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Zugegeben, Mrs. Patricia Osborn ist eine etwas seltsame Dame. Ihrer Nichte Allie geht sie damit auf die Nerven, daß sie behauptet, Spinnweben seien hervorragende Heilkräuter, daß sie abends vor dem Schlafengehen mit einem Messer einen Kreis ums Bett zieht, um sich vor drohendem Unheil zu schützen und nachts zu geheimnisvollen Zusammenkünften einlädt. Allie bittet deshalb die drei ??? diesem Rätsel auf den Grund zu gehen. Unsere Detektive schleichen sich bei Mrs. Osborne ein und beobachten schauerliche Dinge. Was sie wohl gesehen haben?
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Seitenzahl: 192
und die singende Schlange
erzählt von M. V. Carey nach einer Idee von Robert Arthur
Aus dem Amerikanischen übertragen von Leonore Puschert
Kosmos
Umschlagillustration von Aiga Rasch
Umschlaggestaltung von eStudio Calamar, Girona, auf der Grundlage
der Gestaltung von Aiga Rasch (9. Juli 1941 – 24. Dezember 2009)
Unser gesamtes lieferbares Programm und viele
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Spielen, Experimentierkästen, DVDs, Autoren und
Aktivitäten findest du unter kosmos.de
© 2014, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Mit freundlicher Genehmigung der Universität Michigan
Based on characters by Robert Arthur.
ISBN 978-3-440-14065-9
eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Wer Spannung und Geheimnis liebt, sei mir willkommen! Wieder erleben wir gemeinsam aufregende Ermittlungen der drei Detektive mit dem allgemein bekannten Leitspruch »Wir übernehmen jeden Fall«. Hätten sie gewusst, worauf sie sich einließen, als sie den rätselhaften Fall der singenden Schlange aufgriffen, so hätten sie womöglich ihr Motto gewechselt!
Sei’s drum – jedenfalls sehen sie sich diesmal von der dunklen Welt der Magie und Hexerei umgeben, wo ihnen Mysterien und finstere Pläne ein Rätsel ums andere aufgeben. Doch ich will nicht zu redselig sein. Ich habe hoch und heilig versprochen, nicht zu viel auszuplaudern und ich werde mein Versprechen halten.
Somit wäre nur noch zu erwähnen, dass die drei ??? – das liest sich »die drei Detektive« – Justus Jonas, Peter Shaw und Bob Andrews heißen und allesamt in Rocky Beach, einem Städtchen unweit von Hollywood im Staat Kalifornien, zu Hause sind. Ihre Zentrale ist ein Campinganhänger auf dem Schrottplatz der Firma »Gebrauchtwaren-Center T. Jonas«, einem Super-Trödelmarkt, der Justus’ Onkel und Tante gehört.
Die Jungen sind ein vorzügliches Detektivtrio. Justus denkt fix und kombiniert treffend, Peter ist eher Praktiker – kraftvoll, ausdauernd und beherzt. Bob ist belesen und ein ausgezeichneter Rechercheur. Gemeinsam haben sie schon einige sehr ungewöhnliche Fälle aufgeklärt.
Dabei will ich es diesmal bewenden lassen, denn ich weiß, wie meine Leser das Ende dieser Vorrede und den Beginn der spannenden Handlung herbeisehnen!
Albert Hitfield
»Es wäre mir wesentlich angenehmer, Justus, wenn du nicht in der Badehose zum Frühstück kämst«, sagte Tante Mathilda.
Justus Jonas schob die Ärmel seines T-Shirts höher hinauf und griff nach seinem Orangensaft. »Ich gehe gleich mit Bob und Peter schwimmen«, sagte er. »Sie werden jeden Augenblick hier sein.«
Onkel Titus, auf dem Platz gegenüber Justus, wischte sich einen Krümel aus dem großen, schwarzen Schnurrbart. »Iss nicht zu viel«, ermahnte er Justus. »Mit vollem Magen soll man nicht schwimmen.«
»Ja, damit du keinen Krampf bekommst«, sagte Tante Mathilda. Dann schob sie ihre Kaffeetasse zur Seite und begann in der Los Angeles Times zu blättern.
