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Wo man hinschaut, sieht man sie: Verzweifelte Männer in der Midlife-Crisis, die schon gar nicht mehr wissen, wofür sie überhaupt auf der Welt sind. Sie fragen sich: Ist noch mehr drin als der mickrige Kleingarten und die missratenen Kinder? Lernt man, seinen Job und seine Frau irgendwann wieder zu lieben? Und hat Haarausfall doch etwas Gutes? Der Satiriker und Krisenmanager Sören Sieg zeigt: Es gibt Mittel und Wege, die Jahre ab 40 so hinzukriegen, dass man nicht unter Hohn und Spott der Jüngeren, sondern als selbstbewusster George Clooney durchs Leben geht. Dieses Buch hilft dabei, die schlimmsten Fallstricke zu vermeiden und dem Erwachsenenleben einen Sinn zu verleihen — selbst mit ein paar Kilo mehr auf den Rippen.
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Das Buch
Sie haben sich Ihr Leben lang vom inneren Schönredner erzählen lassen, das Naheliegendste und Bequemste sei auch das Beste für Sie. Nun sind Sie aufgewacht – durch einen runden Geburtstag, einen Blick in den Spiegel oder einen erfolgreichen Freund. Sie wollen Ihr Leben ändern. Aber wie?
Sören Sieg hat diese Phase selbst durchlebt. Heute weiß er: Gegen die Midlife-Crisis hilft kein Motorrad, keine Haartönung und kein Jammern, sondern nur die ehrliche Antwort auf die alles entscheidende Frage: Was, zum Teufel, will ich eigentlich? Anhand vieler Beispiele zeigt er auf, was man nun alles richtig oder aber gänzlich falsch machen kann, um noch ein paar tolle Jahrzehnte vor sich zu haben (oder eben nicht). Seine Botschaft: Entwerfen Sie Ihr Leben, und leben Sie diesen Entwurf. Denn es gibt kein größeres Abenteuer!
Der Autor
Sören Sieg, geboren 1966, wuchs in einem Provinznest in Schleswig-Holstein auf, studierte Sozialwissenschaften und Musik in Hamburg und Bielefeld und tourte 18 Jahre mit dem A-cappella-Quartett LaLeLu durch Deutschland, Österreich und die Schweiz. Nach circa zehn Jahren Midlife-Crisis lebt er heute glücklich als freier Komponist und Autor in Hamburg (www.soerensieg.de).
In unserem Hause sind von Sören Sieg bereits erschienen:
»Ich bin eine Dame, Sie Arschloch!« (mit Axel Krohn)
»Ich hab dich rein optisch nicht verstanden« (mit Axel Krohn)
Superdaddy
Sören Sieg
Die dünnen Jahre sind vorbei
So übersteht Mann die zweite Lebenshälfte
Ullstein
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ISBN 978-3-8437-1338-2
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Alle Rechte vorbehalten
Über das Buch und den Autor
Titelseite
Impressum
Einleitung: Der Klaviertransporterwitz
I. Innehalten
1. Lesen Sie keine Glücksratgeber
2. Widersprechen Sie dem inneren Schönredner
3. Blicken Sie auf die Uhr
4. Schauen Sie in den Spiegel
5. Vergleichen Sie sich mit anderen
6. Hören Sie auf, Geber zu sein
7. Überwinden Sie Ihre Egoismus-Phobie
8. Bekämpfen Sie Ihr ADS
9. Besiegen Sie den inneren Oblomow
10. Hören Sie auf, das Scheitern zu fürchten
11. Fürchten Sie sich nicht vor Ablehnungen
12. Stellen Sie sich den Risiken
13. Schauen Sie in die Sonne
14. Bleiben Sie in der Kommandozentrale
15. Gönnen Sie sich nichts mehr
16. Holen Sie sich keine Ohrfeigen mehr ab
17. Machen Sie keine Therapie
18. Bleiben Sie der Philosophie treu
19. Bleiben Sie nicht, wie Sie sind
II. Losgehen
20. Räumen Sie Ihr Zimmer auf
21. Werden Sie sparsam
22. Hüten Sie Ihre Zeit
23. Geben Sie Ihrem Körper Vorrang
24. Erkennen Sie sich selbst
III. Das Richtige tun
25. Bauen Sie etwas auf
26. Gehen Sie auf den Markt
27. Bringen Sie Freude in die Welt
28. Erschaffen Sie etwas Schönes
29. Halten Sie Ihre Versprechen
30. Lernen Sie
31. Reisen Sie
32. Erfüllen Sie Ihren Kindertraum
IV. Sich entscheiden
33. Überlegen Sie gut
34. Entschließen Sie sich
35. Erklären Sie sich
36. Gehen Sie nicht in die Abwertungsfalle
37. Gehen Sie nicht in die Dramafalle
38. Lernen Sie, peinlich zu sein
39. Werden Sie Ihr eigener Verhaltenstherapeut
V. Besser leben
40. Verwenden Sie die einzig mögliche Methode
41. Werden Sie effizient
42. Verstehen Sie das Wort »Erfolg«
43. Begnügen Sie sich nur mit dem Besten
44. Tun Sie es
Quellennachweis
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Nur Menschen, die nicht in der Lage sind zu grübeln, verschwenden ihr Leben an eine erfolgreiche Karriere.
Drei Männer schleppen ächzend ein Klavier die Treppen eines alten Mietshauses hoch. »Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht«, sagt der Chef nach einiger Zeit. »Die Gute: Wir sind schon im achten Stock.« »Und die schlechte?«, fragt ein Mitschlepper. Der Chef seufzt. »Wir sind im falschen Haus.«
Für alle, die sich so fühlen, habe ich dieses Buch geschrieben. Genau so verhält es sich mit der Midlife-Crisis. Es wäre der Witz Ihres Lebens – wenn es nicht Ihr eigenes Leben wäre. Sie haben jede Menge Zeit, Energie und Liebe darauf verwendet, Ihren Job zu bekommen, Ihre Partnerin, Ihre Wohnung, Ihren Verein. Doch jetzt ahnen Sie: Es ist der falsche Job, die falsche Frau, das falsche Hobby. Es ist nicht nur die falsche Wohnung, sondern auch die falsche Stadt. Vielleicht sogar der falsche Kontinent. Und Sie erkennen: Nein, es ist nicht alles relativ. Es gibt richtig und falsch. Und Sie haben sich in der Tür geirrt.
