Die dunklen Wasser von Exeter - Paul Marten - E-Book
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Die dunklen Wasser von Exeter E-Book

Paul Marten

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Beschreibung

Als DCI Craig McPherson nachts durch die Straßen Exeters streift, findet er die Leiche eines bekannten und beliebten Bauunternehmers. Der Coroner stuft den Vorfall als Unfall ein, die Ermittlungen sollen eingestellt werden. Doch Craig stolpert über Ungereimtheiten, die ihn bis in die höchsten Kreise der Politik führen. Als der Oberstaatsanwalt Craig den Fall wegnimmt, ermittelt der dickköpfige Schotte ohne Rücksicht auf sich selbst weiter und sticht in ein Hornissennest ...


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Seitenzahl: 405

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Inhalt

Cover

Zitat

Über den Autor

Titel

Impressum

TAG 1 MITTWOCH, 13. JULI

1

2

3

4

5

6

7

8

9

TAG 2 DONNERSTAG, 14. JULI

10

11

TAG 3 FREITAG, 15. JULI

12

13

14

15

16

17

18

TAG 4 SAMSTAG, 16. JULI

19

20

21

22

23

24

25

26

TAG 5 SONNTAG, 17. JULI

27

TAG 6 MONTAG, 18. JULI

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

TAG 7 DIENSTAG, 19. JULI

38

39

40

TAG 8 MITTWOCH, 20. JULI

41

42

43

44

45

TAG 9 DONNERSTAG, 21. JULI

46

47

TAG 10 FREITAG, 22. JULI

48

49

TAG 11 ZWEI MONATE SPÄTER DONNERSTAG, 22. SEPTEMBER

50

Danksagung

»Wird da verziehn,wo Missetat besteht?«

William Shakespeare,

Über den Autor

Paul Marten ist in Deutschland geboren und aufgewachsen – und er ist anglophil. Viel Zeit verbrachte er an Englands wunderschöner Südküste, vor allem in Exeter und Umgebung. Den Schreibtisch eines Journalisten hat er bereits vor vielen Jahren mit dem Schreibtisch eines Schriftstellers getauscht.

PAUL MARTEN

Die dunklenWASSERvonEXETER

KRIMINALROMAN

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Originalausgabe

Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, KölnLektorat: Daniela JarzynkaTextredaktion: Heike Rosbach, NürnbergTitelillustration: © shutterstock/gyn9037;© iStockphoto/William D Fergus McNeillUmschlaggestaltung: Kirstin Osenau

eBook-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-4011-2

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

TAG 1MITTWOCH, 13. JULI

1

Für Craig McPherson war es hilfreich, zwischen einem Bestatter und der Kirche der Zeugen Jehovas zu wohnen: Der Bestatter erinnerte ihn daran, dass das Leben jederzeit zu Ende sein konnte, die Zeugen Jehovas, dass Gott eine Illusion war. Holloway Street 25, Exeter. Seine neue Adresse, nachdem man ihn vor sieben Monaten und sechs Tagen aus seiner Heimat Edinburgh, Schottland, verbannt hatte. Dass seine Straße nach dem Londoner Gefängnis »Her Majesty’ Prison Holloway« benannt war, passte gut, denn was war Exeter für ihn, wenn nicht ein Gefängnis?

Immerhin stand noch »Detective Chief Inspector« in seinem Dienstausweis. Das Plastikkärtchen öffnete ihm Türen, machte manche Menschen gesprächig, andere brachte es zum Verstummen, und es gab ihm die Befehlsgewalt über eine ganze Reihe Detectives, die ihm zuarbeiten mussten, wenn er auf der Jagd nach einem Mörder war.

Es war kurz vor zwei Uhr in der Nacht, und wie meistens wollte sich kein Schlaf einstellen: Sobald sich Craig auf das rote Bettlaken legte, das die Matratze verhüllte, stürmten die Erinnerungen auf ihn ein, er begann zu schwitzen, sein Magen drehte sich um, der rechte Arm zitterte. Das konnte Stunden andauern, eine denkbar schlechte Voraussetzung für einen Tag, der ihm mit Sicherheit einiges an Stress bringen würde.

Also stand er auf, zog ein ärmelloses T-Shirt über und stieg in eine wadenlange Trainingshose. Er legte den Taschengürtel an, in dem er das Handy, seinen Dienstausweis, den Schlüssel und zwei Zwanzig-Pfund-Noten verstaute. Er trat vor die Tür, atmete die feuchtheiße Luft ein, wandte sich nach links und lief los. Schon nach den ersten Schritten ließ das Zittern im Arm nach, sein Magen beruhigte sich. Die Therapie war eigentlich ganz einfach. Er musste nur in Bewegung bleiben, dann verschwanden die Symptome seines Traumas sofort. Er brauchte weder Medikamente noch einen Shrink, der ihm Dinge einredete, die es gar nicht gab.

Die Sommerhitze lag bleischwer über Exeter. Tagsüber wagten sich Katzen nicht auf die Dächer, es herrschten Temperaturen, wie sie die Stadt seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt hatte. Selbst jetzt, zwei Stunden nach Mitternacht, trieb ihm die schwüle Luft schon nach den ersten Metern den Schweiß aus allen Poren. Die Stadt war gelähmt, alles lief in Zeitlupe ab. Ein Gewitter war nicht in Sicht.

Die Holloway Street führte hier leicht bergab, gut zum Warmlaufen, denn trotz der Hitze waren seine Muskeln kalt und verspannt vom langen Sitzen am Schreibtisch. Er passierte die Kirche der Zeugen Jehovas, die sie »Königshalle« nannten, genoss den leichten Anstieg auf der Topsham Road, bog rechts in die Weirfield Road ab, die steil hinab zum Exe und den Quays führte. Sein Puls schlug gleichmäßig, Craig ging es gemütlich an, er wollte sich nicht zu früh verausgaben.

In keinem der putzigen Backsteinhäuschen, an denen er vorbeitrabte, brannte Licht. Die Menschen lagen in ihren Betten, versuchten zu schlafen, wahrscheinlich bereits seit halb zwölf, denn um elf schlossen die meisten Pubs. Gott, wie er Edinburgh vermisste. Und ja, verdammt, genauso vermisste er einen anständigen Drink, einen achtzehn Jahre alten Glengoyne oder einen jungen wilden Laphroaig, der so schwer nach Torf und Rauch duftete, dass ihm allein schon der Gedanke daran das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Aber Craig hatte auf seine Mutter und seinen Clan geschworen, nie wieder zu trinken. Man konnte ihm nachsagen, was man wollte: Einen solchen Schwur würde er nicht brechen – nicht ohne Not.

Craig bog nach rechts auf den Pfad, der den Exe säumte. Nur jede zweite Straßenlaterne spendete Licht, ausreichend, um den Weg gut zu erkennen und nicht in ein Loch zu treten. Der Fluss wälzte sich träge durch sein Bett, das Wasser schimmerte ölig, so als hätte die Hitze alles Lebendige aus ihm herausgesaugt.

Craig wendete, lief den Exe flussabwärts Richtung Belle Isle Park. Dort überquerte er den Fluss auf der Fußgängerbrücke und folgte dem Weg, der über eine weitere Brücke zu den Quays zurückführte.

Nicht eine Menschenseele begegnete Craig, er genoss die Einsamkeit, die in ein paar Stunden von hektischer Betriebsamkeit im Headquarter abgelöst werden würde. Trotz seiner Verbannung aus Edinburgh hatte er seinen Rang behalten und auch seine Aufgabe: Er war Mitglied im Major Crime Investigation Team, kurz MCIT, das sich auch grenzüberschreitend um Mord und Totschlag kümmerte. In Exeter war er dem CID zugeteilt.

