Die Ehe der Senta R. - Marie Louise Fischer - E-Book
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Die Ehe der Senta R. E-Book

Marie Louise Fischer

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Beschreibung

Berlin 1930. Senta Rosenblum steht im Mittelpunkt des Berliner gesellschaftlichen Lebens. Sie ist glücklich verheiratet und liebt ihre beiden kleinen Söhne. Auf das Familienglück fallen jedoch bald die ersten bedrohlichen Schatten einer düsteren Zukunft: Senta findet heraus, dass ihr Mann sie betrügt, ihr Bruder Karl-Friedrich ist ein überzeugter Nationalsozialist. Auch die politischen Verhältnisse werden für die Rosenbaums immer gefährlicher. Ist die Flucht nach Amerika der einzige Ausweg für die Familie? Der dritte Roman der vierbändigen »Senta«-Reihe.

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Marie Louise Fischer

Die Ehe der Senta R.

Roman

Die schrägen Strahlen der Sonne brachen sich in den hohen, vom Staub der Großstadt verschleierten Fensterscheiben. Im Hörsaal II der Charité herrschte atemlose Stille, während Professor Bier seine Vorlesung hielt.

Seine ruhige Stimme drang bis in den letzten Winkel des Raumes: »… und deshalb, meine Damen und Herren, lehrte Herakleitos, dass die Gegensätze in der Welt notwendig sind, weil nur durch sie die Harmonie des Seienden erreicht wird. Der Kampf ist es daher, der die Welt beherrscht. Nichts Bleibendes gibt es, nur die Veränderung ist ewig, panta rhei.«

Mit einer eleganten Bewegung seiner weißen Hände schlug Bier die letzte Seite seines Manuskriptes um. »Bis morgen, meine Damen und Herren.«

Während er das Manuskript zusammenfaltete und in die Innentasche seines Jacketts steckte, brandete Beifall auf. Die Studenten trommelten auf die Pulte.

»Jetzt würde es mich aber mal wahrhaftig interessieren, was das mit Medizin zu tun haben soll!«, rief Karl-Friedrich Weigand halblaut, wobei er sich darauf verließ, dass seine Stimme in dem allgemeinen Getöse unterging.

Aber jemand hatte ihn doch verstanden.

Die Studentin Margit Körner, die schräg vor ihm saß, drehte den Kopf mit dem glatten, jungenhaft kurz geschnittenen blonden Haar zu ihm um. »Wenn du uns öfters die Ehre gäbst, Karlchen«, sagte sie, »wüsstest du, worauf Bier hinauswill.«

Karl-Friedrich Weigand ließ seine Notizen in der Kollegtasche verschwinden. »Weißt du es denn?«

Margit Körner erhob sich und schob sich hinter ihrem Banknachbarn auf den schmalen, aufwärts führenden Gang hinaus. »Und ob«, erklärte sie, »er verlangt, die Krankheitssymptome nicht nur naturwissenschaftlich zu betrachten, sondern aus ärztlicher Sicht. Kapiert?«

Er nahm seinen Trenchcoat über den Arm und drängte sich durch, bis er sie erreichte. »Wenn du’s mir erklärst!« Er fasste sie unter den Ellenbogen. »Du, Margit, hast du heute Abend Zeit?«

Sie wandte sich ihm zu. Ihre hellen blauen Augen mit den dichten kurzen Wimpern leuchteten auf. Eine leichte Röte flog ihr über die Haut, so dass die winzigen Sommersprossen, die ihre Nase sprenkelten, für Sekunden fast unsichtbar wurden. Aber ihre Stimme klang nüchtern, als sie fragte: »Wozu?«

»Na, du weißt schon …« Das Lächeln, mit dem er auf sie herabblickte, hatte Charme.

»Ich könnte dir Nachhilfeunterricht geben?«

»Margit … du bist ein Schatz!«

Mit einem Ruck entzog sie ihren Arm seinem Griff. »Denkste!«

»Du willst nicht?«, fragte er verblüfft.

»Nö, Junge, unter diesen Umständen nicht.« Sie schritt, langbeinig auf flachen Absätzen, so heftig aus, dass er Mühe hatte, an ihrer Seite zu bleiben. »Zähl mal nach, wie oft ich schon mit dir gebüffelt habe! Und jedes Mal hast du mir geschworen, nun auch mal selber was zu tun! Stattdessen lümmelst du die ganze Zeit bei deiner verdammten SA …«

»Stopp!« Er packte sie im Nacken und schüttelte sie leicht. »Halt die Klappe! Willst du, dass ich geschasst werde? Noch sind wir nicht salonfähig!«

»Ihr werdet es auch nie werden, wenn du mich fragst!« Sie riss sich los.

Der Strom der Studenten entzog sie seinen Blicken. Er entdeckte sie erst wieder, als sie die herbstlichen Grünanlagen der Charité durchschritt. Im Laufen schlüpfte er in seinen Trenchcoat und zog sich den Riemen eng um die Taille. Er holte sie ein, als sie gerade das Tor in der roten Backsteinmauer erreicht hatte.

»Margit!«, rief er. »Warum bist du nur so verbohrt?«

An ihrer Reaktion merkte er, dass sie durchaus nicht überrascht war, ihn wieder an ihrer Seite zu haben. »Das wirfst du mir vor?«, erwiderte sie. »Wenn einer von uns beiden verbohrt ist, dann bist du’s.«

»In einer Zeit wie der unseren«, sagte er, »muss jeder Mensch politisch denken. Auch du.«

Sie sah ihm gerade in die Augen. »Wer sagt dir denn, dass ich das nicht tue? Ich weiß, dass es in Deutschland drunter und drüber geht. Aber das kommt ja nicht von ungefähr. Wir haben einen Krieg verloren, in New York gab es einen Bankkrach, eine ungeheure Wirtschaftskrise erschüttert die Welt …«

»… und die Arbeitslosen stehen zu Millionen Schlange um ihr bisschen Stempelgeld, von dem sie nicht leben und nicht sterben können! Das alles weißt du also, und es drängt dich trotzdem nicht, irgendetwas zu unternehmen?!«

»Um das Chaos noch zu vergrößern?!«

»Quatsch, Chaos«, sagte er grob, »du und deinesgleichen, ihr gehört einfach nicht in unsere Zeit! Ihr haltet euch immer noch an den verblödeten Grundsatz: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht! Aber schließlich leben wir nicht mehr im neunzehnten Jahrhundert, sondern im Jahr neunzehnhundertdreißig. Wir müssen handeln, etwas unternehmen, das Rad des Schicksals herumwerfen. Wenn wir es nicht selber tun, dann hilft uns niemand.«

Plötzlich entspannten sich ihre Züge. »Ich verstehe dich ja, Karl«, sagte sie mit weicherer Stimme.

»Ah, wirklich? Auf einmal?«

»Schon immer!«, behauptete sie. »Meinst du nicht, ich hätte nicht auch oft den Wunsch dreinzuschlagen, wenn ich sehe, wie unwürdig unsere Politiker sich benehmen? Wie sie schachern und intrigieren, anstatt alle ihre Kräfte daran zu setzen, Deutschland aus dem Dreck zu ziehen?«

Er lachte und war plötzlich nicht mehr der finstere Funktionär, sondern ein vergnügter junger Mann. »Na so was! Margit, Mädchen, wer hätte das von dir gedacht?« Er zog ihre Hand durch die Beuge seines Arms und ging Seite an Seite mit ihr weiter.

»Jeder, der mich ein bisschen kennt! Aber du machst dir ja nie Gedanken über deine Mitmenschen. Du bist nur besessen von deinen eigenen Ideen … Ach was, wenn es doch nur deine Ideen wären! Es sind die verquollenen Gedanken deines Herrn Hitler!«

Sein Gesicht verdunkelte sich. »Was verstehst du schon davon?«

»’ne Menge. Ich habe nämlich ›Mein Kampf‹ gelesen. Übrigens eine Lektüre, die ich dir dringend empfehlen möchte.«

»Ich weiß schon, worauf du hinauswillst«, sagte er unbehaglich, »aber man darf das nicht alles so wörtlich nehmen.«

»So? Darf man nicht? Warum hat er es dann geschrieben? Um sich während der Festungshaft die Zeit zu vertreiben?«

»Er war ja damals noch viel jünger, Margit, er hatte weniger Erfahrung.«

»Kann sein. Aber er lehnt da die Demokratie ab und verherrlicht die Diktatur. Denkt er heute anders darüber?«

»Natürlich nicht, Margit, und das ist gut so. Eine Diktatur ist genau das, was wir brauchen. Einen starken Mann, der Ordnung schafft und den Reichstag, diese Quatschbude, endlich schließt.«

Sie blieb einen Augenblick ganz still. Dann erklärte sie mit kalter, fast gleichgültiger Stimme: »Wenn du so denkst, Karl, haben wir uns nichts mehr zu sagen.«

Sie riss sich so brüsk von ihm los, dass er ins Taumeln geriet, lief los und erreichte eben noch eine abfahrende Straßenbahn. Und schwang sich auf den Perron.

Unwillkürlich lief er ihr ein paar Schritte nach. »Margit! Margit!«

Aber sie drehte sich nicht einmal mehr um.

Karl-Friedrich Weigand überkam ein körperliches Verlangen nach Bewegung. Er hätte etwas darum gegeben, in einem Sportwagen über die Avus zu flitzen. Aber er hatte kein Auto. Er war ein armer Schlucker. Seit ihn der Vater vor die Tür gesetzt hatte, ging es ihm schlecht.

Noch lag der Tennisplatz im Garten der Rosenbaumschen Villa am Schlosspark Bellevue in der Sonne. Sie ließ den glattgewalzten roten Aschenboden aufleuchten und warf flirrende Reflexe in das Haar der beiden jungen Frauen, die sich die Bälle zuspielten.

»Fünfzehn beide«, rief Senta Rosenbaum, »mein Aufschlag!« Sie hob sich auf die Zehen. Ihr schlanker, wohlgeformter Körper straffte sich bis in den letzten Muskel. Kräftig und gut gezielt schmetterte sie den Ball von oben ins gegnerische Feld.