Allerdings gibt es einen feinen Unterschied, der alles noch schwieriger macht: Sie befinden sich in der Lage des Chefs, bevor er anfängt zu sprechen. Sie haben den furchtbaren Verdacht, dass es das falsche Haus sein könnte. Sie müssten jetzt anhalten, klingeln und einen Nachbarn fragen. Aber nun tritt der innere Schönredner auf den Plan. Er verfolgt Sie schon Ihr ganzes Leben, er hat Sie in das ganze Schlamassel hier gebracht. Trotzdem hört er nicht auf, sich einzumischen. Am besten sei es, so rät er, einfach weiterzuschleppen. Denn:
1. Vielleicht ist es doch das richtige Haus.
2. Ihr habt schon acht Stockwerke geschleppt. Das wäre sonst völlig umsonst gewesen.
3. Es ist viel schwieriger, ein Klavier nach unten zu schleppen als nach oben.
4. Um das Klavier hier herunter- und im nächsten Haus wieder hochzuschleppen, dafür reichen weder Kraft noch Zeit.
5. Die anderen werden auch gar nicht bereit sein, dabei mitzumachen.
6. Wenn du andeutest, ihr könntet im falschen Haus sein, werden sie nie wieder mit dir reden oder dich an Ort und Stelle erschlagen.
7. Es gibt keine »richtigen« oder »falschen« Häuser. Alle Häuser sind gleich, keines ist schlechter als ein anderes.
8. Vielleicht schlägt ein Blitz ein, bevor ihr oben seid, oder es kommt zu einem Erdbeben. Dann ist es egal, ob es das falsche Haus war.
9. Vielleicht ist der Klaviereigentümer gerade ums Leben gekommen oder will sich von seinem weltlichen Besitz trennen. Oder das Klavierspielen aufgeben. Dann wird er heilfroh sein, dass das Klavier nicht ankommt.
10. Der Weg ist das Ziel. Gemeinsam schleppen ist eine sinnstiftende Erfahrung, egal, ob es am Ende das »richtige Haus« war oder nicht.
11. Gibt es nichts Wichtigeres auf der Welt als Klaviertransporte? Flüchtlinge, die Klimakatastrophe, der geringe Anteil von Frauen in Führungspositionen? Darum sollten wir uns kümmern, nicht um irgendwelche Tasteninstrumente.
Großartig, oder? Der innere Schönredner ist ein verdammt guter Redner, der Obama unter den inneren Stimmen. Aber es nützt alles nichts: Sie müssen jetzt an einer Tür klingeln und fragen, ob Sie hier richtig sind. Und notfalls umkehren. Und Sie wissen das auch.
Ich kenne diese Situation ziemlich gut. Ich bin oft genug die Treppen hoch- und wieder heruntergelaufen. Ich bin geradezu ein Experte für Neuanfänge. Ich habe Politik, Geschichte, Soziologie, Philosophie, Ökonomie, Pädagogik und Musik studiert, also sieben Fächer. Um das noch zu toppen, habe ich später in 14 Berufen gearbeitet, nämlich als Journalist, Klavierlehrer, Klavierbegleiter, Chorleiter, Übersetzer, wissenschaftlicher Assistent, Fotograf, Sänger, Moderator, Schauspieler, Zimmervermieter, Regisseur, Komponist und Schriftsteller.
Mein Leben ist also nicht gerade arm an überraschenden Wendungen (man könnte auch sagen, an guten Pointen): Ich habe schon mit 17 Abi gemacht – um dann volle zehn Jahre zu studieren. Ich habe mit meinen ultralinken Totalverweigerergenossen gegen die Wehrpflicht gekämpft – die dann von einem ultrareichen CSU-Adligen aus Franken abgeschafft wurde. Ich habe sehr viel Zeit und Mühe in einen Summa-cum-laude-Abschluss gesteckt, um dann lauter Berufe auszuüben, für die ich nicht mal einen Hauptschulabschluss gebraucht hätte. Ich habe Blockflöte, Geige, Gitarre, Klavier, Saxophon, Schlagzeug und Trompete gelernt, um dann 18 Jahre lang als Sänger zu arbeiten. Das Leben hat mehr zu bieten als eine Beamtenlaufbahn.
Dieses Buch hält einige Überraschungen für Sie bereit. Ich werde zeigen, warum Helfen, Aufmerksamkeit, Geld, Alkohol, Sicherheit, Urlaub, Künstler, Popkultur und soziale Berufe überschätzt werden, während Ordnung, Sparsamkeit, Abenteuer, Gymnastik, Experimente, Fehler, Freiwilligkeit, Gewissenhaftigkeit und Kinderkriegen unterschätzt werden. Ich werde erläutern, was es mit dem Pubertismus, der Zeitillusion, dem Abilene-Paradox, dem Happy-End-Prinzip und der Buñuel-Liste auf sich hat und warum Selbstwirksamkeit so wichtig ist. Ich werde argumentieren, dass es tatsächlich so etwas wie ein richtiges Leben gibt, dass der Kapitalismus nicht als Ausrede taugt, es nicht zu leben, und dass Moral und Egoismus sich nicht ausschließen.