Es war ihm noch immer ein Rätsel, wie es sein ehemaliger Chef in Edinburgh, Gordon Brodie, geschafft hatte, seinen Rausschmiss zu verhindern. Gordon hatte ihn zu sich bestellt, ihm die Versetzungsurkunde in die Hand gedrückt und die Bedingungen diktiert: »Nie wieder Alkohol. Nie wieder falsche Loyalitäten.« Craig hatte keine Wahl gehabt und mit einem kaum sichtbaren Nicken den Deal akzeptiert.

Einmal pro Woche musste Craig zum Screening und alle vierzehn Tage zur Drogenberatung, noch dreizehn Monate lang, das war die Bedingung gewesen, auf die er sich hatte einlassen müssen. Ansonsten hätte auch Brodie ihn nicht schützen können. Seit sieben Monaten hatte er nicht einen Schluck Alkohol getrunken. Der Schuss vor den Bug hatte geholfen, und es war leichter gewesen, als er vermutet hatte. Nur manchmal, so wie eben, überkam ihn die Sehnsucht nach dem trostspendenden Alkohol, nach dem Geräusch, wenn er den Korken aus der Flasche zog, nach dem warmen Nebel, der sein Gehirn einlullte.

Craig machte einen kleinen Umweg über die Haven Road, auch hier lag die Stadt im Hitzekoma. Nur an der besetzten Lagerhalle brannte eine Lampe, zwei junge Leute saßen auf Campingstühlen und beäugten ihn misstrauisch. Obdachlose und Aktivisten waren vor vier Monaten hier eingezogen und hatten ihr Recht in Anspruch genommen, leerstehenden Raum zu nutzen. Da sie nichts Illegales taten, der Besitzer nicht bekannt war und niemand Anspruch auf das Gebäude erhob, gab es keinen Grund und keine Handhabe, die Halle zu räumen. Vielen war es sogar recht, denn die Besetzer hatten Ordnung geschaffen, auf eigene Kosten den Müll entsorgt und waren dabei, die Fassade auszubessern. Angeführt wurden sie von einer jungen Frau, deren Namen Craig vergessen hatte.

Die Flaneure, die sonst in einer Sommernacht die Straßen bevölkert hätten, saßen zu Hause unter ihren Klimageräten und versuchten ein wenig Abkühlung zu erhaschen. Das Smokehouse mit seiner einmaligen Whiskygalerie kam in Sicht, es hatte schon lange geschlossen. Hier hätte sich Craig häuslich eingerichtet, wenn er noch getrunken hätte. Aber das war vorbei. Für alle Zeiten. Verdammt!

Er machte sich auf den Rückweg, ließ die kleinen Kunstgewerbe- und Souvenirläden am Quay hinter sich, die zum Teil fantastische Handwerksarbeit anboten und zum Teil Dinge doppelt so teuer verkauften, als sie wert waren.

Craig lief wieder am linken Ufer des Exe entlang. An seiner Hüfte begann die Handytasche zu vibrieren. Er blieb stehen, überlegte, ob er den Anruf annehmen sollte oder nicht. Er war sich sicher, dass es das Headquarter war, denn niemand sonst hätte ihn um diese Zeit angerufen, außer seinem Bruder vielleicht, aber der hatte im Moment andere Sorgen. Da Craig sowieso keinen Schlaf finden würde, nahm er den Anruf an. Es war Sergeant Morrison, wie McPherson ein nachtaktives Wesen, der zur Freude seiner Kollegen liebend gerne die Nachtschichten übernahm. Man munkelte, dass er Vampirblut in den Adern habe und deshalb das Tageslicht scheue. Daher hatte er auch seinen Spitznamen: Dracu.

»Hey, Dracu, Craig hier.«

»Glaubst du wirklich, dass irgendjemand in dieser Stadt deinen Schotten-Akzent nicht erkennen könnte? Du blökst wie ein Schaf.« Er lachte meckernd.

Craig ignorierte die Frotzelei. »Was willst du? Ich bin nicht im Dienst.«

»Du bist immer im Dienst, wann wird dir das endlich klar?«

»Was ist mit der Bereitschaft?«

»Ausgebucht. Die sind im Dartmoor unterwegs. Ich habe einen anonymen Anruf. Irgendwo in der Nähe der Quays soll ein Freischwimmer unterwegs sein.«

»Klang der Anrufer glaubwürdig?« Craig hatte keine Lust auf einen Freischwimmer, eine Wasserleiche. Meistens stanken sie, waren aufgedunsen und schwer zu identifizieren. Bei dem Wetter blähte sich eine Leiche nach ein oder zwei Tagen auf wie ein Ballon. Eine falsche Bewegung, und sie ließen Dampf ab und verseuchten alles im Umkreis von zwei Metern mit Gasen und Flüssigkeiten, von denen man nicht einmal den Namen wissen wollte.

»Definitiv.«

»Und warum hat er dann seinen Namen nicht genannt?«

»Jetzt stänker nich’ rum. Ist doch wurscht. Wir müssen der Sache nachgehen, so oder so, das weißt du doch.«

»Schon gut. Warum schickst du keine Rookies? Die könnten nach dem Freischwimmer suchen und sich ein paar Lorbeeren verdienen.«

»So was ist nichts für Anfänger, McPherson. Tu mir den Gefallen, dann ist die Sache schnell geklärt. Du bist irgendwo da unten, oder? Bist du nicht jede Nacht an den Quays?«

Craig rieb sich die Stirn. »Alles klar. Ich schau mir die Sache mal an.«

»Für ’en Schotten bist du echt in Ordnung, McPherson. Ich würd dir ja einen ausgeben, aber mit Milch kann man schlecht anstoßen.«

Morrison lachte so laut, dass Craig den Hörer vom Ohr weghalten musste, um keine Kopfschmerzen zu bekommen. »Ich melde mich.«

Craig steckte das Handy wieder ein, lief los, konzentrierte sich darauf, die Dinge so zu sehen, wie sie waren, und alles herauszufiltern, was nicht ins Bild gehörte. Er passierte das Wehr, donnernd rauschte der Exe darüber hinweg, auch jetzt im Sommer führte er genug Wasser, um sogar Baumstämme mit sich zu zerren. Eine Wasserleiche würde keinen großen Widerstand leisten, falls es denn überhaupt eine gab. Fehlalarme waren an der Tagesordnung, Craig hoffte, dass es heute ebenso sein würde. Wenn es kein Fehlalarm war, war es in der Tat gut, dass er vor Ort war, das konnte ihm eine Menge Arbeit ersparen, denn die meisten Rookies waren Spurenvernichtungsmaschinen – und eine Extrarunde konnte ebenfalls nicht schaden. Von Müdigkeit war er nach wie vor weit entfernt.

Craig lief flussabwärts bis zum Ende des Riverside Valley Parks, blieb ab und zu stehen, spähte über das Wasser, kehrte um und lief an der Waterlane zurück. Kurz vor der Abbiegung in die Weirfield Road stutzte er. Da war etwas im Fluss gewesen, das da nicht hineingehörte. Er drehte sich um, ging etwa zehn Meter zurück. Ein Busch wuchs hier von einer kleinen Sandbank aus etwa zwei Meter die Böschung hinauf. Craig schaute auf die glatte Wasserfläche. Nichts. Hatte er sich getäuscht? Er hangelte sich den Abhang hinunter, der Sand trug sein Gewicht, er machte ein paar vorsichtige Schritte ins Wasser hinein, das ihm schnell bis zu den Waden reichte. Hier unten war das Gebüsch viel dichter, als es den Anschein gehabt hatte. Etwas berührte seine Knie, er schaute hin, sein Herz machte einen Satz, trotz aller Routine. Er hatte Leichen in allen erdenklichen Zuständen gesehen, von frisch bis verflüssigt, von geschreddert bis tiefgekühlt. Trotzdem ließ ihn der Anblick eines Toten nicht kalt.