Justus nahm sich bescheiden eine dünne Scheibe Toast.
»Ach, du liebe Güte!«, seufzte Tante Mathilda. Justus blickte überrascht auf. Es war sonst nicht Tante Mathildas Art, zu seufzen.
»Als dieser Film in die Kinos kam, war ich siebzehn«, sagte Tante Mathilda. »Ich habe ihn im Odeon gesehen.«
Onkel Titus begriff sichtlich nichts.
»Damals habe ich sicher eine ganze Woche lang nachts nicht geschlafen«, sagte Tante Mathilda. Sie reichte Onkel Titus die Zeitung über den Tisch. Justus stand auf und sah seinem Onkel über die Schulter – da war ein magerer Mann mit hohen Wangenknochen, schlitzförmigen Nasenlöchern und stechenden dunklen Augen abgebildet. Auf dem Foto starrte der Mann unverwandt in eine schimmernde Kristallkugel.
»Ramon Castillo in dem Film ›Die Höhle des Vampirs‹«, sagte Justus. »Er konnte meisterhaft in jede beliebige Maske schlüpfen.«
Tante Mathilda schüttelte sich. »Du hättest ihn in ›Schrei des Werwolfs‹ sehen sollen!«
»Hab ich gesehen«, erwiderte Justus. »Vorigen Monat zeigten sie das im Fernsehen.«
Onkel Titus las den Artikel zu Ende, der das Bild des verstorbenen großen Charakterdarstellers begleitete. »Hier steht, dass die Versteigerung von Castillos Besitz am Einundzwanzigsten stattfindet«, sagte Onkel Titus. »Da werde ich wohl hinfahren.«
Tante Mathilda bedachte diese Ankündigung mit leichtem Stirnrunzeln. Sie wusste, dass Onkel Titus leidenschaftlich gern zu Versteigerungen ging. Sie wusste auch, dass das Gebrauchtwaren-Center T. Jonas, ihr Familienbetrieb, für sein Sortiment schwer erhältlicher Bedarfsgüter berühmt war. Die Leute, die den Trödelmarkt aufsuchten, waren auf alles Mögliche aus, von Eisenstangen über alte Badewannen bis zu antiken Sonnenuhren. Dessen ungeachtet hatten sich einige besonders ausgefallene Erwerbungen von Onkel Titus als nicht gängig erwiesen. Und für Tante Mathilda war es oberster Grundsatz, dass ein Geschäft Gewinn abwerfen musste.
»Die ganze Privatsammlung von Castillo wird auch verkauft«, sagte Onkel Titus. »Alle seine Rollenkostüme und sogar die Kristallkugel, die er in ›Die Höhle des Vampirs‹ benutzt hat.«
»Dafür gibt es Händler, die sich auf solches Zeug spezialisiert haben«, sagte Tante Mathilda. »Im Übrigen treiben die den Preis in die Höhe.«
»Das ist anzunehmen.« Onkel Titus legte die Zeitung weg. »Die Sammler werden in Scharen angereist kommen.«
»Da bin ich sicher.« Tante Mathilda stand auf und begann den Tisch abzuräumen. Auf halbem Weg zum Spültisch blieb sie stehen und horchte. Von der Straße drang Hufgeklapper herein. »Die Kleine von Jamisons«, stellte Tante Mathilda fest.
Justus trat ans Fenster. Es war die kleine Jamison und wie gewöhnlich ritt sie ihre Schimmelstute. Das Pferd ging im Trab, mit hocherhobenem Kopf. Es war eine herrliche Stute, weiß mit apfelgroßen grauen Flecken. »Prächtiges Pferd«, sagte Justus. »Ein echter Apfelschimmel.«
Über die Reiterin ließ er sich nicht aus – das Mädchen, das aufrecht im Sattel saß und weder nach links noch nach rechts schaute.
