Die dunklen Pfade der Magie - A. K. Larkwood - E-Book

Die dunklen Pfade der Magie E-Book

A. K. Larkwood

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Beschreibung

Was ist der Preis der Magie? A. K. Larkwoods epischer Fantasy-Roman über Loyalität, Freundschaft und das gefährliche Spiel mit den Göttern. Csorwe steht bereits in jungen Jahren vor der Entscheidung ihres Lebens: Soll sie ihrer Bestimmung folgen und sich als erwählte Braut des Unaussprechlichen opfern? Oder soll sie ihren Gott verraten und in die Dienste eines mächtigen Magiers treten? Sie wählt das Leben – und damit beginnen ihre Probleme. Als Schwerthand von Belthandros Sethennai bereist sie durch flammende Tore die Welten auf der Suche nach einem längst vergessenen Artefakt und kämpft mit Gegnern, deren Waffen schärfer sind als die beste Klinge. Irgendwann muss sie begreifen: Die dunklen Pfade der Magie sind gewunden, und auf einigen wartet ein Schicksal, das schlimmer ist als der Tod. Für Leser*innen von Patrick Rothfuss, Robin Hobb, Brandon Sanderson und Peter V. Brett

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Seitenzahl: 727

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A. K. Larkwood

Die dunklen Pfade der Magie

Roman

Aus dem Englischen von Sara Riffel

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungKarteDie HauptfigurenAussprache der NamenI Die erwählte BrautKapitel 1 Das Haus der StilleKapitel 2 Das Labyrinth der EchosKapitel 3 Das FluchsiegelKapitel 4 Die verblühte StadtKapitel 5 Zwei vollkommen vorhersehbare DingeKapitel 6 Die SchlangeKapitel 7 Die Schule der TranszendenzII Begraben, aber nicht allzu tiefKapitel 8 Die Glocke des WachturmsKapitel 9 Das hohle GrabKapitel 10 Die Gottheit unter der ErdeKapitel 11 Gänzlich verschwundenKapitel 12 BergungTeil III Die EinbindungKapitel 13 Nichts für ungutKapitel 14 Ruhige BetrachtungKapitel 15 Das Leben einer AdeptinKapitel 16 Dienerin der TrostlosigkeitKapitel 17 Junges BlutKapitel 18 Eine ProphezeiungsmaschineKapitel 19 Die Chrysopras-TürTeil IV Das Grab der VerräterinKapitel 20 Die Reue des SchwertesKapitel 21 Dreifach versiegelt und dreifach gebundenKapitel 22 VerpflichtungKapitel 23 Die Besteckschublade des KaisersKapitel 24 Weder Gabe noch FluchKapitel 25 Glas und AscheKapitel 26 Die weltliche HeimstattKapitel 27 DruckmittelDanksagung

Für Maz

 

Oh, was ist länger als der Weg?

Die Hauptfiguren

Im Haus der Stille:

CSORWE, erwählte Braut des Unaussprechlichen

SANGRAI, die Priorin

ORANNA, die Bibliothekarin

ANGWENNAD, eine Laienschwester

CWEREN, Sangrais Nachfolgerin

USHMAI, eine Altardienerin

TSURAI, eine Novizin

In Grauhaken und Tlaanthothe:

BELTHANDROS SETHENNAI, ein Zauberer

PARZA, ein Sprachlehrer

DAKHYA TAYMIRI, eine Küchenmagd

TALASSERES CHAROSSA, ein unglücklicher junger Mann

GENERAL PSAMAG, ein Söldner

MORGA DIE GROSSE, Psamags Stellvertreterin

TENOCWE, ein Offizier in Psamags Kompanie

SHADRAN, ein Offizier

ATHARAISSE, eine Schlange

OLTHAAROS, ein alter Feind von Belthandros

NIRANTHE, Olthaaros’ Schwester

AKARO, ein Handlanger von Olthaaros

Bürger des Kaiserlichen Qarsazh:

DARYOU MALKHAYA, ein Wächter

DR. LAGRI ARITSA, ein Priester und Gelehrter

QANWA SHUTHMILI, eine Adeptin

QANWA ZHIYOURI, eine Großinquisitorin

TSALDU GRICHALYA, Gehilfe von Großinquisitorin Qanwa

Das Kaiserliche Quincuriat:

VIGIL, eine dem Inquisitorat unterstellte Quincurie

SPINELL, eine hochrangige, der Forschung gewidmete Quincurie

SÄBEL, eine militärische Quincurie von mittlerem Rang

Die Gottheiten:

DER UNAUSSPRECHLICHE, aus Oshaar

IRISKAVAAL, DIE TAUSENDÄUGIGE, aus Ormary und Echentyr

ZINANDOUR, die Drachin von Qarsazh

DIE SIRENE, aus dem Meer des Schweigens

Aussprache der Namen

th wird wie im englischen thin (θ) ausgesprochen.

ai klingt wie ei.

ay wird äi gesprochen.

Oshaarun

OSHAAR: oh-shar.

OSHAARU: oh-shah-ru.

OSHAARUN: oh-shah-run.

OSORWE: ksor-wäi.

SANGRAI: sang-grai.

ORANNA: o-ran-a.

ANGWENNAD: ang-gwen-ad.

CWEREN: kweh-ren.

USHMAI: usch-mai.

TSURAI: tsu-rai.

PSAMAG: psa-mag.

MORGA: mor-ga.

TENOCWE: ten-ock-wäi.

SHADRAN: shad-ran.

Tlaanthothei

TLAANTHOTHE: tlaan-θoθ-eh.

TLAANTHOTHEI: tlaan-θoθ-äi.

SETHENNAI: seθ-en-ai.

BELTHANDROS: bel-θan-dros.

CHAROSSA: chah-ross-ah.

TALASSERES: tal-ah-seh-res.

OLTHAAROS: ol-θa-ros.

NIRANTHE: nie-ran-θi.

AKARO: ack-ar-oh.

Qarsazhi

Das Qarsazhi besitzt einige interessante Konsonanten:

dh wird wie im englischen there ausgesprochen (ð).

kh klingt wie ck.

zh klingt wie sch in Schlaf.

QARSAZH: kar-sasch, beide a werden lang gesprochen.

QARSAZHI: kar-sasch-i.

QARADOUN: kar-ah-dun.

QANWA: kan-wah.

SHUTHMILI: schuθ-mi-li, das u wird eher wie in Schutz gesprochen als wie in Schuh.

ZHIYOURI: zie-ju-ri.

ADHARA: a-ða-ra.

DARYOU: dah-rju.

MALKHAYA: mal-käi-a.

MAYA: mäi-a.

LAGRI: lah-gri.

ARITSA: ah-ri-tsa.

TSALDU: tsal-du.

GRICHALYA: gri-chal-ja.

TAYMIRI: täi-mi-ri.

PARZA: par-zah.

ZINANDOUR: zin-an-dor.

LINARYA ATQALINDRI: lin-ar-ja at-kah-lin-dri.

Echentyri

ECHENTYR: eh-chen-tir.

ECHENTYRI: eh-chen-tir-i.

IRISKAVAAL: ih-riss-kah-vaal, vaal wird lang gesprochen wie in Vater.

ATHARAISSE: ah-θah-rai-seh.

PENTRAVESSE: pen-trah-vess-eh.

ISJESSE: is-jess-eh, das j wird wie dsch in Dschungel gesprochen.

Andere

ORMARY: or-mah-ri.

KASMANSITR: kas-män-sietr, das r wie beim französischen théâtre.

TARASEN: tah-rah-sen.

I Die erwählte Braut

Der Schwarze Lotus blüht durch deine Hand

Woran wir dich erkennen, Jungfer der Zerstörung

An der Vernichtung der Meere

Am Niedergang aller Dinge

Dein Name sei vergessen, und du seist meine Braut

So sprach der Namenlose auf den staubigen Ebenen.

 

Aus dem Buch der Auflösung

Kapitel 1Das Haus der Stille

Tief in der bergigen Wildnis im Norden liegt ein Felsenschrein. Der Wald deckt diese Hügel zu wie ein Leichentuch. Es ist ein stilles Land, aber im Schrein des Unaussprechlichen herrscht noch größere Stille. Vögel und Insekten meiden diesen Ort.

Im Tal unter dem Schrein befindet sich ein Tempel, der den Namen Haus der Stille trägt. Seine Dienerinnen bringen auf den Stufen zum Schrein Opfergaben dar, doch sie erklimmen sie nie.

Alle vierzehn Jahre, im Frühling, wenn die Bäche in den Hügeln zu tauen beginnen, verlässt eine Prozession das Haus der Stille. Die Priorin sitzt in einer Sänfte, die von sechs Männern getragen wird. Trotz der Kälte sind die Träger von der Hüfte aufwärts nackt. An allen anderen Tagen aller anderen Jahre sind sie Bauern und Holzfäller, doch an diesem Tag dienen sie einem uralten Zweck. Sie gehen die weiße Steinstraße entlang, die in die Hügel hinaufführt.

Vor ihnen läuft ein vierzehnjähriges Mädchen, weiß verschleiert und mit Blumen geschmückt. Sie führt ein makelloses Bullenkalb an einer vergoldeten Kette.

Am Fuß der Treppe zum Schrein hält die Prozession an. Hier steht ein Steinaltar, in den eine Rinne geschlagen ist. Unter der Rinne befindet sich ein Gefäß. Und daneben liegt ein blankes, scharfes Messer.

Das Mädchen führt das Kalb zum Altar, und sie schneiden ihm die Kehle durch. Schwarzes Blut spritzt im trüben Frühlingslicht auf den kalten Stein und fließt in das Gefäß.

Das Mädchen nimmt die Schale mit dem Blut und erklimmt die Stufen zum Schrein. Sie wird nie mehr gesehen.