Ivy Stein, eine junge Cousine Siegfried Rosenbaums, erwischte ihn und hob ihn gerade noch über das Netz. Sie war ein graziles Persönchen, goldblond, sehr wendig und schnell, aber ihre Bälle kamen weich, es fehlte ihr an Kraft.

Es wäre Senta leichtgefallen, sie überlegen zu schlagen. Aber sie verzichtete darauf. Sie liebte das Spiel um des Spieles willen. Und sie mochte die junge Verwandte ihres Mannes, die von Frankfurt nach Berlin gekommen war, um am Max-Reinhardt-Seminar Schauspielunterricht zu nehmen.

Senta Rosenbaum bewunderte Ivy Steins filigranzarte Schönheit, ihren raschen Witz und ihre angeborene Eleganz. Gleichzeitig aber fühlte sie sich der um zehn Jahre Jüngeren an Erfahrung und Kraft weit überlegen, ja, sie glaubte sogar, für sie wie für eine kleine Schwester verantwortlich zu sein.

Senta war glücklich, ohne sich dessen bewusst zu sein. Der goldene Herbsttag, Ivys anmutige Gegenwart, das elastische Springen der Bälle, die hellen Stimmen ihrer beiden Söhne aus der Tiefe des Gartens, wo sie mit Dr. Hagen, ihrem Erzieher, Indianer spielten, die Freude auf die Heimkehr ihres Mannes, die Erwartung der nahen Teestunde – dies alles erfüllte ihr Herz mit Glück. Sie war nicht blind für das Elend und die Wirren der Zeit, aber sie erlebte die trügerische Sicherheit ihrer Existenz mit besonderer Intensität, gerade weil sie wusste, dass ihr Heim sie wie eine Arche Noah über die schmutzigen Fluten der Weltwirtschaftskrise und das Unwetter des politischen Wirrwarrs trug.

Ihr Glück war nicht frei von Egoismus, und doch war es berauschend und rieselte wie ein körperliches Wohlgefühl über die nackte Haut.

Aus einem Impuls von Lebenslust schlug sie härter zu, als sie wollte. Zweimal konnte Ivy den Ball nicht halten und ließ ihn ins Gebüsch sausen.

»Moment!«, rief sie und machte sich auf die Suche.

Senta stand ganz still und wartete, den Schläger in der baumelnden Hand. Plötzlich fröstelte sie. Die Schatten waren groß und dunkel geworden und drangen quer über das Spielfeld vor.

Aber das war es nicht allein. Es war mehr. Es war die Ahnung kommenden Unheils, die Senta in diesem Augenblick überfiel. Unwillkürlich suchte sie einen Anlass für dieses innere Schaudern und drehte sich um.

Karl-Friedrich Weigand stand an der Brüstung der Terrasse und blickte auf den Tennisplatz herab.

»Karl!«, rief sie. »Seit wann bist du hier? Wer hat dich hereingelassen? Warum hast du dich nicht bemerkbar gemacht?«

Er antwortete auf keine ihrer Fragen, blickte sie nur mit ausdruckslosem Gesicht an. »Tag, Senta.«

Sie schlenderte zur Bank, legte ihren Schläger ab und zog sich eine maisgelbe Strickjacke über ihren weißen Tennisdress. »Schön, dass du dich mal wieder blicken lässt«, sagte sie.

»Findest du?«, fragte er mit mühsamer Ironie.

»Natürlich.« Sie stieg die wenigen Stufen zu ihm hinauf. »Du weißt, dass unser Haus dir offen steht.«

»Und du weißt, dass ich nicht die Absicht habe, davon Gebrauch zu machen.« Er sah sie aus Augen an, die auf eine fast unwirkliche Art denen seiner Mutter glichen, braunen klaren Augen, in denen goldene Pünktchen tanzten, wenn er fröhlich war. Sie konnten aber auch düster und geradezu ausdruckslos wirken. Wie jetzt.

Und doch war es Stefanie Weigands Gesicht, an das Senta sich in diesem Augenblick erinnerte, ihre kurze gerade Nase, ihr voller, fester Mund, das weiche, leicht gelockte Haar. Sie wusste, dass sie niemals, was auch geschehen sollte, aufhören würde, sich für diesen Jungen verantwortlich zu fühlen, den ihr vor vielen Jahren die sterbende Mutter anvertraut hatte.

Sie schluckte seine Kränkung: »Ich nehme doch nicht an, dass du gekommen bist, um dich wieder einmal mit mir zu streiten.« Sie lachte und nahm ein Handtuch von der Brüstung der Terrasse und trocknete sich Stirn und Nacken.

»Nein. Mir ist nur plötzlich eingefallen, dass ich eine Einladung vor dir erhalten habe. Für heute Abend. Und dass ich völlig vergessen habe, dir abzusagen.«

»Ach, deswegen! Um die Wahrheit zu sagen: Ich hatte sowieso nicht mit dir gerechnet.«

Ivy kam aus dem Gebüsch hervor, rief: »Senta, wo …«, entdeckte die Cousine mit einem ihr unbekannten jungen Mann auf der Terrasse, biss sich auf die Lippen und schwieg.

»Warum hast du mich dann eingeladen?«, fragte er.

»Nur so.« Senta zuckte die kräftigen, wohlgeformten Schultern. »Aus Familiengefühlen wahrscheinlich. Vater und Nils werden auf alle Fälle kommen. Vielleicht bringen sie sogar Tante Tina mit.«

»Ein Grund mehr, nicht zu erscheinen.«

»Bist du immer noch mit Vater verkracht?«

»So kann man es nennen.« Er schwang sich auf die Brüstung.

»Und wovon lebst du jetzt? Bitte, versteh mich nicht falsch, ich will dich nicht verhören, es interessiert mich nur …«

»Schon gut«, er machte eine lässige Handbewegung, »ich habe alles, was ich brauche.«

Sie sah sein spitzes Gesicht, den schäbigen, eng geschnürten Trenchcoat und sagte ungläubig: »Wirklich?«

»Du kannst es mir glauben.«

»Also hauptamtlich bei … bei denen?«

»Ja, bei denen!«

»Und was ist mit deinem Studium? Hast du es völlig an den Nagel gehängt?«

»Nein. Aber was hat es denn für einen Zweck, Examen zu machen, wenn man danach doch auf der Straße liegt?«

»Komm mit ins Haus«, sagte Senta nachdenklich, »ich habe etwas für dich.« Sie legte ihre Hand auf seinen Unterarm.

Aber er rührte sich nicht von der Stelle. »Möchtest du mich nicht zuerst deiner Freundin vorstellen?«

Senta zögerte, denn gerade das hatte sie nicht vorgehabt. Erst jetzt merkte sie, dass er während des vorausgegangenen Gesprächs nicht ganz bei der Sache gewesen war.

»Oder bin ich nicht fein genug?«, fragte er höhnisch.

»Nonsens!«, erklärte sie rasch und drehte sich um. »Ivy, das ist mein Bruder Karl-Friedrich, genannt Karl! Eigentlich ist er mein Pflegebruder, ich werde dir die Geschichte irgendwann mal erzählen. Komm, Karl, ich weiß, du hast wie immer wenig Zeit.«

Er lächelte sie undurchdringlich an. »Ich warte draußen!« Gelassen ging er die Stufen zum Tennisplatz hinunter.

»Kommst du mit rein, Ivy?«, rief Senta. »Wir hören jetzt besser auf. Es wird schon kühl.«

»Gleich«, sagte Ivy und beobachtete mit weit geöffneten Augen, wie Karl-Friedrich auf sie zukam. Senta drehte sich auf dem Absatz um und schritt durch die breite Glastür ins Haus.

Ivy reichte Karl-Friedrich die Hand, die er kaum zu drücken wagte, aus Angst, sie zu zerbrechen.

»Haben Sie uns schon lange zugeschaut?«, lächelte sie.

»Na ja«, erklärte er und kam sich wie ein Tölpel vor.

»Schade, dass Sie sich nicht bemerkbar gemacht haben.«

»Schade?«

»Nun, Sie hätten uns Gelegenheit gegeben, ein wenig vor Ihnen zu posieren.« Ivy schlüpfte lachend aus den Tennisschuhen in ihre Trotteurs.

Ivy hatte nicht im Tennisdress, sondern in einem weiten grauen Kostümrock mit Spitzenbluse gespielt. Sie griff zur Jacke, Karl-Friedrich nahm sie ihr aus der Hand und half ihr hinein.

»Danke«, sagte sie, und als sie zu ihm hinauflächelte, bildeten sich kleine Grübchen in ihren Wangen. »Seien Sie ehrlich! Haben wir Ihnen gefallen? Ich werde Schauspielerin, deshalb interessiert mich das sehr. Also, Ihr Urteil!«

»Sie waren zauberhaft, eh, Ivy. Eine Mischung aus Kobold und Elfe. Puck aus dem … ›Sommernachtstraum‹?«

»Oh, Sie lieben das Theater!?«, rief Ivy erfreut. »Ich habe es ja gewusst! Vom ersten Augenblick an habe ich Sie für einen äußerst musischen Menschen gehalten!« Sie sagte das so ernsthaft, dass er nicht wusste, ob sie es ernst meinte.

»Aber das bin ich nicht«, widersprach er, »es ist ewige Zeiten her, dass ich im Theater war. Ich bin ein ausgesprochener Realist.«

»O nein! Wenn Sie das von sich glauben, kennen Sie sich schlecht!« Sie öffnete ihre Handtasche, kämmte sich rasch durch ihr goldblondes Haar, puderte sich die kleine Nase und zog sich die Lippen kräftig nach.

»Und Sie sehen sich ganz falsch, wenn Sie meinen, dass Sie tief in den Farbtopf tauchen müssen, um schön zu sein.« Er brummte richtig.

