Die dunkle Seite der Lust - Daniel Bergner - E-Book

Die dunkle Seite der Lust E-Book

Daniel Bergner

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Beschreibung

„Diese verstörenden Geschichten hallen lange nach.“ Lori Gottlieb, New York Times Book Review

Wenn Lust Grenzen überschreitet - Daniel Bergner stellt in vier Fallgeschichten Menschen vor, die mit extremen Begierden leben und lieben. Erzählerisch packend, zwischen Oliver Sacks und Ferdinand von Schirach, leuchtet „Die dunkle Seite der Lust“ Abgründe aus, die sich in jedem von uns auftun könnten.

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Daniel Bergner

Die dunkle Seiteder Lust

Vier Fallgeschichten

Aus dem Amerikanischenvon Henriette Zeltner

Knaus

Das Original erschien 2009 unter dem Titel The Other Side of Desirebei HarperCollins Publishers, New York.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags für externe Links ist stets ausgeschlossen.

1. Auflage

Copyright der Originalausgabe © HarperCollins Publishers

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2015

beim Albrecht Knaus Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Lektorat: Antje Steinhäuser

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-15634-3www.knaus-verlag.de

Inhalt

Einführung

I. Das Phantom der Oper

II. Das Leuchtfeuer

III. Grenzüberschreitung

IV. Torso

Dank

Einführung

Die Menschen, über die ich schreibe, fragen oft: »Was tun Sie eigentlich hier bei mir?« Ich habe die Frage schon im Angola Prison gehört, dem Hochsicherheitsgefängnis von Louisiana, wo ich über das Leben von Männern recherchierte, die ohne Chance auf Begnadigung bis zu ihrem Tod dort eingesperrt sind. Ich hörte sie im westafrikanischen Sierra Leone, wo ich mich mitten im brutalsten Krieg der jüngeren Vergangenheit Missionaren, Söldnern und Kindersoldaten an die Fersen heftete. Ich hörte die Frage, als ich nach den Geschichten von Eros, Obsession, Anarchie und Liebe suchte, die die dunkle Seite der Lust ausmachen.

Vor vier Jahren begab ich mich erstmals in die Welt der Menschen, deren Lebensgeschichten das Rückgrat dieses Buchs bilden. Da gab es einen Mann aus der Werbebranche, der auf den Plakaten, die er entwarf, weiblicher Schönheit in ihrer konventionellsten Form huldigte, sich jedoch erotisch in keinster Weise zu den Models hingezogen fühlte, die er castete, sondern ausschließlich zu Amputierten. Dann begegnete ich einer Modedesignerin, die zu den seltenen weiblichen Sadistinnen gehört und auf der Suche nach transzendenter Bindung zu denjenigen war, die sie verletzte und versklavte. Ich lernte auch einen Handelsvertreter und treu sorgenden Ehemann kennen, dessen Fetischismus ihm einerseits Ekstase und andererseits lähmende Erniedrigung brachte. Schließlich beschäftigte mich noch ein Bandleader, der geradezu besessen von seiner jungen Stieftochter war.

Wie kommt es, dass wir spezielle Begierden ausprägen, die uns antreiben? Wie entwickelt sich unsere sexuelle Identität? Was bewirkt, dass wir ein übliches oder aber ein fast unmögliches Verlangen verspüren? Inwieweit werden wir damit geboren, und wie viel lernen und übernehmen wir von all dem, was uns umgibt? Wie sehr können wir uns ändern, und wie viel bleibt unerreichbar in uns verschlossen? Diese Fragen waren von zentraler Bedeutung bei der Annäherung an meine vier Hauptcharaktere – und an eine Reihe von Wissenschaftlern, die sich dem Studium des Eros verschrieben haben. Und dann stellte sich noch die Frage, wie wir mit unserem Verlangen leben. Eine auf Schlaganfallpatienten spezialisierte Logopädin mit Puppengesicht und einem intensiven Blick erzählte mir, wenn ein dominanter Liebhaber ihr das Richtige ins Ohr flüstere, komme sie ohne jegliche Berührung zum Orgasmus. Sie wollte verletzt werden. Gequält wurde sie allerdings von ihrem Verlangen. Sie war orthodoxe Jüdin. Ihre Großeltern waren im Holocaust ermordet worden. Und es gelang ihr nicht, ihre erotischen Vorlieben mit den Grausamkeiten zu vereinbaren, die ihre Familie erlitten hatte. Was tun wir mit uns unerträglichen Wünschen, mit Begierden, die wir oder die Gesellschaft nach Kräften zu drosseln oder zu ersticken versuchen? Dabei spielt es keine Rolle, ob das Verlangen ungewöhnlich oder so normal ist wie die Sehnsucht nach neuen Geliebten, welche aus ansonsten glücklichen Ehen Arrangements machen, die man als ähnlich leidvoll empfindet wie Kerkerhaft. Und wie verhalten sich Physis und Transzendenz zueinander? Die Körperoberfläche und der Wunsch, die Grenzen unseres Selbsts aufzulösen, zwischen den Kräften der Lust und unserer Sehnsucht nach Liebe?

Manche der Menschen in den folgenden Geschichten fürchteten, von ihrer Umgebung verstoßen zu werden, wenn ihre bislang privaten Neigungen bekannt würden. Daher habe ich zu ihrem Schutz einige Namen und sehr wenige Details, anhand derer man sie hätte identifizieren können, geändert. Meine Antwort auf die von vielen gestellte Frage lautet jedoch stets: Ich bin hier bei Ihnen, an den äußersten Grenzen der Erfahrung, in der Hoffnung, dass Ihre Geschichten die Wahrheiten beleuchten, die wir alle miteinander teilen.

I.____Das Phantom der Oper

Jacob Miller liebte Toronto. In Gedanken war er jeden Tag dort. Er war zwar Amerikaner und lebte in einer schneereichen Stadt in den USA, aber in seinem Büro zu Hause hing eine kanadische Flagge mit den breiten roten Streifen und dem roten Ahornblatt. Und ein Papierausdruck der Flagge war an die Wand zwischen Küche und Esszimmer geklebt. Auch an der Heckscheibe seines Wagens war eine Flagge befestigt, die seine Vorliebe verriet. Wenn er sich im Winter sportlich kleidete, zog er am liebsten eine Jacke an, auf deren Rücken groß und unübersehbar das Blatt genäht war.