»Wohl unterwegs zu einem Galopp am Strand«, meinte Tante Mathilda. »Das Kind muss sich richtig einsam vorkommen. Marie hat mir erzählt, dass ihre Eltern in Europa sind.«
»Ich weiß«, sagte Justus. Marie war das Hausmädchen der Jamisons und mit Tante Mathilda befreundet. An ihren freien Nachmittagen kam Marie oft her, um mit Tante Mathilda Tee zu trinken und Neuigkeiten von der Familie Jamison zu berichten.
Von Marie wusste Justus auch, dass Mr Jamison, der vor einigen Monaten die ehemalige Villa der Littlefields gekauft hatte, keine Kosten scheute, um das Haus stilgerecht zu renovieren und neu einzurichten. Er wusste, dass der Kronleuchter im Speisezimmer einst einem Wiener Adelspalast zur Zierde gereicht hatte und dass Mrs Jamison ein Diamantenhalsband besaß, womit sich einst Kaiserin Eugénie geschmückt hatte. Er wusste, dass das Mädchen auf dem Schimmel Allie hieß und dass die Stute ihr ganz allein gehörte. Justus wusste sogar, dass zurzeit eine Tante von Allie aus Los Angeles dem großen Hauswesen vorstand und dass diese Tante nach Maries Meinung reichlich sonderbar war.
Das Mädchen und das Pferd verschwanden um die Straßenecke, und Tante Mathilda setzte ihren Tellerstapel auf der Ablage neben der Spüle ab. »Du könntest dir ruhig ein bisschen Mühe geben, nett zu dem Mädchen zu sein«, sagte sie zu Justus. »Die Jamisons wohnen ja nur drei Straßen weiter. Wir sind sozusagen Nachbarn.«
»Die Kleine macht keinen besonders nachbarlichen Eindruck«, sagte Justus. »Ich glaube, sie unterhält sich nur mit Pferden.«
»Vielleicht ist sie schüchtern«, meinte Tante Mathilda.
Darauf erwiderte Justus nichts, denn Bob Andrews und Peter Shaw kamen gerade auf ihren Fahrrädern die Straße entlanggerast. Wie Justus trugen auch Bob und Peter abgewetzte Tennisschuhe, Badehosen und T-Shirts.
»Also bis später«, sagte Justus zu seiner Tante und lief hinaus, um seine Freunde zu begrüßen.
Dann machten sich die drei auf den Weg. Justus trat wie wild in die Pedale. Er war als Kind in einer Fernsehserie aufgetreten und hatte dort »Pummel« geheißen. Den Grund dafür sah man noch immer auf den ersten Blick. Doch trotz der Extrakilos lag er vor Bob und Peter, als sie an der Ecke ankamen, wo es bergab zur Küstenstraße ging.
Plötzlich schrie Peter: »Achtung!«
Ein Pferd wieherte erschreckt. Justus sah, wie sich ein riesenhaftes Wesen vor ihm aufbäumte. Er riss die Arme über den Kopf hoch, und im Fallen gab er sich einen Ruck zur Seite. Sein Fahrrad rollte klappernd davon.
Dann ertönte ein zweiter Schrei. Er war dünner und höher – diesmal nicht der Schrei eines Tieres.
Im nächsten Augenblick klapperten Hufschläge auf dem Asphalt ganz dicht neben Justs Kopf.
Justus rollte sich herum und setzte sich auf. Der Schimmel war auf die Hinterbeine gestiegen und tänzelte rückwärts, die Ohren flach an den Kopf gelegt. Die kleine Allie lag auf der Straße.
Bob und Peter warfen ihre Räder hin, und Justus rappelte sich hoch. Alle drei liefen zu dem Mädchen. Peter bückte sich und fasste sie an der Schulter.