Senta trat aus dem Haus. »Wie ist es, Ivy, du bleibst zum Tee, nicht wahr?«

»Nein, nein«, Ivy warf einen Blick auf ihr goldenes Ührchen, »leider unmöglich, ich muss fort.« Sie lief zur Terrasse hinauf, umarmte die Freundin und küsste sie zärtlich auf beide Wangen.

»Grüß Siegfried von mir … und die Jungens!«

»Aber heute Abend kann ich mit dir rechnen?«

»Unbedingt! Dir zuliebe habe ich sogar eine Karte für ›Sturm im Wasserglas‹ sausen lassen, obwohl Gründgens mich normalerweise mehr reizt als eine bürgerliche Abendgesellschaft.« Sie warf Karl-Friedrich einen schelmischen Seitenblick zu. »Wetten, dass dein Bruder mich versteht?«

»Und wie!«, erklärte Karl-Friedrich prompt. »Erlauben Sie, dass ich Sie ein Stück begleite!«

»Das wird nicht gut möglich sein. Ich bin mit dem Auto hier.«

Er verbeugte sich. »Dann kann ich nur ergebenst darum bitten, von Ihnen mitgenommen zu werden, gnädiges Fräulein!«

»Mit Vajnijen, wie der Berliner sagen würde! Ihr Wunsch ist mir Befehl!« Sie hängte sich scheinbar kokett bei ihm ein.

In der Diele küsste sie Senta noch einmal und flüsterte ihr dabei ins Ohr: »Du, dein Bruder gefällt mir!«

Senta drückte Karl-Friedrich beim abschiednehmenden Händedruck einen Geldschein in die Hand. Er nahm ihn, wenn auch mit gemischten Gefühlen. Er wusste ja, dass dieses Geld von Siegfried Rosenbaum, seinem jüdischen Schwager, stammte. Aber es war ihm doch zu willkommen, als dass er sich die große Geste der Ablehnung hätte erlauben können.

Er bedankte sich nicht. Senta hatte es auch nicht anders erwartet. Senta war beunruhigter, als es dem Anlass zu entsprechen schien. Sie sah den beiden jungen Leuten noch einen Augenblick nach, beobachtete, wie sie lachend mit jener Vertrautheit lachend, wie es nur rasch Verliebte tun – in Ivys feuerroten, zweisitzigen BMW stiegen. Dann trat sie zurück ins Haus und stieg die gewundene, freistehende Treppe zum ersten Stock hinauf.

Sie war jetzt acht Jahre lang mit Siegfried Rosenbaum verheiratet, war acht Jahre lang die Frau eines tüchtigen und auch geschäftstüchtigen Rechtsanwaltes, dem ganz sicher das Wohl seiner Klienten am Herzen lag, dem es aber, vielleicht in erster Linie, darum ging, die eigene Familie im Trubel der unsicheren Zeiten gut und sicher über Wasser zu halten. Es war Senta selbstverständlich geworden, Befehle auszuteilen und Gehorsam zu empfangen. Dennoch gab es immer wieder Augenblicke, in denen sie daran zweifelte, ob sie das Recht zu solchem Auftreten besaß.

Wer gab es ihr? Das Geld ihres Mannes. Aber war Geld allein genug? Geld dazu, das sie nicht erarbeitet, erworben oder ererbt, sondern als ein Geschenk empfangen hatte und immer noch empfing.

Wer war sie denn? Die Gattin des Rechtsanwalts Siegfried Rosenbaum. Nun gut. Die Adoptivtochter des Arztes Justus Weigand. Auch das war richtig. Aber waren dies nicht nur wechselnde Masken, hinter denen sich ihr wahres Ich verbarg? Konnte sie je etwas anderes werden als das, was sie war? Das ledige Kind der Rosa Janowitz, entbunden auf dem Tisch der Herrschaftsküche?

Seit Senta um diese Tatsache wusste, hielt sie sich immer wieder vor, um sie sich bewusst zu machen. Aber es blieb eine rein gedankliche Spekulation. Es gelang ihr niemals, sich als Dienstbotenkind zu fühlen. Vor sich selber war und blieb sie Justus Weigands Tochter, und dennoch konnte sie ihren Verstand nicht ausschalten, der ihr das Recht der Rolle verweigerte, die sie spielte, und sie der Hochstapelei bezichtigte. Wie etwas Verbotenes genoss sie die Sicherheit ihrer neuen Existenz, weil sie nicht an sie glaubte.

Sie öffnete die Türe ihres Schlafzimmers und trat vor den hohen Spiegel, geräuschlos, denn der dicke Teppich verschluckte ihre Schritte, die durch die Gummisohlen der Tennisschuhe ohnehin gedämpft wurden.

Ihrer inneren Unsicherheit zum Trotz wirkte ihre Erscheinung damenhaft. Das Wohlleben hatte ihre Züge veredelt, die harten Kanten abgeschliffen und die Haut makellos hell getönt. Ihr kurz geschnittenes kastanienrotes Haar schmiegte sich locker und dunkel glänzend an die Schläfen und fiel ihr in einer Locke in die Stirn, die sie jetzt zurückstrich. Nur der Ausdruck ihrer brennenden dunklen Augen war unruhig und beunruhigend.

Gleichzeitig stürmten ihre beiden Söhne, Wolfgang, genannt Wolfi, acht, und Dieter, sieben Jahre alt, ins Zimmer und gleichzeitig redeten sie darauf los, erzählten sie von den Begebenheiten des Nachmittags und einem belanglosen, aus brüderlicher Rivalität entsprungenen Streit.

Sie wirkten so gesund, die beiden, braun gebrannt und kräftig in ihren knielangen Hosen und weißen, nicht mehr ganz sauberen Polohemden, dass Senta sie am liebsten in die Arme genommen und geküsst hätte. Aber sie wusste, dass die Jungen seit Neuestem dergleichen mütterliche Zärtlichkeiten nicht mehr schätzten, am wenigsten, wenn sie in Gegenwart anderer, und sei es nur des Bruders und des Erziehers, verteilt wurden.

So beschränkte sie sich denn darauf, ihnen lächelnd zuzuhören, während sie mit dem Rücken zum Spiegel auf dem Hocker ihres Toilettentisches Platz nahm.

Herr Dr. Hagen, der Erzieher, ein schmaler junger Mann, dem die runden Gläser seiner Brille etwas eulenhaft Weises gaben, war in der Türe stehen geblieben und versuchte, überlegen zu wirken, während er doch angesichts der jungen Frau nichts als Schüchternheit, Verwirrung und eine Sehnsucht empfand, die er nicht einmal sich selber in diesem Augenblick zuzugeben wagte.

Senta mochte Dr. Hagen, der ein so guter Freund ihrer Söhne geworden war. Aber sie fühlte sich in seiner Gegenwart ebenfalls gehemmt. Er interessierte sie zwar durchaus nicht als Mann, aber sein Schicksal bedrückte sie, und sie konnte das Gefühl nicht loswerden, in seiner Schuld zu stehen.

Dr. Hagen hatte sein juristisches Studium in der Hoffnung auf eine spätere Staatsstellung absolviert, aber noch während er vor einem Jahr an seiner Dissertation tüftelte, waren an jenem berüchtigten schwarzen Freitag im Oktober die allzu hoch hinaufgetriebenen Kurse amerikanischer Spekulationspapiere in die Tiefe gestürzt, noch unter ihren ohnehin geringen Wert hinabgesunken und hatten einige bedeutende New Yorker Banken mit sich gerissen, die sich gezwungen sahen, ihre Zahlungen einzustellen.

Als Dr. Hagen gerade promoviert war, hatten die Auswirkungen dieser Katastrophe Europa erreicht. Die goldenen Zwanziger Jahre waren vorüber. Der preußische Staat musste Gehälter und Pensionen seiner Beamten kürzen und hatte weder Interesse noch Möglichkeiten, den nach Sicherheit strebenden jungen Juristen einzustellen. Trotz glänzend bestandener Prüfungen war er wie viele Hunderttausende anderer junger Akademiker zum Stempeln verurteilt. Auf seinen endlosen Wanderungen durch sämtliche Kanzleien Berlins, immer auf der Suche nach einer Anstellung oder wenigstens einer zeitlich begrenzten Aufgabe, war er auch zu »Rosenbaum & Rosenbaum« in der Behrenstraße gekommen und vom Juniorchef als Erzieher seiner Söhne, die sich dem Regiment der alten, allzu gutmütigen Kinderfrau nicht länger beugen wollten, engagiert worden.

Dies alles schoss Senta durch den Kopf, während sie dem lebhaften Geplapper ihrer kleinen Söhne lauschte, hin und wieder eine Frage einwarf, eine Antwort gab und die Wogen der Erregung zu glätten versuchte. Sie schämte sich vor Dr. Hagen, weil sie seine Stellung in ihrem Haus als eine Demütigung für ihn empfand.

So brachte sie es auch jetzt nicht über sich, die Anordnung, die sie ihm zu geben hatte, ohne Umschweife auszusprechen, sondern wandte sich an ihre Söhne, so als wenn sie imstande wären, diese ohne Hilfe des Erziehers auszuführen.

»So, jetzt ist genug geplaudert«, sagte sie und fuhr leicht durch Dieters schwarz gelocktes Haar, »Mama muss sich noch schön machen, und von euch erwarte ich das Gleiche! Wascht euch gründlich, schrubbt euch die Fingernägel, am besten badet ihr … und dann zieht ihr eure neuen Matrosenanzüge an. Wir erwarten Besuch!«

»Dürfen wir aufbleiben?«, fragte Wolfgang sofort.

Senta staunte immer wieder über seine Ähnlichkeit mit Justus Weigand, mit dem er doch gewiss nicht verwandt war; er hatte die gleichen hohen Jochbögen, den gleichen schmalen, nach hinten ausladenden Schädel, das gleiche glatte, dunkle Haar, und sogar der prüfende Ausdruck seiner Augen erinnerte an den Stief-Großvater.