Hätte er im Lotto gewonnen, hätte er sich zur Ruhe gesetzt und wäre nach Toronto gezogen. Und hätte er seine eigene Welt erfinden dürfen, wäre der gesamte Planet von dieser Stadt beherrscht gewesen. »Als unser Sohn zur Welt kam, wollte ich ihm gern einen Namen mit T und R am Anfang geben«, erzählte er und musste über sich selbst lachen. »Tristan, Troy, Trice. Den Grund dafür verriet ich meiner Frau nicht. Ich sagte also nicht: ›Weil mich das an Toronto erinnert.‹ Sie erklärte: ›Wir werden ihn nicht Tristan nennen, denn dann würden ihn die anderen Kinder auslachen. Und auch nicht Troy. Und was für ein Name soll Trice denn bitte sein?‹«

Toronto war ein Ort, an dem jeder akzeptiert wurde. Als er während der Neunziger mit gut zwanzig einmal dort gewesen und über die Yonge Street spaziert war, hatte er jugendliche Punker gesehen, Eltern mit Kinderwagen, Bettler mit Bechern in der Hand, Prostituierte in hautengen Klamotten, händchenhaltende Schwule, alles mischte sich, alle liefen auf den Bürgersteigen aneinander vorüber, tolerierten sich, ja, aber da war noch mehr als das: Sie schienen sich stillschweigend willkommen zu heißen. Er hatte den Bettlern etwas in die Becher geworfen. Toronto, so schien es ihm, war sogar ein Ort für Monster. Eine Stadt für Männer wie ihn.

Jacob besaß ein adrettes Holzhaus nicht weit vom Zentrum der Stadt, in der er aufgewachsen war. Im Wohnzimmer rankten sich Zimmerpflanzen vom Kaminsims. Über dem Grün hing ein Flachbildfernseher an der Wand. Die Möbel waren gemütlich und zugleich stilvoll. Ein kleiner weißer Hund trippelte über den Teppich, während die Asche eines Terrier-Beagle-Mischlings, um den er nach einem Jahrzehnt immer noch trauerte, in einem goldfarbenen Kistchen im Regal stand.

In der Einfahrt spielte er während der schneefreien Monate mit seinem Achtjährigen Basketball. Ben war ein Einzelkind. Dunkelhaarig und zart. Sie warfen auf einen höhenverstellbaren Korb, den Jacob gekauft und so aufgestellt hatte, dass der Junge gut damit zurechtkam. Jacob war selbst nie sehr sportlich gewesen, aber Ben hatte ihm kürzlich beigebracht, wie man mit dem Basketball PIG spielte. (Jeder Fehlwurf bedeutet einen Buchstaben, und wer als Erster drei Fehlwürfe hat, hat verloren.) »Das ist leicht, Pop!«, rief er. »Ganz leicht!« Und so warfen und plauderten sie, plauderten und warfen. Ben hatte im fünften Monat noch im Mutterleib einen Schlaganfall erlitten und war mit einer zerebralen Bewegungsstörung zur Welt gekommen. In den Wintermonaten übte Jacob mit ihm das Skifahren.

Seit sechzehn Jahren war er mit Bens Mutter verheiratet. Er fand sie wunderschön, als sie sich kennenlernten, und daran hatte sich bis heute nichts geändert. »Männer sagen zu mir: ›Du bist ein Glückspilz.‹« Sie hatte volles schwarzes Haar, eine olivfarbene, glatte Haut und große dunkle Augen. Sie war zierlich und dennoch sehr weiblich gebaut. Sie stammte aus einer Kleinstadt, und bei ihrer ersten Verabredung hatte er sie in ein Restaurant ausgeführt, das ihr umwerfend erschien. Bei einem Abendessen, das viel teurer war, als sie es gewohnt war, und bei dem er ihr von seinen Erfolgen als Vertreter erzählte, hatte sie ihm von ihrer Arbeit am Ticketschalter einer Fluglinie erzählt. Als Mitarbeiterin durfte sie gratis fliegen, was er wiederum glamourös fand. »Diese hinreißende Frau«, erinnerte er sich, »stellte mich auf einen Sockel, genau wie ich sie.«

Er hielt sie beide nach wie vor für ein wunderbares Paar. »Wir sind sehr häuslich«, sagte er und zählte die Dinge auf, die sie gern gemeinsam taten: auf der Veranda sitzen und Ben beim Radfahren oder Herumkurven mit seinem Elektroscooter zusehen, auf Handwerksausstellungen gehen und für den Südwesten typische Keramik mit dem Motiv einer flötespielenden Figur namens Kokopelli darauf sammeln. Nach sechzehn Jahren riefen sie sich während der Arbeit immer noch drei- oder viermal täglich gegenseitig an.

Jacob hatte sich mindestens zwei erheblichen Hindernissen zum Trotz ein angenehmes, liebevolles Leben eingerichtet. Das eine war seine Lernbehinderung von so hohem Grad, dass er mit Mitte vierzig kaum besser lesen und rechnen konnte als die meisten Viertklässler. Als Kind hatte er eine dicke Spezialbrille mit verschiedenfarbigen Gläsern bekommen. Dieses clowneske Ding hatte er fast den ganzen Schultag lang tragen müssen.