Das Mädchen keuchte und mühte sich, wieder zu Atem zu kommen. Mit krampfhafter Anstrengung sog sie schließlich die Lungen voll Luft. Dann schrie sie: »Rührt mich nicht an!«
Sie setzte sich auf und griff sich ans Knie, wo aus einem Riss in ihren verwaschenen Jeans Blut sickerte. Ihre Augen waren trocken, aber sie atmete stoßweise, dem Schluchzen nahe.
»Dir hat es ja richtig den Atem verschlagen«, sagte Peter. Sie ging nicht darauf ein, sondern starrte Justus an. »Weißt du nicht, dass Pferde im Straßenverkehr Vorrang haben?«, fragte sie. »Tut mir leid«, sagte Justus. »Ich hab dich nicht gesehen.«
Das Mädchen stand langsam auf. Sie schaute auf ihr Pferd und dann wieder zu Justus hin. Ihre Augen schimmerten braun, in der gleichen warmen Farbe wie ihr langes Haar, aber in diesem Augenblick waren sie eisig vor Empörung. »Wenn mein Pferd sich durch deine Schuld verletzt hat –«, fing sie an.
»Ich glaube nicht, dass das Pferd irgendwie Schaden genommen hat«, sagte Justus steif.
Das Mädchen humpelte auf den Apfelschimmel zu. »Brav, Queenie!«, rief sie. »Hierher, Queenie – brav so!«
Das Pferd kam auf sie zu und legte ihr seinen großen Kopf auf die Schulter.
»Haben sie dich erschreckt?«, fragte das Mädchen. Ihre Hände reckten sich hoch, um die Mähne des Pferdes zu streicheln.
Oben an der Straße erschien Tante Mathilda. »Justus? Peter? Bob? Was ist denn hier los?«
Allie tätschelte noch einmal ihr Pferd, zog sich am Sattel hoch und versuchte aufzusitzen. Das Pferd trat einen Schritt zurück.
»Halt es mal für sie, Peter«, sagte Justus. »Ich helfe ihr dann.«
»Ich brauch deine Hilfe nicht!«, stieß das Mädchen hervor.
Tante Mathilda kam die Straße entlang. Sie starrte Allie Jamison an – das wirre Haar, die zerrissenen Jeans, das blutende Knie. »Was ist passiert?«
»Sie haben mein Pferd scheu gemacht«, sagte das Mädchen.
»Und es hat sie abgeworfen«, setzte Peter hinzu.
»Es war keine Absicht«, sagte Justus.
»Aha. Justus, geh zu Onkel Titus und sag ihm, er soll mit einem von unseren Autos herkommen. Ich fahre dann Miss Jamison nach Hause, damit sie einen Verband ums Knie bekommt.«
»Ich brauche niemanden zum Heimfahren«, sagte Allie Jamison.
»Den Lieferwagen, Justus«, sagte Tante Mathilda. »Und Peter, du führst das Pferd am Zügel.«
»Beißt es?«, fragte Peter.
»Auf keinen Fall«, erklärte Tante Mathilda, die allerdings auf diesem Gebiet nicht sehr beschlagen war. »Pferde beißen nicht. Sie keilen aus.«
»Na, dann viel Spaß!«, stöhnte Peter.
Als Bob, Peter und Justus die Schimmelstute zum Haus der Jamisons brachten, stand der Lieferwagen des Trödelmarkts in der gepflasterten Zufahrt. Tante Mathilda und die kleine Allie waren jedoch nirgends zu sehen.
Peter sah auf die massiven Pfeiler, die das vorgezogene Dach über der Veranda trugen. »Schade, dass Tante Mathilda heute nicht ihren Reifrock angezogen hat«, sagte er.
Justus musste lachen. »Das hier sieht wirklich wie ein altes Herrenhaus in den Südstaaten aus«, bestätigte er.