Craig beugte sich zu der Leiche hinunter, die sich im Geäst verfangen hatte. Die Strömung hatte den Körper herumgedrückt, der rechte Fuß war gegen sein Knie gestoßen. Er steckte in einem braunen Lederschuh, der nach Geld aussah. Inzwischen war Craig bis zu den Knöcheln in den Morast eingesunken, der das Flussbett überzog, das Wasser stand ihm bis zum Knie. Er zückte sein Handy, informierte Morrison, der außer einem Grunzen nichts weiter von sich gab, sondern sofort Streifenwagen, Coroner, Rechtsmedizin und Spurensicherung in Marsch setzen würde.

Als Nächstes schoss Craig ein paar Fotos, im Blitzlicht seines Handys schienen die Arme der Leiche zu zucken. Der Tote lag mit dem Gesicht nach unten im Wasser. Ein Mann, keine Frage. Tot, ebenso klar. Das Einzige, das ihn als Wasserleiche qualifizierte, war die Tatsache, dass er im Exe schwamm. Er war nicht aufgedunsen, hatte keine Fressspuren. Die Jeans war durchnässt, an einigen Stellen war sie eingerissen, das leichte Leinenjackett ebenso. Eine frische Leiche, ja, aber sie musste oberhalb des Wehrs in den Exe gefallen sein. Die Risse im Stoff der Jeans und des Jacketts und die Schürfwunden, die darunter zu sehen waren, legten das nahe. Der Exe hatte den Mann über den rauen Beton des Wehrs gezerrt und ihn dabei so zugerichtet.

Craig schaltete die Taschenlampe des Handys ein. Am Hinterkopf konnte er eine Verletzung erkennen. Ob sie von einem Schlag oder einem Sturz herrührte oder durch die Strömung entstanden war, konnte er nicht sagen. Wasserleichen hatten typischerweise Kopfverletzungen, denn der Schädel war schwer und schleifte über den Grund, wie ein zu leichter Anker, der ein Schiff nicht halten kann. Dabei konnten Verletzungen entstehen, die aussahen wie Schläge.

Er leuchtete nach oben und suchte die scharfe Kante der Betonböschung ab. Kein Blut zu erkennen. Der Mann konnte irgendwo niedergeschlagen und dann in den Exe geworfen worden sein. Oder er war weiter flussaufwärts gestürzt, hatte das Bewusstsein verloren und war ertrunken. Die Strömung hatte ihn dann hierher getrieben.

Sirenen heulten, kamen näher. Craig schwenkte sein leuchtendes Handy, damit die Kollegen ihn besser sehen konnten. Ein Streifenwagen hielt dicht am Rand der Böschung, direkt über ihm.

Der Constable, der hinter dem Lenkrad saß, sprang aus dem Wagen, ein junger Bursche, ein echter Rookie, keine zwanzig Jahre alt. Er blickte sich verwirrt um, purzelte fast die Böschung herunter. »Da ist nichts!«, sagte er halblaut.

Von da oben konnte man Craig durchaus übersehen, er stand im Schatten der Böschung, den die Laterne über ihnen auf den Exe warf. Deswegen hatte er auch die Leiche fast nicht entdeckt.

»Hier unten«, rief Craig.

Der Constable schrie auf, stolperte, taumelte, ruderte mit den Armen, trat ins Leere, fiel, klatschte ins Wasser, blieb zappelnd an dem toten Körper hängen, fuchtelte herum und zog ihn ein Stück mit sich.

Die nächste Wasserleiche, dachte Craig, aber der Constable fasste sich und rettete sich mit hektischen Schwimmbewegungen ans Ufer. Craig reichte ihm die Hand, der Rookie griff zu und zog sich hoch.

»Sorry, Sir, ich … das wollte ich nicht … ich meine … mein Gott, hab ich mich erschrocken! Eine Leiche, die redet …«

Craig klopfte dem Burschen auf die Schulter. Wasser spritzte. »Schon gut, mein Junge. Kein Thema. Kann jedem passieren.« Craig hatte in Edinburgh am eigenen Leib erlebt, wie Neulinge fertiggemacht wurden. Der geringste Fehler führte zu Hohn und Spott und Nachtschichten. Er hatte sich geschworen, es anders zu machen, sollte er je DCI werden.

Der Rookie krabbelte sichtlich erleichtert zurück auf den Weg, schüttelte sich wie ein nasser Hund. Außer dem Schrecken würde nichts zurückbleiben, das Wasser des Exe war gut geheizt von der Sommersonne, es bestand keine Gefahr, dass sich der Rookie eine Erkältung zuzog. Allein der Schreck würde ihm den einen oder anderen Albtraum einbringen und der Ärger, ein neues Airwave zu bekommen, das Funkgerät, ohne das ein Constable die Wache nicht verlassen durfte.

Ein weiterer Streifenwagen traf ein, zwei Beamte stiegen aus. Einen davon kannte Craig. Es war Oscar Pettigrew, Police Chief Inspector und Leiter der Exeter Central Police Station, der örtlichen Polizeistation, die dem Headquarter zuarbeitete. Den anderen hatte er noch nie gesehen. Pettigrew war sicherlich nicht aus dem Bett gesprungen, um seinen Leuten unter die Arme zu greifen; er war hier, um nach dem Rechten zu sehen. Pettigrew war ein Kontrollfreak erster Güte, er war berüchtigt für seine Berichtswut. Alles musste bis ins Detail aufgeschrieben werden, selbst wenn es nichts zur Sache beitrug. Der Chief mochte Craig nicht besonders, das wusste er, aber er ließ es ihn nicht spüren, und Craig fragte sich, wie viel Pettigrew wusste. Über ihn und Edinburgh und seinen Abgang von dort.

Pettigrew warf einen Blick auf Craig, grinste und baute seine zweieinhalb Zentner vor dem Grünschnabel auf. Er schwitzte, wischte sich mit einem Taschentuch über seine Glatze. Seine Dienstmütze hatte er im Auto gelassen. »Was ist hier los?«

»Ich bin ins Wasser …«

»Das ist nicht zu übersehen!« Pettigrew kratzte sich am Kopf, er stand unter Dampf, aber noch beherrschte er sich. Wenn er platzte, war es schlimmer, als wenn eine aufgedunsene Leiche explodierte. »Was ist mit dem Toten?«

»Männlich, Kopfverletzung«, meldete Craig von unten.

Pettigrew trat an die Böschung heran, verlor den Rookie aus dem Fokus. »Haben Sie die Leiche so aufgefunden?«

»Nein. Nicht ganz. Der Kollege ist beim Versuch, mir zu helfen, unglücklich gestürzt, hat die Leiche dabei bewegt, aber ich habe sie vorher fotografiert, kein Problem.« Craig streckte sich lang, hinderte die Leiche daran, sich auf den Weg den Exe flussabwärts zu machen, drückte sie in den Busch, damit sie nicht wegtreiben konnte. Wollte die Leiche sich der Untersuchung entziehen? Hatte sie Geheimnisse, die sie nur dem Exe anvertrauen konnte? Craig schüttelte den Kopf, damit sich die absurden Gedanken verzogen. Er musste unbedingt etwas gegen seine Schlaflosigkeit tun. Langsam aber sicher machte sich der Entzug bemerkbar. Seine Reflexe litten, aber auch sein logisches Denken.

»Die Jungs von der Spurensicherung müssten gleich da sein. Sieht nach Unfall aus.« Pettigrew reichte Craig die Hand und zog ihn mühelos hoch. Der Mann war zwar fett, aber unter dem Fett lauerten Muskelpakete.

Einen Moment standen sie so dicht aneinander, dass sich ihre Nasen fast berührten. Pettigrew schnupperte, Craig hauchte ihn an und verzichtete auf eine Bemerkung.