Doch das Hilfsmittel nützte nichts. Das Einzige, was ihm half, im Unterricht mitzukommen, war, dass Klassenkameraden ihm Texte und Aufgaben auf Tonband aufnahmen. Abends im Bett hörte er sich die Bänder an. Als Jacob Ende dreißig war, diente er dem Chef der Psychiatrischen Klinik an der Johns Hopkins University als Anschauungspatient für seine Studenten. Mit Jacobs Zustimmung setzte der Psychiater ihn in eine Gruppe von sechzig Schulkindern und forderte ihn auf, sich vorzustellen, er habe siebzehn Äpfel, von denen er fünf verschenke – wie viele blieben ihm übrig? Jacob konnte die Frage nicht beantworten. Es gab noch weitere ähnliche Aufgaben, und er las einen kurzen, einfachen Text stockend vor, verstand ihn aber nicht. Nachdem die Studierenden darauf mit kaum verhohlenem Entsetzen reagierten, hielt der Psychiater ihnen einen Vortrag über Bewältigungsstrategien. Denn Jacob kam bestens zurecht und war in seinem Job erfolgreich. Er versorgte seine Kundschaft in einem riesigen Gebiet entlang der Großen Seen tadellos mit den von ihm gehandelten Waren und hatte ein ganzes Team von Juniorvertrieblern unter sich. Gewissenhaft sorgte er dafür, dass seine Buchhaltung nie in Unordnung geriet. Er hätte sein Geschäft inzwischen fast ausschließlich über Telefon und Internet betreiben können, aber weil er sich stets sorgte, dass jemand unzufrieden mit ihm sein könnte, fuhr er jeden Tag stundenlang herum, um persönlich zu erscheinen – ein etwas kleinwüchsiger Mann, von kräftiger Statur, ordentlich angezogen mit Jackett und Rollkragenpulli oder Krawatte. Er schüttelte Hände und plauderte ein paar Minuten, fragte die Kunden, ob es irgendwelche Beschwerden gebe, und versicherte ihnen, er würde sich um alles kümmern.

Das zweite Hindernis hatte mit Sex zu tun.

Jacob war gemäß dem psychologischen Fachausdruck paraphil. Der Begriff Paraphilie setzt sich aus den griechischen Wörtern für »abseits« (pará) und »Liebe« (philía) zusammen. Seine Liebe oder sein Verlangen war auf etwas gerichtet, das außerhalb der Normalität lag. Er fühlte sich zu Frauenfüßen hingezogen. Sie waren für ihn wie Brüste, Beine, Po und Genitalien zusammen. Er wollte sie unbedingt berühren, halten, betrachten, lecken, an ihnen saugen, seinen Penis gegen sie pressen, daran reiben. Schließlich sollte die Frau sie so aneinanderlegen, dass die Fußgewölbe eine Art Möse bildeten – damit er sie vögeln konnte.

Ich möchte zwei Dinge im Hinblick auf die Terminologie klarstellen. Erstens würden einige psychiatrische Experten zum Thema Sex – Sexologen, wie man die Nachfolger Kinseys nennt – darauf beharren, dass Jacob kein Paraphiler war, sondern eine Paraphilie hatte. Der Unterschied bezieht sich auf Identität im Gegensatz zu einer Erkrankung. Entweder wurde er durch die Paraphilie definiert oder sie war etwas, das ihn heimsuchte, ihn nicht losließ, ihn diktatorisch unterwarf, aber ihn nicht stärker als Person ausmachte als jeden Patienten mit einer beliebigen Krankheit.

Zweitens hätte Jacob Ausdrücke wie »ficken« oder »Möse« niemals benutzt. Er war ein irgendwie schüchterner und sehr auf Anstand bedachter Mann. Wenn er den Vorgang schon in Worte fassen musste, sagte er »Verkehr«.

Anständig und lüstern zugleich, schämte er sich für sein Verlangen. Eine seltsame und fast vollständige Substitution war da vor sich gegangen, und jetzt, zumindest kam es ihm so vor, war er ganz und gar anders als andere Männer. Gesichter interessierten ihn zwar, und auch die Figur einer Frau war für ihn nicht bedeutungslos. Sprach er von der Schönheit seiner Frau, meinte er das, was andere Männer auch meinten. Doch ohne die Füße gab es kein konkretes Verlangen. Wenn er sich an das erste Date mit seiner Frau erinnerte, vermochte er sich nicht daran zu erinnern, welche Kleider sie getragen hatte, auch wenn alles vom Knöchel aufwärts durchaus attraktiv gewesen sein muss. Woran er sich jedoch ganz genau erinnerte, das waren die vorne offenen Schuhe mit halbhohem Absatz und einem cremefarbenen Lederstreifen oberhalb der Stelle, wo ihre Zehen ansetzten.

Diese erotische Deformation machte ihn in seinen eigenen Augen abscheulich. Er klammerte sich an die Vorstellung von einer Erkrankung, während er in den Strudel der Identitätsfindung stürzte. Trotzdem gab es Psychiater und Psychologen, Kliniker und Wissenschaftler, die ihm eine Gabe attestierten. Sie erklärten mir, was die erlebte Intensität anginge, gebe es keinen Vergleich zwischen der Erfahrung von jemand wie Jacob und denjenigen, die sie »normophil« nannten. Über das schiere Verlangen, den gierigen und exaltierten erotischen Hunger, den nie ganz vollständigen Bewusstseinsverlust (durchschnittliches Verlangen und durchschnittlicher Sex führen so gut wie nie dazu, nicht einmal im Augenblick des Orgasmus, wenn der Verstand benebelt ist und es zu unwillkürlichen Schreien kommen kann), über Kontrollverlust und Selbstvergessenheit hinaus, war Jacob etwas Außergewöhnliches vergönnt: Jacob hatte die Gabe der Ekstase.

Als Jacob noch ein Kind war und in die zweite Klasse ging, befand sich neben dem Klassenzimmer eine Kammer, in der die Schüler ihre Schneestiefel ausziehen sollten. Manchmal rutschten ihnen dabei auch die Socken von den Füßen. Das ist seine früheste Erinnerung an diese Sehnsucht, die ihm als Kind natürlich nicht seltsam erschien. Die einzige Berührung, die ihm damals gelang, war die eines Jungen, der ihn zum Spielen zu Hause besuchte. An jenem Nachmittag überlegte er fieberhaft, wie er etwas, irgendetwas, hoch hinauf auf seinen Schrank befördern könnte, während sein Freund gerade nicht im Zimmer war. Schließlich warf er einen Ball auf ein Regalbrett und sagte seinem Freund danach, er käme nicht an ihn heran. Der Junge erklärte sich bereit, es zu versuchen. Da bat Jacob ihn, die Schuhe auszuziehen, damit er mit seinen Händen für ihn eine Räuberleiter machen könnte.

