Die ehrenwerte Familie - Peter Watson - E-Book
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Die ehrenwerte Familie E-Book

Peter Watson

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Beschreibung

Die blutigen Anfänge der amerikanischen Cosa Nostra: Der fesselnde Mafia-Roman »Die ehrenwerte Familie« von Peter Watson jetzt als eBook bei dotbooks. Es war einmal in Amerika … New Orleans, 1880: Man könnte ihn für einen ganz normalen Einwanderer aus Sizilien halten – doch seit sich Silvio Randazzo in seiner Heimat einer gefährlichen Aufnahmeprüfung gestellt und später seinen ersten Mord begangen hat, ist aus dem Bauernjungen ein Mafia-Soldat geworden, der eiskalt seine Ziele verfolgt. Schon bald macht sich Silvio in Amerikas ebenso schillernder wie verkommener Stadt einen Namen – und unverzichtbar für die Anführer der ehrenwerten Familien. Als diese selbst unter Druck geraten, weiß Silvio, dass seine Chance gekommen ist, selbst zum Don zu werden. Aber wird er wirklich skrupellos genug sein, um alle auszuschalten, die ihm im Weg stehen? Denn wer hoch steigt, kann tief fallen … Als der internationale Bestsellerautor Peter Watson in der London Library ein staubiges Buch über den realen Sylvano Randazzo entdeckte, ließ ihn die Lebensgeschichte des Mafioso nicht mehr los – und so adaptierte er sie zu diesem Roman: »Faszinierend! Dieses Buch schlägt Mario Puzo und den Paten um Längen!« Publishers Weekly Jetzt als eBook kaufen und genießen: das auf wahren Begebenheiten basierende Gangster-Epos »Die ehrenwerte Familie« des internationalen Bestsellerautors Peter Watson für alle Fans der Mafia-Filme von Martin Scorsese und Brian De Palma. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Über dieses Buch:

Es war einmal in Amerika … New Orleans, 1880: Man könnte ihn für einen ganz normalen Einwanderer aus Sizilien halten – doch seit sich Silvio Randazzo in seiner Heimat einer gefährlichen Aufnahmeprüfung gestellt und später seinen ersten Mord begangen hat, ist aus dem Bauernjungen ein Mafia-Soldat geworden, der eiskalt seine Ziele verfolgt. Schon bald macht sich Silvio in Amerikas ebenso schillernder wie verkommener Stadt einen Namen – und unverzichtbar für die Anführer der ehrenwerten Familien. Als diese selbst unter Druck geraten, weiß Silvio, dass seine Chance gekommen ist, selbst zum Don zu werden. Aber wird er wirklich skrupellos genug sein, um alle auszuschalten, die ihm im Weg stehen? Denn wer hoch steigt, kann tief fallen …

Als der internationale Bestsellerautor Peter Watson in der London Library ein staubiges Buch über den realen Sylvano Randazzo entdeckte, ließ ihn die Lebensgeschichte des Mafioso nicht mehr los – und so adaptierte er sie zu diesem Roman: »Faszinierend! Dieses Buch schlägt Mario Puzo und den Paten um Längen!« Publishers Weekly

Über den Autor:

Peter Watson, geboren 1943 in Birmingham, ist der Autor zahlreicher internationaler Bestseller. Er studierte Psychologie und Musik in Durham, London und Rom und war anschließend als Journalist für angesehene Zeitungen wie die »Times« und den »Observer« tätig. Er gilt als einer der besten Kunstspezialisten der Welt und konnte zur Aufklärung zahlreicher Kunstdiebstähle und Fälschungen beitragen.

Bei dotbooks veröffentlichte Peter Watson die Romane »Die sixtinische Auktion«, »Das Gemälde des Todes« und »Der letzte Verräter«.

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eBook-Neuausgabe Oktober 2021

Die englische Originalausgabe erschien erstmals 1995 unter dem Originaltitel »Capo« bei Richard Cohen Books.

Copyright © der englischen Originalausgabe 1995 by Peter Watson

Copyright © der deutschen Erstausgabe 1997 Econ Verlag GmbH, Düsseldorf und München

Copyright © der Neuausgabe 2021, 2024 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von AdobeStock/Gizmo (Mann) und shutterstock/Ysbrand Cosijn, George J

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (fb)

ISBN 978-3-96-655-786-3

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Liebe Leserin, lieber Leser, in diesem eBook begegnen Sie möglicherweise Begrifflichkeiten, Weltanschauungen und Verhaltensweisen, die wir heute als unzeitgemäß oder diskriminierend verstehen. Bei diesem Roman handelt es sich um ein rein fiktives Werk, das vor dem Hintergrund einer bestimmten Zeit spielt oder geschrieben wurde – und als solches Dokument seiner Zeit von uns ohne nachträgliche Eingriffe neu veröffentlicht wird. Diese Fiktion spiegelt nicht unbedingt die Überzeugungen des Verlags wider.