»Ein großes altes Herrenhaus im Süden«, sagte Bob. »Wo befinden sich eurer Meinung nach die Räumlichkeiten für die Pferde?«
Peter wies zum hinteren Teil des Anwesens. »Dort ist eine eingezäunte Koppel.«
»Fein«, sagte Justus. Sie führten die Stute die Zufahrt entlang und an einer fliesenbelegten Terrasse vorbei, überrankt von Glyzinien. Hinter dem Haus verbreiterte sich der Pflasterweg zu einem Hofraum. Neben der Koppel stand eine Garage für drei Wagen. Eine Doppeltür stand offen, und dahinter war eine Box zu erkennen. Pferdegeschirr hing von Wandhaken herab.
Die hintere Tür des Hauses ging auf, und Marie, das Mädchen, schaute heraus. »Würdet ihr drei bitte Indian Queen den Sattel abnehmen und sie auf die Koppel lassen? Und dann kommt herein. Miss Osborne möchte euch sehen.«
Marie verschwand wieder im Haus und schloss die Tür hinter sich.
Peter sah die Stute an. »Indian Queen?«
»Ich glaube, Allie nennt sie Queenie«, sagte Justus. »So hat es Marie meiner Tante erzählt.«
»Wer ist Miss Osborne?«, fragte Bob.
»Das ist die Tante, die hier wohnt, solange Mr und Mrs Jamison in Europa sind«, erklärte ihm Justus. »Wie Marie sagt, ist sie reichlich sonderbar.«
»In welcher Beziehung?«
»Das weiß ich nicht genau, aber Marie meint, sie hätte irgendetwas Merkwürdiges an sich. Wenn wir sie jetzt kennenlernen, können wir es ja selbst feststellen.«
Justus nahm dem Pferd den Sattel ab, Bob öffnete das Gatter zur Koppel, und das Pferd trottete auf die Wiese hinter dem Zaun. Im Stall fand Justus einen Ständer für den Sattel und einen Haken für das Zaumzeug. Dann öffneten die Jungen die Hintertür zum Haus, durch die sie direkt in eine sehr große, sonnige Küche gelangten.
Sie gingen durch die Küche in eine große Diele, von der eine Treppe zum Obergeschoss führte. Zur Linken war das Speisezimmer, und die Jungen konnten zwischen dem Kristallbehang des berühmten Kronleuchters auf die glyzinienüberschattete Terrasse hinaussehen. Zur Rechten der Diele lag das Wohnzimmer, in dem ein blasses Grüngold vorherrschte. Dahinter öffnete sich eine Tür in einen holzgetäfelten Raum voller Bücherwände.
Allie Jamison lag im Wohnzimmer auf einem Sofa, ein Handtuch unter dem Bein. Neben ihr saß eine Frau, die etwa in Tante Mathildas Alter war, vielleicht auch ein wenig älter. Sie trug ein langes Gewand aus purpurrotem Samt, am Halsausschnitt mit Silberborte besetzt. Ihr Haar schimmerte in dezenter Lavendeltönung.
»Tante Patricia, Mama reißt mir den Kopf runter, wenn das Sofa Blutflecken abkriegt«, sagte Allie. »Ich geh lieber rauf und –«
»Nein, Liebes, nun lieg schön still. Du hast einen Schock erlitten.« Die Frau blickte nicht zu den Jungen auf, und Justus sah, dass ihre Hände zitterten, als sie ein Hosenbein des Mädchens vom Knöchel her aufschnitt. »O weh, das blutet ja noch immer«, sagte sie.
»Eine böse Schramme«, sagte Tante Mathilda, die sich in einem Sessel beim Kamin niedergelassen hatte. »Na, daran stirbt ein Kind nicht gleich.«
»Ich brauche jetzt Spinnweben«, sagte die Frau.
»Spinnweben?«, wiederholte Tante Mathilda.
»Spinnweben?«, fragte Marie, die mit einer Schüssel Wasser danebenstand.