Pettigrew trat einen Schritt zurück. »Ihr Fall, Detective Chief Inspector. Was sollen wir tun?«

»Das Übliche. Weiträumig absperren. Zeugen suchen. Halten Sie Ausschau nach offenen Fenstern. Checken Sie die Überwachungskameras.«

Pettigrew salutierte übertrieben und vor allem unnötig, dann erteilte er befehlsgewohnt die richtigen Anweisungen. Vom Rang her stand Pettigrew mit Craig auf einer Stufe. Craig war ihm dankbar, dass er nicht eitel war und nicht mit ihm um die Leitung kämpfte. Dass er geprüft hatte, ob Craig betrunken war, wertete er nicht als Angriff. Pettigrew hatte seine Pflicht erfüllt. Ein besoffener Chief Inspector konnte eine ganze Ermittlung zum Kippen bringen, wenn die Verteidigung davon erfuhr. Ein Mörder konnte ungeschoren davonkommen. Damit hatte Craig Erfahrung, und er wollte es nie wieder erleben, dieses Gefühl, ein vollkommener Idiot zu sein, vielleicht verantwortlich für das nächste Opfer des Mörders, den man hatte gehen lassen müssen.

Dem Rookie schärfte Pettigrew ein, in diesem Zustand möglichst keine Zeugen zu vernehmen. Auch das war absolut korrekt. Der Junge war mit einem blauen Auge davongekommen. Allerdings würde er nicht verhindern können, dass sich die Sache herumsprach und er für ein paar Monate von seinen Kollegen gepiesackt wurde. Wahrscheinlich würde man ihm einen Goldfisch schenken und ihn ab jetzt nur noch »Freischwimmer« nennen.

Ein Zivilfahrzeug näherte sich, ein Rover Defender. Pettigrew pfiff durch die Zähne. »Der neue Coroner persönlich.«

Der Defender hielt neben dem ersten Streifenwagen. Craig hatte den neuen Coroner noch nicht kennengelernt. Er wusste nur, dass er eine Frau war und Sienna Fly hieß. Sie hatte sich vor einem halben Jahr gegen vier männliche Kandidaten durchgesetzt und damit schon jetzt Polizeigeschichte geschrieben. Sie war die erste Frau, die zum Coroner von Exeter und Umgebung ernannt worden war. Üblicherweise hatte Craig mit dem Coroner selbst nicht viel zu tun, sondern mit den Pathologen und Rechtsmedizinern, die ihm – oder besser gesagt – ihr unterstanden. Die Aufgabe des Coroners war es, Todesursache und -zeitpunkt festzustellen sowie gegebenenfalls eine Obduktion anzuordnen. Außerdem trat sie in Aktion, wenn es in Bereichen mit staatlicher Verantwortung zu Todesfällen kam: im Polizeigewahrsam, im Gefängnis oder in einem Jugendheim oder einer Schule. In diesen Fällen musste das Verfahren zur Feststellung der Todesursache vor einer Jury mit mindestens sechs Geschworenen durchgeführt werden. Der Coroner durfte eigene Ermittlungen anstellen, in der Praxis jedoch warteten die Coroner auf den Abschlussbericht der Polizei, bis sie ihr Urteil fällten. In Schottland gab es keinen Coroner, bis jetzt hatte Craig keinen wirklichen Unterschied in der Arbeit bemerkt. Alles war bislang reibungslos abgelaufen.

Sienna Fly stieg aus dem Wagen, sie trug eine armeegrüne Anglerhose, die wie ein Sack um sie herumflatterte. Das Teil war eindeutig zwei Nummern zu groß. Sie schaute sich um und kam auf Pettigrew zu, zeigte auf die Hose. »Ein scheußliches Ding, aber mein Vorgänger hatte leider die falsche Konfektionsgröße, und wir alle wissen ja, wie langsam die Mühlen der Materialbeschaffung mahlen. Ich glaube, die Ausschreibung läuft seit acht Wochen.« Sie blieb vor dem Chief stehen. »Mr. Pettigrew«, sagte sie leise und schüttelte ihm die Hand. Dann wandte sie sich an Craig, blickte ihm in die Augen, hielt ihm ihre Hand hin. Schmale lange Finger. Kurze Nägel, grau lackiert. »DCI McPherson, nehme ich an. Sie sind der ranghöchste Detective hier?«

Craig fragte sich, woher sie ihn kannte. Die Polizei von Exeter hatte mehr als tausend Beamte. »Sie kennen mich?«

Fly legte den Kopf schräg, mit ihrem blonden Pferdeschwanz wirkte sie wie ein Teenager, aber ihre dunkelgrauen Augen verrieten Craig, dass sie alles andere als ein kleines naives Mädchen war.

»Nun ja …« Sie lächelte unsicher. »Rotschöpfe, die aussehen wie Iren, aber aus Schottland kommen, haben wir hier nicht allzu häufig.« Ihr Lächeln wurde breiter. »Das war nicht böse gemeint. Sie waren hier und da Gesprächsthema, als Sie in unsere Stadt kamen. Klatsch eben. Ich gebe nichts auf Klatsch.« Sie hob eine Hand, zeigte McPherson zwei gekreuzte Finger und lachte. »Und manchmal flunkere ich. Was haben wir?«

Diese Frau hatte ausgesprochen angenehme Umgangsformen, sie war ehrlich, charmant und direkt. Eigenschaften, die Craig bei zu wenigen Menschen antraf. Er wiederholte, was er Pettigrew bereits berichtet hatte.

Fly trat an den Rand der Böschung, warf einen Blick hinunter, winkte Pettigrew. »Schafft ihn da raus! Bei mir im Kofferraum ist Folie und ein Leichensack. Ich schaue ihn mir gleich hier mal an.«

Sie wandte sich zu ihrem Wagen, blieb stehen, rieb sich die Schläfen. »Ach ja, Pettigrew, fordern Sie eine Hundertschaft an.«

Pettigrew hustete. »Eine Hundertschaft, Ma’am?«

Fly lächelte erneut, aber jetzt war es nicht das warme Lächeln, das sie Craig geschenkt hatte, jetzt schien sie etwas verbergen zu wollen, vielleicht ihr Erstaunen oder ihre Empörung über Pettigrews Nachfrage.

»Das gesamte Ufer muss abgesucht werden. Von hier aus zwei Kilometer flussaufwärts und mindestens einen Kilometer flussabwärts. Bis wir was gefunden haben. Alles absperren. Zusätzlich zur Hundertschaft brauchen wir Taucher.«

Pettigrew versteifte sich. »Wie Sie wünschen, Ma’am.«

Hatte Pettigrew ein Problem mit Fly? Sie war als Coroner jetzt und hier der Boss, und sie hatte es niemanden spüren lassen. Im Gegenteil. Sie hatte Craig als ranghöchsten Officer akzeptiert und Pettigrew mit Respekt behandelt.

Fly ließ sich nichts anmerken, kramte im Kofferraum und überreichte dem Rookie die Folie. Er breitete sie aus, dann zogen sie den Leichnam aus dem Wasser, bugsierten ihn die Böschung hinauf, legten ihn ab und drehten ihn auf den Rücken.

Craig, Fly und Pettigrew pfiffen gleichzeitig durch die Zähne. Craig sprach aus, was alle dachten: »Warum muss es ausgerechnet einer der bekanntesten Bürger der Stadt sein?«

2

»Verdammt«, entfuhr es Pettigrew.

»Das is’ ja ein Ding«, sagte der Rookie.

»Schafft Sichtblenden her, sofort!«, befahl Fly.

»Ich rufe den Superintendent an«, sagte Craig. Er zog sein Handy heraus, drückte auf die Kurzwahltaste für Arthur Keen, DSI.

Das Freizeichen erklang fünfmal, dann hörte Craig die Bassstimme seines Chefs. »McPherson! Was gibt’s?«

Keen hielt sich nicht mit dummen Bemerkungen auf, ob Craig wisse, wie spät es sei, oder dass er ihn zur Verkehrspolizei versetzen würde, wenn es nichts Wichtiges war. Keen wusste, wenn Craig mitten in der Nacht anrief, dann brannte irgendwo die Luft. Niemand rief Keen freiwillig an, auch Craig nicht. »Wir haben gerade Floyd Carpenter aus dem Exe gefischt. Tot. Da, wo die Weirfield Road auf den Fluss trifft.«

»Zehn Minuten.« Keen legte auf.