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Peter Watson

Die ehrenwerte Familie

Roman

Aus dem Englischen von Monika Hahn-Prölss

dotbooks.

Dieser Roman basiert teilweise auf Ereignissen, die sich zwischen 1879 und 1891 auf Sizilien und in New Orleans zutrugen. Ereignisse, die zeigen, wie sich die sizilianische Mafia in Nordamerika etablierte. Die chronologische Abfolge gewisser Vorfälle wurde den Erfordernissen des Romans entsprechend geändert. Ich danke der New Orleans Public Library und der Historic New Orleans Collection für ihre Hilfe bei meinen Recherchen.

Teil ISoldato

1879

Kapitel 1

»Sylvano, dies ist das gefährlichste Päckchen, das du je befördert hast. Und auch das kostbarste. Wenn du erwischt wirst, kommst du ins Gefängnis, obwohl du noch so jung bist. Vielleicht foltert man dich sogar, um herauszukriegen, wo ich bin. Das ist dir doch klar, oder?«

Sylvano Randazzo nickte. Er mochte seinen Namen in dieser Form nicht. Alle anderen nannten ihn Silvio.

»Deine Jugend ist dein bester Schutz. Einer der Gründe, warum wir dich ausgewählt haben. Außerdem bist du kräftig. Wenn du so wenig wie möglich schläfst, müßtest du übermorgen in Palermo sein, wo man dich erwartet. Du triffst dich mittags mit Anna Scafidi vor dem Portal von San Domenico. Sie weiß, wo das Postamt ist, und bringt das Päckchen dorthin. Sie wird auch die Adresse schreiben, was du ja nicht kannst. Und vergiß nicht, die Verpakkung ist genauso wichtig wie der Inhalt.«

Silvio nickte wieder. Er hörte das nun schon zum zweiten Mal. So vergeßlich war er nun auch wieder nicht.

»Warte, bis das Päckchen aufgegeben ist. Dann reitest du sofort wieder zurück. Ist das klar? Hast du verstanden?«

»Ich bin doch kein Esel«, murmelte Silvio. Natürlich hatte er verstanden. Laut sagte er: »Si, Signore.« Er war hochgewachsen und schlank, ein dunkler, gutaussehender Junge mit dem Haar der Sizilianer, das so glänzend schwarz war wie Oliven.

Der ältere Mann musterte ihn lächelnd. »Du wirst deinem Vater von Tag zu Tag ähnlicher.« Als er den Arm um Silvios Schulter legte, wurde er plötzlich ernst. »Du hast seine Augen, seine Art, dir auf die Lippe zu beißen, und … seinen Verstand, wie behauptet wird. Dein Vater sagte immer, nur drei Dinge im Leben seien wichtig: Verstand, Blut und Mut.« Er lachte. »Allerdings sagte er auch, er wisse nicht, was davon am wichtigsten ist. Nun, vielleicht findest du eines Tages die Antwort.«

Er überlegte kurz. »Und nenn mich nicht mehr ›Signore‹. Wenn du deine Sache gut machst, Sylvano, dann bin ich für dich hinterher ›Nino‹. Wir werden Kameraden sein.«

Das ist wirklich eine große Ehre, dachte Silvio voller Stolz. Nino – Antonino Greco – war der berühmteste Mafioso von ganz Italien. Jeder hatte schon einmal vom »Steinbrecher« gehört, wie sein Spitzname lautete, und in den Cafés des nahegelegenen Ortes Bivona munkelte man, über seine Taten werde sogar in London und Amerika berichtet. Den Beinamen hatte er bekommen, weil er seit seiner Arbeit in den Steinbrüchen bei Gela als Sprengstoffexperte galt. Seine Führungsqualitäten begeisterten die Leute, doch sein Jähzorn, so explosiv wie Dynamit, jagte ihnen auch Angst ein.