 

Einen Monat vor dem Tag, an dem Csorwe sterben würde, kam ein Fremder in das Haus der Stille. Csorwe sah seine Ankunft nicht, sie befand sich unten in der Krypta und lauschte den Toten.

Unter dem Haus gab es zahlreiche Keller; Hohlräume, die in die grauen Schichten des heiligen Berges gegraben worden waren. Am tiefsten lagen die Krypten, in denen die berühmtesten Toten der Jünger des Unaussprechlichen zur letzten Ruhe gebettet waren. Ruhe war an diesem Ort, so nahe am Schrein des Gottes, nicht leicht zu finden. Die Toten kratzten an den Wänden und ahmten traurig und schief die Gesänge der Lebenden nach.

Csorwe saß, wie so oft, in der Vorkammer und versuchte, ihre Worte zu verstehen, als sie jemand den Gang hinunterkommen hörte. Sie zog die Füße in den Alkoven, in der Hoffnung, nicht bemerkt zu werden. Eine Kugel aus Kerzenlicht näherte sich und flammte vor ihr auf. Es war Angwennad, eine der Laienschwestern.

»Csorwe, meine Liebe, komm raus da. Du wirst oben gebraucht«, sagte Angwennad. Die anderen Laienschwestern nannten Csorwe Fräulein oder, noch unerträglicher, Herrin. Aber Angwennad war Csorwes Ziehmutter gewesen, weshalb sie sich gewisse Freiheiten herausnehmen konnte.

Csorwe hüpfte von dem Mauervorsprung, auf dem sie gesessen hatte. Für die Nachmittagsgebete kam es ihr noch recht früh vor, aber man verlor hier unten schnell das Gefühl für die Zeit, selbst wenn einem – so wie ihr – in diesem Leben nur noch wenig davon verblieben war.

»Da ist ein Pilger, der dich sprechen möchte«, sagte Angwennad. »Ein Fremdländer. Sieht ein bisschen zerlumpt aus, aber das überrascht mich nicht. Es heißt, er sei zu Fuß durch die Berge gekommen.«

Im Haus der Stille machten hin und wieder Pilger Halt. Die meisten wollten von Csorwe nur ihren Segen, aber Angwennads leicht besorgter Blick legte nahe, dass es damit bei diesem Besucher nicht getan sein würde.

Oben nahm Angwennad ihren Platz am hinteren Ende der Großen Halle ein. Die Priesterinnen knieten bereits in Reihen zu beiden Seiten. Priorin Sangrai nahm Csorwe beiseite und erklärte ihr, dass der Pilger um eine Prophezeiung ersucht hatte, wie es sein Recht war.

Die Altardienerinnen stellten lackierte Tabletts und Kerzen bereit, und die Bewahrerin des Schwarzen Lotus ging herum und schüttete getrocknete Blätter und Lotusstiele aus ihrem Räuchergefäß auf die Tabletts.

Als es so weit war, ging Csorwe allein durch die Mitte der Halle zu dem Podium am anderen Ende. Die Halle war nur von Kerzen erleuchtet und vom schwachen Glühen des brennenden Lotus. Die Gesichter der anderen wirkten wie bleiche Daumenabdrücke im Dunst.

Auf dem Podium standen die Priorin und die Bibliothekarin mit dem Fremden. Beim Näherkommen erhaschte Csorwe einen kurzen Blick auf ihn, hielt sonst aber die Augen zu Boden gerichtet und schritt stetig voran. Sie nahm auf dem Stuhl mit der hohen Lehne Platz und schaute mit erhobenem Kopf starr geradeaus. Die Reihen der Priesterinnen und Altardienerinnen, die Priorin, die Bibliothekarin und der Fremde, sie alle verschwammen am Rand ihres Gesichtsfeldes. Csorwe sah nur die Dunkelheit und die Leere im hohen Gewölbe der Großen Halle.

Süß und flüchtig stieg der Lotusrauch zwischen den Säulen auf. Nachdem die Bewahrerin ihre Runde beendet hatte, kam sie zu Csorwe mit einer Porzellantasse, die eine Mischung aus Lotussamen und Blütenblättern in Baumharz enthielt. Ein feiner schwarzer Rauch stieg davon auf.

Die Jünger des Unaussprechlichen neigten alle gemeinsam die Köpfe und murmelten im Chor:

»Unausgesprochener und Unaussprechlicher, Ritter des Abgrunds, Hüter der verschlungenen Welten, lobe und ehre deine erwählte Braut. Möge sie für uns sprechen.«

Csorwe hob die Tasse und nahm einen tiefen Atemzug. Zedernholz, Pfeffer, Weihrauch und darunter das unwiderstehliche Aroma des Lotus. Ihr Blick verdunkelte sich, ein angenehmes Kribbeln kroch durch ihre Glieder, gefolgt von Taubheit. Die Lichter in der Halle waren sehr weit entfernt und schimmerten, als würden sie sich unter Wasser befinden. Mit jedem Atemzug wurden sie noch trüber.

Im Wachzustand war Csorwe durch sämtliche Krypten und Keller unter dem Haus der Stille gestreift. Sie kannte sie in- und auswendig, hatte alles dort gesehen und berührt. Unter dem Einfluss des Lotus spürte, nein, schmeckte sie ihre Umrisse. Der ganze Berg war von Hohlräumen durchzogen, und in seinem Herzen befand sich die große Leere.

Sie stürzte durch die Dunkelheit hinab und spürte die Augen der Leere auf sich gerichtet.

Die Gegenwart des Unaussprechlichen kam anfangs nur langsam über sie, wie die Flut, die sanft anstieg und in die Höhlen der im Sand lebenden Kreaturen vordrang. Und dann war sie auf einmal nicht mehr zu leugnen: ein gewaltiger, unsichtbarer Druck, eine konzentrierte Neugier, deren Hunger schwer auf ihr lastete.

Schließlich eine Stimme und ein Gesicht. In der Großen Halle des Hauses der Stille kniete der Fremde vor ihr und entbot ehrfurchtsvoll den Gruß der geschlossenen Lippen. Sein leuchtendes Gesicht verschwamm wie ein Spiegelbild auf der Oberfläche eines Sees. Obwohl er bestimmt schon vierzig war, besaß er keine Hauer. Er war der erste Fremdländer, den Csorwe zu Gesicht bekam, und sie wünschte sich, sie könnte ihn klarer sehen.

»Erwählte Braut, ich möchte den Unaussprechlichen in aller Demut um eine Gunst ersuchen«, sagte der Fremde. Er sprach Oshaaru mit seltsamem Akzent.

»Was wünschst du?« Es war Csorwes Stimme, aber natürlich spürte sie nicht, wie sich ihre Lippen bewegten. Der Unaussprechliche hatte sie in seiner Gewalt.

»Wissen«, sagte der Fremde.

»Wissen über das, was vergangen ist, oder über das, was sein wird?«, fragte der Unaussprechliche. Seine Aufmerksamkeit wanderte prüfend durch Csorwes Geist. Er fand keinen Widerstand. Sie war hierfür ausgebildet worden. Ein reines Gefäß für die Stimme des Gottes.

»Wissen über das, was jetzt ist«, sagte der Fremde.

Das war ungewöhnlich. Fast schon respektlos. Csorwe wappnete sich für den Zorn des Unaussprechlichen. Er schien ihre Gedanken wahrzunehmen, und sie spürte eine sanfte Berührung, wie die Kühle, die aus einem offenen Grab aufsteigt.

»Sprich also«, sagte der Gott mit Csorwes Stimme.

»Unausgesprochener und Unaussprechlicher, wo befindet sich das Reliquiar von Pentravesse?«

Csorwe überkam das vertraute Gefühl zu fallen. Helle Gegenstände flackerten vorbei. Und dann spürte sie erneut die Berührung des Unaussprechlichen, der ihren Blick in eine bestimmte Richtung lenkte.

Sie sah ein Rosenholz-Kästchen. Es war achtseitig, mit Goldintarsien verziert und etwa so groß wie die Faust eines Mannes. Es schien so nah, dass sie es fast berühren konnte, aber dies war nicht Csorwes erste Prophezeiung, und selbst benebelt vom Lotus wusste sie, dass es nur eine Vision war.

Eine dichte Finsternis sammelte sich um das Kästchen, wie ein Samtbeutel, der zusammengezogen wurde, und dann verschwand es darin. Die Vision endete abrupt, als sei sie Csorwe absichtlich entrissen worden.

»Es ist vor meinem Blick verborgen«, sagte der Unaussprechliche.

Gefühle wie Abscheu oder Unglaube waren unter der Würde eines Gottes, Unmut dagegen empfand der Unaussprechliche sehr wohl.

»Aber es existiert noch?«, fragte der Fremde. Er gab sich offensichtlich Mühe, ruhig zu sprechen, doch Csorwe entging die Befriedigung in seiner Stimme nicht.

»Es ist unversehrt«, sagte der Unaussprechliche. Mehr würde der Fremde offenbar nicht erfahren, denn der Unaussprechliche zog sich aus Csorwe zurück, wie eine Welle am Strand, die zurück ins Meer gezogen wird und nur glänzenden, glatten Sand hinterlässt.

Und dann war sie wieder sie selbst, auf dem Podium, im Haus der Stille, mit dem bitteren Nachgeschmack des Lotus im Mund. Ihr wurde schwindelig, die Tasse fiel ihr aus der Hand, und sie verlor das Bewusstsein.

 

Csorwe verschlief die Nachmittagsgebete, erwachte schließlich in ihrer Zelle und stolperte zum Abendessen in den Speiseraum hinunter. Der Schwarze Lotus war für seine üblen Nebenwirkungen bekannt. Ihr Kopf fühlte sich schwer und zerbrechlich an, wie ein hartgekochtes Ei, und ihr Hals schmerzte, als hätte sie zu lange zu laut geschrien.