Ein paar Jahre lang war er auf Jungenfüße fixiert; ab der Pubertät ging diese Faszination auf Mädchenfüße über.

Seine Eigenart bemerkte Jacob, als er später Bilder nackter Frauen betrachtete, die andere Jungs erregten, während er nichts spürte. Der Rückzug von der Umwelt, die Isolation, die mit den rot-grünen Brillengläsern begonnen hatte, verstärkte sich. Das Haus der Großmutter war immer seine Zuflucht. Wenn ihm die Schultage mit dem albernen Sehgerät unerträglich wurden, sprang er manchmal von seinem Stuhl auf, rannte durchs Klassenzimmer, zum Seiteneingang hinaus und stolperte durch den Schnee der abschüssigen Schulwiese bis zur Straße und von dort weiter den länglichen Hügel hinauf bis zu ihr. Sie war selbst eine seltsame Frau. Eine alte Dame, die einen roten Cadillac fuhr, aber ihr Haus kaum heizte und lieber im Dunkeln saß, um zu sparen. Sie verteidigte ihn vehement und weigerte sich trotz der Bitten seiner Eltern, ihn zurück in die Schule zu schicken.

Später, als er schon ein Teenager war, bestellte sie ihn dauernd zu sich nach Hause, damit er irgendwelche Reparaturen ausführte. So zeigte sie etwa auf einen Sprung im Putz an der Zimmerdecke, wies ihn an, ihre Leiter zu holen, und reichte ihm eine Rolle Klebeband. Er fand sie zwar verrückt, aber er klebte den Riss so, wie sie es wünschte. »Diese Decke hätte niemand so reparieren können wie du!«, rief sie aus. Das Gleiche galt für den Sturmschutz, den er jeden Herbst an den Fenstern anbrachte: »Niemand kann einen Sturmschutz einsetzen wie du!« Und fürs Rasenmähen: »Du bist der Einzige, der diesen Rasen mähen kann!«

Das erste Mädchen, in das er sich verliebte, kam zusammen mit ihrer Großmutter in sein Leben. Er jobbte damals in einem Sportgeschäft, nachdem er das College geschmissen hatte, weil ihn jeder Arbeitsauftrag überforderte. Neben ihrer Großmutter stehend, bat das Mädchen, das Sportschuhmodell Nike Cortez anprobieren zu dürfen. Den gleichen Schuh hatte er an, denn das war sein Lieblingsmodell: niedrig geschnitten, schlicht und schmal, mit einer dünnen, geriffelten Sohle, die an eine lange Reihe winziger Zähne erinnerte. Und sie wollte auch noch die gleiche Farbkombination wie er: weiß mit einem roten Nike-Swoosh. Er war zwar kein Schuhfetischist, aber ihre Wahl erschien ihm wie ein Zeichen. Er war ein romantischer, sentimentaler Typ. Ihrer beider Geschmack in Sachen Schuhe kam ihm vor wie ein Wink des Schicksals.

Er erfuhr auch gleich Größe und Breite ihrer Füße. Große Füße mochte er schon immer. Allein die Worte »Größe acht« oder »Größe neun« zu hören, konnte ihn hart werden lassen. Sie hatte nur sieben Komma fünf, aber dafür einen breiten Fuß. Er setzte sich auf den niedrigen Hocker des Verkäufers und stellte ihre Füße nacheinander auf die schräge Fläche zwischen seinen Beinen. Er schob die Ferse über ihre weißen Sportsocken, zog die Schuhbänder straff und band sie zur Schleife. Sie ging darin herum, erklärte, dass sie passten, probierte noch andere Modelle, kam aber zu ihrer ersten Wahl zurück, dann trödelte sie plaudernd noch ein wenig herum, bis sie sich entschuldigte: »Ich weiß, dass du weiterarbeiten musst.« Ihr blasses, hübsches, schüchternes Gesicht verhieß ihm Zärtlichkeit und Mitgefühl. Er versicherte ihr, überhaupt nicht in Eile zu sein, und im weiteren Verlauf ihrer Unterhaltung erwähnte sie, dass sie bei ihrer Großmutter lebe.

»Ich wohne auch bei meiner Großmutter.« Erst kürzlich war er in das kalte, aber trotzdem tröstliche Haus gezogen.

»Nicht dein Ernst!«

»Doch, doch! Das ist die Wahrheit!« Aber als sie schließlich mit den Turnschuhen den Laden verließ, war er sich sicher, sie – ihr Name war Sara – nie wiederzusehen.

Er erinnerte sich: »Ihre Großmutter und sie waren wie an der Hüfte zusammengewachsen. Genau wie meine Großmutter und ich. Ihre Großmutter war klein und zierlich, genau wie meine. Und sie war extrem sparsam, auch wie meine.«

Diese Details waren ihm jedoch noch nicht bekannt, als er sie eine Woche später erneut im Laden entdeckte, wiederum in Begleitung der alten Dame. »Du bist wieder da.«

»Ich bin gekommen, um dich zu treffen.«

Da wandte er sich sofort an die Großmutter, bat um die Telefonnummer und platzte gleich mit einer Einladung heraus, indem er vorschlug, die beiden zum Abendessen auszuführen. Stattdessen luden sie ihn zu sich nach Hause ein. Sein erstes Date mit Sara – sie war damals fünfzehn, er einundzwanzig – war also genau genommen eine Art Dreier. Die Großmutter kochte Fleisch und Kartoffelbrei, während er mit der Enkelin auf der Veranda saß, sie barfuß. »Schnabeltierfüße«, sagte er, »du hast Schnabeltierfüße.« Und sie lachten und kicherten beide. Ihre Zehen bildeten eine perfekte Treppe, denn vom großen bis zum kleinen Zeh war jeder ein wenig kleiner als der nächste.