»Keen ist gleich da.« Craig zeigte auf Pettigrew. »Sorgen Sie bitte dafür, dass die Presse außen vor bleibt. Wir werden nicht verhindern können, dass die Sache durchsickert, aber wir können versuchen, die Details so lange wie möglich geheim zu halten.«

In der letzten Zeit häuften sich die Fälle von Indiskretion. Die Medien boten immer mehr Geld, die Polizisten verloren immer häufiger ihre Ehre. Erst vergangenen Monat hatte Keen ein Leck aufgespürt und den Officer mit Schimpf und Schande aus dem Dienst gejagt.

»Das ist eine riesengroße Scheiße!« Pettigrew kniff die Lippen zusammen und zeigte auf die Leiche. »Der Mann hat dafür gesorgt, dass ich ein Haus in der Wayland Avenue kaufen konnte, als ich nichts auf der Naht hatte.«

»Das Riverside4All-Projekt. Schon davon gehört, McPherson?«, fragte Fly und knöpfte Carpenter das weiße Hemd auf.

»Nein. Aber es klingt nach irgendwas Sozialem.«

Pettigrew prustete wie ein Walross. »Ich will verdammt sein, wenn es irgendeinen anderen Bauunternehmer gibt, der sich so für die Leute eingesetzt hat. Er hat aus eigenem Vermögen Kredite vergeben – für einen lächerlichen Zinssatz. Die Banken waren echt sauer, denen ist so manches Geschäft durch die Lappen gegangen. Vor allem den Erstkäufern, den jungen Leuten, den frisch Verheirateten, denen hat er geholfen, ohne daran zu verdienen. So wie mir damals.«

»Ein echter Wohltäter, wie?« Craig glaubte nicht an das Gute im Unternehmer. Er musterte Pettigrew.

Der verzog angriffslustig das Gesicht. »Klar, die Schotten kennen so was wie Uneigennützigkeit nicht. Carpenter war anders. War eine Ausnahme. Das hat er von seinem Vater übernommen, hat genauso weitergemacht. Auch das gibt es, McPherson. Sie sollten besser nicht den Stab über andere brechen.« Pettigrew fletschte die Zähne.

»Okay, okay! Ich gebe zu, ich habe vorschnell geurteilt. Ich kenne den Mann überhaupt nicht, Sie haben recht, Pettigrew.« Craig hielt ihm die Hand hin. »Ich werde ihn bald kennenlernen, und wenn es dabei bleibt, dass er ein Engel ist, kriegen Sie eine Flasche achtzehnjährigen Laphroaig, wenn nicht, kriege ich eine Flasche von Ihnen persönlich handgepressten Orangensaft – den Sie vor versammelter Mannschaft herstellen und mit mir trinken werden.«

Pettigrew kratzte sich am Kopf. »Das ist echt hart, aber da Sie verlieren werden, Craig, abgemacht.«

Klatschend schlugen die Hände aufeinander.

Fly erhob sich. »Sie können sich schon mal von dem Laphroaig verabschieden, Craig. Ich lebe seit meiner Geburt in Exeter. Carpenter war ein Guter. Es ist schade, dass er tot ist. Ich hoffe, sein Nachfolger wird sein Werk fortsetzen. Er hat übrigens keinerlei Abwehrverletzungen, falls es jemanden interessiert.«

»Unfall?«, fragte Pettigrew.

»Was ist mit der Kopfverletzung?«, fragte Craig.

Fly kniete sich hin, nahm den Kopf und drehte ihn auf die Seite. Carpenter sah aus, als schliefe er. Seine Haut schien im warmen Licht der Laterne rosig und gesund.

»Keine stumpfe Gewalt. Scharfe Wundränder. Könnte natürlich auch von einem Kantrohr stammen. In der Wunde kann ich Fragmente ausmachen, die von einem Betonstein stammen können. Natürlich kann er auch gestürzt sein. Ich ordne die Obduktion an und werde ihn persönlich untersuchen. Craig, möchten Sie dabei sein?«

»Wann?«

»Sofort.«

»Grundsätzlich ja, aber ich will auf keinen Fall, dass die Familie es aus der Zeitung erfährt!«, entgegnete Craig ruppiger, als er es beabsichtigt hatte.

»Das sehe ich genauso!« Alle fuhren herum. Keen trat aus dem Schatten, er hatte sich unbemerkt genähert. Er hielt Fly seine manikürte Hand hin, sie schlug ein. »Schön, Sie hier zu sehen. Dann kann ich davon ausgehen, dass ich eine fehlerfreie Obduktion bekomme.« Fly wollte zum Protest ansetzen, aber Keen schnitt ihr das Wort ab. »Alle Ihre Leute sind gut, aber Sie sind nun mal die Beste.« Er lächelte, Fly schwieg. Keen wandte sich an Craig. »Kontaktbeamtin, Psychologe und Arzt sind gleich hier, dann können Sie die Familie besuchen. Danach kommen Sie zur Obduktion dazu.« Er warf einen Blick auf Carpenter. »Irgendeine Idee? Sobald die Presse Wind davon bekommt, gehen die Spekulationen los.«

»Nichts Konkretes, Sir«, sagte Craig. »Ohne Obduktion …« Er ließ den Satz in der Luft hängen. Schweiß lief Keen am Hals hinunter, er war in voller Uniform aufgelaufen. »Wir werden am Exe jeden Stein umdrehen, eine Hundertschaft ist …«

Keen unterbrach Craig. »Okay, okay, schon gut. Bitte die Ohren aufsperren: Der Fall ist delikat, das brauche ich wohl niemandem zu erklären. Ich werde die Bürgermeisterin informieren, dass ein Mitglied des Stadtrats ums Leben gekommen ist.«

»Carpenter saß im Stadtrat? Interessant.« Craigs Bauch rumorte.

Keen warf ihm einen strengen Blick zu. »Es gibt und gab keinerlei Erkenntnisse über Interessenkonflikte. Im Gegenteil. Alle Ausschreibungen der Stadt werden mehr als gründlich geprüft und absolut transparent abgewickelt. Carpenter hat sich übrigens aus besonders heiklen Geschäften einfach rausgehalten und nicht mitgeboten. Das hat ihn einen Haufen Geld gekostet.«

»Kannten Sie Carpenter persönlich?«

Pettigrew blickte zu Boden, Fly machte sich wieder an der Leiche zu schaffen.

»Kommen Sie mal kurz mit«, sagte Keen scheißfreundlich. Er nahm Craig am Arm und zog ihn weg vom Fundort der Leiche, hinein in den Schatten eines Hauses und außer Hörweite der Kollegen. »Der Zufall hat Ihnen Carpenter ans Bein gebunden, und vorerst werde ich Ihnen den Fall nicht wegnehmen, und zwar aus einem einzigen Grund: Sie sind ein Fremder in Exeter, und Sie werden immer ein Fremder bleiben. Ein Alien. Ihnen sind Seilschaften, Beziehungen und Politik herzlich egal. Sie kennen die Verbindungen hier nicht. Noch nicht. Also kann ich bei der Presse damit punkten, dass ich einen Beamten auf den Fall ansetze, dem die Befindlichkeiten dieser Stadt und ihrer herrschenden Klasse scheißegal sind. Sie sind sozusagen der lebende Beweis, dass ich nichts unter den Teppich kehren will.«

»Was gibt es denn zu verheimlichen?« Craig biss sich auf die Zunge. Er musste sein loses Mundwerk in den Griff kriegen.