Und so wie der Chef des Klaviertransporterunternehmens habe auch ich eine gute und eine schlechte Nachricht für Sie. Die gute: Dieses Buch ist garantiert frei von therapeutischem Pathos, esoterischer Spiritualität und Frauenzeitschriftentipps – Sie kommen also auch weiterhin ohne Frischkornmüsli und Herzquantenyoga durchs Leben. Die schlechte Nachricht: Sie sind im falschen Stock! Und es wird alles noch viel schlimmer kommen. Der Weg ist lang und mühsam. Es gibt keine Abkürzung, keinen göttlichen Beistand und kein GPS. Sie sind kurzsichtig und unerfahren. Das Einzige, was Sie zu diesem Zeitpunkt wissen, ist, dass Rilke recht hatte: Du musst dein Leben ändern. Und dass es keinen Weg zurück gibt. Alles, was jetzt noch hilft, sind Selbstironie und Selbsthypnose. Flüstern Sie sich ruhig immer wieder Lichtenbergs berühmten Satz ein: »Ich kann freilich nicht sagen, ob es besser werden wird, wenn es anders wird; aber so viel kann ich sagen, es muss anders werden, wenn es gut werden soll.«1
Sie sind in der Midlife-Crisis. Sie werden sich zum Horst machen. Sie werden Sirenen lauschen, Sümpfe ohne Gummistiefel durchwaten, in Abgründe blicken, Stürme in einem kleinen Ruderboot überstehen, sich im Dschungel verirren, sich Feinde machen und Reden vor Ihren Freunden halten. Aber Sie können es schaffen: das richtige Haus finden; das Leben führen, das Sie immer schon führen wollten. Und wenn Sie am Ziel sind, werden Sie stolz auf sich sein – und viele gute Geschichten erzählen können. Und das ist genau das, was zählt.
Der Mensch ist ein Tier, das jedes Jahr ein Kilo zunimmt.
Am Anfang ist uns nur etwas mulmig. Aber wir haben keine Ahnung, was los ist. Wir stellen nur fest, dass wir nicht mehr schlafen können, ohne Anlass schlecht gelaunt sind, nervös, ungeduldig, überreizt. Wir bekommen diesen merkwürdigen juckenden Ausschlag zwischen den Fingern, gegen den nur Kortison hilft, oder den großflächigen am Rücken, gegen den auch Kortison nichts mehr ausrichtet. Wir sind nicht mehr in der Lage, uns in einen Roman zu vertiefen oder auf ein Gespräch zu konzentrieren. Wir trinken, rauchen und essen zu viel, melden uns in einem Seitensprungportal an und verlegen andauernd Dinge. Ich habe es einmal fertiggebracht, binnen vier Monaten mein Smartphone, meine Handschuhe, meinen Schlüsselbund, meine EC-Karte, meinen Stadtplan, meine Mütze, meinen Schal, meinen Reisepass und meinen Personalausweis zu verlieren. Daraufhin beschloss ich, dieses Buch zu schreiben.
Wir sind komplett ratlos, wie eine Lösung aussehen könnte, weil wir nicht einmal wissen, worin überhaupt das Problem besteht. Oder wir wissen es sehr genau – weil nämlich unser vierzigster Geburtstag bevorsteht und uns mit einem Schlag bewusst wird, dass wir unser bisheriges Leben zu 99 Prozent vertändelt und verschwendet haben. Und zwar nicht, weil wir beim Versuch gescheitert wären, uns unseren Lebenstraum zu erfüllen, sondern weil wir diesen Versuch gar nicht unternommen haben. Wir haben nicht mal darüber nachgedacht, was unser Lebenstraum eigentlich sein könnte. Bis zu diesem Moment, kurz vor dem Vierzigsten, hielten wir uns für klug – und mit einem Schlag kommen wir uns unsagbar dämlich vor.
Ob Unbehagen, Entsetzen oder Schock: Leider gibt es auch an diesem Punkt noch jede Menge Methoden, um vor dem eigentlichen Problem die Augen zu verschließen und so noch mehr Zeit zu verlieren. Sie können sich vom inneren Schönredner einlullen lassen, Stimmungsaufheller schlucken oder Ihre freie Zeit auf Twitter, Facebook und Instagram vertrödeln. Sie können auf dem Sofa liegend von großen Plänen erzählen, die Sie niemals zu verwirklichen gedenken, sich permanent von Freunden einspannen lassen, die ihrerseits nie etwas für Sie tun werden, in diffusen Zukunftsängsten festfrieren oder beim Dauerkiffen das mentale Niveau einer Topfpflanze erklimmen. Sie können mit großem Aufwand Schlachten schlagen in Kriegen, die Sie längst verloren haben, ihr letztes Geld dafür verwenden, sich etwas zu gönnen, das Sie nicht brauchen, oder eine Psychoanalyse beginnen, die Ihnen praktischerweise verbietet, während ihrer Dauer irgendetwas an Ihrem Leben zu verändern (Die Dauer beträgt ab zwei Jahren aufwärts.) Oder Sie beruhigen sich mit der Theorie, die Verwirklichung und Vervollkommnung der eigenen Natur sei ein perfider Trick des von Ihnen verachteten Neoliberalismus (demnach waren Aristoteles und Goethe schon neoliberal).
Dagegen hilft einzig, sich immer wieder die Wahrheit der Situation zu vergegenwärtigen: Die Zeit läuft ab, der Körper ist ein immer fragileres Gebilde, und Ziele erreicht man nur, indem man sie ansteuert.
Das Glück passt in eine kleine Teetasse.Das Unglück gibt uns ein Gefühl von Unendlichkeit.