Als die Großmutter sie zum Essen rief, raste er durch die Flure seines Verstands, schaute in jeden Winkel, auf der Suche nach etwas, das ihn von seinem Verlangen ablenken oder es verringern konnte. Die Stimme der alten Frau hatte sich wie ein flüchtiges Auge, das seine Perversion zu durchschauen drohte, in seinen Kopf gebohrt. Doch er fand keinerlei Ablenkung. Sein Kopf war leer bis auf diese eine Sache, der er so gern entgehen wollte.

Am Tisch gelang es ihm trotzdem zu funktionieren, und als er hinterher mit Sara fernsah, legte sie ihre Füße auf einen Hocker. In ihren Zehen, Gelenken, Fußgewölben und Fersen konzentrierte sich die ganze Macht, die all die geläufigeren erotischen Körperteile auf die meisten Männer ausüben. Die Treppe ihrer Zehen war sein Ideal, und die Schnabeltierbreite machte sie zu seiner Version eines Bikinimodels. So nahm er zögernd nacheinander ihre Füße in die Hand und begann sie zu massieren – zart und liebevoll –, während sie vorgab, sich auf das Programm zu konzentrieren.

Jacob war Jude, und als er seiner Großmutter von seiner Liebe erzählte, fragte sie nach der Religion des Mädchens. Die Antwort war nicht die gewünschte. Doch schon bald liebte die Großmutter, die Hunde eigentlich nicht ausstehen konnte und in ihrer Umgebung nicht duldete, den Mischling – ein Terrier-Beagle-Mix, dessen Asche jetzt auf Jacobs Kaminsims steht –, den er und Sara bei einem Bummel durch die Mall im Käfig einer Tierhandlung entdeckt hatten. Damals war er bereits in eine eigene Wohnung gezogen. Eines Morgens hatte die Großmutter ihn angerufen und verlangt, dass er sofort vorbeikomme. Sie hatte eine Maus gesehen und war nach eigenem Bekunden zu Tode erschrocken. »Bring den Hunt mit!«, befahl sie und benutzte dabei den jiddischen Ausdruck.

»Er heißt Max«, sagte Jacob.

»Bring einfach den Hunt mit!«

Das tat er, die Maus verschwand, und von da an wünschte sie, dass der Hund dauernd zu Besuch kam, und hielt Jacob und Sara für Helden, weil sie ihn besaßen. »Keiner kann Mäuse so abschrecken wie dieser Hunt!«

Saras Großmutter war dankbar für die Stabilität, die Jacob bot. Saras Freunde von der Highschool waren ihr viel zu wild. Ihre Großmutter wollte nur sicher wissen, dass er sich wie ein Gentleman benehmen würde und die beiden im Fernsehzimmer nach den von ihr zubereiteten Mahlzeiten nichts Unerlaubtes taten. Er gab ihr sein Wort und hielt es auch drei Jahre lang. Seine Hände und Finger, Lippen und Zunge wanderten von ihren Füßen zu den Brüsten und wieder zurück, wobei die Reise nach oben nur sein Verlangen, nach unten zu gelangen, kaschieren sollte. Ihre Jungfräulichkeit zu bewahren war für ihn kein Problem. Er kam heimlich und explosionsartig, auf der Toilette und ohne seine Lust zu gestehen. Aber durch die ganze Aufmerksamkeit für ihren Körper, all die Signale, die er durch ihre Waden, Schenkel und Brüste sandte, wurde Keuschheit für sie zum Problem. Sie bettelte um Sex. Er hielt sich zurück, bis sie achtzehn war, dann nahm er sie mit ihren Füßen in der Hand, im Augenwinkel oder zumindest – das war das Mindeste – in seiner Vorstellung.

Sie besuchte noch die Highschool, als sie vom Heiraten anfing. Er beharrte darauf, dass sie vorher zusammenleben müssten, um zu sehen, ob die Beziehung hielt. Als sie mit dem College anfing, legte sie sich neue Freunde zu, begann Hasch zu rauchen und entfernte sich von ihm. »Ich begann mich zu fühlen wie ein Sugardaddy«, erinnerte er sich. Eines Tages bog er um eine Straßenecke und sah sie mit einem anderen Händchen halten. Saras Großmutter war genauso verzweifelt wie er, als sie sich trennten. Sie schlug ihm sogar vor, bei ihr einzuziehen. Und so aß er einige Wochen lang bei ihr zu Abend, schaute dort fern und schlief unter ihrem Dach.

Über zwanzig Jahre später saß ich in seinem Wohnzimmer, und er fragte mich, ob ich ein Foto von Sara sehen wolle. Schon schoss er die Treppe hinauf, um es aus welchem Versteck auch immer hervorzuholen. Es war ein kleiner Abzug mit dem gestellten und süßlichen Ausdruck eines Jahrbuchporträts. Ihr schulterlanges braunes Haar war schlicht, aber sorgsam frisiert. Ihre helle Haut sah so makellos aus, dass es fast unscharf wirkte. Sie lächelte strahlend, aber auch so, als könnte sie es nicht mehr lange durchhalten. Wie so viele Teenager unter dem prüfenden Blick eines Fotografen und der Aussicht auf die Permanenz eines Jahrbuchs. Mir fiel nicht viel ein, das ich hätte sagen können, als wir ihr Gesicht gemeinsam betrachteten, aber dann brach er das Schweigen. »Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an sie denke. Ich hatte mal eine Psychologin, die zu mir sagte: ›Jacob, für jeden Topf gibt es einen Deckel.‹ Das hier ist mein Deckel.« Es fiel ihm schwer zu erklären, warum das so war, und er kam wieder und wieder auf ihre gemeinsame Liebe zu den jeweiligen Großmüttern zurück. Als wäre Sara so eng mit dem Trost verbunden, den seine Großmutter ihm als Kind gespendet hatte, dass er sonst nichts brauchte, außer ihrer Attraktivität – und die Perfektion ihrer Füße hatte genau das für ihn dargestellt. »Das ist mein Deckel«, wiederholte er und bat dann: »Bringen Sie mich jetzt bloß nicht zum Weinen.«