»Nein, nein«, wehrte Senta ab, »ihr sollt nur ganz rasch guten Abend sagen, einen hübschen Diener machen … und dann seid ihr schon entlassen!«

»Aber von den guten Sachen kriegen wir doch was?«, fragte Dieter, ein Jahr jünger als sein Bruder, aber erheblich kleiner, lebhafter, fröhlicher und selbstsicherer, das Ebenbild seines Vaters.

»Ihr esst vor«, bestimmte Senta, »aber ich lasse euch etwas von der Eisbombe hinaufschicken.«

»Oh, Eisbombe gibt’s? Prima!«, rief Dieter und rieb sich voller Vorfreude den runden Kinderbauch.

»Wer kommt denn alles?«, wollte Wolfgang wissen.

»Großvater, Onkel Nils, Tante Ruth … vielleicht Tante Tina … und noch eine Menge Leute, die ihr nicht kennt.«

»Müssen wir uns mit denen auch unterhalten? Mit denen, die wir nicht kennen, meine ich?«

»Ihr sollt nur antworten, wenn ihr gefragt werdet«, versicherte Senta, »ich verspreche euch, das Ganze dauert keine fünf Minuten.«

»Und dafür müssen wir uns extra umziehen!«, maulte Dieter. »Kannst du uns die Eisbombe nicht auch so raufschicken?«

Senta gab ihm einen Klaps. »Und nun verschwindet!« Mit Überwindung hob sie die Augen zu Dr. Hagen und sagte mit spröder Stimme: »Bringen Sie die Jungen bitte um acht Uhr herunter und stecken Sie sie danach gleich ins Bett, ja? Morgen ist ein Tag wie jeder andere. Ich möchte, dass sie in der Schule nicht einschlafen.«

Dr. Hagen verbeugte sich leicht. »Ich werde dafür Sorge tragen, gnädige Frau«, sagte er steif.

Das Licht der untergehenden Sonne spiegelte sich rötlich in seinen eulenhaften Brillengläsern.

Senta Rosenbaum saß wieder vor ihrem Toilettentisch. In seidener Unterwäsche, rosenfarben, aber von der erlesenen Farbe der Rosen, die vor Tagen geschnitten wurden und zu welken begannen. Sie bürstete ihr dichtes, widerspenstiges Haar, als nach leichtem Anklopfen die Tür geöffnet wurde und ihr Mann eintrat.

Sie entdeckte sein lächelndes glattes Gesicht im Spiegel, ließ die schwere silberne Bürste sinken, drehte sich zu ihm herum und streckte ihm die schlanken nackten Arme entgegen. »Siegfried … wie gut, dass du da bist!«

Lautlos, sein steifes Bein zu leichtem Schwung aus der Hüfte heraus bewegend, kam er auf sie zu, ein schlanker, eleganter Mann, auf dessen Wangen und Kinn die bläulichen Schatten des nachwachsenden Bartes anzeigten, dass er schon einen langen Tag hinter sich hatte.

»Du tust geradeso, als wäre ich eine Ewigkeit fort gewesen!« Er zog ihre Hand an seine Lippen, küsste ihren Unterarm und ließ die Lippen bis hinauf zu ihrem Nacken gleiten.

»Nicht, bitte, nicht, Siegfried!«

»Ich dachte, du hättest dich nach mir gesehnt!«, lächelte er.

»Hab’ ich auch. Der Tag war endlos ohne dich.«

Er beugte sich über sie. »Weil du so tapfer die Festung alleine gehalten hast, habe ich dir auch etwas mitgebracht. Dreh dich um und mach die Augen zu!«

Gehorsam tat sie es, hörte, wie er das Schloss seiner Aktentasche aufspringen ließ, und fühlte dann die glatte Kühle von Metall um ihren Hals.

Sie blickte in den Spiegel und sah sich mit einer schimmernden Kette geschmückt. »Gott, ist die schön!«, rief sie.

»Ich dachte, sie würde dir gefallen«, bestätigte er zufrieden, »Platin ist es zwar nicht, aber Weißgold. Die Perlen zwischen den Gliedern sind echt. Du kannst sie knoten, wenn sie dir so zu lang ist, oder auch doppelt um den Hals winden.«

»Ich werde gar nichts damit tun, ich werde sie genauso tragen, wie du sie mir umgelegt hast!« Sie schmiegte ihre Wange in die Fläche seiner Hand. »Du verwöhnst mich zu sehr, Siegfried. Oder ist heute ein Erinnerungstag?«

»Jeder neue Tag mit dir ist morgen eine gute Erinnerung!«, sagte er und hinkte zur Tür.

»Siegfried, bitte!« Sie streckte, als er an ihr vorüberging, die Hand nach ihm aus.

»Ja?«

»Bitte, geh nicht! Ich möchte etwas mit dir besprechen! Etwas … Persönliches! Ich könnte den Tee heraufkommen lassen.«

Er schüttelte seine Manschetten zurück, warf einen Blick auf seine schwere goldene Armbanduhr und sagte: »Nein, nein, mach’s lieber kurz und ohne Tee! Was gibt’s!«

»Karl-Friedrich war heute Nachmittag hier«, sagte sie und begann, um sich den Anschein von Gleichmut zu geben, ihre Augenbrauen zu zupfen.

Siegfried war nicht erstaunt. »Er wollte Geld?«

»Nein … das heißt, ich habe ihm etwas gegeben. Aber verlangt hat er es nicht.«

»Edel!«

Sie fuhr, die Pinzette in der Hand, zu ihm herum. »Ich habe niemals behauptet, dass er edel ist! Du weißt sehr gut, wie ich seinen politischen Fanatismus verabscheue! Aber du hättest ihn nur sehen sollen … so armselig und verhungert, wie er war …«

»Er braucht nur zu seinem Vater zurückzukehren und ihn um Verzeihung zu bitten … nein, nicht einmal das! Wie ich Justus Weigand kenne, wird er ihn, auch ohne dass er sich entschuldigt, mit offenen Armen aufnehmen und womöglich noch ein gemästetes Kalb für ihn schlachten.«

»Du kannst recht haben, Siegfried …«

»Ich habe recht!«

»… aber darum geht es im Moment gar nicht! Was ich dir erzählen wollte, war etwas ganz anderes. Er hat hier bei mir Ivy kennengelernt, und die beiden sind miteinander fort … lächle um Himmels willen nicht so überlegen! Sie machten beide den Eindruck, als wenn sie Feuer gefangen hätten … du kennst Karl, er kann sehr charmant sein, wenn er will …«

»Na und?«

»Aber er ist ein Nazi!«

»Das, denke ich, wissen wir längst.«

»Verstehst du denn nicht, Siegfried? Karl ist Nazi, und deine Cousine Ivy ist Jüdin …«

»Sie ist Protestantin!«

»Die Religion ist doch den Nationalsozialisten ganz egal. Für sie ist die Rasse entscheidend.«

»Rasse«, schnaubte er verächtlich, »wenn ich das schon höre … Rasse! Als ob es hier in Europa überhaupt eine einheitliche Rasse gäbe!«

Senta stand auf und packte ihn bei den Schultern. »Ich bitte dich, Siegfried, weich mir nicht aus! Ich habe nicht vor, mit dir die Nazi-Ideen zu diskutieren. Dazu kenne ich mich gar nicht gut genug darin aus. Und du auch nicht. Es geht einfach darum, dass diese Leute die Juden oder die Semiten oder auch die Nichtarier … ja, ich glaube, so nennen sie das … prinzipiell ablehnen. Wir wissen, dass das Wahnsinn ist. Aber Karl glaubt nun mal daran, und Ivy ist Jüdin.«

»Na wunderbar«, sagte er, »das ist ja großartig. Was willst du noch mehr?«

Sie ließ die Hände sinken und sah ihn verständnislos aus weit geöffneten Augen an.

»Das wird doch eine fabelhafte Lehre für ihn sein!«, fuhr er fort. »Findest du nicht? SA-Sturmmann verliebt sich in bezaubernde junge Jüdin, kommt darauf, dass sie aller Liebe und Achtung wert ist, wird von seinem Fanatismus geheilt und …«

Sie unterbrach ihn. »Es könnte aber auch anders ausgehen! Übersensible junge Jüdin verliebt sich in charmanten Jungen, muss entdecken, dass er ihre Verwandtschaft hasst und verachtet, fühlt sich verletzt …«

»Na, wenn schon«, sagte Siegfried, »sie ist kein Kind mehr. Es stimmt, sie ist überzart und empfindlich, genau diesen Eindruck habe ich auch. Aber es wird höchste Zeit, dass sie das ablegt. Oder kannst du dir vorstellen, dass sie sich sonst in der Intrigenwirtschaft des Theaters durchsetzen wird?«

Senta sah ihn lange an, dann stieß sie einen tiefen Seufzer aus. »Du hast recht«, sagte sie, »natürlich hast du recht!«

Er legte ihr die Hand unter das Kinn und gab ihr einen raschen Kuss auf die Lippen.

Sie schlang die Arme um seinen Hals und schmiegte sich an ihn. Aber seine körperliche Nähe gab ihr keinen Trost. Ihren Verstand hatte er wohl überzeugen können. Aber ihr Gefühl blieb von einer bösen Ahnung erfüllt, die sie umso mehr quälte, als er sie gar nicht verstanden hatte.

Die Gäste trafen mit einkalkulierter Verspätung ein, zuerst Justus Weigand und sein ältester Sohn, Doktor Nils Weigand.

Senta begrüßte beide mit einem vorsichtigen Kuss, um ihren Lippenstift nicht zu verschmieren. Die Männer schüttelten sich die Hände.

»Wieder einmal zu früh?«, sagte Justus Weigand und sah sich in der weiten, weißen Diele um. »Mir scheint, den Lebensstil der eleganten Welt werde ich niemals lernen.«

»Du bist eben unbeirrbar verlässlich«, behauptete Senta und strahlte ihn an, »ich bin ja so froh, dass du da bist! Sofort fühle ich mich viel sicherer.«

»Soll das eine versteckte Beschwerde gegen deinen Mann sein?« Justus Weigand drohte scherzhaft mit dem Zeigefinger.