Vignetteroulette.com hat eine lustige Idee realisiert: Es kombiniert Ton- und Bildspuren verschiedener aktueller Werbespots. Zum Beispiel den Ton der Warsteiner-Werbung mit der Bildspur der Ergo-Versicherung. Das frappierende Ergebnis: Alles passt wunderbar zusammen. Lustig sind nicht etwaige Unstimmigkeiten, sondern die absolute Stimmigkeit. Warum? Weil alle, ob Bank oder Bier, Baumarkt oder Smartphone, dasselbe sagen und zeigen: »Sei du selbst, sei echt, tu, was du willst, tu es jetzt, mach es einfach.«
Aber das, was der Einzelne einzigartigerweise tun soll, ist seltsamerweise immer ziemlich genau dasselbe: skaten, mountainbiken und fallschirm springen; nackt in einen Waldsee tauchen, freihändig Fahrrad fahren, ein Baby knuddeln, eine atemberaubend schöne Frau küssen; Luftballons steigen lassen, ausgelassen tanzen, sich betrinken und wilden Sex haben. Dazu raunt der Sprecher: »Lass dich ab und zu mal fallen, das Leben ist kurz genug. Lass es raus, weil heute die Nacht der Nächte ist. Morgen kann warten. Weil es sich so gut anfühlt, dass die Welt stillsteht.« Oder: »Es gibt diesen einen Augenblick, wenn du feierst, wenn du durch die Nacht taumelst und irgendwann fliegst, wenn du ins Jetzt explodierst und es noch tagelang in dir dröhnt.« Oder: »Wenn etwas in dir sagt: Tu es – dann mach es, mach es, um es kennenzulernen, um zu wissen, ob es gut ist, wie es sich anfühlt.«
Was wurde mit diesen drei Zitaten wohl beworben: ein Mineralwasser, eine Versicherung und ein Supermarkt? Oder ein Bier, ein Modelabel und ein Handytarif? (Richtig: Es waren Warsteiner, Liebeskind Berlin und O²). Ist es nicht ein klein wenig irritierend, dass der Schokoladenspot von Lindt perfekt zur Barmer Ersatzkasse passt?
Auch das Personal ist glücklicherweise identisch: Zu 90 Prozent handelt es sich um junge, hippe, schicke Menschen, die in lässiger und unaufdringlicher Weise sexy wirken, dazu ein Quotenrentner, ein Quotenbaby und eine Quotenrollstuhlfahrerin (»Wir sind bunt!«). Es ist nicht ohne Komik, dass jeder einzelne dieser vollkommen austauschbaren Spots mit sechsstelligen Budgets beauftragt und bezahlt wurde.
»Wir können die Zukunft nicht dadurch sichern, dass wir unser Land als einen kollektiven Freizeitpark organisieren«2, mahnte Helmut Kohl 1993 in einer Regierungserklärung. Doch, genau das könnten wir, tönen unisono die Werbefilmchen – und erfinden dabei nichts, sondern reflektieren nur die sich krakenartig ausbreitende Glücksideologie, die sich in unzähligen Buchtiteln zuckrig niederschlägt: Die Glücksformel, Die Glücksformel für jeden Tag, Die Glücksformel für den Hund oder auch Mein Glücksrezept (von Konstanze Kuchenmeister). Amazon schlägt einem zum Thema Glück weit über 30 000 Bücher vor, welche die ARD glücklicherweise in der »Themenwoche Glück« zusammenfasst. Das können Sie so lange lesen, bis Sie vor der Endlife-Crisis stehen.
Schon die puritanische Ethik forderte Unerfüllbares – und profitierte von dem sich daraus ergebenden schlechten Gewissen. Diese Methode hat die Glücksindustrie aufgegriffen und perfektioniert. Es war schon nicht einfach, immerzu fromm, tugendhaft und enthaltsam zu sein. Vollends unmöglich ist es, immerzu »gut drauf« zu sein. Und so stehen wir da als andauernde Versager – und kaufen prompt den neuen Hirschhausen und andere Angebote der Wohlfühlindustrie.
Dabei weiß jeder, dass Glück ein kaum zu definierender, kaum festzuhaltender, äußerst seltener und zufälliger Zustand des menschlichen Geistes ist. Glück kommt unerwartet, es widerfährt uns, wenn wir nicht damit gerechnet haben – genau das macht uns dann so selig. Wir können »Glück« nicht beliebig produzieren und reproduzieren. Vielleicht sind wir beim ersten Kettenkarussellfahren überglücklich; beim achten Mal ist uns nur noch schlecht – oder langweilig.
Buddha hat schon früh diese eigentümliche Selbstaufzehrung des Glücks beschrieben und zur Grundlage seiner Philosophie gemacht. Vielleicht kennen Sie das Peter-Prinzip? Demnach wird jeder Mitarbeiter einer Organisation so lange befördert, bis er an eine Position gelangt, für die er nicht mehr geeignet ist – danach wird er nicht mehr befördert. Am Ende sind alle Positionen mit ungeeigneten Mitarbeitern besetzt. So ähnlich, sagt Buddha, geht es uns mit dem Glück: Wir jagen ihm so lange nach, bis jeder Reiz ausgekostet, jeder Wunsch erfüllt ist, wir jeder Lust überdrüssig geworden sind. Am Ende steht zwangsläufig Unglück. Oscar Wilde formulierte es so: »Auf dieser Welt gibt es nur zwei Tragödien: Wenn Wünsche enttäuscht und wenn sie erfüllt werden. Das zweite ist allerdings viel schlimmer, es ist wirklich tragisch.«3
Das stimmt – soweit es um das Glück der Werbespots geht: um intensive, sinnliche, rauschhafte Momente. Diese Momente sind ganz wunderbar (ein armer Wicht, wer nicht zu feiern versteht). Aber sie sind weder das Einzige noch das Höchste, was das Leben zu bieten hat. Denn was den Menschen auszeichnet, ist seine Fähigkeit, Zeit zu denken, die Zukunft zu entwerfen, Pläne zu machen und auszuführen – oder ökonomisch gesprochen: zu sparen und zu investieren. Die Midlife-Crisis ist der Moment im Leben, wo einem spätestens klarwird, dass der infantile Hedonismus des »Dauernd Jetzt« (Herbert Grönemeyer) einen nicht ins Dauerglück, sondern ins Dauerunglück stürzt. Hätte Grönemeyer sich im »Dauernd Jetzt« verkifft, würde er heute keine Stadien füllen.