Sizilien war eine karge Insel, von Gott und von Rom verlassen, doch die Gefolgsleute des Steinbrechers, so an die hundert oder mehr, hatten gut zu essen. Es gab Fisch, Kaninchen, Lamm, Eier und Wein. Obwohl sie hoch oben in den Bergen hinter Palermo lebten, sorgte Nino immer für ausreichend Nahrung. Von nun an würde Silvio also vielleicht zu den wenigen Auserwählten zählen, die ihn mit dem Namen anreden durften, der ihm selbst am liebsten war.

»Geh jetzt«, sagte Nino. »Ich erwarte dich nach vier Nächten zurück.« Für einen Moment verfinsterte sich sein Gesicht. Mit seinem Vollbart und den buschigen Augenbrauen sah er nun zum Fürchten aus. »Enttäusch mich nicht!«

Silvio schaute erst ihn und dann seinen Onkel Bastiano an, der in den zehn Jahren, seit Silvio Waise war, wie ein Vater für ihn gesorgt hatte. Nein, er durfte sie nicht enttäuschen. Bastiano Randazzo war Ninos consigliere, sein Berater und seine rechte Hand, aber er verdankte Nino alles. Falls Silvio versagte, würde auch Bastiano es zu spüren bekommen.

Sein Onkel ließ sich nichts anmerken. Er war zu stolz, um etwas zu sagen, aber Silvio konnte in seinen Zügen lesen. »Enttäusch uns nicht! Bitte, enttäusch uns nicht!«

Silvio hatte nicht mit Regen gerechnet, obwohl schon den ganzen Nachmittag über der Himmel bewölkt gewesen war. Doch nun, als er vom Maultier stieg, seine zusammengerollte Decke und natürlich auch das Päckchen herunternahm und sich unter eine alte Brücke ins Flußbett des Azzirioli legte, prasselten Regentropfen auf den gelblichen Sandstein der Brücke und ließen die silbriggrünen Blätter der Olivenbäume erzittern.

Nachdem er mit Brot und Salami seinen Hunger gestillt hatte, versuchte er einzuschlafen, war aber wie so oft mit den Gedanken bei Annunziata. Mit Nino Greco und seiner »Familie« in den Bergen zu leben war für einen Siebzehnjährigen in vieler Hinsicht aufregend. Das Dörfchen Bivio Indisi – bivio bedeutet Weggabelung –, das auf dem Berg Indisi lag, hatte Nino einige Jahre zuvor zu seinem Hauptquartier gemacht, nachdem ein Erdrutsch das Dorf von der Außenwelt abgeschnitten hatte. Nach Ansicht Ninos und der Familie war Bivio Indisi absolut sicher. Vom Cammarata-Gebirge aus betrachtet wirkte das halbe Dutzend arg zerfallener Häuser wie aus Parmesan geschnitzt.

Doch einiges machte Silvio auch zu schaffen, und das hing unter anderem mit Annunziata zusammen. Sie war Silvios erste große Liebe, und soweit er es beurteilen konnte, liebte sie ihn auch. Das Problem bestand darin, daß Annunziata Silvios Cousine war, da ihre Mütter Schwestern gewesen waren. Annunziatas Vater, Nino, lebte zwar noch, doch ihre Mutter war im Kindbett gestorben, und Silvios Eltern waren beide getötet worden. Durch diese schweren Verluste wurden die beiden schon von klein auf schier unzertrennlich.

Silvio versuchte, die Gedanken an den Tod seiner Eltern zu verdrängen, doch manchmal, meistens spätabends, verfolgte ihn die Erinnerung. Zu fünft waren sie von Filaga nach Santo Stefano geritten, drei Erwachsene und zwei siebenjährige Jungen. Zu der Gruppe gehörten Silvios Mutter Sylvana, sein Vater Lorenzo, den jeder Renzo nannte, sowie Aldo, Renzos und Bastianos Bruder, also Silvios Onkel. Der andere Junge war Aldos Sohn und somit Silvios Cousin. Die beiden Jungen bildeten die Nachhut. Ihre Maultiere waren kleiner und langsamer als die der anderen, und außerdem wollten sie über Dinge reden, die die Erwachsenen nichts angingen.

Sie überquerten gerade die Brücke über den Fluß Capraria, als die Schüsse fielen. Silvios Vater und sein Onkel waren auf der Stelle tot. Silvios Mutter wäre vielleicht verschont worden, doch ihr Pferd ging mit ihr durch und warf sie ab. Beim Sturz ins Flußbett brach sie sich den Hals, und ihr Schädel wurde zerschmettert.

