimmt, aber wie kommst du darauf?«

»Wir sind Detektive. Ich nutze meine Augen und meinen Verstand – das heißt, ich beobachte und spreche auf dieser Basis eine Vermutung aus. Ich hätte mich auch täuschen können. Was hat es mit dem Gemälde auf sich?«

Mason Huntington fiel förmlich in sich zusammen. Die extreme Angst war wieder da, wie vorhin am Telefon, als er den Mottenmann erwähnt hatte. Er setzte sich auf die Couch, legte die Hände aufeinander und nestelte nervös mit den Fingern. Er blickte genau auf das Bild. Oder eben das Leintuch. »Schaut es euch selbst an«, schlug er leise vor.

Peter stand dem Bild am nächsten und nahm das Tuch ab. Ein Gemälde mit schlichtem, dunklem Holzrahmen kam zum Vorschein. Es zeigte eine Waldlandschaft. Im Vordergrund lag eine Lichtung, auf der ein Reh zwischen dicht beieinanderstehenden Tannen heraustrat.

Eigentlich eine idyllische, schöne Szene.

Wäre da nicht die seltsame Gestalt gewesen, die hinter einem Baum hervorlugte. Der Stamm verdeckte die Beine, aber die obere Hälfte war deutlich zu sehen – ein menschenartiges Wesen mit schwarzem Körper und Kopf. Die runden, zu großen Augen im dunklen Gesicht leuchteten rot. Das Wesen breitete die Arme aus, nein, vielmehr die Flügel, denn an den Schultern setzten breite Schwingen an! Sie waren nicht gefiedert wie bei einem Vogel, sondern hauchdünn, grau und stumpf wie eben bei einer Motte.

Der Zweite Detektiv glaubte, auf einen bösen Engel zu schauen. Oder ein schreckliches Mischwesen. Kein Zweifel – das musste ein Bild dieses Mottenmannes sein. »Ein seltsames Gemälde«, sagte Peter. »Wenn Ihnen die Abbildung dieser Horrorgestalt solche Angst einjagt, warum …«

»Warum ich es aufhänge? Ja, versteht ihr denn nicht!«, rief Mr Huntington äußerst erregt, fing sich dann aber etwas. »Ach, natürlich, woher solltet ihr es auch wissen. Dieses Bild hängt seit vielen Jahren in meinem Wohnzimmer. Aber ohne Mottenmann!«

Bob sah ihn verständnislos an. »Was meinen Sie damit?«

»Er war nie darauf zu sehen – und heute Morgen stand er plötzlich am Rand der Lichtung und starrte mich an.«

Die drei ??? warfen sich verblüffte Blicke zu.

»Ja, ihr habt richtig gehört! Gestern gab es nichts dort zwischen den Bäumen, und nun …« Huntington deutete mit zitterndem Finger auf das Gemälde. »Nun ist er da! Nach all der Zeit hat mich der Mottenmann gefunden!«

»Hüte dich vor dem Mottenmann!«

»Ich verstehe, dass es Sie erschreckt, wenn über Nacht eine beängstigende Kreatur auf einem Bild auftaucht, das seit Jahren in Ihrem Wohnzimmer hängt«, sagte Justus. »Aber glauben Sie mir, dafür gibt es eine logische Erklärung.«

»Und welche sollte das sein?«

»Jemand könnte diese Gestalt daraufgemalt haben«, sagte Bob. »Das müsste sich recht leicht feststellen lassen.« Er fuhr mit dem Finger über das Abbild. »Die Farbe fühlt sich allerdings nicht frisch und auch nicht erhaben an.«

»Und wie stellst du dir das vor?«, fragte Mr Huntington. »Dass irgendwer heute Nacht eingebrochen ist und in aller Seelenruhe den Mottenmann auf das Ölbild gezeichnet hat? Während ich oben geschlafen habe? Unfug!«

»Es erscheint mir wahrscheinlicher als die Vorstellung, dass der Mottenmann von alleine aufgetaucht ist«, erwiderte Bob.