»Natürlich nicht!« Senta hängte sich demonstrativ bei Siegfried Rosenbaum ein. »Nur … die letzten Minuten, bevor die Gäste kommen, sind immer ein bisschen enervierend.«

»Solltest du wirklich nervös sein, so weißt du das tadellos zu verbergen, du siehst wunderbar aus, Senta!«, sagte Nils, ein hochgewachsener, stubenblasser junger Mann mit fahlblondem Haar und hellen, spöttischen Augen.

»Ein Kompliment aus deinem Mund!«, gab Senta zurück. »Ich bin tief beeindruckt!«

»Kabbelt euch nicht, Kinder«, mahnte Justus Weigand, »du siehst wirklich glänzend aus, Senta, und du weißt es.«

Senta war sich dessen nicht ganz so sicher gewesen. Sie trug ein Seidenkleid von gewagtem Rot, das Siegfried Rosenbaum ihr aus Paris mitgebracht hatte. Sie hatte es nur mit Überwindung angezogen, weil sie fürchtete, es könnte mit ihrem Haar nicht harmonieren. Noch im letzten Augenblick war sie drauf und dran gewesen, es zu wechseln. Erst jetzt, da Vater und Bruder mit ihrem Aussehen zufrieden waren, begann sie langsam sich wieder in ihrer Haut wohlzufühlen.

»Warum habt ihr Tante Tina nicht mitgebracht?«

Justus Weigand hob die Hände und ließ sie mit resignierter Geste wieder sinken. »Du weißt doch. Immer dasselbe.«

Mary, im schwarzem Kleid mit weißem Schürzchen und Häubchen, servierte auf einem silbernen Tablett Mampe-Cocktails.

»Ich verstehe ja, dass sie Ilschen nicht alleine lassen will«, sagte Senta, »aber ich finde, ihr müsstet sie einfach einmal aus ihren vier Wänden herauslocken. Es kann nicht gut für sie sein, immer nur Umgang zu haben mit … mit …« Sie unterbrach sich.

»Sprich nur aus, was du sagen wolltest: mit einem schwachsinnigen Kind!« In Justus Weigands Stimme schwang Bitterkeit.

»Das wollte ich gar nicht, im Gegenteil … ich wusste nicht …«, stammelte Senta, sehr verlegen, weil sie fürchtete, ihren Vater verletzt zu haben.

Siegfried Rosenbaum kam ihr zu Hilfe. »Trinken wir erst einmal!«, sagte er und hob sein Glas. »Auf das, was wir lieben!«

Im Gegensatz zu den Herren nahm Senta nur einen winzigen Schluck; sie war sich bewusst, dass sie durchaus nicht an ihr Vergnügen denken durfte, sondern dass das Gelingen des Abends davon abhing, dass sie die Übersicht behielt.

»Entschuldigt mich, bitte«, sagte sie, »da Tante Tina fehlt, muss ich ganz rasch die Tischordnung ändern.«

»Ich bin gerne bereit, auf eine Dame zu verzichten«, sagte Justus Weigand.

»Das könnte dir so passen, Schwiegerpapa«, sagte Siegfried Rosenbaum, »nein, nein, es wird dir nicht erspart bleiben, mit Frau Professor Hamburger Konversation zu machen. Setz Vater und Bankier Heinemann nebeneinander, Senta! Die beiden alten Herren sind froh, wenn sie über Geschäfte reden dürfen.«

»Aber nicht heute Abend, Siegfried! Ich werde meinen ganzen Charme aufwenden, um deinen Vater abzulenken.«

Es klingelte, und jetzt trudelten nacheinander die Gäste ein, das Ehepaar Hamburger und das Ehepaar Heinemann. Wenig später kam Ruth Rosenbaum, Siegfrieds ältere Schwester, in streng geschnittenem Kostüm, Hornbrille und glattem kurzen Haar. Ihr folgte Peter Singer, ein junger Schriftsteller, der mit seinem sehr ätherischen Buch »Unter dem grünen Mond« einen beachtlichen literarischen und finanziellen Erfolg gehabt hatte. Rechtsanwalt Dr. Julius Rosenbaum erschien mit seiner Frau, und als letzte Ivy Stein, feenhaft hübsch in einem Kleid aus Goldbrokat, Goldstaub auf den Augenlidern, überaus anmutig und ein wenig atemlos.

Mary reichte die Cocktails, und die Unterhaltung wurde sehr rasch lebhaft. Dr. Hagen führte die beiden Jungen vor, deren sonnengebräunte Gesichter sich reizend von den weißen Kragen ihrer Matrosenanzüge abhoben. Sie gaben sich lebhaft und natürlich, artig und bescheiden, ließen sich von den beiden Großvätern necken und großmütig von den Damen verwöhnen, Wolfgang mit einer gewissen männlichen Reserviertheit, Dieter hingegen nicht ohne Koketterie.

Senta war stolz auf ihre beiden hübschen Söhne mit den guten Manieren und den sauber geschrubbten Knien. Dennoch machte sie dem kleinen Auftritt so rasch wie möglich ein Ende.

Sie legte leicht ihre Hand auf den Arm des Schwiegervaters und bat zu Tisch.

Obwohl Senta die Tischordnung genau durchdacht hatte – vielleicht auch gerade deshalb –, wirkte sie zwanglos und wie selbstverständlich. Ihr zur Rechten platzierte sie Peter Singer als Tischherrn von Ruth Rosenbaum, Professor Hamburger fiel die Aufgabe zu, Frau Bankier Heinemann zu betreuen, Siegfried Rosenbaum war Tischherr von Frau Professor Hamburger, Ivy saß zwischen Justus Weigand und Nils, dessen eigentliche Tischdame die alte Frau Rosenbaum war, eine vogelhaft zierliche Dame in dunkelblauem Samtkleid mit Spitzenfichu. Neben ihr saß Bankier Heinemann an Julius Rosenbaums linker Seite.

Die Suppe wurde serviert, klare Bouillon mit Markklößchen; dazu gab es einen trockenen Sherry.

Senta plauderte mit ihrem Schwiegervater über Dieter und Wolfi, das einzige Thema, für das sich beide gleich stark interessierten. Alle anderen redeten über unpersönlichere Themen, über Bengt Bergs »Liebesgeschichte einer Wildgans«, die die Damen »ganz entzückend« und »so rührend« fanden, über die Premiere von Ralph Benatzkys »Im weißen Rössl« im Großen Schauspielhaus, der nur Ivy und das Ehepaar Hamburger beigewohnt hatten, die sich vor Begeisterung nicht lassen konnten und alle anderen zu animieren versuchten, sich diese Operetten-Revue ebenfalls anzusehen.

Während Mary die Eisbombe servierte, entstand unvermittelt ein Schweigen am Tisch, und in die Stille hinein dröhnte Ruth Rosenbaums tiefe und heftige Stimme: »Was erwarten Sie sich von den Wahlen?«

Sie hatte sicherlich nur Professor Hamburger, ihren Tischnachbarn, fragen wollen, aber nun schien es, als wenn sie sich an die Allgemeinheit gewendet hätte und eine Antwort von jedem Einzelnen der Anwesenden erwartete.

Man reagierte betroffen und unangenehm berührt.

»Ruth, ich bitte dich …«, sagte die alte Frau Rosenbaum und nickte ärgerlich mit dem Vogelkopf wie ein pickendes Huhn.

»Seit wann interessierst du und deinesgleichen dich denn für Wahlen?«, fragte ihr Vater böse. »Soviel ich weiß, sind die in eurem geliebten Russland doch längst abgeschafft!«

»Das ist einfach nicht wahr!«, protestierte Ruth. »Auch im sozialistischen Russland wird gewählt. Der Unterschied ist allerdings, dass nur die eine Partei herrscht, die die Interessen des Volkes und der Arbeiterklasse tatsächlich vertritt. Gewählt werden die besten Köpfe und die stärksten Persönlichkeiten …«

Siegfried Rosenbaum fiel ihr ins Wort. »Wenn wir das Bedürfnis nach kommunistischer Propaganda haben, Ruth«, sagte er leise und scharf, »werden wir in eine eurer Versammlungen kommen. Solange du Gast in meinem Hause bist, muss ich dich doch bitten …«

Ruth gab nicht nach.

»Was, bitte, habe ich denn getan?«, entgegnete sie. »Ihr tut geradeso, als wenn schon eine Erwähnung der bevorstehenden Wahlen etwas Unanständiges wäre. Dabei ist es doch lebensnotwendig, dass wir uns wenigstens informieren!«

»Über was?«, fragte Justus Weigand. »Über die Programme von einunddreißig Parteien?«

»Ich nehme an, du jedenfalls bist informiert genug, Ruth«, sagte der alte Dr. Rosenbaum, »glaube aber nicht, dass dich jemand um deine Meinung gefragt hat.«

»Seid ihr denn alle blind oder tut ihr nur so?! Die SA marschiert, die NSDAP wird neue Stimmen und neue Mandate gewinnen …«

»Darin«, bemerkte der Bankier Heinemann und nahm bedachtsam einen Schluck aus seinem Glas, »sehe ich absolut kein Unglück. Diese Burschen sind die Einzigen, vor denen die Kommunisten Respekt haben …«

»Ja, und weil Sie so denken …« Ruth Rosenbaum zeigte mit dem Löffelstiel auf den Bankier, »weil Sie und Ihresgleichen, weil die Industrie und das Kapital diesen verbrecherischen Demagogen unterstützen, nur deshalb kann er sein Unwesen in Deutschland treiben!«

Senta fing einen beschwörenden Blick ihres Mannes auf. Noch war die Eisbombe nicht zur Hälfte verspeist. Hübsch stand sie da, eine Kuppel aus rosafarbenem, weißem und schokoladenbraunem Eis, mit Waffeln und Sahne verziert. Schade um sie. Aber wahrscheinlich war den Gästen ohnehin der Appetit vergangen. Dr. Hagen und die Jungen konnten sich freuen.