Eine Gruppe Novizinnen in Csorwes Alter saß an einem Tisch. Einige drehten sich um, als sie eintrat, aber die meisten schenkten ihr keine Beachtung.

Bis zu Csorwes dreizehntem Geburtstag hatte sie zusammen mit den anderen Novizinnen gelebt und gelernt. Dennoch hatte sie unter ihnen keine Freundinnen. Die erwählte Braut des Unaussprechlichen war aufgrund des Gesetzes, aber auch aus rein praktischen Gründen eine einsame Berufung. Es hatte wenig Zweck, Freundschaft mit ihr zu schließen. Die meisten Novizinnen kamen aus Bauernfamilien und wussten, dass man das Schwein vor der Schlachtsaison nicht allzu sehr ins Herz schließen sollte.

Csorwe holte sich eine Schüssel Kohlsuppe und setzte sich an einen anderen Tisch. Alle Gespräche drehten sich um den Fremden. Offenbar war er ein Zauberer aus einer weit entfernten Stadt, deren Namen niemand aussprechen konnte. Es wurde immer stiller, bis sich alle um Ushmai drängten, die leise wisperte, dass sie den fremden Zauberer attraktiv fand.

Gedankenverloren aß Csorwe ihre Suppe. In dreißig Tagen war es so weit. Das bedeutete noch neunundzwanzig Abendessen. Sie versuchte, sich auf die Suppe zu konzentrieren, sich bei jedem Löffel Zeit zu lassen und ihn richtig zu genießen, aber wegen des Lotus schmeckte alles nur nach Rost.

Immer wieder kehrten ihre Gedanken zu dem Fremden zurück. Wenn er ein Zauberer war, warum sah er dann so zerlumpt aus? Wo waren seine Diener? Wonach suchte er so verzweifelt, dass er den weiten Weg allein hierhergekommen war? Das Kästchen, das sie in ihrer Vision gesehen hatte, musste sehr wertvoll oder heilig sein, oder beides.

Mit einem Mal verstummten die Novizinnen, und Csorwe schaute auf. In der Tür zum Speiseraum stand der Fremde. Er musste sich beim Eintreten etwas bücken.

Csorwe musterte ihn, tat aber so, als würde sie weiter ihre Suppe essen. Er hatte dunkelbraune Haut, dichtes Haar, das mit einer Spange zusammengebunden war, lange, spitze Ohren und einen Vollbart. Jemanden wie ihn hatte Csorwe noch nie zuvor gesehen. Die Oshaaru, zu denen sie gehörte, besaßen graue Haut und goldene Augen, und die wenigen Männer, denen sie je begegnet war, hatten glattrasierte Gesichter gehabt.

Der Mann trug einen langen, fremdländischen Mantel, der so stark geflickt war, dass man den ursprünglichen Stoff kaum noch erkennen konnte. Zwischen den Flicken waren die Überreste goldener und silberner Stickereien zu sehen, die bei jeder Bewegung glitzerten. Vielleicht war er vor Jahren einmal reich gewesen, inzwischen aber nur noch ein Bettler.

Allerdings sah er nicht wie ein Bettler aus, jedenfalls nicht wie die Armen, die nahe des Hauses der Stille lebten. Er war es nicht gewohnt, sich zu bücken.

Einen Moment lang sah er sich im Speiseraum um und setzte sich dann, zu Csorwes Erschrecken, genau ihr gegenüber.

»Mein Name ist Belthandros Sethennai«, sagte er. »Wir sind einander schon einmal begegnet. Nur hatte ich da keine Gelegenheit, mich vorzustellen.«

Sie sagte nichts, sondern schaute bloß auf die halbgeleerte Suppenschüssel.

»Kein Grund zur Sorge. Ich habe mit der Priorin gesprochen. Sie hält es aus theologischer Sicht für unbedenklich, dass du mit mir redest.«

Die Theologie kümmerte Csorwe weniger als die aufmerksamen Blicke der Novizinnen, aber sie schaute zu ihm hoch. Es war seltsam, einen erwachsenen Mann ohne Hauer zu sehen. Sein Gesicht sah so unschuldig und ungeschützt aus, dass es schwer war, seinen Ausdruck zu deuten.

»Ich wollte dir dafür danken, dass du vorhin meine Neugier befriedigt hast«, sagte er.

Csorwe starrte ihn an. Es war absurd und unangemessen, für eine Prophezeiung Dank anzunehmen. So als würde man sich ein Glas Wein eingießen und sich dann bei der Flasche bedanken.

»Ich hoffe, es war nicht zu anstrengend für dich«, sagte er. Sie schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, ich könnte dir sagen, wie viel mir dieses Wissen bedeutet. So viele Jahre lang habe ich die Geschichte des Reliquiars erforscht, ohne zu ahnen, dass Bruchstücke davon noch existieren könnten, geschweige denn die ganze Schatulle. Aber ich will dich nicht mit alter Historie langweilen. Ich rede mir immer noch ein, dass sich die Leute für meine Forschungen interessieren, wo es doch so viele Beweise für das Gegenteil gibt.« Er lächelte. »Hast du vielleicht noch etwas Zeit für mich übrig? Die Priorin meinte, du könntest mir die Bibliothek zeigen.«

In der Bibliothek des Hauses der Stille befand sich ein Buch, das in die Haut eines ermordeten Königs eingebunden war – so hieß es jedenfalls. Es gab Bücher, die in Geheimschrift verfasst waren, Bücher aus Obsidian und welche aus Walhaut. Es gab Karten von zerstörten Städten und vernichteten Welten. Und nutzlose Pläne, auf denen die Verstecke verlorener Schätze verzeichnet waren, und Wörterbücher längst vergessener Sprachen. Die Bibliothek des Hauses der Stille war ein Monument des Verfalls.

Außerdem war es dort angenehm warm, weil die Bibliothekarin Angwennad dazu überredet hatte, ihr die doppelte Menge Feuerholz zuzuteilen.

Als Csorwe mit Belthandros Sethennai hereinkam, saß die Bibliothekarin an ihrem Schreibtisch. Ihr Name war Oranna, und sie war so jung, dass Csorwe sich noch daran erinnern konnte, wie sie von der Altardienerin zur Priesterin aufgestiegen war. Ihre Augen besaßen die Farbe von Bienenwachs, und sie trug silberne Kappen auf ihren Hauern. Obwohl Oranna bei ihrem Eintreten nicht aufschaute, wusste sie genau, wer da war – diesen Trick hatte sie schon als Altardienerin gelernt, und als Bibliothekarin kam er ihr gut zupass.

»Also«, sagte Oranna. »Das Reliquiar von Pentravesse. Hättet Ihr mich gestern danach gefragt, dann hätte ich gesagt, Ihr seid hier am richtigen Ort dafür.«

»Und heute …?«, fragte Sethennai.

»Heute hat sich herausgestellt, dass das Reliquiar gegen alle Wahrscheinlichkeit noch existiert. Was jetzt ist, hat hier keinen Platz. Hier findet Ihr nur die Wahrheit über die Toten und alles, was zu Staub zerfallen ist.«

»Wie schade«, sagte Sethennai und ging eine Regalreihe ab. Er hatte die Hände in die Taschen seines Mantels gesteckt, als müsste er sich zusammenreißen, um die Bücher nicht zu berühren. »Ich würde trotzdem gern sehen, was Ihr über das Reliquiar dahabt. Selbst wenn nichts davon der Wahrheit entspricht.«

Oranna zog leicht verärgert die Brauen hoch. »Csorwe«, sagte sie. »Komm doch von der Tür weg und setz dich ans Feuer, Mädchen.«

Csorwe gehorchte und beobachtete, wie eine Reihe Funken von einem Holzscheit aufstieg. Als sie noch klein war, hatte Angwennad ihr Geschichten über Kobolde erzählt, die im Kamin lebten und sich um die Asche stritten. Die Erinnerung schmerzte sie. Derartiges hätte sie schon längst hinter sich lassen sollen.

Mit halbem Ohr lauschte sie Oranna und Sethennai. Die Bibliothekarin holte nicht gern Bücher aus den Regalen, und ihre Abneigung gegen den Fremden war ihr deutlich anzumerken. Dennoch hatte sie einen schweren Folianten geöffnet und suchte nun nach der entsprechenden Stelle.

»Es heißt, das Reliquiar von Pentravesse hinterlässt Spuren in der Welt, so wie eine Sense, die sich durchs Gras schlägt«, las sie vor. »Bei der Suche danach ist Geduld gefragt. Halte Ausschau nach merkwürdigen Unfällen, katastrophalen Verkettungen von Umständen und Ereignissen, die aus dem Ruder laufen. Dann mag es dir gelingen, den Weg des Reliquiars durch eine ahnungslose Welt zu verfolgen. Denn eben darin besteht sein Fluch.«

»Gier und Ehrgeiz begleiten es«, sagte Sethennai, als würde auch er laut vorlesen. »Pech, Reue und schlimme Konsequenzen folgen ihm nach.« Er lächelte. »Aber die Idee ist reizvoll, nicht wahr?«

Csorwe schaute hoch und sah, wie die Bibliothekarin und der Zauberer einen verstohlenen Blick tauschten. Wie zwei Spione, die sich auf der Straße begegneten und einander erkannten, bevor sie in unterschiedliche Richtungen weitergingen.

 

Csorwe sah Belthandros Sethennai im Haus der Stille danach nur noch einmal. Er war im Gästeflügel untergebracht, besuchte von Zeit zu Zeit die Bibliothek und fiel sonst niemandem zur Last. Sie selbst war mit den Vorbereitungen für den großen Tag beschäftigt. Es gab keinen besonderen Namen dafür. Bei sich nannte Csorwe ihn nur DENTAG. Sie verbrachte ihre Zeit mit Beten und Meditieren und las gemeinsam mit der Priorin im Buch der Auflösung und dem Traum des roten Fliegenpilzes. Sie fastete und verbrannte Lotus, wie es vorgeschrieben war.