Bob und Peter überkam Unbehagen, und Peter sah Justus fragend an. Justus lächelte. »Spinnweben«, sagte er zu Marie. »Ganz gewöhnliche, von Spinnen.«
Marie errötete ob dieser Zumutung. »In diesem Haus gibt es keine Spinnweben«, sagte sie. »Ich sprühe jede Woche die Zimmer aus.«
»Ach, das ist bedauerlich«, sagte die Dame in Purpur. »Nun, dann bringen Sie mir die goldene Dose aus meiner Hausapotheke.«
Marie ging, und zum ersten Mal bedachte die Frau in Purpur die Jungen mit einem Blick. »Vielen Dank für eure Hilfe«, sagte sie. »Freilich hätte sich dieser Vorfall vermeiden lassen, wenn sie ihren purpurnen Schal getragen hätte. Purpur bietet Schutz, müsst ihr wissen.«
»Ja, natürlich«, sagte Justus höflich.
Marie kam mit einer kleinen vergoldeten Dose zurück.
»Das müsste auch genügen«, sagte Allies Tante. »Es ist nicht ganz so wirksam wie Spinnweben, aber es ist gut. Ich habe es selbst gemacht.« Sie schraubte die Dose auf und strich ein durchsichtiges Gelee auf Allies Knie.
»Ist das auch hygienisch einwandfrei?«, erkundigte sich Allie.
»Also, Liebes, es hilft bestimmt«, sagte Miss Osborne. »Ich habe die Kräuter bei Neumond gesammelt. Sieh mal – es hat schon aufgehört zu bluten.«
»Entschuldige, Tante Patricia«, sagte das Mädchen, »aber es hatte schon aufgehört, ehe du diese Schmiere draufgetan hast. Und was jetzt? Besorgen wir uns einen Rollstuhl?«
»Ich meine, ein Verband …«, fing Miss Osborne an.
»Das mache ich selber. Das ist eine Kleinigkeit.« Allie stand auf und ging zur Diele. Sie ging an den Jungen vorbei, als seien sie Luft, doch dann blieb sie am Fuß der Treppe stehen. »Vielen Dank«, sagte sie. »Also vielen Dank fürs Heimbringen von Indian Queen.«
»Keine Ursache«, sagte Peter, der sich von dem Pferd ferngehalten hatte, so gut es ging.
Allie ging die Treppe hinauf.
»Bestimmt ist Allie richtig dankbar«, sagte Miss Osborne. »Sie ist jetzt ein wenig durcheinander, und ihr wart so nett und … und nun weiß ich doch wirklich nicht mal eure Namen.«
Tante Mathilda stand auf. »Ich bin Mrs Jonas, und das ist mein Neffe, Justus Jonas. Und das sind Peter Shaw und Bob Andrews.« Miss Osborne starrte Justus aus weit geöffneten veilchenblauen Augen an. »Justus Jonas! Tatsächlich, der Pummel aus dem Kinderfernsehen!«
Justus legte keinen Wert darauf, an seine frühere Fernsehrolle erinnert zu werden. Das Gesicht wurde ihm heiß.
»Der jüngste Exstar der Welt«, meinte Peter.
»Ach, an der Wunderwelt des Films teilzuhaben – beneidenswert!«, rief Miss Osborne. Dann glitt ihr Blick an Justus vorbei zum Fenster hin. »Da ist Mr Asmodi!«, rief sie.
Tante Mathilda und die Jungen drehten sich neugierig um. Draußen auf der Straße stieg gerade ein Mann im schwarzen Anzug aus einem Taxi. Er hatte ein so blasses Gesicht, wie es Justus nie zuvor an einem Menschen gesehen hatte. Er sah aus, als verbringe er seine Tage in einem tiefen unterirdischen Gewölbe.
Mit einem Koffer in der Hand betrat der Mann die Zufahrt und dann den Gartenweg zur Haustür.
»Nun kommt er also doch als Hausgast zu uns!« Miss Osborne war richtig freudig erregt. »Ich hatte es so sehr gehofft.«
»Da wollen wir nicht stören«, sagte Tante Mathilda. »Wir müssen jetzt sowieso gehen.« Und ehe Miss Osborne noch etwas sagen konnte, geleitete sie die Jungen zum Haus hinaus und über die Veranda. Auf dem Weg durch den Vorgarten kamen sie an dem schwarz gekleideten Mann vorbei.