Es gibt eine intensive Diskussion in der Moralphilosophie darüber, ob wir es uns eigentlich anmaßen dürfen, Tiere einzusperren, zu quälen und zu töten, wie es in der Agrarindustrie und den Tierversuchslaboren permanent geschieht. Robert Spaemann meint, wir seien berechtigt, Tiere zu töten, weil diese keinen Bezug zu ihrer eigenen Biographie hätten, weil sie nicht in der Lage seien, ihr Leben als Ganzes zu übersehen, zu planen und zu entwickeln.4 Denken wir nun an den Lebensratschlag von Veltins (»Mach das Leben zu ’ner fetten Party und lad dich selbst ein«), so erkennen wir, dass dieser uns genau das nimmt, was uns Spaemann zufolge erst zu Menschen macht. Eine Existenz, die sich darin erschöpft, Abend für Abend zu chillen, zu feiern und sich mit diversen chemischen Stoffen zuzudröhnen, ist von der Kuh auf der Weide substantiell nicht zu unterscheiden.
Geht es aber um die Verwirklichung von Plänen, die über das Besorgen einer Kiste Bier hinausgehen – zum Beispiel um Goethes Vorschlag, ein Kind zu zeugen, ein Buch zu schreiben, einen Baum zu pflanzen und ein Haus zu bauen –, ist es mit den fliegenden Luftballons und den guten Gefühlen schon wieder vorbei. Was man dafür braucht, sind ganz andere Dinge: Geduld, Ausdauer, Hartnäckigkeit, Zähigkeit, Fleiß, Selbstdisziplin, Pünktlichkeit und vor allem: Frustrationstoleranz. (Hatten Sie schon einmal mit Handwerkern auf einer Baustelle zu tun? Mit Unkraut? Oder Kita-Erziehern?) Nach diesen Eigenschaften werden Sie aber vergeblich in einem Glücksratgeber suchen.
Die Naivität der meisten Glücksforscher ist kaum zu überbieten. Sie befragen Menschen, bei welchen Tätigkeiten im Laufe eines Tages sie sich wie glücklich gefühlt haben. Das führt zu atemberaubenden Erkenntnissen, etwa jenen, dass Schokolade, Joggen und guter Sex Glücksgefühle auslösen.
Und nun kommen wir zur Midlife-Crisis zurück. Wenn Sie als Mittvierziger in einer unglücklichen Ehe festhängen oder unter einem herrschsüchtigen Chef und missgünstigen Kollegen leiden, dann wird auch Joggen Sie nicht glücklich machen. Nein, Sie werden ständig innere Plädoyers gegen Ihre Quälgeister formulieren, Sie werden aus Frust so viel Schokolade in sich hineinstopfen, dass Sie Pickel bekommen, und am allerwenigsten werden Sie irgendwelche Lust auf Sex verspüren. Das Allerschlimmste: Es gibt zwar einen Weg, Ihre Lage substantiell zu verbessern – aber der führt über Aufstand oder Trennung. Entweder Sie stellen Forderungen, oder Sie verabschieden sich (oder Sie verabschieden sich, nachdem Ihre Forderungen abgelehnt wurden).
Aber glaubt irgendjemand, das sei einfach? Sich von der Frau zu trennen, mit der man über Jahre zusammengelebt hat, vielleicht Kinder aufgezogen hat oder noch aufzieht? Ein Unternehmen zu verlassen, in dem man sein gesamtes Berufsleben verbracht hat und dem man so vieles verdankt? Oder das Projekt, das man mit guten Freunden über Jahre entbehrungsreich aufgebaut hat? Oder gar seine Stadt, sein Land, alles Vertraute hinter sich zu lassen? Was Sie erwartet, wenn Sie das planen, sind Schwindel, Angst und Beklemmung; und Sie müssen damit rechnen, bei den Verlassenen Unverständnis oder gar blanken Hass auszulösen. Dies auszuhalten gehört zu den härtesten Dingen, die das Leben einem abverlangt. Und stets müssen wir dann mit dem Vorwurf des »Egoismus« rechnen, der uns merkwürdigerweise immer in Verlegenheit bringt, obwohl der andere mit diesem Vorwurf ja auch nur seine eigenen Interessen durchsetzen will.
Von der unausweichlichen Härte dieser Auseinandersetzungen und ihrer eigentümlichen Dynamik werden Sie in »Einfach glücklich!«-Büchern nichts erfahren. Es gibt eigentlich nur eine Gruppe von Lesern, für die sie sich eignen: nämlich die, die bereits glücklich sind. Jene Glücklichen, die in vollem Bewusstsein ihrer selbst unbeirrt und hoffnungsvoll ihren Weg gegangen sind und gehen, um das zu verwirklichen, was in ihnen steckt. Für die ist tatsächlich die Frage interessant, was mehr Dopamin im Hirn freisetzt: Schwimmen, Skifahren oder Minigolf. Wir haben einstweilen existentiellere Fragen zu klären.
Die Lüge ist der Bankräuber, der mit 100 000 Euro in kleinen Scheinen entkommt. Die Schönfärberei ist der Anlagebetrüger, der in aller Ruhe 100 Millionen bei seinen Opfern einsammelt.
Zwei Figuren tummeln sich in unserem Ich: der Wahrheitssucher und der Schönredner. Unser ganzes Leben besteht aus dem Kampf, den die beiden miteinander ausfechten. Sie kämpfen um unsere Seele, unseren Verstand, unsere Entscheidungen. Der Ausgang dieses Kampfes bestimmt, was am Ende unser Leben gewesen sein wird.