Keen senkte seinen quadratischen Schädel, als wollte er Craig eine Kopfnuss verpassen. »Ich warne Sie, Craig. Nehmen Sie sich nicht zu viel heraus. Und damit Sie nicht glauben, ich würde Ihnen allzu freie Hand lassen, habe ich einen geeigneten Partner für Sie.«

Craig schwante Übles. Bisher hatte er mit altgedienten, erfahrenen Cops zusammengearbeitet, die zwar nicht brillant waren, ihm misstrauten, weil er nicht mehr trank – aber ihr Handwerk verstanden und ihn seine Arbeit machen ließen, auch abseits der ausgetretenen Pfade. Die waren froh, wenn er ihnen Arbeit abnahm. Und Craigs Aufklärungsquote betrug einhundert Prozent.

»Der junge Mann heißt Tyler Leighton. Eine Intelligenzbestie, die zum Frühstück einen ganzen Folianten Rechtstexte auswendig lernt. Frisch zurück von der Akademie. Ist bereits Detective Inspector, und ich glaube, seine Karriere ist vorgezeichnet.«

»Wann wird er Sie ablösen, Arthur? Nächstes Jahr?«

Keen wurde nicht sauer, er hob beide Hände und verdrehte die Augen. »Beschreien Sie es nicht! Ich gebe Ihnen den guten Rat, sich mit Tyler zu arrangieren. Behandeln Sie diesen Fall mit Samthandschuhen. Und lösen Sie ihn schnell. Und noch was: Sie bekommen alles, was Sie brauchen, solange es im Rahmen bleibt.«

Also war dieser Tyler Leighton ab jetzt Craigs Gouvernante. Na und? Wenn Leighton das war, was Keen versprach, nämlich brillant, konnte es Craig nur recht sein. Alles andere würde sich zeigen.

Craig wandte sich um, aber Keen hielt ihn fest. »Sie müssen mir Fakten liefern, dann werde ich durchsetzen, was immer es sein mag. Und wenn ich die Bürgermeisterin verhaften muss, ich werde es tun. Ich stehe auf Ihrer Seite, solange Sie nicht wie ein Elefant durch den Porzellanladen trampeln. Fakten, Craig. Nichts als Fakten. Und halten Sie sich an die Vorschriften. Denken Sie an Leighton.« Er ließ Craigs Arm los, hob einen Zeigefinger. »Zuerst ist der Coroner am Zug. Noch haben wir keinen Mord. Und jetzt an die Arbeit. Carpenters Familie wartet. Aber ziehen Sie sich vorher um.« Keen walzte davon.

Die Sichtblenden waren bereits aufgestellt, die harten Schatten der Polizei-Scheinwerfer warfen grelles Licht über die Landschaft. Trotz der frühen Stunde hatten sich bereits die ersten Schaulustigen versammelt und wurden von den Police Sergeants in Schach gehalten. Auch die ersten Medienvertreter waren vor Ort und versuchten, irgendetwas Lukratives zu erhaschen. Unter die dunkelblauen Uniformen der Polizeibeamten mischten sich die hellblauen Ganzkörperanzüge der Spurensicherung. Die Maschine war angelaufen, und Craig wusste, dass schon jetzt die ersten Fehler gemacht wurden. Daran führte kein Weg vorbei, denn Fehler waren menschlich. Die Frage war nur: Würde Craig die Fehler finden, die ihn von der Lösung des Falls abhalten konnten? Die ihn auf falsche Fährten locken und dadurch wertvolle Zeit vernichten würden?

Craig befahl einem Sergeant, das Haus der Carpenters unauffällig abzuschirmen, bis er die schlechte Nachricht überbracht hatte, dann meldete er sich bei Fly ab und kündigte seinen Besuch in der Rechtsmedizin an, sobald er mit den Carpenters fertig war. Er warf einen letzten Blick auf die bizarre Szenerie. Das war seine Welt. Die Welt des Todes.

3

Eine Viertelstunde später stand Craig mit der Kontaktbeamtin, einer Psychologin und einem Arzt vor dem Anwesen der Carpenters. Gesetzlich vorgeschrieben war nur die Kontaktbeamtin, aber Craig wollte kein Risiko eingehen. Die Reaktionen der Angehörigen von Opfern reichten von Null bis Kreislaufkollaps. Er hatte allen eingeschärft zu schweigen, solange es ging. Die Straße führte von hier leicht bergab. Das Anwesen der Carpenters lag auf einer kleinen Anhöhe zwischen Cowley und Stoke Canon, etwa vier Kilometer nördlich des Stadtzentrums. Der Exe war hier um die vierzig Meter breit, Sandbänke gaben Vögeln ein sicheres Brutgebiet.

Ein Zaun aus aneinandergeschmiedeten Eisenlanzen umgab das Grundstück, dessen Ausmaße Craig nicht abschätzen konnte. Der Zaun war durchzogen von Rosenbüschen, Hunderte Blüten verströmten einen betörenden Duft.

Das Tor schien einen Panzer abhalten zu können, direkt über dem Klingelknopf starrte ihn die halbrunde Glaskugel einer Kamera an. Er drückte einmal, wartete. Keine Reaktion. Er drückte noch einmal. Eine verschlafene Männerstimme kam aus einem versteckten Lautsprecher.

»Wissen Sie, wie spät es ist?«

Craig hielt seinen Ausweis vor die Linse der Kamera. »Detective Chief Inspector McPherson. CID Exeter. Meine Kollegen und ich müssen mit Beth Carpenter sprechen. Wer sind Sie?«

»Ich bin der Verwalter von Rosewood.«

Passender Name für das Anwesen. »Und Sie heißen?«

»Marcus Torey.«

Die passende Aussprache für den Hausverwalter einer reichen Familie: Torey klang nach einer Butlerschule der Extraklasse, nach bestem Tweed, Silberbesteck und teurem Tee. Falls er nicht in Oxford studiert hatte, hatte er sich den Akzent antrainiert.

»Mr. Torey, würden Sie bitte öffnen, Mrs. Carpenter wecken und uns zu ihr führen?« Craig hatte in Edinburgh studiert, und niemand hatte versucht, ihm beizubringen, zu sprechen wie ein Oxford-Absolvent.

Craig hörte die Sprechanlage klicken, dann schwang das Tor auf, ohne einen Laut von sich zu geben. Alles hier war bestens geschmiert und arrangiert.

Sie betraten die Auffahrt, Craig schaute nach unten. Carpenter mochte ein guter Mensch gewesen sein, auf jeden Fall aber hatte er einen Sinn dafür, seinen Reichtum zu zeigen. Der Weg bis zum Haus war mit Marmor ausgelegt, das Licht der auf alt getrimmten Lampen entlang des Weges spiegelte sich in den filigranen Mustern, die schimmerten wie das ölige dunkle Wasser des Exe, aus dem Craig den ehemaligen Besitzer von Rosewood herausgefischt hatte. Säulen, Erker, Schieferdach, eine Freitreppe hinauf zum zweiflügeligen Portal. Carpenters Heim war im Stil einer viktorianischen Villa erbaut. Von dort blickte ihnen ein älterer Herr in einem gestreiften Schlafanzug entgegen, an den Füßen trug er graue Filzpantoffeln.

»Mr. Torey?«

Der Mann nickte, Craig schätzte ihn auf Anfang sechzig, er war schlank, hatte volles braunes Haar und war einen halben Kopf größer als Craig, der mit 185 Zentimetern deutlich über dem schottischen Durchschnitt lag.

Er wies auf das Innere des Palastes. »Bitte folgen Sie mir.«

Was mit dem Marmor in der Auffahrt begonnen hatte, setzte sich fort. Luxus, wo Craig hinsah. Er hatte nicht viel Ahnung von Gemälden, aber wenn er sich nicht täuschte, hingen allein vier echte Turner im Flur, die ein Vermögen wert sein mussten. Er mochte Turner, die Art, wie er das Meer darstellte, löste in Craig Sehnsucht aus und tröstete ihn zugleich. Craig zeigte auf die Bilder. »Sind die echt?«

Torey hob eine Augenbraue. »Was glauben Sie denn?«

Craig verzichtete auf eine Antwort und überlegte, ob es Tee gab, der pro Pfund mehr als sein Monatslohn kostete. Wenn ja, würde er ihn gewiss in der Küche der Carpenters finden.