»Darf ich bitten«, sagte Senta und erhob sich, »die Damen mit mir in die Diele … die Herren nehmen in der Bibliothek ihren Kaffee.«

Sie ging zur Türe, blieb lächelnd stehen und wartete, bis die kleine Gesellschaft sich aufgelöst hatte.

In der Diele fanden sich die drei älteren Damen sofort zusammen und begannen, mit betonter Zungenfertigkeit über Belanglosigkeiten zu reden, Kochrezepte, Handarbeitsmuster und Dienstbotenärger. Ivy hatte sich zurückgezogen, um ihre Schönheit aufzufrischen. Ruth Rosenbaum stand isoliert. Ihre Hände zitterten.

Es war bei den jungen Rosenbaums nie üblich gewesen, die weiblichen und die männlichen Gäste nach dem Dinner zu trennen; es war Senta einfach nichts anderes eingefallen, der unliebsamen politischen Debatte ein Ende zu bereiten. Aber sie hatte ihre Schwägerin nicht kränken wollen.

Sie trat auf sie zu und bat um eine Zigarette.

Ruth Rosenbaum verstand die freundschaftliche Geste sofort. »Es tut mir wahnsinnig leid, Senta«, sagte sie, »anscheinend habe ich mich wieder mal wie ein Elefant im Porzellanladen benommen.«

»Steht es wirklich so schlimm?«, fragte Senta. »Meinst du allen Ernstes, dass die Nazis Stimmgewinne erzielen werden?«

»Du und Politik?«, fragte Ruth Rosenbaum zurück.

»Du sagst doch immer, dass jeder Mensch dazu verpflichtet wäre!«

Ivy schwebte herein. »Oh, ihr pafft?«, rief sie und zog ein schmales, goldenes Zigarettenetui aus ihrem Täschchen. »Ein kleiner Trost!« Sie ließ sich von ihrer Cousine Ruth Feuer geben. »Eigentlich war es ja nicht nett, Senta, dass du uns unserer Kavaliere beraubt hast …«

»Daran war ich schuld«, sagte Ruth.

»Dein Bruder Nils ist jedenfalls ein interessanter Knabe«, plauderte Ivy weiter, »aber ein ziemlicher Eisblock, wie?«

»Er ist ehrgeizig«, erklärte Senta.

»Da ist Charly doch eine ganz andere Nummer!«, behauptete Ivy.

Senta zwang sich, ganz gleichmütig zu scheinen, als sie fragte: »Ach ja, Karl. Wie bist du mit ihm verblieben?«

»Überhaupt nicht«, erwiderte Ivy obenhin, »ein ganz amüsanter Bursche, aber was soll’s? Ich habe ihn am Breitenbachplatz abgesetzt.«

Senta atmete auf. Sie überlegte, ob sie eine Warnung aussprechen sollte. Aber dazu war nun kein Anlass mehr. Es stand zu fürchten, dass sie damit jetzt nur noch Ivys Neugierde oder ihren Widerspruchsgeist gereizt hätte.

Lieber nicht.

Gegen ein Uhr nachts brachen die Gäste dann ziemlich gleichzeitig auf. Zuerst ging Ruth Rosenbaum, dann die älteren Ehepaare, zum Schluss Justus Weigand, Nils und Ivy.

Als die Haustür hinter ihnen ins Schloss gefallen war, wandte Senta sich an das Mädchen, das den Gästen in die Mäntel geholfen hatte. »Gute Nacht, Mary! Räumen Sie nur noch das Notwendigste auf und sehen Sie zu, dass Sie so rasch wie möglich ins Bett kommen.«

»Jawohl, gnädige Frau!« Mary war infolge der Trinkgelder, die sie hatte kassieren dürfen, verhältnismäßig gut gestimmt. »Gute Nacht, gnädige Frau … gute Nacht, Herr Doktor!«

»Schlafen Sie gut, Mary«, sagte Siegfried Rosenbaum zerstreut. Senta hakte sich bei ihrem Mann ein. »Es war dann doch noch ein gelungener Abend, nicht wahr?«

»Dank deiner Geistesgegenwart«, lobte Siegfried Rosenbaum und drückte zärtlich ihren Arm, »es war eine blendende Idee, die Damen zum Kaffee in die Diele zu bitten.«

»Es war das Einzige, was mir einfiel. Aber es hat geklappt. Zum Glück.«

Er gähnte und hielt sich die Hand vor den Mund. »Verzeih«, sagte er und gähnte schon wieder, »aber ich bin todmüde.«

»Deshalb brauchst du dich doch nicht zu entschuldigen!«

Er verzog den Mund zu einem Lächeln. »Aber du könntest mit Recht einen etwas aktiveren Mann erwarten!«

Es dauerte Sekunden, bis sie ihn verstand. Dann errötete sie heftig und entzog ihm ihren Arm. »Wenn du glaubst, dass ich darauf aus wäre …«

»Deshalb brauchst du dich doch nicht zu schämen!«

»Ich schäme mich, dass du mich so wenig verstehst!«, rief sie mit flammenden Augen. »Ich bin einfach noch aufgedreht … vielleicht sogar ein bisschen überdreht …«

»Genau das meine ich ja!«

Sie ließ sich nicht unterbrechen. »… und möchte mich mit dir unterhalten!«

Sie durchquerte die Diele, wo Mary gerade ein voll beladenes Tablett in den Küchenaufzug schob.

Sie dämpfte ihre Stimme, aber ihr Ton blieb so heftig wie zuvor. »Wann haben wir überhaupt einmal Gelegenheit, uns auszusprechen? Du bist den ganzen Tag fort, und meist kommst du erst in der Nacht zurück.«

Er runzelte die Stirn. »Ich treibe mich nicht zum Spaß herum, sondern ich verdiene Geld, damit ihr … du und die Kinder … sorglos leben könnt. Oder wäre es dir etwa lieber, ich säße zu Hause und wir hätten nichts zu brechen und zu beißen!?«

Sie blieb am Fuße der Treppe stehen und sah ihm fest in die Augen.

»Du weißt sehr wohl, dass es noch ein Mittelding gibt. Ich würde sehr gerne in einem wesentlich kleineren Rahmen leben, wenn du nur mehr Zeit für mich hättest.«

»Na ja, ich gebe zu, so ganz unberechtigt sind deine Klagen nicht«, sagte er unbehaglich, »weiß Gott, ich wäre selber froh, wenn ich mich euch mehr widmen könnte. Aber wir leben in verrückten Zeiten. Wer da nicht ganz auf dem Quivive ist, kommt unter die Räder.« Er legte den Arm um ihre Schultern und zog sie mit sich die Stufen hinauf. »Über was wolltest du denn mit mir reden?«

»Über deine Schwester zum Beispiel.«

»Über Ruth? Die war das letzte Mal heute eingeladen. Wir werden ihr keine Gelegenheit mehr geben, uns zu provozieren.«

Sie sah ihn, als wenn er ihr plötzlich fremd geworden wäre, an. »Du machst es dir sehr einfach, Siegfried.«

Er verstand sie nicht. »Was verlangst du? Auf jeden Fall ist sie doch zu alt, als dass man sie noch erziehen könnte.«

»Sie ist deine Schwester, Siegfried! Auch wenn sie extreme politische Ansichten vertritt, darf das doch kein Grund sein, sie einfach links liegen zu lassen.«

»Ach nee! Und warum gilt das nicht für dein Brüderchen?«

»Ich hatte Karl auch eingeladen. Wusstest du das nicht? Er hat es von sich aus vorgezogen, nicht zu erscheinen. Was immer sie auch für Dummheiten machen … ich würde keinen der Weigands je fallen lassen.«

»Das ist ein großes Wort, Senta«, sagte er mit unbehaglichem Spott.

»Und ich werde auch niemals bereit sein, Ruth zu schneiden«, fügte sie hinzu, »ich halte sie für eine kluge und redliche Person, und selbst wenn sie das nicht wäre, würde ich zu ihr halten, einfach weil sie zur Familie gehört.«

»Das ist deine Entscheidung«, sagte er böse, »in meinem Haus möchte ich sie jedenfalls nicht mehr sehen.«

»Hasst du sie so?«, fragte Senta mit großen Augen.

»Ach was. Sie geht mir einfach auf die Nerven.«

Sie waren auf dem ersten Stock angekommen, und Senta blieb vor der Türe zu ihrem Schlafzimmer stehen. »Wie du meinst«, sagte sie kalt, »dann werde ich mich eben anderswo mit ihr treffen.«

»Tu, was du nicht lassen kannst«, erklärte er zornig.

»Übrigens habe ich eine Einladung von ihr bekommen …« Senta öffnete ihr Abendtäschchen und zog einen auf schlechtem Papier hektographierten Aufruf heraus. »… zu einer pazifistischen Frauenversammlung!«

Er nahm ihr den Zettel aus der Hand. »Zu der du selbstverständlich nicht gehen wirst!«

»Und warum nicht?«, rief sie empört.

»Weil ich von meiner Frau verlangen kann, dass sie sich nicht mit kommunistischem Pack herumtreibt!«

»Rechnest du deine eigene Schwester etwa zum Pack!?«

»Sie ist eine unbefriedigte, verbitterte alte Jungfer, das entschuldigt manches! Aber du, eine verheiratete Frau und Mutter, Dame der Gesellschaft …«

»O Siegfried«, rief sie mit erstickter Stimme, »dass wir so miteinander streiten können! Wie zwei Feinde! Dabei lieben wir uns doch!« Sie trat einen halben Schritt auf ihn zu. »Liebst du mich noch, Siegfried?«

»Aber ja! Sonst würde ich mich über deinen Unverstand doch nicht so aufregen.«

»Ich wollte dich nicht reizen, Siegfried, gewiss nicht.«

Ivy Stein hatte Senta angelogen. Sie hatte sich gar nichts dabei gedacht, sondern war einfach ihrem Instinkt gefolgt.