Tante Mathilda blieb noch einmal stehen, bevor sie in das Führerhaus des Lieferwagens stieg.
»Wenn ihr drei noch schwimmen wollt, dann geht jetzt lieber los«, sagte sie. »Soll ich euch heimfahren, damit ihr eure Fahrräder holen könnt?«
»Nein, danke», sagte Justus. »Wir gehen zu Fuß.«
Tante Mathilda schüttelte den Kopf. »Im Leben hab ich so etwas noch nicht gehört! Spinnweben auf eine Wunde! Was für eine Idee!« Sie stieg ein und schlug die Tür zu.
»Es ist ein altes Hausmittel zum Blutstillen«, sagte Justus, der viel las und sich den Kopf mit den merkwürdigsten Dingen aus allen möglichen Wissensgebieten vollgestopft hatte.
»Grässlich!«, stellte Tante Mathilda fest und stieß mit dem Wagen rückwärts aus der Zufahrt heraus.
»Und sonderbar«, sagte Peter. »Marie hat recht. Allie Jamisons Tante ist schon eine reichlich sonderbare Dame.«
»Zumindest ist sie sehr abergläubisch«, sagte Justus. Damit war das Thema Allie Jamison für ihn vorerst erledigt.
»Reichlich sonderbar« erscheint mir noch milde ausgedrückt für jene Dame in Purpur. Üben wir Nachsicht mit Miss Patricia Osborne? Immerhin bevorzugt sie diese nach ihren Worten Schutz bietende Farbe selbst in ihrer Kleidung. Und wen es nach Schutz durch so zweifelhafte Mittel verlangt, der muss in eigenartiger Weise anfällig sein – für unbestimmte Ängste, Bedrohungen …
Immerhin – das Erscheinen des dunklen Mr Asmodi schien die Dame freudig zu stimmen. Leistet er wohl Lebenshilfe?
Erst am späten Abend, kurz vor dem Einschlafen, dachte Justus wieder an das Haus der Jamisons und die Dose mit der Heilsalbe – Kräuter, bei Neumond gesammelt. Er lächelte und zog die Bettdecke bis zum Kinn herauf. Schon war er beinahe eingeschlafen, als das Pochen an der Haustür losging.
»Mrs Jonas! Mrs Jonas, lassen Sie mich rein!«
Justus sprang aus dem Bett, schnappte sich seinen Bademantel und war mit einem Satz auf dem Flur. Tante Mathilda war auf der Treppe schon halb unten, Onkel Titus im Gefolge. Justus kam nach und sah noch, wie seine Tante die Tür aufschloss.
Marie, das Mädchen der Jamisons, wäre fast zur Tür hereingestürzt. »Oh, Mrs Jonas«, jammerte sie. Sie war in Bademantel und Hausschuhen.
»Marie, was ist denn?«, fragte Tante Mathilda.
»Kann ich heute Nacht hierbleiben?«, bat Marie inständig. Sie ließ sich kraftlos in einen Sessel fallen und fing an zu weinen.
»Marie, was ist denn nur los?«
»Das Singen!«
»Was?«, fragte Tante Mathilda.
»Das Singen.« Marie krampfte die Hände ineinander. »Da ist irgendetwas in diesem Haus, und das singt immerzu.« Sie griff nach Tante Mathildas Arm. »Es war schauerlich. So etwas habe ich noch nie gehört. Da geh ich nicht wieder hin!«
So behutsam es ging, befreite sich Tante Mathilda aus Maries Griff. »Ich werde drüben anrufen«, sagte sie.