Silvio erschauerte immer noch beim Gedanken an diesen Tag. Sein Kummer war mit den Jahren zwar schwächer geworden, doch etwas ließ ihn nie los. Bei der Tat hatte es sich um Blutrache gehandelt, wie jeder wußte, begangen von dem rivalisierenden Clan Carculipo. Dessen Mitglieder hegten den Verdacht, Aldo Randazzo sei ihnen geschäftlich in die Quere gekommen. Renzo hatte man gleich mit umgebracht, da sich gerade die Chance bot. Was Silvio nachts immer noch zum Schwitzen brachte, war die Tatsache, daß er kurz vor den Schüssen etwas zwischen den Bäumen hatte aufblitzen sehen, sich aber nichts dabei dachte. Natürlich war ihm hinterher klar geworden, daß er gesehen hatte, wie ein Sonnenstrahl einen Gewehrlauf traf. Wäre er cleverer gewesen, hätte er seinen Eltern und seinem Onkel vielleicht den Tod ersparen können – und sich selbst ein Leben als Waisenkind. Nino hatte seinen Verstand gelobt, doch Silvio wußte, bei jener einen Gelegenheit, als es wirklich darauf ankam, hatte er nicht schnell genug geschaltet. Na schön, er war erst sieben Jahre alt gewesen, aber was machte das für einen Unterschied? Verstand, Blut und Mut. Man wurde damit geboren.

Nach dieser Tragödie schlug Silvio viel Sympathie seitens seiner Familie entgegen, und er wurde ziemlich verwöhnt. Dennoch waren er und Annunziata klug genug, ihre Gefühle füreinander geheimzuhalten. Nino und Bastiano wären alles andere als begeistert gewesen, wenn sie erfahren hätten, daß die beiden Kinder (für manche in der Familie waren sie immer noch Kinder) ineinander verliebt waren. Die katholische Kirche hatte diesbezüglich strenge Regeln. Silvio und Annunziata wären womöglich getrennt worden, und das war undenkbar. Das Schlimmste an seinem Auftrag, das Päckchen zu befördern, war nicht, daß es sich um eine Bewährungsprobe handelte, sondern daß er Annunziata vier Tage nicht sehen würde.

Während sich immer neue Wolken über ihm zusammenzogen, schlummerte Silvio schließlich ein, im Kopf wunderbare Bilder von Annunziatas Brüsten. Er hatte sie noch nicht gesehen, noch nicht …

Beim Aufwachen am nächsten Morgen hörte er als erstes das leise, gleichmäßige Prasseln des Regens. Es gab so selten Niederschläge in Sizilien, daß ein Regenschauer eigentlich immer willkommen war, doch gerade jetzt paßte es Silvio gar nicht. Das Päckchen mußte trocken bleiben. Man hatte ihm das nicht extra eingeschärft, aber er wußte, es hatte eine lange Reise vor sich, bis nach England, und wenn seine Verpackung feucht war, würde es vom Postamt vielleicht nicht angenommen werden. Außerdem würde die Nässe womöglich das verwischen, was auf die Innenseite des Packpapiers gezeichnet war, und damit wäre der erwünschte Effekt sicher zunichte gemacht.

Silvio trug keinen Regenmantel – er besaß gar keinen -, und der Beutel, den er sich beim Reiten um den Körper band und in dem sein Proviant und das Geld für Anna Scafidi steckten, schützte auch nicht vor dem Regen. Er überlegte kurz und beschloß, das Päckchen in seine Schlafdecke einzuwickeln. So würde es vielleicht etwas zerdrückt, blieb aber auf jeden Fall trocken. Dann machte er sich wieder auf den Weg. Bastiano hatte ihm auf die Reise eine Uhr mitgegeben, damit er rechtzeitig zur Verabredung mit Anna Scafidi käme. Silvio konnte zwar nicht lesen, aber die Uhrzeit konnte er entziffern. Jetzt war es kurz nach fünf.

Es regnete den ganzen Vormittag. Die Düfte der Insel wurden durch die Nässe intensiver, vor allem die der überreifen Oliven und der Nadelbäume. Selbst die Erde strömte einen würzigen Geruch aus. Wenn es auf Sizilien regnete, tauchten bald aus dem Nichts kleine Bäche auf, die in versteckten Rinnen gurgelten und plätscherten. Die Vögel blieben stumm. Einer dieser Wildbäche floß an Castronuovo vorbei, wo Silvios Eltern begraben lagen. Er ging nicht oft dorthin, weil es ihn zu traurig stimmte.

Der Regen bewirkte noch etwas Gutes: Die Bauern blieben in ihren Häusern. Es waren heute weniger Leute unterwegs als gestern. Das konnte ihm nur recht sein, wenn er bedachte, was er bei sich trug. Alles schien gut zu klappen.