»Ich muss euch etwas erklären«, sagte der alte Mann. »Aber nicht hier. Kommt mit in die Küche.«

»Wieso?«

»Ich … ich … A-also, ich bin nicht gerne in der Nähe des Gemäldes. Schon gar nicht ohne die Abdeckung.«

Bob legte das Leintuch wieder darüber.

Mr Huntington nickte ihm dankbar zu. »Ich dürft es nachher von mir aus untersuchen, wenn ihr das dann immer noch für sinnvoll haltet, aber zuerst solltet ihr mir zuhören, um alles richtig einzuschätzen.«

»Einverstanden«, sagte Justus.

Mr Huntington führte seine Gäste in die Küche. Neben dem Fenster hing eine etwa zwanzig Zentimeter große Figur eines halben Elefanten. Es sah aus, als würde das Tier gerade durch die Wand brechen. Darunter stand ein kleines Beistelltischchen mit nur zwei Stühlen. »Leider kann ich euch nicht allen einen Platz anbieten.«

»Wir stehen gerne«, versicherte Peter. »Setzen Sie sich nur und erzählen Sie.«

»Der Mottenmann.« Huntington seufzte. »Habt ihr je von ihm gehört, ehe ich ihn erwähnt habe?«

»Das schon«, sagte Bob, »aber leider kennen wir keine genauen Hintergründe. Weil wir versprochen hatten, rasch zu Ihnen zu kommen, konnten wir auch nichts im Vorfeld recherchieren.«

»Mein Vater hat mir immer von ihm erzählt. Versteht ihr, so wie in anderen Familien vom schwarzen Mann geredet wird. Oder vom Schreckgespenst, das im dunklen Keller haust und erst verschwindet, wenn man das Licht einschaltet. Oder das vielleicht durch die Treppe greift, während man hinaufläuft, und einen am Bein packt.«

Peter fühlte sich bei diesen Vergleichen unbehaglich. »Und was unterscheidet den Mottenmann von diesen anderen Gestalten?«

»Wer den Mottenman sieht, dem widerfährt Unglück«, sagte Mr Huntington todernst. »Das ist das eine. Aber der wichtigste Unterschied ist, dass es den Mottenmann wirklich gibt!«

»Unglück, wie es auch Ihrem Vater geschehen ist«, vermutete Justus. »Richtig?«

»Richtig, Justus.«

»Was genau hat Ihnen Ihr Vater erzählt?«, fragte Bob.

Ein langsames, bedächtiges Nicken folgte. Der Atem des alten Mannes rasselte etwas, ehe er sich lautstark räusperte. »Mein Vater hieß Jacob Huntington. Er wäre heute fast einhundertzwanzig Jahre alt. Vor gut neunzig Jahren, also über zehn Jahre vor meiner Geburt, auf einer Seereise, ist er dem Mottenmann begegnet. Leibhaftig.«

»Auf dem Meer?«

Ein hastiges Kopfschütteln. »Nein. Am Ziel der Reise. In einer kleinen Hafenstadt in Kanada. Port Hardy, die Stadt gibt es bis heute. Damals war sie noch eine recht junge Siedlung. Mein Vater hat mir sehr oft von seinen Reisen erzählt – er war wohl das, was man einen alten Seebären nennt, und ja, er hat dabei auch eine Menge Seemannsgarn gesponnen. Kennt ihr diesen Ausdruck?«

»Er bedeutet«, sagte Justus, »dass man übertreibt und die Wahrheit sehr frei ausschmückt. Oder gleich völlig erfundene Geschichten zum Besten gibt.« Er zögerte. »Zum Beispiel von irgendwelchen Schreckenswesen.«

»Aber dieser Fall liegt anders«, gab sich Huntington überzeugt. »Junge, hat mein Vater immer gesagt, Junge, wenn du mir sonst nichts glaubst, hast du vielleicht recht, aber den Mottenmann habe ich wirklich gesehen. Und dann fügte er mit dumpfer Stimme etwas hinzu, bei dem mir noch heute ein Schauer über den Rücken läuft, sobald ich nur daran denke: Hüte dich vor dem Mottenmann!«