Die Vorbereitungen waren ermüdend. Anfangs schlief sie nachts so tief, als sei sie bereits tot. Später wachte sie häufig in den frühen Morgenstunden auf und konnte nicht mehr einschlafen, weil ihr vor Furcht ganz übel war. Es schien, als würde ihr jetzt erst wirklich klarwerden, was ihr bevorstand. Als hätte sie es nicht schon von klein auf gewusst. An ihrem vierzehnten Geburtstag würde sie zum Schrein des Unaussprechlichen hinaufsteigen, und das würde ihr Ende sein.

Der Sommer würde anbrechen. Und es würde eine neue erwählte Braut geben. Den Novizinnen wuchsen ihre Hauer, und sie legten ihre Gelübde als Altardienerinnen ab. Das Leben ging weiter, aber Csorwe würde nicht mehr da sein.

Eines Nachts stand sie von ihrer Pritsche auf, weil sie es nicht mehr ertragen konnte, und ging in den Korridor hinaus. So wird es sich anfühlen, dachte sie. Wenn ich in zwei Wochen zum Schrein hochsteige. Meinem Ende entgegen. Dein Name sei vergessen, und du seist meine Braut.

Die Steinplatten unter ihren Füßen waren eiskalt. Licht gab es keines, aber sie kannte sich im Haus der Stille so gut aus, dass sie nicht stolperte. Sie erklomm die Stufen zur Bibliothek und musste an die Treppe am Berg denken. Dann sah sie den goldenen Lichtstreifen unter der Flügeltür der Bibliothek, und ihre Gedanken wanderten zur Wärme des Feuers und dem beruhigenden Duft des Holzrauchs, der Wahrheit über die Toten und allem, was zu Staub zerfallen war.

Auf Zehenspitzen schlich sie in die Bibliothek und mied dabei den Türflügel, der quietschte. Eigentlich hatte sie nicht damit gerechnet, dass jemand hier sein würde. Sie hatte sich vorgestellt, das Feuer würde allein vor sich hin prasseln.

Sie bemerkte ihren Irrtum sofort. Die Bibliothekarin und der Zauberer waren da. Sethennai saß am Kamin und badete im Feuerschein. Sein Flickenmantel hing an der Lehne seines Stuhls. Oranna, die gerade ein Buch von einem der oberen Regalbretter herunternahm, erstarrte, als Csorwe hereinkam – wie eine Katze, die beim Stehlen von Küchenabfällen erwischt wurde. Csorwe machte einen Schritt rückwärts, schloss die Tür wieder und eilte in die Dunkelheit davon.

Sie wusste gleich, dass sie etwas gesehen hatte, was nicht für ihre Augen bestimmt war. Was immer das Treffen in der Bibliothek bedeutete, sie hatte nichts davon erfahren sollen, und ungebührliche Neugier wurde hart bestraft.

Hastige Schritte folgten ihr. Lichtblitze und Schatten huschten über die Wände: Der Schein einer Laterne, die von jemandem getragen wurde, der es eilig hatte. Oranna holte sie ohne große Mühe ein.

»Was tust du hier, Csorwe?«, fragte sie leise, um die anderen nicht zu wecken. Anscheinend war Csorwe nicht die Einzige, die gegen Regeln verstoßen hatte. »Es ist mitten in der Nacht.«

Csorwe konnte es ihr nicht erklären. Sie wich in die Dunkelheit zurück. Gleich darauf erschien Sethennai hinter Oranna.

»Konntest du nicht schlafen?«, fragte Oranna. Und dann hellte sich ihre Miene auf, als sei ihr plötzlich ein Licht aufgegangen, und sie wirkte erleichtert. »Du hast Angst.«

Csorwe nickte. In dem Moment hätte sie nicht sagen können, ob sie sich mehr vor dem Schrein oder vor Oranna fürchtete.

»Csorwe ist die erwählte Braut«, sagte Oranna an Sethennai gewandt. »Den Begriff kennt Ihr bestimmt.«

»Wir sind uns schon begegnet«, sagte er langsam. In der Dunkelheit war sein Gesichtsausdruck schwer zu deuten. »Und ja, ich kenne ihn.«

Oranna drehte sich wieder Csorwe zu. »Es ist keine Sünde, Angst zu haben«, zitierte sie aus dem Buch. »Es ist richtig, den Unaussprechlichen zu fürchten. Ein Fehler wäre nur, Trost in Falschheiten zu suchen.«

Csorwe nickte und starrte auf ihre nackten Füße.

»Ich kannte die erwählte Braut vor dir«, sagte Oranna. Csorwe erschrak. Es war nicht verboten, darüber zu sprechen, aber niemand tat es. Csorwe hatte geglaubt, sie sei die Einzige, die je darüber nachdachte. »Wir waren zusammen Novizinnen gewesen. Anfangs fürchtete sie sich, aber an dem bewussten Tag war sie ganz ruhig. Du wirst denselben Frieden finden, da bin ich mir sicher. Denk immer an deine Meditationen.«

Csorwe neigte den Kopf, und Oranna führte sie zu ihrer Zelle zurück. Die Bibliothekarin war nicht gerade für ihre Freundlichkeit bekannt. Csorwe fragte sich, ob Oranna der Braut, die sie einst gekannt hatte, mit dieser Geste die Ehre erweisen wollte. Sie wünschte sich, die Bibliothekarin hätte ihr mehr über sie erzählt. Wie lautete ihr Name? Was hatte sie gesagt und getan? Vielleicht war Oranna ja die Einzige, die sich überhaupt daran erinnerte.

Als sie endlich einschlief, hatte sie Sethennai schon fast vergessen.

 

Wieder eine schlaflose Stunde zwischen Mitternacht und Morgengrauen, eine Woche vor dem Opfertag. Csorwe wickelte sich in eine Decke ein und stieg zu den Krypten hinunter. Ihre Bundschuhe hinterließen runde Abdrücke im Staub.

Die Toten in ihren Zellen ruhten nie, aber nachts waren sie besonders laut, sangen ihr Lied ohne Text und Melodie und hämmerten an die Türen. Csorwe ging an den kleineren Zellen vorbei zu der großen Zentralkammer, wo, hinter einer großen, verschlossenen Eisentür, die Priorinnen vergangener Zeiten begraben lagen.

Einige von ihnen waren so tugendhaft gewesen, dass sie sich den Mund zugenäht hatten – lieber starben sie vor Durst, als ein blasphemisches Wort auszusprechen. Die Tür war mit dem Symbol der geschlossenen Lippen gekennzeichnet, und ohne nachzudenken vollführte Csorwe den Gruß: drei an die Lippen gedrückte Finger.

Der Eisenriegel war so kalt, dass die Berührung weh tat, als würde er Csorwe alle Wärme aus den Knochen saugen. Sie zog ihn zurück und drückte die Klinke hinunter. Eisen schabte über Stein, und die Toten verstummten.

Sie sah die Wiedergänger am Rand des Kerzenscheins, die neben den Totenbahren standen wie Bankettgäste, die darauf warteten, ihre Plätze zugewiesen zu bekommen. Langsam, als wären sie schüchtern, näherten sie sich ihr. Es waren Dutzende, die in Leichentücher gehüllt nach ihr griffen. Csorwe schloss die Tür hinter sich und begab sich unter die Toten. Knochige Finger fuhren durch ihr Haar und strichen mit verzweifelter Sanftheit über ihre nackte Haut.

Csorwe setzte sich auf den Rand einer Bahre, und die Toten versammelten sich um sie, als würde sie Neuigkeiten aus der Welt der Lebenden bringen. Die Priorinnen hatten im Haus der Stille gelebt und waren auch hier gestorben, und obwohl die Gegenwart des Unaussprechlichen ihre Körper wiederbelebt hatte, waren ihre Seelen in die Erde eingegangen. Ihre Augen waren leere Höhlen. Sie hatten Csorwe nichts zu sagen.

 

Der Tag war gekommen. Wie eine Aufziehpuppe ging Csorwe hierhin und dorthin, ohne zu merken, wo sie war oder was geschah. Sie wurde in weiße Seide mit Spitzenbesatz gekleidet und mit weißen Hundsrosen gekrönt. Angwennad sagte, sie sei so ein tapferes Mädchen und die Jahre seien viel zu schnell vergangen, sie könne gar nicht glauben, dass der Tag schon heran war.

Csorwe wurde mit Harz gesalbt. Der Duft des Lotus mischte sich mit dem Tiergeruch des Opferkalbs. Die Prozedur war in Gang gesetzt. Dies war das letzte Kapitel ihres Lebens. Es war fast vorbei.

Die Prozession erreichte den Altar am Fuß der Treppe. Die Priesterinnen traten vor, um das Kalb zu töten. Ihre gelben Kutten hoben sich grell vom moosüberzogenen Gestein des Hügels ab. Csorwe hielt die Augen geradeaus gerichtet und sah das Messer nur am Rand ihres Blickfeldes aufblitzen.

Das Blut des Kalbs füllte die Schale und brachte sie zum Überlaufen. Man reichte Csorwe die Schale, und sie ergriff sie. Es war nicht leicht, das glitschige Metall festzuhalten, sie musste die Schale in beide Hände nehmen.

Dann wichen die Priesterinnen und Altardienerinnen, die Priorin und die Träger der Sänfte zurück und verneigten sich. Die Bibliothekarin sah zu, wie Csorwe sich der Treppe zuwandte.