Marie schniefte ein bisschen. »Rufen Sie nur an«, sagte sie. »Aber ich gehe nicht zurück!«
Tante Mathilda wählte die Nummer der Jamisons und erreichte Miss Patricia Osborne. Das Gespräch war kurz. »Miss Osborne sagt, sie habe nichts Ungewöhnliches gehört«, berichtete Tante Mathilda, als sie den Hörer aufgelegt hatte.
»Natürlich sagt Miss Osborne das!«, rief Marie.
»Was soll das heißen?«, fragte Tante Mathilda.
»Na, dass … dass sie eben sonderbar ist und sich in diesem Haus sonderbare Dinge tun! Da geh ich nie wieder hin. Nicht um alles in der Welt!«
Mehr wollte Marie dazu nicht sagen, und zurück ging sie tatsächlich nicht. Sie blieb über Nacht im Gästezimmer. Am Morgen ging Onkel Titus zum Haus der Jamisons hinüber und holte ihre Koffer, die Allie Jamison gepackt hatte. Dann fuhr Onkel Titus Marie nach Los Angeles, wo ihre Mutter wohnte.
»Ich möchte nur wissen, was Marie da gehört hat«, sagte Justus Jonas, als sie fort war.
Tante Mathilda zuckte nur die Achseln.
Die Sache beschäftigte Justus immer noch, als er ein paar Tage darauf am späten Vormittag vom Wohnhaus über die Straße zum Schrottplatz ging. Patrick und Kenneth, die beiden irischen Brüder, die im Geschäft mitarbeiteten, machten gerade einen Kaminsims aus Marmor sauber. Onkel Titus hatte ihn der Abbruchfirma abgekauft, die in der Nähe von Hollywood ein abgebranntes Haus abriss.
»Peter ist in deiner Werkstatt«, sagte Patrick.
»Er wollte an die Druckerpresse«, sagte Kenneth.
Justus nickte. Man brauchte ihm nicht zu erzählen, dass die Presse in Betrieb war. Er hatte sie aus alten Teilen selbst zusammengebaut, und die Maschine war zwar sehr nutzbringend, aber sie machte auch viel Lärm. Schon als er durch das Hoftor der Firma Jonas getreten war, hatte er das vertraute Stampfen und Ächzen erkannt. Justus ging rasch zwischen Stapeln alten Bauholzes und ausgedienter Eisenträger hindurch zu seiner Freiluftwerkstatt. Sie nahm eine abgelegene Ecke des Lagerplatzes ein und entzog sich so Tante Mathildas Einflussbereich. Zur Straße hin war die Werkstatt durch den hohen Holzzaun abgeschirmt, der den ganzen Schrottplatz umgab, und Schutz gegen Unwetter bot ein zwei Meter breites Dach, das überall innen am Zaun entlanglief. Onkel Titus hatte das Dach angebracht, um darunter seinen wertvollen Trödel geschützt aufzubewahren.
In der Werkstatt fand Justus Peter Shaw über die Druckerpresse gebeugt, wo gerade eine Neuauflage ihrer Visitenkarten durchlief. Justus nahm sich eine der Karten und sah sie prüfend an. Der Text lautete:
Peter hielt die Presse an. »Zufrieden, Kollege?«, fragte er.
Justus nickte. »Sehr ordentlich«, sagte er. »Und es ist mir eine Genugtuung, dass unser Detektivbüro so erfolgreich ist. Als wir anfingen, war ich nicht sicher, ob wir jemals eine neue Auflage unserer Geschäftskarten brauchen würden.«
Peter sagte nichts dazu. Er war nicht gerade sehr zuversichtlich gewesen, als er sich mit Justus Jonas und Bob Andrews zum Detektivbüro »Die drei ???« zusammengetan hatte. Aber Justs ausgeprägter Spürsinn, Bobs Talent für ausgefeilte Recherchen und seine eigenen sportlichen Fähigkeiten hatten sich als schlagkräftige Kombination erwiesen. Die drei jungen Spürhunde hatten geheimnisvolle Fälle aufklären können, die manch einem aus der älteren Generation unlösbar erschienen waren.