Schon früh treffen die beiden aufeinander. Der Wahrheitssucher erkennt irgendwann, dass Sie sterben müssen. Der Schönredner sagt: »Ist ja noch lange hin!« Der Wahrheitssucher erkennt, dass Ihr Knie ganz schön weh tut, nachdem ein anderes Kind Sie beim Fußballspielen auf den Asphalt geschubst hat. Der Schönredner sagt: »Mit der Narbe kann ich morgen in der Schule toll angeben!« Der Wahrheitssucher erkennt, dass die eigenen Leistungen in Mathe ungenügend sind. Der Schönredner sagt: »Mathe? Total unwichtig!«
Auf meiner letzten Fahrradtour in Österreich kaufte ich auf einem Marktstand vier kleine Schälchen mit Antipasti. Dass bei den einlegten Auberginen, Pilzen, Oliven und Artischocken kein Preisschild stand, fiel mir erst im Nachhinein auf. Der Verkäufer füllte und verpackte die vier kleinen Plastikschälchen und nannte dann den Preis: 24,50 Euro. Huch, das ist aber sehr viel!, durchzuckte es mich schockartig. Das wäre der Moment gewesen, innezuhalten und den Händler zu fragen, ob er sich vielleicht verrechnet habe, was davon denn besonders teuer sei, um dann auf das teuerste Schälchen zu verzichten. Ich hätte ihn auch einfach um einen Rabatt bitten können (»20 Euro?«). Oder »Was sind denn das für Mondpreise?« rufen und weitergehen. Ich dagegen wählte eine andere Lösung: Ich zahlte, ohne nachzufragen, die volle Summe. Zuverlässig beruhigte mich der innere Schönredner schon in der nächsten Sekunde: »Bestimmt sind es besonders leckere Antipasti, vielleicht die besten aus ganz Österreich. Dafür ist es noch billig!« – »Ich bin doch kein Geizkragen!« – »Der Händler sah aus wie ein armer Migrant. Seine Kinder werden sich freuen.« – »Es war ja auch schon zu spät zum Zurückgeben.« – »Hätte ich eben früher nachfragen müssen. Selber schuld!« Dazu passte, dass die Antipasti fade und ölig schmeckten und mir von den Artischocken später übel wurde.
Der innere Schönredner ist immer dann zur Stelle, wenn es um vermeidbare Fehler, verpasste Gelegenheiten und nicht ergriffene Chancen geht; wenn es gilt, die eigene Trägheit, Feigheit und Bequemlichkeit als Tugend, wohlüberlegte Entscheidung, unabwendbares Schicksal oder alternativlosen Weg darzustellen. Er sorgt dafür, dass wir uns besser fühlen – um den Preis, dass es uns dadurch niemals bessergeht. Das erkennt nämlich der Wahrheitssucher in uns, und das ist seine Stärke.
Bei manchen Menschen ist der Wahrheitssucher von Anfang an der stärkere Part. Sie scheuen sich nicht, sich mit der ganzen Welt anzulegen, sie können gar nicht anders. Ihr innerer Schönredner ist zu schwach – oder sie sind zu klug, um auf seine Argumente hereinzufallen. Leute wie Galileo, Voltaire, Einstein oder Gandhi.
Aber davon gab und gibt es nur sehr wenige. Bei den meisten von uns siegt der Schönredner, zumindest in den ersten 30, 40 Jahren. Dann erst wird der Wahrheitssucher stärker, und es kommt zum Showdown. Diesen Showdown nennen wir Midlife-Crisis. Entweder der Wahrheitssucher siegt, oder wir lullen uns bis zum Tod mit beruhigenden Phrasen ein: »Alles halb so schlimm.« – »Et kütt, wie et kütt, et het noch immer jot jejange.« – »Was man hat, das hat man.« – »Übermut tut selten gut.« – »Eigentlich geht es mir doch bombig.« Und wenn man sich dann noch eine arte-Doku über peruanische Minenzwerge ansieht, spürt man endgültig, dass man doch ein großartiges Leben führt – jedenfalls im Vergleich zu den Minenzwergen.
Seltsamerweise hat der Schönredner bei uns nicht das schlechte Image, das ihm zusteht. Denken Sie an den berühmtesten Schönredner überhaupt: Hans im Glück. Hans bekommt als Lohn für sieben (!) Jahre harte Arbeit ein Stück Gold, das er gegen eine Kuh eintauscht. Dann tauscht er die Kuh gegen ein Schwein, das Schwein gegen eine Gans und die Gans gegen einen Schleifstein. Den wirft er am Ende aus Versehen in einen Brunnen und ruft aus: »So glücklich wie ich gibt es keinen Menschen unter der Sonne!«5
Wir können von Hans einiges über den inneren Schönredner lernen, unseren lebenslangen Quälgeist und Begleiter. Er ist nicht »böse«. Nein, er ist bloß ängstlich und faul. Er will sich nicht anstrengen, sich mit niemandem anlegen, nicht verzweifeln, rebellieren und aufbrechen. Und daher wird er Ihnen raten, in Ihrer Heimatstadt zu bleiben, das erstbeste Fach zu studieren, den erstbesten Job anzunehmen und mit der erstbesten Freundin eine Familie zu gründen.
Als ich mit 30 Jahren auf ein Klassentreffen meiner fünften Klasse fuhr, musste ich feststellen, dass von 30 ehemaligen Mitschülern 26 in Elmshorn geblieben waren. In Elmshorn. Sind Sie mal da gewesen? Es ist wirklich der reizloseste Ort der Welt: keine Geschichte, keine Kultur, kein historischer Stadtkern, keine Szene, nichts. Nur eine Fußgängerzone mit Markenartiklern und ein Stadttheater, in dem ab und zu Comedians aus Hamburg auftreten. Ansonsten: 60er-Jahre-Einfamilienhäuser, die ebenso einförmig und trostlos wirken wie die in derselben Zeit entstandenen Sozialwohnungsblocks. Da erst begriff ich das »Gesetz der Trägheit«. Es entfaltet seine Wirkung aber nur durch die Macht des inneren Schönredners, der in diesem Fall suggeriert: »Ist doch gar nicht weit von Hamburg weg – und so übersichtlich! Man wird nicht so leicht abgelenkt. Man hat alles, was man braucht: einen Bahnhof, eine Eisdiele, Köllnflocken und Teppich Kibek. Und Barmstedt ist auch um die Ecke.«
Der Schönredner ist versiert wie Sigmar Gabriel. Er färbt alles schön – nicht zuletzt sich selbst. Natürlich ist er kein Weichzeichner, sondern optimistisch, geduldig, gelassen, vernünftig, realistisch und geübt im positiven Denken. Und den Wahrheitssucher stempelt er natürlich zum Gegenteil: Der gilt als pessimistisch, menschenfeindlich, verbittert, zynisch, übelgelaunt, als Schlechtmacher und Meckerdeutscher, der sich und andere runterzieht und einem das Leben schwermacht.