Der Weg stieg steil an. Hätte sie sich umgedreht, dann hätte sie die Köpfe der Priesterinnen von oben und das Haus der Stille sehen können, und dahinter die Wälder, die sich wie schwarze Wellen hoben und senkten, bis weit in die Ferne. Vielleicht sogar bis zu dem Dorf, in dem Csorwe geboren worden war. Sie schaute nicht zurück. Sie betrachtete nur ihr eigenes Spiegelbild in der blutgefüllten Schale.

Schließlich hatte sie das Ende der Treppe erreicht. Der Wind zerrte am Saum ihres Kleides und verursachte ihr eine Gänsehaut an den Waden. Ihre Schultern schmerzten. Zwischen den Steinplatten wuchsen Unkräuter, die im Wind wehten. Es gab auch Moose, kleine Gräser und Blumen, die den Frost überlebt hatten.

Seit Hunderten von Jahren war hier niemand entlanggegangen, außer denen, die ebenso erwählt gewesen waren wie sie.

Sie schob den Gedanken an die Blumen beiseite. Sie hatte sie unzählige Male gesehen und wusste, dass sie nicht dufteten. In ihrem Leben hatte sie genug Blumen betrachtet. Und genug Kohlsuppe gegessen. Hatte lange genug den Toten zugehört, die an den Wänden kratzten. Es war Zeit. Wenn sie jetzt stehen blieb, würde sie niemals weitergehen.

Sie richtete den Blick auf den Eingang. Rau, offen und lichtlos gähnte er im Berghang. In der Nähe wuchsen weder Moose noch Gras. Kein lebendes Geschöpf durfte den Eingang durchqueren, bis auf die Erwählte. Sie ging zu der Öffnung und trat hindurch.

Sie gelangte in eine runde Kammer, von der zahlreiche Gänge abgingen, die tiefer in den Berg hineinführten. In der Mitte der Kammer sah sie eine flache Kuhle, die im Licht, das durch den Eingang hereinströmte, nur schwach zu erkennen war.

Am Rand der Kuhle befand sich eine Einkerbung aus glattem Stein, breit genug, dass sie bequem darin knien konnte. Es ließ sich nicht sagen, ob die Kerbe absichtlich hineingeschnitten worden war, um ihr das Gebet angenehmer zu machen, oder ob sie einfach von Jahrhunderten der Benutzung abgewetzt worden war.

Sie dachte an all die Mädchen, die vor ihr mit dem Blutopfer für den Unaussprechlichen hierhergekommen waren. Hatten sie dieselben Zweifel gehabt wie sie jetzt, in den stillen Hallen im Inneren des Bergs? Womöglich hatten auch ihre Vorgängerinnen die letzten Augenblicke ihres Lebens so verbracht, voller Furcht in der Finsternis. Aber vielleicht war es für die anderen auch einfacher gewesen. Vielleicht hatten sie nur ihre Pflicht getan und waren gleich in die Tiefen des Berges weitergegangen, dem entgegen, was sie dort erwartete.

Sie kniete sich an den Rand der Vertiefung und schüttete die Schale aus. Funkelnd rann das Blut in die Kuhle. Sofort war die Gegenwart des Unaussprechlichen zu spüren, der mit voller Macht über sie kam. Er kannte sie. Erkannte sie. Die Kammer war leer, außer Csorwe war hier nichts Lebendiges. Der Unaussprechliche wartete auf sie, tief im Inneren des Berges.

Nach einer Weile fühlte sie sich unbehaglich. Ihre Knie und Schultern schmerzten, weil sie so lange unbeweglich an derselben Stelle gehockt hatte. Das Blut war aus der Kuhle verschwunden. Der Unaussprechliche war da, sagte ihr jedoch nicht, wohin sie gehen sollte. Die Kammer blieb dunkel, und die davon abzweigenden Gänge waren noch finsterer.

»Hier stimmt etwas nicht«, sagte sie laut. »Wohin soll ich gehen?«

»Eine ausgezeichnete Frage.«

In einem der Gänge stand ein Mann. Sie sprang auf, und die leere Schale fiel mit einem blasphemischen Klirren auf den felsigen Boden.

»Was denkst du, wohin du gehen sollst?«, fragte der Eindringling. In seiner Stimme lagen Macht und Selbstbewusstsein, aber es war nicht die Stimme eines Gottes. Ihre Furcht ging rasch in Empörung über.

»Ihr seid das! Ich kenne Euch.« Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Ihr dürft hier nicht sein. Kommt raus da. Ihr werdet sterben.«

Belthandros Sethennai trat in die Kammer, er lächelte freundlich. In einer Hand hielt er eine Laterne, und er musterte sie so aufmerksam wie der Unaussprechliche.

»Die Stimme hast du also noch nicht verloren«, sagte er. »Ich habe mich das schon gefragt.«

»Wenn Ihr nicht geht, wird er Euch töten«, sagte Csorwe. Der Unaussprechliche war in der Kammer, seine Gegenwart lag schwer in der Luft. »Das ist Blasphemie. Ihr habt hier nichts zu suchen. Kein lebendes Wesen darf diesen Ort wieder verlassen.«

Der Mund des Zauberers war von Lachfältchen umgeben, die bei ihren Worten tiefer wurden.

Csorwe verschränkte die Arme, ihre Fingernägel gruben sich in die weiche Haut der Ellenbeuge. »Lacht mich nicht aus. Wie könnt Ihr es wagen? Das hier ist mein Tod. So ist es mir bestimmt.«

»Ja, ich weiß«, sagte er. Er ging durch die Kammer, um sie besser sehen zu können. Vorsichtig machte er einen Schritt über die Vertiefung und hob die Laterne. Die Ärmel seines Mantels waren hochgekrempelt, darunter trug er schwere Lederhandschuhe. »Der Tod erwartet uns alle, o Dienerin der Trostlosigkeit. Aber ich muss nicht hier sterben, und du musst es auch nicht.«

Sie hatte kaum zu träumen gewagt, dass so etwas geschehen könnte. Dass ihr Tod ein Fehler sein könnte. Es war Blasphemie, auch nur darüber nachzudenken.

»Ich werde nicht mit Euch kommen«, sagte Csorwe. »Das ist ein falscher Trost. Ihr könnt mich nicht dazu zwingen.«

Sethennai lehnte sich gegen eine Felswand. »Ich werde dich zu gar nichts zwingen«, sagte er. »Wenn du in die Höhle gehen und selbst erleben möchtest, was der Unaussprechliche mit seinen Opfern anstellt, dann nur zu.« Er holte Luft und richtete sich an der Wand auf. »Ich weiß, es ist ungerecht von mir, den Höhepunkt deines jungen Lebens zu verderben, indem ich hier auftauche und grausame Bemerkungen mache. Wenn du sicher bist, dass genau das dein Wunsch ist, dann verschwinde ich und überlasse dich deiner transzendenten Erfahrung.«

Csorwe merkte, wenn sich jemand über sie lustig machte, und ihre Hände krallten sich in ihr Kleid. »Das hier ist eine Auszeichnung für mich«, sagte sie. Tränen der Wut schossen ihr in die Augen. »Ich wurde dazu auserwählt.«

»Das stimmt«, sagte Sethennai. »Aber jetzt wurdest du eben für eine andere Aufgabe auserwählt. Es sei denn, du stirbst lieber in der Dunkelheit, als für mich zu arbeiten. Glaubst du etwa, du bist die erste erwählte Braut, die mit ihrem Schicksal hadert? Viele deiner Vorgängerinnen sind weggelaufen, anstatt sich dem Unaussprechlichen in seiner Höhle zu stellen. Die meisten sind in den Wäldern erfroren, und ihre Überreste liegen noch dort, wo sie gestorben sind.«

Csorwe kehrte ihm den Rücken zu. Das war ein Fehler: Jetzt blickte sie in Richtung Ausgang, zum schwachen Sonnenlicht und den gefrorenen Gräsern. Der Schrein lag zu hoch, als dass sie das Dach des Hauses der Stille hätte sehen können, aber in der Ferne schimmerten bewaldete Hügel und weiße Vögel, die sich mit dem Wind aufschwangen.

»Ich kann nicht«, sagte sie. »Wohin sollte ich gehen? Ich würde auch erfrieren.«

»Allein ist es schwierig«, sagte Sethennai. »Aber du wärst nicht allein. Ich wäre bei dir.« Seine Miene war jetzt ernst, er hatte die Brauen konzentriert zusammengezogen. Die Hände in den Handschuhen waren zu Fäusten geballt. Tief im Berg hatte der Unaussprechliche seine Anwesenheit bemerkt.

»Die Priorin …«, sagte Csorwe.

»Sie wird nie erfahren, dass du verschwunden bist«, sagte Sethennai. »Triff deine Wahl, Csorwe. Bleib hier, oder komm mit mir. Uns läuft die Zeit davon.«

»Aber der Unaussprechliche wird es wissen«, sagte Csorwe. Sie spürte bereits seinen Unmut, der unter der Erde knisternd anwuchs.

»Ja«, sagte Sethennai. »Das wird er. Das Geheimnis wahrer Größe ist zu wissen, wann man den Zorn eines Gottes riskieren kann.«

Er zog die Handschuhe aus und reichte ihr eine Hand. Die sie ergriff. Seine Haut war glatt. Er hatte lange Finger, an denen ein goldener Siegelring steckte. Ihre eigenen waren klein und kurz und ihre Haut bis zum Handgelenk mit Kalbsblut besudelt.

»Komm mit, Csorwe«, sagte er. »Und lass den Unaussprechlichen in der Tiefe um dich weinen.«

Kapitel 2Das Labyrinth der Echos

Csorwe war frühmorgens in den Tod geschickt worden. Am Abend desselben Tages befanden sich Sethennai und sie schon weit weg vom Schrein an Bord eines Flussbootes. Für sie eine völlig neue Erfahrung. In der ersten Nacht und am Tag danach lag sie nur auf einer Seilrolle im Kielraum und wünschte sich, sie wäre tot, so wie sie es verdient hatte.