An wen genau dieser Appell gerichtet war, ließ sich nicht bestimmen. Ich sagte nichts, und das Foto wirkte auf mich viel zu ausdruckslos, um Tränen hervorzurufen. Doch er sah Dinge, die mir verborgen blieben. Empfand etwas, was er nicht kommunizieren konnte. Seine Großmutter war in höchstem Maße verständnisvoll gewesen. Intuitiv hatte sie seine Scham begriffen und ihn vor der Welt, die dieses Gefühl auslöste, beschützt. Die Defizite in seinem Denkvermögen hatten ihn schon in der Grundschule ein Jahr zurückgeworfen, und seine Versetzungen danach waren immer reine Gnadenakte gewesen. Sie hatte ihm ein Reich geboten, in dem das keine Rolle spielte und in dem seine Fähigkeit, einen Riss in der Decke mit Klebeband zu reparieren, eine geradezu prinzliche Tugend war. Nie hatte er ihr von der zweiten Absonderlichkeit erzählt, mit der sein Gehirn ihn strafte: Dass es ihn nie danach verlangte, in eine Vagina einzudringen, sondern er sich verzweifelt danach sehnte, zwischen zwei Füßen zu sein, dass sein Verstand seinem Penis auch eine Art rot-grüner Brille aufgesetzt zu haben schien, dass Sex bei ihm Selbsthass auslöste. Er hatte keinen Grund zu vermuten, sie hätte auch nur etwas davon geahnt. Doch ihre Akzeptanz und Bewunderung waren immer so bedingungslos und umfassend gewesen, dass vermutlich sogar dieses Geheimnis ihnen nichts hätte anhaben können.

In den viereinhalb Jahren, in denen er und Sara zusammen gewesen waren, hatte sie, wenn er wieder einmal ihre Füße leckte und massierte, scherzhaft geflüstert: »Ich glaube, du magst meine Füße lieber als alles andere.«

»Was redest du denn da?«

»Ich glaube«, hauchte sie, »du hast da ein Problem.« Aber sie hatte es so liebevoll geflüstert, als wollte sie ihm damit zu verstehen geben, dass es ihr nichts ausmache. Dadurch war der Selbsthass von einer Welle der Dankbarkeit verdrängt worden.

»Bringen Sie mich jetzt bloß nicht zum Weinen«, wiederholte Jacob an mich gewandt in seinem Wohnzimmer. Dann lief er an dem Ausdruck der kanadischen Flagge vorbei wieder die Treppe hinauf und legte das Porträt in sein ehrwürdiges Versteck zurück.

Im Winter versuchte Jacob, den Wetterbericht zu ignorieren. Ein Schneesturm konnte leicht einen Fuß Schnee bedeuten oder bei heftigen Blizzards auch zwei oder drei Fuß. Die Schneestürme kamen unvermeidlich, und er konnte das Wort nicht ertragen. »Stellen Sie sich vor, die Schneehöhe würde in Brüsten gemessen, und Sie wären der einzige Mann mit diesem krankhaften Verlangen«, versuchte er es mir zu erklären. »Und wenn Sie dann die Wetterleute ständig sagen hören müssten Brüste, Brüste, Brüste, aber der Einzige wären, der darüber Bescheid weiß. Wenn Sie diese Neigung schon seit Ihrer Kindheit verbergen würden.«

Zwischen Ende zwanzig und Mitte dreißig wurde das Bedürfnis, verschlimmert durch die Geheimhaltung, mit jedem Jahr größer. »Das ist zum Lachen«, sagte er und tat es selbst. »Den Leuten ist das nicht bewusst. Wie oft dieses Wort verwendet wird. Wenn Sie sagen: ›Jacob, ich baue mein Haus um. Was meinst du, wie viele Quadratfuß sollte das Arbeitszimmer haben?‹ Dann denke ich: Quadratfuß, ich hätte nichts dagegen, mir ein paar Quadratfüße anzusehen.«

Der Winter war auch problematisch, weil Gäste bei ihm zu Hause meinten, Schuhe oder Stiefel ausziehen zu müssen. Aus purer Höflichkeit. »›Nein, bei uns nicht‹, pflege ich dann zu sagen. ›Ist bei uns nicht üblich.‹

›Ach, wir wollen euren Boden nicht dreckig machen.‹

›Macht euch darüber keine Gedanken.‹

›Aber das ist doch wirklich kein Problem. Sonst habt ihr lauter Dreckspuren auf dem Teppich.‹

»Nein, nein, bitte, wir machen das schon sauber. Es stört uns nicht. Wir putzen eh andauernd und saugen den Teppich später. Bitte.‹«

Am schlimmsten war jedoch das späte Frühjahr, wenn plötzlich Sandalen und Flipflops getragen wurden. Dieses abrupte Zurschaustellen von Füßen, die winterweiß besonders nackt wirkten. Als es einmal im Straßenverkehr wegen einer Baustelle zu Stau kam, hielt neben ihm ein Auto. Die junge Frau auf dem Beifahrersitz hatte ihre Füße aufs Armaturenbrett gestellt, und er kam innerhalb von Sekunden, kaum dass er sich angefasst hatte. Manchmal brauchte er seinen Penis nicht mal zu berühren. Er konnte schon zum Orgasmus kommen, wenn er Füße nur in der Hand hielt, mit der Zunge berührte oder auch nur einen hohen Spann oder breiten Fußrücken sah.