Der innere Schönredner ist ein zäher, unterschätzter Gegner. Er schließt Bündnisse mit anderen Schönrednern, schreibt Bücher (Einfach glücklich!)6, gründet Zeitschriften (Landlust) und entwirft Philosophien (Stoizismus). Wie erfolgreich er ist, können Sie daran erkennen, wie die meisten Menschen über Krisen denken. Natürlich hasst der innere Schönredner Krisen, weil sie meistens in Rebellionen münden, und die sind nun mal anstrengend, risikoreich und oft vergeblich. Der Schönredner aber möchte sein Leben am liebsten auf dem Energielevel einer Nacktschnecke verbringen. Und tatsächlich hat er es hinbekommen, dass Krisen einen miserablen Ruf haben. Wir wollen sie »vermeiden« und ihnen »vorbeugen« (»Krisenprävention«) oder sie ganz schnell »in den Griff bekommen«, »bewältigen« und »hinter uns lassen«.
Sie sehen: Der innere Schönredner ist ein gewandter, geschmeidiger, gut vernetzter und fast übermächtiger Gegner. Was Sie daher brauchen, sind ebenso starke Verbündete. Zum Glück gibt es davon gleich drei: der Blick auf die Uhr, der Blick in den Spiegel und der Vergleich mit Ihren Altersgenossen.
Ungefähr 20 Jahre lang bilden wir uns ein, uns genau in der Mitte unseres Lebens zu befinden.
Unser erster Trumpf gegen den inneren Schönredner sind runde Geburtstage. Weder er noch Sie können verhindern, dass Sie irgendwann 40 werden. Alle erwarten, dass Sie das groß feiern, sich darauf freuen und vor Glück außer sich sind. Aber der letzte Geburtstag, auf den Sie sich gefreut haben, war der achtzehnte – wenn Sie da nicht gerade unglücklich in Kerstin verliebt waren, die inzwischen an einem Bahnschalter in Neumünster arbeitet. Beim fünfundzwanzigsten kamen Sie bereits in die Quarter Life Crisis (War es wirklich eine gute Idee, Ägyptologie zu studieren?). Und seit dem dreißigsten nimmt die Übelkeit mit jedem Jahr zu. Anfang der 30er beruhigt der innere Schönredner noch: »Anfang 30? Du siehst aus wie 28. Ach was, wie 24. Nur viel markanter!« MitMitte 30 kann es schon kritisch werden. Um nicht zu viel darüber nachzudenken, feiern Sie erstmals gar nicht oder allein mit Ihrer Lebensgefährtin in Dänemark, was auch keine gute Idee ist (»Findest du nicht, dass wir langsam mal über Kinder reden sollten?«). Wenn Sie am Feiern festhalten, blicken Sie sich auf Ihrer eigenen Party um und fragen sich, warum Ihnen beim Betrachten Ihrer Freunde das Wort Berufsjugendliche einfällt. Und als Nächstes das Wort unwürdig. Vielleicht feiern Sie Ihren achtunddreißigsten Geburtstag ganz bewusst im übelsten Spelunkenkeller auf St. Pauli, die Wände schwarz, es riecht nach kaltem Rauch, es gibt weder Sitzgelegenheiten noch Platz für Blumen und Geschenke, dafür einen DJ, der die Musik so laut dreht, dass die Sprechenden sich intuitiv ins Ohr brüllen, ohne einander zu verstehen (tanzen tut trotzdem keiner). Oder Sie haben bereits festgestellt, dass Sie nicht mehr genügend Gäste für eine Party zusammenbekommen, weil Ihre Freunde weggezogen sind oder Kinder gekriegt haben (»Sorry, unser Babysitter ist krank. Viel Spaß!«). Stattdessen kochen Sie ein aufwendiges Menü für einen ausgewählten, kleinen Kreis – und kommen sich dabei 20 Jahre älter vor, als Sie sind. Die Schwierigkeiten deuten sich also schon an, können aber noch irgendwie wegretuschiert werden (»War bestimmt nur Pech. Nächstes Mal steigt wieder ’ne riesige wilde Tanz-, Sauf- und Knutschparty, so wie früher!«).
Aber dann kommt der vierzigste Geburtstag. Und alles wird anders.
Warum? Weil wir uns hohe Zahlen nicht vorstellen können. Alles, was Babys wie Erwachsene intuitiv voneinander unterscheiden können, sind die Zahlen eins bis sieben. Danach schaltet unser Gehirn um auf viele. Deshalb gibt es keinen gefühlten Unterschied, ob wir 37 oder 38 sind. Am Vierzigsten aber werden wir ein Jahrzehnt älter. Und wir wissen: Wir haben nur sieben Jahrzehnte. Und dann vielleicht noch sieben Jahre. Genau so hoch ist übrigens die Lebenserwartung des deutschen Mannes: 77. (Frauen werden im Schnitt fünf Jahre älter: 82.)
Das sind Zahlen, die der innere Schönredner nicht wegdiskutieren kann: Von sieben Jahrzehnten sind vier abgelaufen. Bleiben drei. Weniger als die Hälfte. Panikartig trifft uns die erste Krisenerkenntnis: Mein Leben ist endlich. Meine Zeit läuft ab. Und der größere Teil ist schon vorbei.