Torey führte sie in einen Salon, dessen postmodernes geradliniges Mobiliar auf wunderbare Weise die geschwungenen Stuckdecken und den dunklen Holzboden ergänzte.

»Nehmen Sie Platz, Mrs. Carpenter kommt sofort.«

Craig ließ sich in einen schneeweißen Ledersessel sinken, der Arzt blieb stehen, die Kontaktbeamtin und die Psychologin nahmen auf einer weißen Ledercouch Platz. Neben Craigs Sessel stand eine Skulptur, die genauso aussah wie das Stück Schlacke aus dem Hochofen, das ihm sein Vater eines Tages von seiner Arbeit mitgebracht hatte. Zusammen mit den anderen Möbeln wartete es in einem Lager in Edinburgh auf Craigs Rückkehr. Was die Skulptur wohl wert war? Den Wert seines Schlackebrockens kannte er: unbezahlbar. Nur drei Tage nachdem ihm Vater den Brocken geschenkt hatte, war er in glühendem Eisen verdampft. Das Stahlwerk lehnte bis heute eine Abfindung ab, es sei Vaters Schuld gewesen. Er habe die Sicherheitsbestimmungen am Hochofen nicht befolgt. Craigs Mutter hatte ihm und seinem Bruder verboten, etwas zu unternehmen. Sie wollte nicht, dass Vaters Andenken mit einem schmutzigen Prozess beschädigt wurde. Sie hatten sich zähneknirschend daran gehalten.

Craig fischte ein Taschentuch aus der Hosentasche und schnäuzte sich. Er hatte den schwarzen Anzug angelegt, weißes Hemd, schwarze Krawatte. Der Gürtel saß locker, zu locker, mit Mühe hatte er ein Loch mit dem Küchenmesser hineingeschnitten. Er musste darauf achten, mehr zu essen. Er musste darauf achten, sich nicht ständig selbst zu belügen. Beides schien unmöglich.

Eine junge Frau in einem seidenen Morgenmantel schwebte in den Salon und wies Torey an, bei der Haustür zu warten. Craig kannte ihr Alter vom Schnellcheck: fünfunddreißig, aber sie wirkte wie Anfang zwanzig.

Torey zog sich geräuschlos zurück.

Craig erhob sich, trat auf sie zu, reichte ihr die Hand. Sie sah nicht aus, als ob sie gerade aus dem Schlaf gerissen worden wäre, sie passte hervorragend in die Ausstattung des Hauses und setzte gleichzeitig einen Kontrast. Die vorherrschende Farbe der Einrichtung war weiß, ihre Haare waren ebenso tiefschwarz wie ihre Augen, ihr Teint karamellfarben. Beth Carpenter war nicht nur eine Schönheit, sie hatte das gewisse Etwas. Auf dem Catwalk einer internationalen Modenschau hätte sie ihren Konkurrentinnen die Show gestohlen. Alles passte in diesem Haus, alles war perfekt bis ins Detail, alles war eine Orgie der Ästhetik, eine Ansammlung von Schönheit, die fast schmerzte – bis auf Floyd Carpenter. Er hatte eine schlecht vernähte Hasenscharte und abstehende Ohren gehabt. Warum hatte die engelsgleiche Beth, die Schönste der Schönen, das Biest geheiratet? Warum hatte sie ihm zwei Kinder geboren? Liebe oder Luxus? Auf jeden Fall stand Beth Carpenter auf Craigs noch kurzer Liste der Verdächtigen, falls es denn ein Mord war, ganz oben, gefolgt vom Hausverwalter Mr. Oxford-Englisch und den üblichen Neidern, der Konkurrenz und einem beliebigen Raubmörder.

Beth Carpenter begrüßte die anderen drei mit einem kühlen Nicken. Nichts deutete darauf hin, dass sie etwas Furchtbares ahnte.

Craig verzichtete auf Formalitäten, es machte keinen Sinn, das Unvermeidliche hinauszuzögern. »Mrs. Carpenter. Es tut mir aufrichtig leid. Ich muss Ihnen mitteilen, dass wir Ihren Mann tot aufgefunden haben.«

Craig fürchtete sich nicht vor der Reaktion der Frau. Er konnte bis zu einem gewissen Grad mitfühlen, das musste er sogar, um sich in die Person hineinversetzen zu können. Aber er litt nicht mit den Trauernden, das konnte er sich nicht leisten, das hätte ihn aufgefressen. Und er schuldete den Opfern höchstmögliche Objektivität bei den Ermittlungen. Je mehr Gefühle sich einschlichen, desto schlechter wurden die Ergebnisse.

Beth Carpenter blinzelte zweimal, dann schossen Tränen aus ihren Augen, sie schluckte hörbar, öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Die Psychologin und die Kontaktbeamtin nahmen sie in die Mitte, sie ließ sich widerstandslos zu der weißen Ledercouch führen. Sie setzte sich, die Tränen flossen ohne Unterlass, ihre Schultern bebten, aber sie gab keinen Laut von sich, sondern starrte nur vor sich hin.

Craig nickte der Psychologin zu, die versuchte, zu Beth Carpenter durchzudringen. Ohne Erfolg, sie verharrte in Schockstarre. Craig sah auf die Uhr. Es war kurz vor halb vier.

Ihm kam eine Idee. Er zückte sein Handy, wählte die Nummer seines neuen Partners, die Keen ihm gesimst hatte. Leighton sollte sich nicht beschweren können, dass Craig ihn nicht mit einbezog – und er brauchte tatsächlich Hilfe. Fünfmal hörte Craig das Freizeichen, dann meldete sich Leighton mit der Stimme eines Sechzehnjährigen.

»Gott im Himmel, was ist denn los? Wer sind Sie, gottverdammich!«

Craig hatte sich Leightons Reaktion anders vorgestellt. Irgendwie besser erzogen, mit Manieren, die so lange gedrillt worden waren, bis sie auch im Schlaf saßen.

»McPherson hier. Ihr neuer Partner und Vorgesetzter«, flüsterte Craig und ließ Beth Carpenter nicht aus den Augen. »Verzeihen Sie die nächtliche Störung. Ich hoffe, Keen hat Sie bereits informiert. Es gibt Arbeit. Ich brauche Sie. Floyd Carpenter ist tot aufgefunden worden, wir wissen nicht, ob es ein Gewaltverbrechen war oder nicht. Ich bin bei seiner Frau. Ich muss alles wissen über die familiären Verhältnisse von Beth und Floyd Carpenter. Begeben Sie sich bitte sofort ins Headquarter, gehen Sie nicht über Los. Ich passe hier auf Beth Carpenter auf. Schicken Sie mir eine SMS, wenn Sie was haben. Vielen Dank im Voraus.« Craig unterbrach die Verbindung. Würde Leighton jetzt wie von der Tarantel gestochen aus dem Bett springen? Würde er das Telefon anstarren und sich fragen, ob er geträumt hatte? Oder würde er DSI Keen anrufen?

Im Verhalten von Beth Carpenter hatte sich nichts verändert. Er suchte Blickkontakt mit der Psychologin, die kurz die Augen schloss, etwas länger, als man blinzeln würde. Das hieß: Geduld, es braucht Zeit. Doch genau die hatte Craig nicht. Wenn Floyd Carpenter ermordet worden war, zählte jede Minute.

Er erhob sich, kniete sich vor Beth Carpenter nieder, nahm ihre eiskalten, feuchten Hände in seine. Sie wehrte sich nicht gegen diese intime Berührung. »Beth. Hören Sie mich?«

Ihre Augäpfel taumelten einen Moment hin und her. Dann fand sie seinen Blick. Beths Unterlippe zitterte, ihr Blick bohrte sich weiter in Craigs Augen.