Seit vielen Jahren war sie es nicht anders gewohnt, als zu lügen, wenn sie sich für einen jungen Mann interessierte. Zu Hause in Frankfurt hatte sie immer eine Freundin vorgeschoben, wenn sie mit einem Jungen verabredet war, und wenn man sie fragte, ob dieser oder jener nicht ein netter Bursche sei, so hatte sie immer höchst gleichgültig getan, besonders dann, wenn sie tatsächlich beeindruckt war.

Sie kannte ihre Eltern. Wehe, ihr Vater merkte, dass sie an irgendeinem Mann interessiert war! Niemals verlor er Zeit, der Sache ein Ende zu machen, durch Verbote, durch Drohungen, durch seinen Einfluss, durch Geld, Versprechungen oder Geschenke. Wenn es um das vermeintliche Glück seiner einzigen Tochter ging, war der Bankier Stein in seinen Mitteln nicht wählerisch.

Ivy wollte anders leben, ganz anders als ihre Eltern und deren Freunde, und sie hatte einen harten, zähen und unerbittlichen Kampf um ihre Freiheit geführt. Heimlich hatte sie sich zur Aufnahmeprüfung bei Max Reinhardt gestellt, und sie hatte sich nicht gescheut, diesen großen Mann gegen ihren Vater einzusetzen, um die Erlaubnis, nach Berlin überzusiedeln, zu erwirken.

Als der Bankier Stein endlich bereit war nachzugeben, hatte natürlich alles in großem Stil erfolgen müssen. Ivy durfte nicht, wie die anderen Schauspielschüler und Anfänger, möbliert hausen, sondern sie bekam eine eigene kleine Wohnung am Breitenbachplatz eingerichtet, ein eigenes Auto und einen beachtlichen monatlichen Scheck zur Verfügung.

Dennoch war sie in Berlin nicht so glücklich, wie sie gehofft hatte. Ihre Mitschüler und Mitschülerinnen akzeptierten sie nicht als eine der Ihren. Auch wenn sie sich noch so sehr mühte, die Lehrer sie ehrlich liebten und ihre Begabung nicht zu übersehen war: Das Geld ihres Vaters stand wie eine Barriere zwischen ihr und den anderen.

So stand sie sonderbarerweise – begabt und intelligent, reizend anzuschauen und reich – ziemlich isoliert in der großen Stadt, und wäre nicht Senta Rosenbaum gewesen, in deren Haus sie sich jederzeit willkommen fühlen konnte, so hätte sie vielleicht schon aufgegeben und wäre reumütig in die bürgerliche Gemeinschaft nach Frankfurt zurückgekehrt, aus der sie stammte.

Sie fühlte sich einsam und verloren, als sie Karl-Friedrich Weigand kennenlernte, und sie verliebte sich sofort in ihn.

Beinahe hätte sie seinem Drängen nachgegeben und wäre noch am gleichen Abend mit ihm ausgegangen. Aber es widerstrebte ihr, Senta zu enttäuschen, und sie hielt es auch für richtiger, das Tempo dieser beginnenden Romanze selber zu bestimmen. Am nächsten Abend hatte Karl-Friedrich keine Zeit für sie; er musste zu einem Treffen seines SA-Sturmes, was er ihr jedoch, da er ihre politische Einstellung nicht kannte, vorsichtshalber verschwieg.

Aber am dritten Abend, nachdem Senta sie miteinander bekannt gemacht hatte, wollten sie sich gegen neun Uhr in einem Tanzpalast in der Tauentzienstraße treffen.

Als Ivy Stein die riesigen Leuchtbuchstaben »Femina« auf der Hauswand schräg vor sich auftauchen sah, war es genau neun Uhr. Sie parkte ihren Wagen nahe dem Eingang, gleich hinter dem Platz, den der dicke, reich betresste Portier für die Taxen freihielt.

Karl-Friedrich hatte auf der Estrade links von der großen Tanzfläche Platz genommen, einen Cognac bestellt.

Plötzlich stand Ivy vor ihm. »Charly!«, rief sie und reichte ihm die Hand.

»Sie haben mich ganz schön warten lassen«, sagte er und runzelte die Stirn.

»Es war ein Fehler, ich weiß«, bekannte sie freimütig, »aber ich bin nun mal ein altmodisches Mädchen …«

Er packte sie beim Arm. »Soll das heißen … Sie sind absichtlich …«

Sie lachte. »Aber ja doch! In Wahrheit war ich ungeduldig, Sie wiederzusehen. Aber das wollte ich Sie lieber nicht gleich merken lassen, und deshalb …«

»Hat man Worte!« Seine Züge glätteten sich. »Sie sind doch wirklich die verrückteste kleine Hummel, die ich je erlebt habe!«

»Ich hoffe für Sie, dass Sie nichts zu verbergen haben, Charly«, sagte sie ernsthaft, »Sie können es nämlich gar nicht.«

»Kann schon stimmen. Als Junge hatte ich immer Pech mit meinen Schwindeleien, während mein Bruder …«

»Nils?«, warf sie lebhaft ein. »Das ist ein richtiger Eisblock.«

»Kennen Sie ihn denn?«

»Seit neulich. Er war auf Sentas Soirée. Sieht glänzend aus, hat blendende Manieren. Aber er kam mir reichlich eingebildet vor.«

»Ja, er ist wahnsinnig von sich eingenommen, und das sogar mit Recht. Stellen Sie sich vor, seine Dissertation ist zumindest auszugsweise in einer ärztlichen Fachzeitschrift veröffentlicht worden und es hat sogar Diskussionen darüber gegeben.«

Ivy verzog das Näschen. »Ekelerregend«, sagte sie.

Er hätte nicht ausdrücken können, wie wohl es ihm tat, dass sie sich von den Erfolgen seines Bruders, die ihm nur allzu oft zu Hause vorgehalten worden waren, nicht beeindrucken ließ. »Sie sind zauberhaft«, sagte er.

Ivy hatte sich für das Treffen mit Karl-Friedrich bewusst bescheiden gekleidet. Sie hatte ein einfaches, hellgraues Kleidchen gewählt, dessen einziger Schmuck eine riesige Schleife aus buntkarierter Seide vorne unter dem Bubikrägelchen war.

»Was möchten Sie trinken?«, fragte Karl-Friedrich.

»Eine ›White Lady‹!«

»Zwei ›White Ladys‹«, bestellte Karl-Friedrich und gab dem Kellner die Weinkarte zurück.

Die Band vorne auf dem Podium, achtzehn Männer in roten Smoking-Jacken, verbeugten sich leicht, nahmen den aufprasselnden Beifall entgegen und zogen sich zurück. Die Ruhe danach tat den lärmgewohnten Ohren fast weh.

Der Kellner brachte die Cocktails. Ivy und Karl-Friedrich stießen miteinander an. Sie tranken, setzten die Gläser ab und redeten. Es war erstaunlich, wie viel sie miteinander reden konnten, ohne sich etwas Wirkliches zu sagen, und wie glücklich und gelöst sie beide sich dabei fühlten.

»Wenn es nicht so banal klänge«, erklärte Karl-Friedrich, »möchte ich sagen: Ich habe das Gefühl, als wenn wir uns schon seit Ewigkeiten kennen müssten.«

»Oh, sagen Sie’s doch!«, rief Ivy. »Sie ahnen nicht, wie ich Banalitäten liebe!«

Er ging auf ihr Spiel ein. »Ich habe das Gefühl, als wenn wir uns …«, begann er.

Ohne dass sie darauf geachtet hatten, waren die Musiker wieder auf ihre Plätze zurückgekehrt, und der Pianist intonierte eine Melodie.

Ivy sprang auf und reichte Karl-Friedrich die Hand. »Kommen Sie! Rasch! Ehe das Parkett wieder voll wird! Das ist mein Lieblingswalzer!«

Sie liefen zu einer der kleinen Treppen und eilten die wenigen Stufen hinab.

»Kenne ich gar nicht«, sagte Karl-Friedrich und lauschte, »ist der neu?«

»Brandneu. Stammt aus dem ›Blauen Engel‹.«

Er nahm sie in die Arme, und sie taten die ersten Schritte im Rhythmus der Musik.

»Nie gehört.«

»Lesen Sie denn keine Zeitung?«

»Doch. Aber hauptsächlich Wirtschaft und Politik.«

»Typisch Mann.« Sie trällerte. »Der ›Blaue Engel‹ ist ein Tonfilm mit Emil Jannings und einer jungen Schauspielerin. Marlene Dietrich heißt sie. Soll eine Offizierstochter sein. Sie ist wirklich gut. Hat aber auch eine Bombenrolle.«

Sie waren noch nicht aneinander gewöhnt. Er stolperte. »Hoppla«, sagte sie unbekümmert, »ein Beinchen zu viel?«

»Ich bin ein miserabler Tänzer …«

»Ist ja gar nicht wahr. Ihnen fehlt es nur an Übung. Habe ich recht oder stimmt’s?«

»Kann schon sein«, sagte Karl-Friedrich, der sich zusehends sicherer fühlte.

»Ich bin von Kopf bis Fuß«, sang Ivy halblaut, »auf Liebe eingestellt, und das ist meine Welt und sonst gar nichts …«

»Du bist mir schon eine!« Er küsste sie zärtlich.

Es war zwölf Uhr vorbei, sie hatten eine Flasche Sekt getrunken und waren sehr ausgelassen gewesen, als Ivy erklärte: »Ich bin müde …« Plötzlich bekam sie Schlafaugen, ihre Lider wurden dick und schwer und sie schien sie kaum noch offenhalten zu können.

Karl-Friedrich war ganz froh darüber, denn bei allem Übermut hatte er seit einiger Zeit doch zu rechnen begonnen. Von dem Geld, das Senta Rosenbaum ihm gegeben hatte, hatte er erst einmal seine rückständige Miete bezahlt und Schulden beglichen. Ein Zwanzig-Mark-Schein war ihm übrig geblieben, und der musste für die Zeche dieses Abends reichen.