Am zweiten Tag mischte sich in ihr Schuldgefühl noch ein weitaus schlimmerer Gedanke. Im Buch der Auflösung gab es ein Kapitel, das Csorwe immer besonders gern gelesen hatte. Darin ging es um die Bestrafung einer Verräterin. Am Ufer des verdorbenen Meeres, im Schatten des kohleschwarzen Turms, ließ sie den Namenlosen im Stich. Möge der Abgrund die Eidbrecherin verschlingen! Mögen die Maden ihr Fleisch zernagen! Möge ihr Name für immer vergessen sein!

»Was würdet Ihr tun«, fragte sie vorsichtig, »wenn die Priorin dahinterkommt und mich zurückholen will?«

»Wie sollte sie dahinterkommen?«, fragte Sethennai. »Du bist den Berg hochgestiegen und nicht zurückgekehrt. Wenn die Priorin wirklich hätte sichergehen wollen, dass der Gott dich verschlingt und du nicht, sagen wir mal, mit einem Fremden wegläufst, dann hätte sie dich besser im Auge behalten sollen.«

»Ihr könnte auffallen, dass Ihr verschwunden seid«, sagte Csorwe und fügte kühn hinzu: »Oder der Bibliothekarin.«

Sethennai lachte. »Oranna ist froh, mich los zu sein.«

»Aber was würdet Ihr tun, wenn sie mich verfolgen würde?«

»Dann müsste ich sie wohl töten«, sagte Sethennai. Gut gelaunt saß er im Bug und betrachtete die schlammigen Flussufer. »Csorwe, selbst wenn sie auf den Gedanken kommt, du könntest noch leben, selbst wenn sie überraschend eins und eins zusammenzählt und begreift, dass du mit mir geflohen bist – wie sollte sie uns jemals finden? Wir sind längst über alle Berge.«

Bald darauf verließen sie den Fluss und kamen zu einem der Kleinen Tore von Oshaar, das sich, grün wie ein Katzenauge, in einer Steilwand am Fuß eines überwucherten Tals befand.

Csorwe hatte Zeichnungen der Tore gesehen und Beschreibungen gelesen, aber sie hatte noch nie eins zu Gesicht bekommen. Es war nicht schwer, sich die Tore im Geiste auszumalen – ein Kreis aus grünem Feuer, der in einem steinernen Rahmen brannte, groß genug, dass man hindurchtreten konnte –, doch in echt sahen sie weitaus seltsamer aus.

Das Kleine Tor besaß doppelte Mannshöhe, und das flackernde Licht, das von ihm ausging, färbte Erde und Gestrüpp grüner als Gras. Bänder und Ranken aus flüssigem Licht wanderten über seine Oberfläche, wirbelnd wie Blätter im Wind.

Ein Summen war zu hören, einer Glasglocke gleich, die, einmal angeschlagen, nun bis in alle Ewigkeit nachhallte.

Csorwe überkam der unangenehme Gedanke, dass es ihr womöglich verboten war, Oshaar zu verlassen, aber sie schob ihn beiseite. Sethennai hatte recht: Sie waren längst über alle Berge.

»Man geht einfach hindurch?«, fragte sie. »Verbrennt man nicht?«

Schimmernd im Licht des Tors reichte Sethennai ihr eine Hand, und sie ergriff sie. Gemeinsam traten sie durch das Tor, und dann stürzten sie hinab wie Zweige in einem Wasserfall. Schwerelos fiel Csorwe ins Nichts.

Als sie wieder landeten, hörte sie als Erstes das Geräusch des Windes. Sie öffnete und schloss ihre freie Hand und spürte einen scharfen Luftzug an der Handfläche.

»Dieser Ort heißt Labyrinth der Echos«, sagte Sethennai.

Nach und nach konnte Csorwe wieder etwas sehen, und sie betrachtete das Labyrinth, ohne es jedoch zu begreifen. Sie standen auf einem schmalen Sims an einer Felswand. Unter ihnen erstreckte sich ein Tal so weit in die Tiefe, dass kein Licht auf seinen Grund gelangte. Felsnadeln ragten wie missgestaltete, von Dunst verschleierte Bräute in der Dunkelheit auf.

Sethennai deutete auf einen Pfad, der sich an der Felswand entlangschlängelte. »Hier lang«, sagte er. »Eigentlich ist es nicht weit. Das Labyrinth ist nur ein Zwischenraum, ein großer himmlischer Umschlagplatz.«

Csorwe nickte, als würde sie irgendetwas davon verstehen, und folgte ihm. Man hörte davon, dass Leute durchs Labyrinth reisten, so wie man auch zu Pferde oder mit einem Karren reiste. Man musste durchs Labyrinth, um andere Welten zu erreichen, fremde Länder, gefährliche Orte, die mit Oshaar nichts gemein hatten – aber Csorwe hatte sich das alles ganz anders vorgestellt.

Unterwegs fragte sie sich, was Sethennai mit nicht weit gemeint hatte. Die Reise wurde schon bald zur längsten, die sie je unternommen hatte. Sie wanderten durch Täler, unter Felsbögen hindurch, und querten schmale Schluchten. Sie gingen am Grund einer Klamm entlang, in deren Wänden hoch oben und außer Reichweite weitere Tore großen Smaragden gleich glitzerten. Ihr Summen erfüllte die Klamm wie der Gesang eines fernen Chors. Csorwe lief ein Schauer nach dem anderen über den Rücken.

Hin und wieder hielten sie an, und Csorwe schlief ein wenig. Einmal sahen sie in der Ferne ein Labyrinthschiff vorbeigleiten: mit einem Rumpf aus polierter Eiche und Segelbaldachinen, die sich wie riesige Pilze darüber wölbten. Aus der Nähe betrachtet, wäre es das Atemberaubendste gewesen, was Csorwe je gesehen hatte, aber der Dunst des Labyrinths dämpfte die Farben der Segel und Wimpel, und das Schiff bewegte sich völlig geräuschlos.

Über all diesen Wundern merkte sie erst spät, dass sie das Haus der Stille vermisste. Sie vermisste ihre Zelle und den immer gleichen Tagesablauf: die regelmäßigen Gebete, das Darbringen von Opfergaben, die Mahlzeiten im Speiseraum und alles andere. Doch all das war unwiderruflich vorbei. Selbst wenn sie geblieben wäre, hätte sie nie wieder dorthin zurückkehren können. Hätte Sethennai sie nicht mitgenommen, dann wäre sie jetzt tot.

Die schlimmen Gedanken folgten ihr wie Wolken an einer Leine, wenngleich sie sich Mühe gab, sie nicht direkt anzuschauen: Sie hatte ihr Volk verraten. Und den Sinn ihres Lebens verschenkt. Sie hatte ihren Gott hintergangen.

Sie vermisste ihr Zuhause, auch wenn man sie dort umgebracht hätte. Sie vermisste es.

Aber nun war sie unterwegs, und Sethennai hatte eine neue Aufgabe für sie.

Nach einer Weile verließen sie das Labyrinth und traten durch ein weiteres Tor in eine andere Welt. Csorwe war voller angespannter Erwartung und mühte sich, vor Sethennai zu verbergen, wie neu und furchterregend das alles für sie war. In ihrem alten Leben hatte sie einmal im Jahr die Priorin bei einer Prozession begleitet, um die Gläubigen in ihren Dörfern zu besuchen, aber sie hatten sich nie weiter als ein paar Tagesreisen vom Haus der Stille entfernt. Jetzt konnte sie kaum fassen, wie weit sie gereist waren. Nicht nur vom Haus der Stille, sondern auch von Oshaar und dem ganzen Reich des Unaussprechlichen.

Nach dem Verlassen des Labyrinths kamen sie an das Ufer eines stillen Sees. Eine Schar weißer Vögel flog wie Blütenblätter vor dunklem Blattwerk auf.

»Was ist das für eine Welt?«, erkundigte sich Csorwe, weil ihr die Frage Wo sind wir? zu kindisch vorkam. Die Vögel waren seit Tagen die ersten Lebewesen, die sie zu Gesicht bekamen.

»Eine alte und ruhige Welt«, sagte Sethennai. »Leider muss ich gestehen, dass ich ihren Namen nicht kenne.«

»Leben hier Leute?«, fragte sie.

»Nein«, sagte er. »Ich glaube, im Moment sollten wir Gesellschaft auch lieber meiden.« Seine Miene war ernst, aber als er Csorwes Blick sah, lächelte er. »An den Akademien von Tlaanthothe beschäftigen sich Dutzende Gelehrte damit, die Welten zu katalogisieren und ihre Völker zu beschreiben. Ich selbst überlasse das gerne anderen. Aber wenn wir dort ankommen, und es dich immer noch interessiert, können wir sie danach fragen.«

»Ist das Eure Heimat?« Csorwe versuchte gar nicht erst, das Wort Tlaanthothe auszusprechen. Sie fürchtete wegen ihrer Hauer, dass sie dabei zu sehr spucken würde. »Sind wir dorthin unterwegs?«

»Natürlich«, sagte Sethennai. »Tlaanthothe ist eine herrliche Stadt. Sie wird dir gefallen.«

Er ging am Seeufer entlang und begutachtete die Steine. Ein-, zweimal hob er einen flachen auf und ließ ihn über das Wasser hüpfen.

»Wie ist es dort so?«, fragte Csorwe und lief hinter ihm her. Im Haus der Stille war es ungehörig gewesen, zu viele Fragen zu stellen, aber Sethennai schien ihr gerne Dinge zu erklären.