»Es ist ein unerträglicher Schmerz. Und es gibt nichts, was Ihren Verlust wiedergutmachen könnte. Ich will Sie nicht unnötig mit Fragen belästigen, Ihnen nur sagen, dass wir Ihnen, so gut wir es können, helfen werden.«

Craig wagte es nicht, den Blick abzuwenden.

Ohne Warnung sprang Beth auf, warf Craigs Hände zur Seite, er kippte nach hinten, fing sich aber sofort.

Langsam stand Craig auf, trat an ihre Seite. »Können wir reden?«

Beth Carpenter nickte. »Kann ich Ihnen etwas anbieten?« Beth schaute der Reihe nach Craig, den Arzt, die Kontaktbeamtin und die Psychologin an. Sie lehnten ab.

Beth Carpenter nickte, zog ein seidenes Taschentuch hervor. Craig kam es vor wie ein Zaubertrick, er hatte keine Tasche gesehen. Sie schnäuzte sich, ließ es wieder verschwinden und setzte sich zwischen die Kontaktbeamtin und die Psychologin. »Die Kinder müssen um halb acht aufstehen. Summer ist fünfzehn, Kevin siebzehn. Sie werden heute nicht zur Schule gehen.«

Sie stellte fest, scheinbar ohne Regung.

»Was ist passiert?«, fragte Beth Carpenter dann.

»Wir … ich habe Ihren Gatten im Exe treibend gefunden. Wir wissen noch nicht, wie er zu Tode gekommen ist, können daher nichts ausschließen. Zurzeit laufen die Ermittlungen des Coroners zur Feststellung der Todesursache. Wann haben Sie Ihren Mann zum letzten Mal gesehen?« Craig musste Beth Carpenter auf der rationalen Ebene halten.

»Heute Morgen um Viertel nach sieben …« Sie stockte. »Also gestern Morgen natürlich.«

Craig hoffte inständig, dass die Erinnerung sie nicht wieder in die Starre zurückwarf, dass sie stark genug war, den Schmerz zu ertragen und ihm nicht auswich, indem sie sich aus der Realität zurückzog. Er hätte es verstanden, nur zu gut.

»Er hat die Kinder in die Schule gefahren, danach ist er wie immer zur Arbeit gegangen. Ich wusste, dass es spät werden würde. Er hatte sich mit zwei Freunden verabredet. Sie wollten ihren Herrenabend machen.«

»Wie heißen die Freunde?«

»Jason Collins und Alfred Hershie.«

Craig notierte sich die Namen. Collins kannte er nicht, aber Alfred Hershie war ihm ein Begriff, er arbeitete für den Exeter Mirror als Chefreporter für unterschiedlichste Themen. Craig hatte noch nichts von ihm gelesen, aber es hieß, er sei nicht schlecht.

»Wird bei diesen Herrenabenden viel getrunken?«

Beth Carpenter verzog das Gesicht zu einem schrägen Grinsen. Tränen glänzten auf ihren Wangen. »Davon können Sie ausgehen.« Sie knetete ihre langen Finger, deren kurze Nägel unlackiert waren. »Ist er … gestürzt?«

»Das wissen wir noch nicht, Mrs. Carpenter. Sie werden es als Erste erfahren.« Craig seufzte. »Sorry, aber ich habe keine Wahl, ich fühle mit Ihnen …« In Beths Augen sah er, dass sie ihm glaubte.

Sie richtete sich kerzengerade auf, holte tief Luft. Sie war bereit. Craig stellte die nächste Standardfrage. »Ich weiß, es klingt furchtbar, aber dennoch: Gibt es jemanden, dem Sie zutrauen würden …«

»… meinen Mann umzubringen?« Sie schloss die Augen, Tränen sickerten durch die geschlossenen Lider. »Floyd war reich, erfolgreich, mit einer schönen Frau verheiratet, ein guter Mensch, und er prangerte die Machenschaften der Politiker an. Reicht das, um Neider auf den Plan zu rufen?«

Legte er diese Einschätzung von Carpenters Person zugrunde, gehörte halb Exeter zum Kreis der Verdächtigen. »Hat jemand Drohungen ausgestoßen in der letzten Zeit?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

Craigs Handy vibrierte kurz. Er warf einen Blick darauf. Eine SMS von Leighton. »Beth Carpenter ist eine Cavendish. Devon-Adel. Sie hat ein großes Vermögen geerbt. War monatelang in den Schlagzeilen der Klatschpresse wegen der Heirat mit Carpenter. Schlagzeilen wie ›Die Schöne und das gute Biest‹. Keine Hinweise auf Probleme in der Ehe. Die Firma ist kerngesund.« Guter Mann, dieser Leighton. Er drückte die SMS weg. »Wer übernimmt die Firma, Mrs. Carpenter?«

Beth Carpenter wischte sich die Tränen mit dem Ärmel aus dem Gesicht, öffnete die Augen. »Leiten wird sie unser erster Geschäftsführer, Daniel Hargrave. Er ist zurzeit in Liverpool, ich werde ihn informieren. Floyd wollte expandieren. Ich werde alles erben. Es gibt auch eine Lebensversicherung. Aber glauben Sie mir: Alles Geld dieser Welt würde ich gegen das Leben meines Mannes eintauschen.«

Sie klang glaubwürdig, auch ihre Gefühle schienen echt.

Craig setzte zum Sprechen an, doch Beth Carpenter hob eine Hand, unterbrach ihn. »Geben Sie sich keine Mühe. Sollte Floyd ermordet worden sein, bin ich Verdächtige Nummer eins.« Sie beugte sich nach vorne. »Sie sollten wissen, dass wir Frauen nichts auf Äußerlichkeiten geben. Ich liebe Floyd!« Sie schlug die Hände vors Gesicht und begann zu weinen, zuerst leise, dann steigerte sie sich, bis ihr ganzer Körper durchgeschüttelt wurde.

Die beiden Schutzengel blieben ruhig, beobachteten Beth Carpenter und würden nur eingreifen, wenn ihr Anfall bedrohliche Ausmaße annähme.

Craig wartete, bis sich Beth Carpenter wieder beruhigt hatte. Er stellte die Uhrzeit fest: vier Uhr und sieben Minuten.

Als hätte es keine Unterbrechung gegeben, fuhr sie fort. »Er hat nicht glauben wollen, dass ich mich in ihn verliebt hatte. Immer wieder hat er mich zurückgewiesen, nicht, weil er glaubte, ich wolle sein Geld. Geld habe ich genug, er ebenso. Er wollte sich schützen. Vor dem Schmerz, dass ich ihn verlassen würde, wenn ich seiner überdrüssig wäre. Ich war der Verzweiflung nahe.« Sie lachte kurz auf. »Wissen Sie, wie ich ihn rumgekriegt habe?«

Craig ahnte, wie sie es angestellt hatte, schüttelte aber den Kopf, damit sie weiterredete.

»Ich habe ihn betrunken gemacht, ihn verführt, genau während meines Eisprungs. Es hat funktioniert. Als ihm klar wurde, dass ich von ihm schwanger bin, hat er seinen Widerstand aufgegeben, mich nach Paris entführt und mich auf dem Eiffelturm gefragt, ob ich ihn heiraten wolle. Kitschig, nicht wahr? Wie in einem schlechten Film. Aber so war es nun mal.« Ein Lächeln ging über Beth Carpenters Gesicht, das jedoch schnell verflog.

In Craigs Kopf rutschte Beth Carpenter in der Liste der Verdächtigen einige Plätze nach unten. Wenn sich ihre Aussagen bestätigten, hatte sie kein Motiv.

Sein Handy vibrierte und spielte die ersten Takte der umstrittenen schottischen Nationalhymne »Scots Wha Hae«. Craig war kein betonköpfiger Patriot. Er hatte gegen die Unabhängigkeit Schottlands von England gestimmt, weil es auf der Welt viel zu viele Grenzen gab. In den Köpfen und auf den Landkarten. Er liebte Schottland und litt jeden Tag unter seinem Exil, das er sich allerdings selber eingebrockt hatte.