»Unsinn«, wird der innere Schönredner sagen. »Ungefähr die Hälfte deines Lebens hast du noch vor dir! Wenn du 98 wirst, sogar weit mehr als die Hälfte, fast zwei Drittel. Und der heutige Silver Surfer ist mental wie körperlich topfit!« Damit will er zur Tagesordnung übergehen, denn wie wir bereits wissen, hasst er Veränderungen.
Jetzt müssen Sie dranbleiben. 77 ist die durchschnittliche Lebenserwartung. An Ihrem vierzigsten Geburtstag ist damit 52 Prozent Ihrer Lebenszeit verbraucht. Es ist aber auch gut möglich, dass Sie mit 56 einen Herzinfarkt erleiden, dann blieben Ihnen gerade noch 16 Jahre – und 71 Prozent Ihrer Zeit wären um.
»16 Jahre«, wird der Schönredner sagen, »eine halbe Ewigkeit … 5840 Tage!« Und da verbündet er sich wieder mit unserer Unfähigkeit, uns große Zahlen vorzustellen. Für unser Vorstellungsvermögen sind 5840 Tage genauso viele wie die 28 106 Tage, die wir ursprünglich mal hatten. Eben ganz viele Tage. Ein Meer von Zeit. Da muss man keine knallharten Entscheidungen treffen, die andere verstören, verängstigen oder sogar verärgern. Lieber noch ein bisschen Böhmermann auf YouTube gucken, bei den neuesten Facebook-Posts Gefällt mir klicken (in der vagen Hoffnung auf Gegenklicks) und auf Twitter schauen, wo sich George Clooney gerade rumtreibt und gegen wen sich der neueste Shitstorm richtet (»Helene Fischer als Zombie-Barbie zu bezeichnen ist sexistisch und menschenverachtend!«).
Jetzt nicht einlullen lassen. Antworten Sie dem Schönredner mit der Brutto-netto-Rechnung. Entgegnen Sie: »Selbst, wenn ich 77 werde und brutto noch 37 Jahre habe, wie viel davon steht mir überhaupt zur freien Verfügung? Zwölf Jahre werde ich verschlafen, sechs Jahre fernsehen, fünf Jahre arbeiten und zwei Jahre lang Steuererklärungen ausfüllen, Wäsche waschen, Hemden bügeln, Familienfeiern besuchen und Beziehungsgespräche führen. Bleiben zwölf Jahre. Davon gehen sieben Jahre drauf für Großeinkäufe, Reparaturen, kochen, essen und abwaschen, Unkraut jäten, Auto fahren und Parkplatzsuche. Und vier Jahre für chatten, simsen, telefonieren, surfen und computerspielen. Nicht zu vergessen elf Monate für rasieren, duschen, baden, anziehen und den Friseur.« Erkennen Sie langsam das Problem? Wir haben noch keinen einzigen Tag für Krankheiten und Arztbesuche eingeplant – und Ihnen bleibt für alle schönen Dinge des Lebens noch genau ein Monat. 30, 31 Tage für Reisen, lesen, Musik hören, Klavier spielen, Fußball spielen, alte Freunde treffen, Flirten, Küssen und wilden Sex. Mit Pech ist es ein Februar, dann sind es nur 28 Tage.
»28 Tage – wow!«, ruft der Schönredner. »Das sind ja 672 Stunden. Ganz, ganz viele!« Außerdem wird er einwenden, die ganze Rechnerei sei absolut polemisch und überzogen. In Wirklichkeit komme man problemlos mit elf Jahren Schlaf und vier Jahren Einkaufen, Kochen und Essen aus. Dann blieben einem netto 758 Tage. Fast tausend!
»Gut«, antworten Sie, »mal was anderes: Man braucht fünf Jahre, um irgendetwas Neues vernünftig zu lernen – sei es eine Sprache, ein Instrument oder eine Sportart. Und jenseits der 65 lässt das Gehirn leicht nach. Wie viele neue Dinge werde ich realistischerweise in meinem Leben noch lernen können? Vier oder fünf.« Das sind Zahlen, denen man nicht entkommt. Bei maximaler Selbstdisziplin können Sie noch Gitarre, Tennis, Spanisch und Kochen lernen. Das war’s. Für Geige, Schach oder Italienisch wird die Zeit schon nicht mehr reichen. Für Japanisch erst recht nicht.
»Spanisch wäre wirklich ganz interessant«, wird der Schönredner erwidern. »Aber muss das wirklich sein? Ist so anstrengend. Das kann man doch auch später noch mal machen. Irgendwann. In fünf Jahren vielleicht. Oder nach der Rente.«
Und dies – genau dies – ist der allerwichtigste Punkt. »Später irgendwann vielleicht« ist die schwerwiegendste Lebenslüge überhaupt. Damit haben Sie sich jetzt über die Hälfte Ihres Lebens davor gedrückt, überfällige Entscheidungen zu treffen. Die Illusion, unendlich viel Zeit zu haben und deshalb die Mühen des Wählens umgehen zu können, hat Ihnen der Schönredner seit 30 Jahren eingetrichtert. Es ist nicht einfach, davon wegzukommen. Vermutlich werden alle Zahlen und Rechnungen Ihnen dabei nicht wirklich helfen. Erstens sind sie zu abstrakt, zweitens eignen sie sich leider immer zum Relativieren. »Ein neues Leben anfangen«, wird der Schönredner sagen, »sehr gut, warum nicht? Und 40 ist ein super Zeitpunkt dafür! Obwohl – ist 41 nicht genauso gut? Oder 42?«
Nein, Zahlen schrecken uns nicht sonderlich. Immerhin können wir ein paar Tricks anwenden, um aus unserer Zeit-Bewusstlosigkeit herauszukommen.
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