»Tlaanthothe ist eine Universitätsstadt«, sagte er und runzelte die Stirn, als er merkte, dass sie das Wort nicht kannte. »Ein Ort des Lernens. Jedenfalls war er das früher mal. Ich habe keine Ahnung, was meine Feinde damit angestellt haben.« Er grinste sie an. »Ich muss dir etwas gestehen, Dienerin der Trostlosigkeit. Du hast dich einem Heimatlosen anvertraut. Tlaanthothe ist noch weit entfernt, und ich bin genauso verbannt wie du. Mein Feind hat mir meine Stadt weggenommen und mich vertrieben.«

Csorwe beobachtete die Kreise auf der Wasseroberfläche und versuchte, seine Worte zu begreifen. »Ist Euer Feind auch ein Zauberer?«

»Kein besonders fähiger«, sagte Sethennai.

»Dann seid Ihr also wirklich ein Zauberer«, sagte Csorwe zufrieden. »Die anderen haben das behauptet, aber ich habe Euch noch nie Magie wirken sehen.«

Sethennai lachte. »Ich bin zu weit von meiner Schutzherrin entfernt«, sagte er, legte den Kopf schief und betrachtete sie einen Moment. »Die Magier deines Volkes rufen den Unaussprechlichen an. Sie beziehen ihre Macht aus dem Schrein. Aber meine Göttin ist sehr weit weg. Womöglich hört sie mich nicht, wenn ich sie rufe, und ich will mich nicht durch sinnloses Rufen verausgaben.«

»Bin ich … ich meine, soll ich … wollt Ihr, dass ich das Zaubern erlerne?«, fragte sie, und Furcht durchzuckte sie. Auf gar keinen Fall wollte sie den Unaussprechlichen anrufen.

Sethennai lächelte. »Nein«, sagte er. »Magie ist kein gewöhnliches Handwerk. Es liegt einem im Blut. Natürlich muss jemand, der zaubern will, viel lernen und üben, so wie jeder andere, der ein besonderes Talent hat. Aber das Talent selbst kann man nicht erwerben und es andersherum auch nicht abschütteln. Ich wurde mit der Gunst meiner Göttin geboren, und ich werde niemals davon frei sein. Eine solche Macht hat der Unaussprechliche über dich nicht. Er hat zwar durch dich gesprochen, aber du hast seine Macht nie zu deinen eigenen Zwecken eingesetzt.«

Er versuchte es mit einem anderen Stein, der jedoch nur einmal hüpfte, bevor er unspektakulär versank.

»Eigentlich kannst du froh sein«, sagte er. »Die Verwendung von Magie fordert einen hohen Preis vom Körper.«

»Selbst für Euch?«, fragte Csorwe.

Er lächelte. »Man kann sich überlegen, wie und wann man diesen Preis bezahlen will. Deshalb verwende ich Magie nur, wenn es unbedingt sein muss.«

Er beugte sich vor und hob einen weiteren Stein auf.

»Mein Feind glaubt, wenn ich Tlaanthothe nicht mehr betreten kann, bin ich von meiner Schutzherrin abgeschnitten. Deshalb hat er mir alle möglichen Hindernisse in den Weg gelegt. Aber er unterschätzt mich.«

Diesmal hüpfte der Stein dreimal, bevor er versank, und Sethennai wandte sich Csorwe triumphierend zu. »Und ich bezweifle sehr, dass er mit dir rechnen wird.«

 

Auf der anderen Seeseite fanden sie das nächste Tor und kehrten ins Labyrinth zurück. Csorwe gewöhnte sich schon bald daran. Sie durchquerten zahlreiche Tore, wanderten durch graue Wüsten und über kahle Hügel, traten in andere Welten ein und dann wieder in das Labyrinth – immer hin und her, wie eine Nadel, die einen Faden von einer Seite eines Stoffstücks zur anderen zieht. Gelegentlich sahen sie Vögel und Bäume, aber nie andere Leute. Jetzt, da Csorwe wusste, dass Sethennai sich vor einem mächtigen Feind verbarg, begriff sie auch, warum.

Und dann verließen sie ein weiteres Mal das Labyrinth der Echos und betraten die erste Stadt, die Csorwe je gesehen hatte.

Ihre anfänglichen Eindrücke waren verwirrend. Die Stadt war schmutzig und trist und die Hitze erdrückend. Der Geruch von Dung, Schweiß und Sägespänen hing in der Luft. Staub verstopfte ihr Nase und Mund. Am schlimmsten aber waren der ohrenbetäubende Lärm und die Vielzahl von Stimmen, die sich gegenseitig überschrien.

Csorwe hielt sich die Ohren zu und vergrub das Gesicht in ihren Kleidern. Sie wartete auf einem Stallhof, während Sethennai über einen Pferdekarren verhandelte. Als sie endlich ihren Karren hatten, rollte sich Csorwe auf der Ladefläche zusammen und versank in ihrem Elend.

Die Pension war noch grässlicher. Man konnte jedes Husten, Keuchen oder Lachen aus den anderen Zimmern hören. Die Nacht brachte keine Erleichterung. Umgeben von Stimmen hatte Csorwe ständig das Gefühl, beobachtet zu werden.

Sethennai weckte sie am nächsten Morgen. Es war unschwer zu erkennen, dass er aufgeregt war: Seine spitzen Ohren zuckten, seine Augen funkelten, und jede Faser seines Körpers bebte vor Lebenskraft. Ihre Ankunft in der Stadt hatte etwas in ihm geweckt.

Csorwe zog sich die Decke über den Kopf.

»Wir gehen auf den Markt«, sagte er.

Der Markt war noch schmuddeliger, lauter und chaotischer, als sie es sich vorgestellt hatte. Eine vielköpfige Menge wogte um sie herum, rufend, starrend und grabschend. Csorwe ballte die Fäuste. Von den Priesterinnen hatte sie gehört, wie furchterregend und verdorben die Städte waren, und sie hatten recht gehabt. Wie konnte man an einem solchen Ort leben, ohne verrückt zu werden?

Csorwe flehte den Unaussprechlichen an, die Erde aufzureißen und die Stadt zu verschlingen, während sie sich mit Mühe auf den Beinen zu halten versuchte.

»Man gewöhnt sich daran«, sagte Sethennai.

Das bezweifelte sie. Die Menge erinnerte sie an die Gegenwart des Unaussprechlichen, nur dass sie noch aggressiver war. Unbarmherzig zog und zerrte sie an Csorwe und drohte ständig, sie mit sich zu reißen.

Dennoch verkniff sie es sich, nach Sethennais Hand zu greifen. Wenn er merkte, wie hilflos sie war, bereute er es womöglich noch, sie aus dem Schrein gerettet zu haben.

Die Menge wogte hin und her, und Csorwe stolperte über jemandes Fuß. Sie stürzte zu Boden, und sofort verschwand der Himmel hinter all dem Trubel – Hühnerkäfige, drei Hunde an einer Leine, eine Gruppe halbnackter Kinder –, aber bevor sie zu Tode getrampelt werden konnte, war Sethennai zur Stelle. Er rempelte den Hühnerverkäufer aus dem Weg und half Csorwe hoch.

»Halt dich an meinem Arm fest«, sagte er. »Du wirst noch lernen, dich zurechtzufinden. Mit der Zeit wird es einfacher.«

Er bahnte ihnen einen Weg durch die Menge und brachte Csorwe zu einer Treppe, die an einem Gebäude hochführte. Am Fuß der Treppe blieb sie stehen und schüttelte den Kopf.

»Komm mit«, sagte er. »Vertrau mir.«

An seinem Arm festgeklammert folgte sie ihm. Sie kamen zu einem Dachgarten, in dem dicht an dicht Farne und seltsame Zwiebelpflanzen wuchsen. Niemand war zu sehen, und Csorwes Furcht legte sich etwas. In der Mitte des Gartens ragte ein alter Glockenturm in den Himmel auf. Sethennai bedeutete ihr, die Stufen des Turms hochzusteigen.

Von der Spitze aus konnten sie die ganze Stadt überblicken. Wie willkürlich hingepflanzt erhob sie sich von den grauen Hügeln und wucherte einer Steinflechte gleich über ihre uralten Mauern hinaus. Die Stadt war gewaltig, aber zumindest konnte Csorwe nun Anfang und Ende erkennen.

»Hast du Angst?«, fragte Sethennai.

Sie schluckte. Sie brachte es nicht über sich, zu nicken.

»Nichts in dieser Welt hat die Macht, dir Furcht einzujagen, Csorwe«, sagte er. »Du hast deinem vorbestimmten Tod ins Angesicht gesehen und dich trotzig abgewandt. Nichts in dieser oder einer anderen Welt hat deine Furcht verdient.«

»Ja, Herr«, sagte sie. In dem Moment war sie zu überwältigt und benommen, um seine Worte zu begreifen, aber später würde sie sich häufig daran zurückerinnern.

»Siehst du das Tor?«, fragte Sethennai.

Es schwebte in der Ferne über dem Hafen. Der Dunst dämpfte seine Farbe und ließ sie gelblich erscheinen, wie ein kränklicher Mond, der hinter Rauchschwaden lag.

»Wir werden nicht ewig hierbleiben«, sagte er. »In der Stadt sind wir eine Zeitlang vor meinen Feinden sicher, so dass wir uns ausruhen können und du alles Wichtige lernen kannst, ohne ständig über die Schulter blicken zu müssen. Aber das hier ist nicht mein Zuhause. Tlaanthothe liegt hinter diesem Tor, und es erwartet uns.«

 

Die Stadt hieß Grauhaken. Sethennai erklärte Csorwe, dass er sie als Unterschlupf gewählt hatte, weil die Leute hier Csorwes Muttersprache sprachen und sie zudem äußerst diskret waren und sich nicht in Dinge einmischten, die sie nichts angingen.

Offen ließ er, wie sie von jetzt an leben würden. Vermutlich vertraute er darauf, dass sie es selbst herausfinden würde, und größtenteils stimmte das auch.