Das Fernsehen bedrängte ihn. In einer Krimiserie warnte eine toughe Ermittlerin einen Verdächtigen: »Sonst stecke ich meine Größe acht dahin, wo keine Sonne scheint.« Jeder Film schien eine Barfußszene zu haben. Als er einmal im Wartezimmer eines Arztes saß, fand er in einer Zeitschrift eine Liste von Hollywoodstars, sortiert nach ihren körperlichen Vorzügen. »Jeder Körperteil kam vor, bis auf einen«, erinnerte er sich und fühlte sich schrecklich allein. Ihm war zwar klar, dass die Existenz von Pornoseiten im Netz, die seinen Neigungen entsprachen, nur bedeuten konnte, dass es auch noch andere Männer wie ihn gab, doch er war sich sicher, dass es sich bei den anderen um schwächer ausgeprägte und eher flüchtige Interessen handelte. Kein anderer war so komplett verdreht wie er. »Meiner Ansicht nach«, sagte er, nachdem er beschrieben hatte, dass diese Zeitschrift nicht den Fuß eines einzigen Filmstars gepriesen hatte, »ist es offenbar inakzeptabel.« Er überlegte kurz, dann fragte er mich: »Meinen Sie, Ihre Frau würde das akzeptieren?«

»Ich will ehrlich zu Ihnen sein«, antwortete er selbst. »Ich würde gar nicht wollen, dass meine Frau es akzeptiert.«

Er vertraute sich niemandem an. Dafür machte er Umfragen. Sie wurden durch ein Foto im Sportteil ausgelöst, wenn dort ein Mädchen einer College- oder Highschool-Mannschaft beim Softball oder Basketball zu sehen war, denn die Vorstellung von athletischen Füßen hatte ihn schon immer fasziniert. Mithilfe der Bildunterschrift besorgte er sich über die Auskunft die Telefonnummer des Mädchens. Seine Umfragen liefen nach einem festen Schema ab: »Hallo, ich rufe von Nike an. Wir bringen einen neuen Turnschuh auf den Markt. Heute führen wir Sechzig-Sekunden-Umfragen durch. Würden Sie uns ein paar Fragen beantworten? … Tragen Sie Sportschuhe? … Treiben Sie Sport? … Können Sie mir Ihre Schuhgröße nennen? … Haben Sie eher schmale oder breite Füße? … Wenn Sie zwei Mädchen sehen würden, die sich gegenseitig die Zehen lutschen, fänden Sie das eklig oder eher lustig?« Er bedankte sich höflich, sobald er gekommen war. Und nachdem er aufgelegt hatte, überfiel ihn das schlechte Gewissen.

In Restaurants stieß er manchmal, wenn er zwischen Tischen durchging, absichtlich einer Frau, die ihren Schuh nur an den Zehen baumeln ließ, den Schuh vom Fuß. Nachdem er sich dafür entschuldigt hatte, hörte er oft: »Keine Sorge, das war doch nichts.« Aber es war eben nicht nichts. »Egal, wo Sie hingehen«, sagte er, »überall sind Menschen, und alle haben Füße. Außer ich würde in einem Heim für Amputierte leben. Dort hätte ich meinen Frieden.«

Anzeigen für Massagesalons füllten die Rückseiten alternativer Stadtmagazine, und er hatte sie schon unzählige Male angestarrt. Doch er ermahnte sich selbst: »Das kannst du nicht machen. Du kannst nicht einfach Geld dafür bezahlen, den Körper eines Mädchens zur Verfügung zu haben. Das kannst du nicht.« Doch mit Ende dreißig stand er schließlich doch in einem schummrig beleuchteten Empfangsraum. Vor ihm sechs junge Frauen – in Stilettos, flacheren Absätzen, Sandalen. Er sollte sich eine aussuchen. Seine Augen scannten erst die Gesichter, dann senkte er den Blick Richtung Fußboden. Er suchte sich eine Frau aus, deren Zehen die Treppe seiner Fantasie bildeten.

Er folgte ihr durch einen Flur in ihr eigenes kleines Zimmer. »Okay«, sagte sie und drehte sich zu ihm um, »was immer du möchtest.«

Er antwortete nicht.

»Ich gebe dir mal ein Kondom.«

Er blieb stumm.

»Bist du an einem Blowjob interessiert?«

»Nein, das interessiert mich nicht.«

»Ach, nicht?«, fragte sie mit leicht schriller Stimme.

»Nein.«

»Na, was interessiert dich denn dann?«

Er konnte nicht reden. Sie hielt ihm das Kondom erneut hin.

»Das werden wir nicht brauchen.«

In ihrem Blick veränderte sich etwas. »Du hast mir sechzig Dollar bezahlt, also, was machen wir?«

»Zieh deine Schuhe aus.«

»Was?«

»Mach dir keine Sorgen.«

Sie tat, wie ihr geheißen, und stand barfuß vor ihm.

»Und jetzt leg dich aufs Bett.«

Er ließ die Hose runter. Sie fragte, ob sie sich ausziehen solle. Er flüsterte ihr zu, das sei nicht nötig. Seine Hände und sein Mund hatten schon begonnen.

»Das muss doch ein Witz sein«, sagte sie. »Dafür bezahlst du mich?«

Er konnte sich nicht dazu bringen, sie aus dem Mund zu nehmen, um ihr zu antworten. Das tat er erst, als er seinen Penis an die Stelle schob, von der er schon immer geträumt hatte. Das Gefühl überwältigte ihn und raubte ihm fast das Bewusstsein.

»Ich gebe dir meine Visitenkarte mit«, sagte sie hinterher. »Bitte sag mir jederzeit Bescheid, wenn du wiederkommen willst. Du wirst mein Lieblingskunde.«

Das schlechte Gewissen, weil er ihren Körper gekauft hatte; die Demütigung ihrer Aussage: »Du wirst mein Lieblingskunde«; das unablässige Verlangen, sie noch einmal zu besitzen; die Panikattacke, als er einige Wochen später erfuhr, dass es in dem Etablissement eine Razzia gegeben hatte und er unter den dort aufgegriffenen Männern hätte sein können – all das bewog ihn dazu, sich in Behandlung zu begeben.