Nun setzte sich Justus doch hin, Mr Huntington gegenüber. »Also ist dieses Wesen das Schreckgespenst Ihrer Kindheit. Eine Schauergestalt, die jedem, der sie sieht, Unglück bringt. Und vor der Ihr Vater geflohen ist.«

Sie wussten nun, wieso das Auftauchen der Figur auf dem Ölgemälde Mr Huntington derart außer Fassung brachte. Es änderte jedoch nichts an der Überzeugung der drei ???, dass irgendjemand den Mottenmann auf das Bild gemalt hatte, auch wenn sich Bobs erster Untersuchung zufolge die Farbe nicht frisch anfühlte.

Aber warum?

»Sir, lassen Sie uns das Gemälde untersuchen«, bat Bob. »Ich bin sicher, dass wir dort Spuren entdecken, die uns Rückschlüsse ermöglichen …«

Weiter kam er nicht.

Ein lautes Rumpeln und Krachen ertönte von draußen. Glas splitterte.

»Was …«, setzte der Hausbesitzer an, doch die drei ??? stürmten bereits zurück in den Flur und ins Freie.

»Das Gewächshaus!«, rief Justus. »Die Richtung passt genau!« Sie eilten um die Hausecke …

… und sahen sofort, dass Justus’ Vermutung stimmte. Sie blickten auf ein Bild der Verwüstung. Die Tür des Geräteschuppens war aus den Angeln gerissen. Sie baumelte schief herab, eine Ecke schabte über den weichen Boden. Im Gewächshaus daneben hingen bei zwei Glasscheiben nur noch gezackte Reste im Rahmen. Splitter verteilten sich rundum auf dem Boden. Mittendrin lag eine Gartenhacke – wahrscheinlich das Werkzeug, um die Scheiben zu zertrümmern.

»Aber … Nein! Oh nein!«, hörte Justus Mr Huntington rufen. Leichenblass wankte der alte Mann aus der Tür. Er schnappte nach Luft und hatte den rechten Arm vor den Brustkorb gehoben.

»Kümmer du dich um ihn, Justus«, sagte Peter. »Bob und ich sehen uns um. Der Täter muss noch in der Nähe sein!« Der Zweite Detektiv spurtete los, um hinter dem Geräteschuppen nachzuschauen.

Bob linste zunächst vorsichtig durch die Schuppentür und ging dann hinein. »Niemand zu sehen!«, rief er.

Der Erste Detektiv stützte inzwischen Mr Huntington und führte ihn ins Haus zurück. Im Flur setzte er ihn auf einen Stuhl, neben dem ein altmodisches Telefonschränkchen stand. Der Hausbesitzer keuchte und sah aus, als würde er jeden Moment ohnmächtig werden. »Das war er«, flüsterte er. »Das war er!«

»Sie meinen den Mottenmann?«, fragte Justus.

»Wer sonst?«

Dem Ersten Detektiv fielen auf Anhieb eine Menge Möglichkeiten ein, die ihm plausibler erschienen als das handfeste Eingreifen einer Schauergestalt, die nur als Bild auf einem Ölgemälde existierte. »Ein Einbrecher oder vielleicht irgendjemand, der …«

Mr Huntington presste die Hände an die Schläfen. »Entsetzlich.« Er holte noch hastiger Luft.

»Beruhigen Sie sich«, bat Justus. »Wir beschützen Sie. Sie müssen langsamer und tiefer atmen, sonst hyperventilieren Sie. Meine Kollegen suchen das Grundstück ab. Zunächst ist die Gefahr vorüber. Wer immer der Schurke war – offenbar ist er geflohen.«

»Da kennst du den Mottenmann schlecht. Ruf deine Freunde ins Haus! Sie dürfen ihn nicht sehen! Schon das würde genügen, dass Unglück auf sie wartet!«

»Wir haben keine Angst davor«, versicherte Justus.

»Ruf sie zurück!«, beharrte Mr Huntington.