Sie verließen den Saal.

»Hast du keinen Mantel?«, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin ja mit dem Wagen da.«

»Wunderbar. Dann könntest du mich ja nach Hause bringen.«

»Wenn du mir einen guten schwarzen Mokka zur Belohnung versprichst!«

Er dachte an sein dunkles, dumpfes Zimmer, das er zusammen mit drei anderen Männern bewohnte, und musste über ihre Naivität lächeln. »Bedaure unendlich«, sagte er, »aber ich bin auf Damenbesuche nicht eingerichtet.«

»Dann fahren wir zu mir«, sagte sie in einem Ton, der keinen Widerspruch aufkommen ließ.

Sie hakte sich bei ihm ein und zog ihn mit sich zur Tür.

Der Portier warf einen Blick auf das Paar und konstatierte, dass er ein Mädchen mit Geld vor sich hatte. Der Schnitt ihres Kleides verriet es ihm, die rosa Pumps, die tadellosen Seidenstrümpfe, die gepflegte Figur und die Selbstverständlichkeit ihres Benehmens.

Er pfiff auf zwei Fingern, und ein Taxi löste sich aus einer dunklen Reihe und fuhr vor. Der Portier beugte sich herab und öffnete den Schlag.

Das hatte sich so blitzschnell abgespielt, dass Karl-Friedrich jetzt erst den Irrtum bemerkte. »Nein, danke«, sagte er rasch, »wir brauchen kein Taxi.«

Der Chauffeur, ein schwerer Mann in brauner Lederjacke, wuchtete sich von seinem Sitz. »Nu erlauben Se mal, Männeken …«, begann er mit dröhnender Stimme.

Er stockte mitten im Satz und starrte Karl-Friedrich mit offenem Mund an.

Ivy war mit einem Schritt zwischen den beiden Männern. »Ein Missverständnis«, sagte sie rasch, »es tut uns leid … wir hatten wirklich kein Taxi bestellt!« Sie öffnete ihr Täschchen und drückte dem Chauffeur eine Mark in die Hand.

Der betrachtete Ivy, öffnete die Hand, beguckte sich das Geldstück und ließ es in seiner Hosentasche verschwinden. »Na dann …«, sagte er und schob die Mütze ins Genick.

Er musterte Karl-Friedrich sehr langsam von dem braunen Kopf bis zu den Schuhen aus blank geputztem, aber längst brüchigem Lack, dann drehte er sich um, setzte sich hinter das Steuer der Taxe und fuhr, da er seinen Standplatz im Rückspiegel schon besetzt fand, geradeaus.

Ivy war zu ihrem Auto gegangen und schloss auf. »So ein sonderbarer Heiliger!«, sagte sie. »Der hat dich ja angesehen, als wenn er dich fressen wollte! Kanntest du den?«

»Ja«, erklärte Karl-Friedrich kurz angebunden, »ein Kamerad von mir.«

Ivy verstand ihn falsch. »Sah aber für einen Studenten reichlich alt aus.« Sie ließ den Motor laufen und löste die Bremse. »Scheint so eine Art bemoostes Haupt zu sein … oder?«

»Ist unter normalen Umständen ein ganz netter Bursche«, sagte Karl-Friedrich und war froh, dass sie es dabei bewenden ließ.

Er hatte durchaus keine Lust, Ivy zu erklären, dass dieser Mann Otto Schultze, sein Vorgesetzter bei der Sturmabteilung, war. Er wusste, sie hätte es nicht verstanden, wieso er den Befehlen eines Taxifahrers zu gehorchen hatte, und es gab im Moment nichts, was er weniger wünschte als eine politische Diskussion, noch dazu mit einem politisch ungeschulten Mädchen.

Karl-Friedrich hatte ein schlechtes Gefühl bei dieser unverhofften Begegnung gehabt. Woher das rührte, hätte er nicht einmal zu sagen vermocht. Otto Schultze war doch wirklich ein prächtiger alter Knochen, hochdekorierter Feldwebel aus dem Weltkrieg. Er liebte einen scharfen Drill, aber er verlangte nie zu viel von seinen Leuten.

Hätte er ihn grüßen sollen?

Er hatte es erwogen, dann aber doch unterlassen, weil er sich einfach über das Wie nicht klar geworden war.

Zackig: »Heil Hitler, Obersturmführer!« – Hand hoch und Hacken zusammen. Das wäre unmöglich gewesen in dieser Situation, und verboten noch dazu.

»’n Abend, Schultze!« – Das hätte herablassend klingen können. Und dagegen war der Obersturmführer geradezu allergisch.

Also, was blieb da noch? Ein stures Gesicht aufsetzen und so tun, als wäre nichts.

Am Breitenbachplatz hielt sie am Straßenrand und gab Karl-Friedrich einen raschen Kuss. »So, da wären wir! Mein Herr, ich muss Sie bitten, mir auf dem Fuße zu folgen!«

Sie stiegen gleichzeitig aus.

»Zu Befehl«, sagte Karl-Friedrich und legte die Hand leicht an eine imaginäre Mütze.

Sie schloss die Autotüren ab, kommandierte: »Vorwärts, marsch!« Sie wendete den Kopf zurück. »Aber, bitte, leise! Ich möchte nicht, dass morgen das ganze Haus weiß …«

»Also doch wieder mal bürgerliche Vorurteile!«, spottete er.

»Möchtest du es denn?«, fragte sie ernsthaft.

Das Licht der Straßenlampe schimmerte auf ihrem Haar und in ihren Augen; sie sah geheimnisvoll schön aus.

Er nahm sie in die Arme und küsste sie zärtlich. »Nein, natürlich nicht. Ich werde nie etwas tun, was dir schadet!«

»Das ist zu wenig!«, flüsterte sie. »Sag, dass du mich beschützen wirst!«

»Wovor?«

»Egal! Sag, dass du mich beschützen wirst! Vor allen Gefahren.«

»Ich schwöre es.«

»Fein«, gab sie sich mit veränderter Stimme zufrieden, »ich wusste es ja, du bist mein Drachentöter.« Sie huschte voraus und schloss die Haustür auf.

Im Allgemeinen hatte Karl-Friedrich nicht viel für Frauen übrig, einfach deshalb, weil er sich rasch in ihrer Gesellschaft langweilte. Daher waren alle seine bisherigen Liebesabenteuer flüchtiger Natur gewesen.

Bei Ivy, zum ersten Mal in seinem Leben, hatte er das Gefühl, dass es anders sein könnte.

Auf den Zehenspitzen folgte er ihr durch das dunkle Treppenhaus nach oben in den fünften Stock. Sie hatte Mühe, in der Finsternis das Schlüsselloch zu finden, aber dann klappte es doch. Sie griff durch den Türspalt nach dem Lichtschalter, schlüpfte in ihre Wohnung und zog Karl-Friedrich hinter sich her.

»Komm herein! So, das wäre geschafft!«

Die Tapeten in der kleinen Diele zeigten ein fröhliches Blumenmuster. Über einer bauchigen alten Kommode hing ein goldgerahmter Spiegel, daneben stand ein vielarmiger Garderobenständer.

Sie nahm ihm den Trenchcoat ab und hängte ihn auf. »Hier wohne ich also«, sagte sie durchaus beiläufig, doch als sie den Ausdruck seiner Augen sah, fügte sie hinzu: »Willst du dich erst mal umsehen?«

Er folgte ihr in das kostbar und gemütlich eingerichtete Wohnzimmer – bequeme moderne Sessel, ein zierlicher Nussbaum-Sekretär, ein niedriger Tisch, in der Ecke eine Vitrine mit Silber und altem Porzellan –, folgte ihr über den erlesen gemusterten Perserteppich zur gegenüberliegenden Tür, von der aus sie ihn in ihr Schlafzimmer führte, weiß mit hellen Möbeln und dem schmalen Bett wie eines sehr behüteten jungen Mädchens; nur die hohen Einbauschränke und die Frisiertoilette mit dem dreiteiligen Spiegel, dem Arsenal von Dosen, Tuben, Töpfen und Fläschchen verrieten, dass hier denn doch kein Kind, sondern eine erwachsene junge Frau wohnte.

Er sagte wenig, aber sie merkte, wie sehr ihm das alles gefiel, und so zeigte sie ihm noch ihr Bad aus leuchtend weißem Carrara-Marmor mit der tiefen, in den Boden gelassenen Wanne.

Sie wollte einen Scherz machen, aber dann sah sie seinen fast hungrigen Blick, und sie spürte, wie sehr er sich nach einem heißen Bad sehnte. Sie hätte es ihm gerne gegönnt, aber sie wusste nicht, wie sie es ihm vorschlagen sollte, ohne ihn zu kränken – er hätte am Ende glauben können, dass sie ihn für schmutzig hielt.

So schob sie ihre Hand durch die Beuge seines Armes und sagte nur: »Ende der Besichtigung! Und jetzt, Sir …« – sie machte einen kleinen Knicks – »fühlen Sie sich wie zu Hause!«

Er wandte sich ihr zu und fragte hart: »Wer bezahlt dir das alles?«

Sie errötete, als sie seine Gedanken erriet. »Was glaubst du wohl?! Mein Vater natürlich.«

»Das muss aber ein steinreicher Mann sein«, spottete er, durchaus nicht überzeugt.

»Ja, das ist er«, erwiderte sie ernst. »Hast du das nicht gewusst?«

Er begriff, dass sie ihn nicht belügen konnte, da es so einfach für ihn gewesen wäre, die Wahrheit zu erfahren. Er hätte ja nur Senta zu fragen brauchen.

»Keine Ahnung«, sagte er, nicht eben freundlich, denn er ärgerte sich über sich selber.

»Und jetzt, da du’s weißt … hast du mich weniger lieb?«, fragte sie.

»Sei nicht dumm. Genauso gut könnte ich fragen: Stört es dich, dass ich ein armer Teufel bin?«

»Überhaupt nicht.«

»Ausgezeichnet. Wie steht es dann mit dem versprochenen Mokka?«



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