Er war schon früher in Therapie gewesen, bei diesen üblichen Gesprächssitzungen. Dadurch hatte sich nichts geändert, außer dass er versucht hatte, es seiner Frau zu sagen. Das hatte die Therapeutin verlangt. Sie sagte, sonst könne sie nicht mit ihm arbeiten. Und so hatte er sich eines Abends im Oktober, als sie nach einem Abendessen mit Freunden über den leeren Highway nach Hause fuhren, gezwungen, es auszusprechen. Er war froh gewesen, dass dabei wenigstens sein Gesicht im Dunkeln lag und er den Blick auf die Straße richten musste. Aber er hatte vage Phrasen benutzt: »Ich habe ein sexuelles Problem«, »ich bin sexuell abhängig«. Daraufhin hatte seine Frau zu weinen begonnen und gefragt, ob er eine Affäre habe. Diese Befürchtung war nicht unberechtigt. Er vermied Sex mit ihr, wie er es schon immer getan hatte, aus Angst, er könne dabei sein verstecktes Verlangen offenbaren. Er versicherte ihr, niemand anderen zu haben. Dafür erwähnte er Internet und Telefon, jedoch nur am Rand das Wort »Füße«. Schniefend meinte sie, sie verstehe ihn nicht. Daraufhin erklärte er, dass er es selbst nicht begreife. Er schlug ihr vor, ihn zu seiner Therapeutin zu begleiten, aber das lehnte sie ab. Außerdem sprach sie zwei Tage lang nicht mit ihm. Danach jedoch war es fast so, als hätte jenes Gespräch auf dem Highway nie stattgefunden.

Nach seinem Erlebnis mit der Prostituierten flog Jacob nach Baltimore, um Hilfe bei einem Psychiater zu suchen, der, wie er gelesen hatte, zu den bedeutendsten Experten des Landes im Bereich sexuelle Störungen galt. Fred Berlin arbeitete in einem riesigen, herrschaftlichen Haus im viktorianischen Stil mit Backsteinfassade und Türmchen an den Ecken. Das Anwesen befand sich auf einem Hügel oberhalb des Hafens. Die Treppe war lang, das Vestibül turmhoch und düster, die Eingangstüren waren aus massivem Holz und mit kunstvollen Schnitzereien verziert. Weder an einer der Mauern noch an den Türen, noch an der Klingel befand sich ein Schild. Einst hatte Berlin fast alle seine Patienten in seinem Büro im Krankenhaus der Johns Hopkins University empfangen. Er lehrte auch nach wie vor an der Hopkins und machte die Runde in der Klinik (wo sich Jacob, nachdem er sein Patient geworden war, für den Unterricht der Studenten zur Verfügung stellte). Aber da die Universität, nach Berlins Empfinden, mit seiner Praxis – in der er sich nicht nur mit Aberrationen, sondern auch mit Kriminellen beschäftigte – zunehmend Probleme hatte, verlegte er den Großteil seiner Arbeit vom Campus in sein Privathaus.

Drinnen schimmerten die Holzböden in einem warmen Ton, ebenso die Treppengeländer, die auf jedem Absatz mit einer kunstvollen Holzkugel verziert waren. Alles war dämmrig, ruhig und poliert. Im riesigen Wartezimmer standen Pflanzen, sogar kleine Bäume, mit Blättern so groß wie Servierplatten. Die breiteten ihre Zweige anarchisch in jede Richtung aus, auch über die Lehnen der Plüschsofas. Ein gläserner Beistelltisch ruhte nicht auf Beinen, sondern auf einem abgesägten, knorrigen Baumstumpf. Das verstärkte noch den Eindruck, man befände sich in einem gewachsenen Dschungel.

Außerdem gab es dort in einer Ecke eine riesige Standuhr. Das Messingpendel in dem verglasten Kasten schwang sanft, aber unaufhaltsam. Auf dem Zifferblatt prangte das Hopkins-Siegel. Manchmal wirkte es, als würden diese Beharrlichkeit und das prestigeträchtige Emblem die Flora bändigen. Wenn jedoch einer der wartenden Patienten den großen Fernseher einschaltete und die Lautstärke entsprechend aufdrehte, wurde der Kampf zwischen Dschungel und Uhr rasch unerheblich. Dann stand das menschliche Bedürfnis im Vordergrund, die inneren Stimmen durch das Plärren des Fernsehers zu übertönen.

Die Praxisräume, die Berlin sich mit einigen Partnern teilte, waren mit Antiquitäten möbliert. Stattliche Schreibtische und bequeme, prachtvolle Sessel prägten die Zimmer. Einen Großteil der Einrichtung hatte er selbst ausgesucht, und er war stolz auf das altertümliche, großbürgerliche Ambiente. Nur ein Objekt passte nicht dazu. Ein detailgetreues Modell eines Sportstadions aus Holz und Metall, das auf einem Tisch in einem Raum stand, der für Evaluationssitzungen genutzt wurde. Es handelte sich um das Stadion der University of Pittsburgh, wo er in seinem ersten Jahr in einem Footballteam gespielt hatte, das einen späteren Star der NFL Hall of Fame hervorbrachte und das die Saison als landesweit zweitbeste Mannschaft abschloss. Berlin hatte zwar nur als Linebacker auf der Bank gesessen, aber die Erinnerung daran, vor vierzig Jahren für das Team aufs Feld zu gehen und diese Herausforderung anzunehmen, gab ihm immer noch Kraft und die nötige Entschlossenheit, den Menschen freundlich zu begegnen, die andere nur verurteilt hätten.

Etwas von dem Linebacker steckte immer noch in seinem Körper, in der kompakten Statur, auch wenn diese im Lauf der Jahre weicher und rundlicher geworden war. Im zweiten Studienjahr hatte er ein Forschungsstipendium in Psychologie erhalten und nie mehr ernsthaft Football gespielt. Doch die Energie, die ihn angetrieben hatte, sich für sein Team zu engagieren, strahlten seine breiten Schultern und sein rundlicher Kopf mit dem kurz geschorenen, lichten Haar immer noch aus.

Er hätte mit Jacob verwandt sein können. Vielleicht wären sie sogar als Brüder durchgegangen, denn beide waren klein, kompakt, mit kurzem Hals und stämmig. Beide hatten volle Wangen, die sich schon ein bisschen in Richtung ihrer gestärkten Hemdkragen senkten. Auch Jacobs Kopf wurde von seinem kurz geschorenen Haar nur noch unzureichend bedeckt. Selbst die Stimmen ähnelten sich, beide etwas hoch und leicht rau.