Noch immer verbrachten sie viel Zeit miteinander. Sie begleitete ihn bei vielen seiner Erledigungen in der Stadt, und sie nahmen ihre Mahlzeiten gemeinsam ein. Meist holten sie sich ein Linsencurry von dem Verkäufer auf dem Platz vor der Pension, weil Sethennai nicht kochen konnte.

Offenbar beabsichtigte der Zauberer tatsächlich, ihr einen Lohn zu zahlen. Wofür, war sie sich nicht ganz sicher, und sie fürchtete sich ein wenig davor, nachzufragen. Womöglich gab er dann zu, einen Fehler gemacht zu haben.

Nach Abzug der Kosten für Zimmer und Essen würde von ihrem Lohn nicht allzu viel übrig bleiben, hatte Sethennai gesagt, aber dennoch: Es war Geld. Etwas, das Csorwe bisher nur selten gesehen und noch nie selbst besessen hatte.

Eigentlich hasste sie das Geld sogar, weil sie es scheinbar für nichts bekam. Das kleine Häufchen Kupfermünzen war der Lohn dafür, dass sie in der Pension saß und sich nicht hinaustraute. So konnte es nicht weitergehen. Früher oder später würde Sethennai erkennen, dass er sie fürs Nichtstun bezahlte. Und bis dahin würde sie ihre Angst überwunden haben müssen.

Als sie die Pension zum ersten Mal ganz allein verließ, geschah es aus einem ernsten Anlass: Sie brauchte dringend Frühstück. Sethennai war kein Frühaufsteher, und in der Pension gab es nichts zu essen. Es wäre schön, das Frühstück fertig zu haben, wenn er aufwachte. Sie wusste, wo man etwas zu essen kaufen konnte. Der Markt auf dem Platz nahm schon in den frühen Morgenstunden seinen Betrieb auf. So schwer konnte es nicht sein. Die Leute hier sprachen ihre Sprache, sie konnte sich also verständlich machen. Sie war vierzehn. In ihrem Alter arbeiteten die meisten schon für ihren Lebensunterhalt.

Nichts in dieser oder einer anderen Welt hatte ihre Furcht verdient. Schön und gut, aber es war ein gewaltiger Unterschied, die Stufen zum Schrein des Unaussprechlichen hochzusteigen oder zum Einkaufen auf den Markt zu gehen. Ihr ganzes Leben lang hatte Csorwe sich auf den Tod vorbereitet, nicht darauf, sich mit Fremden zu unterhalten.

Der Markt war voller wunderbarer Dinge, die sie noch nie gegessen hatte und von denen sie auch kaum die Bezeichnungen kannte – Tomaten, scharfe Chilischoten, Körbe mit Früchten, die wie große, weiche Edelsteine aussahen –, aber Eier, Brot und Zwiebeln waren leicht zu erkennen und billig.

»Sechs Eier, bitte«, sagte sie am Stand des Hühnermanns. Sie traute sich nicht zu fragen, wie viel die Eier kosteten, deshalb hielt sie dem Mann einfach eine Handvoll Münzen hin und hoffte, dass er sie nicht betrog.

Der Hühnermann war ein Oshaaru, was eigentlich von Vorteil war, aber als er ihren zutiefst archaischen Akzent hörte, schaute er sie zweifelnd an, als wollte sie sich über ihn lustig machen. Er beschloss offenbar, sich im Gegenzug über sie lustig zu machen.

»Entschuldigt bitte, wie viele Eier sagtet Ihr, Verehrteste?«

Sie wiederholte ihre Worte. Überraschend schnell stieg Wut in ihr auf. Wenn er wüsste, wer sie in Wirklichkeit war, würde er nicht so mit ihr sprechen.

Sie unterdrückte ihren Zorn. Sie war nicht mehr das, was sie einst gewesen war. Die erwählte Braut. Niemand würde sie mehr um eine Prophezeiung ansuchen. Sie war nur eine namenlose Kundin, und am Abend würde der Hühnermann sie längst vergessen haben. Und das war gut so.

Der Verkäufer wirkte etwas enttäuscht, dass sie sein Spiel nicht mitmachte, aber ihr Geld nahm er trotzdem an.

»Heute ohne deinen Meister hier?«, fragte er, als er ihr einen Karton Eier reichte.

»Ja«, sagte Csorwe unerwartet stolz. »Ich hole Frühstück.«

In der Pension briet sie die Zwiebeln in einer Pfanne über dem Feuer und schlug die Eier hinein. Das Ergebnis war nicht schön, aber köstlich: cremige Eier, die mit goldenen Zwiebelstückchen wie mit Edelsteinen durchsetzt waren. Ihre Portion aß sie gleich aus der Pfanne. Sethennai erschien, als sie gerade die letzten Eikrümel mit einem Brotkanten aufwischte.

»Ich wusste gar nicht, dass du kochen kannst«, sagte Sethennai. Er trug noch sein Nachthemd und hatte einen Seidenschal um den Kopf geschlungen.

»Esst lieber, bevor es kalt wird«, sagte sie und hielt ihm einen Teller hin.

Blinzelnd rieb er sich den Schlaf aus den Augen, als könnte er gar nicht begreifen, was an diesem Morgen geschah.

Csorwe war es ganz recht, dass er keine Fragen stellte. Sie wollte ihm nicht erklären, dass sie im Haus der Stille auch Küchendienste verrichtet hatte. Lieber ließ sie ihn in dem Glauben, sie sei ein Naturtalent. Er aß die ganze Portion, und es schien ihm zu schmecken.

Nach dem Frühstück wirkte er schon viel lebendiger und fragte Csorwe nach ihrer Unterhaltung mit dem Hühnermann.

»Mit Oshaarun wirst du hier in der Stadt gut zurechtkommen«, sagte er. »Aber bevor wir in meine Heimat weiterreisen, wirst du die dortige Sprache lernen müssen. Ich persönlich finde ja, dass Tlaanthothei eine sehr schöne Sprache ist, ich würde dich also gern selbst darin unterrichten. Hast du schon mal eine andere Sprache gelernt?«

»Oranna, die Bibliothekarin, hat versucht, mir Sprachen beizubringen«, sagte sie unsicher. »Damit ich die alten Bücher lesen kann.«

»Ah«, sagte Sethennai. Seine Augen verengten sich belustigt. Csorwe hatte schon gar nicht mehr daran gedacht, dass er Oranna ja kannte und sie die beiden dabei erwischt hatte, wie sie nachts in der Bibliothek irgendeinen Plan ausgeheckt hatten.

Sie musterte ihn und wartete, ob er dazu vielleicht etwas sagen würde. Mit jedem weiteren Tag in Grauhaken kam ihr das Haus der Stille unwirklicher vor, als wären die ersten vierzehn Jahre ihres Lebens eine Lotushalluzination gewesen. War es eine gute Idee, mit Sethennai über die Leute zu reden, die sie zurückgelassen hatte? Würden sie dadurch in ihrer Vorstellung wieder wirklicher erscheinen? Und wäre das gut oder schlecht?

»Der Unaussprechliche wurde im Laufe der Jahrhunderte in vielen Sprachen angebetet«, fuhr Sethennai fort. »Obwohl er die Sprache an sich ja verabscheut. Eigentlich ein Hohn. Wie lief es denn mit dem Unterricht?«

Oranna hatte mit ihr als Schülerin nie viel Geduld gehabt. Csorwe war durchaus bemüht gewesen, aber die Wärme in der Bibliothek hatte sie schläfrig gemacht, und ihre Gedanken waren ständig abgeschweift.

»Ich kenne die Verben in der Gegenwartsform«, sagte sie. Wenn Sethennai ihr etwas beibringen wollte, dann würde sie auf keinen Fall zugeben, wie schlecht sie im Unterricht gewesen war. »Die Königin schläft im Schloss. Die Diener bringen dem Herrn die Nachricht.«

»Oh, gut«, sagte Sethennai. »Wenn du gelernt hast, solchen Unfug über dich ergehen zu lassen, dann ist schon viel gewonnen. Komm und setz dich zu mir. Wir fangen mit dem tlaanthotheischen Alphabet an und machen von dort weiter.«

 

Eines Tages traf ein Brief für Sethennai ein, der in einer Geheimschrift verfasst war und einen Scheck enthielt.

»Ich habe also doch noch Freunde auf der Welt«, sagte er und zwinkerte Csorwe zu.

Sie verließen die Pension und mieteten eine kleine Wohnung über einem Weinladen. Ein- bis zweimal im Monat erhielt Sethennai verschlüsselte Briefe, in denen seine Freunde in Tlaanthothe ihn über die Machenschaften seines Feindes auf dem Laufenden hielten.

Csorwe fand heraus, dass der Feind Olthaaros Charossa hieß, obwohl Sethennai diesen Namen nie laut aussprach, sondern höchstens verächtlich flüsterte. Das war der Usurpator, der ihn verbannt hatte.

Während Sethennai Pläne schmiedete, war Csorwe mit Lernen beschäftigt. An drei Tagen pro Woche sprachen sie zu Hause ausschließlich Tlaanthothei, und es fiel ihr leichter, als sie gedacht hätte. Es war schön, mit Sethennai in seiner Muttersprache zu reden, wenngleich sie seine Witze immer noch nicht verstand.

Sethennai ermunterte sie dazu, einen Teil ihres angesparten Lohns für Kleidung auszugeben. Bislang besaß sie nur einen Haufen schlechtsitzender und fadenscheiniger Tuniken und Gamaschen, die sie gebraucht auf dem Markt von Grauhaken gekauft hatte. Das Kleid, das sie beim Hochsteigen zum Schrein getragen hatte, lag sauber gefaltet in einer Schublade, die sie nie öffnete.