Doch er hatte sich zu früh gefreut. Kurz nach Mittag näherte er sich wieder einem Fluß, dem Catala. Über die tiefe Schlucht führte eine schmale Brücke, und von seinem Bergpfad aus konnte Silvio dort drei Gestalten erkennen. Sie trugen Mützen und graublaue Uniformen. Sbirren, wie die Einheimischen die Polizei verächtlich nannten.

Silvio zügelte sein Maultier. Er wußte, so etwas konnte immer passieren. Nach Meinung der Regierung – der italienischen Regierung wohlverstanden – wimmelte es in dem Gebiet hinter Palermo nur so von Banditen und Mafiosi. Die Sizilianer dachten natürlich anders darüber. Obwohl sie nun fast zwanzig Jahre zum Königreich Italien gehörten, fühlten sie sich immer noch nicht als Italiener und ärgerten sich über die Einmischung des Festlands in ihre Angelegenheiten, wie sie sich schon mehr als tausend Jahre über jegliche Einmischung geärgert hatten. Aber momentan hatten die anderen die Oberhand. Zumindest verfügten sie über eine Polizei, die Straßensperren wie diese hier errichtete, um irgendwelche Leute zu schnappen.

Silvio stieg aus dem Sattel und setzte sich auf einen Felsblock hinter einem Baum, von wo aus er alles beobachten, aber nicht gesehen werden konnte. Das Geräusch des Regens wirkte irgendwie beruhigend auf ihn. Er mußte nachdenken. Er steckte in einer unangenehmen Situation, die Verstand und Mut erforderte. Unter anderen Umständen hätte er die Brücke einfach umgangen, denn er kannte sich in der Gegend gut aus, und wäre unbemerkt über die Berge in Richtung Cerruda geritten. Das jedoch brauchte Zeit, mehr Zeit, als er in diesem Fall zur Verfügung hatte. Schließlich sollte er morgen mittag in Palermo sein. Also mußte er auf der Straße bleiben und die Brücke überqueren.

Während Silvio überlegte, was er tun sollte, aß er eine Orange. Sobald er zur Brücke kam, würde er durchsucht werden. Fand man das Päckchen, würde man es öffnen. Der Inhalt war dergestalt, daß man Silvio garantiert ins Gefängnis warf. Der nun ausgepackte Gegenstand würde nie seinen Bestimmungsort erreichen, und alle Zeitungen würden über den spektakulären Fund berichten. Silvio hätte versagt.

Je mehr er über seine knifflige Lage nachdachte, desto klarer wurde ihm, daß es an einem Maultier nur einen einzigen Ort gab, an dem man etwas verstecken konnte. Er stand auf, warf den Rest der Orange weg und wickelte das Päckchen aus der Decke. Er öffnete es, faltete das Papier zusammen und steckte es für einen Moment in die Hosentasche, damit es trocken blieb. Der Inhalt war klein und roch immer noch unangenehm. Silvio hielt ihn mit einer Hand und versuchte, die aufkommende Übelkeit zu bekämpfen. Mit der anderen Hand griff er nach dem Schwanz des Maultiers.

Die drei Sbirren saßen rauchend auf dem Brückengeländer und schauten vor sich hin. Ab und zu beschwerten sie sich lautstark über das Wetter. Als sie Silvio auf seinem Maultier erblickten, standen sie auf und drückten ihre Zigaretten aus. Einer griff nach seiner Pistole.

Silvio zögerte nicht, sondern ritt direkt auf sie zu.

»Absitzen!« sagte der Polizist mit der Waffe.

Silvio gehorchte.

»Nehmt alles herunter«, befahl der Anführer mit einer Kopfbewegung zum Maultier hin. »Sattel, Zaumzeug, alles.« Er trug Abzeichen auf seinen Schultern. Aufwendige Messingknöpfe. Offenbar ein Hauptmann.

Einer der beiden anderen Männer hielt das Tier am Kopf fest, während sein Kamerad den Sattelgurt löste.

Der Hauptmann steckte seine Pistole ins Halfter zurück. Ungeduldig zündete er sich eine neue Zigarette an.

»Nun zu dir«, begann er und zupfte sich Tabakkrümel von der Zunge. »Wer bist du, woher kommst du, und wohin willst du?«

»Ich heiße Silvio Randazzo. Ich komme aus Bivona und reite nach Palermo.«

»Wie alt bist du?«

»Ich werde nächsten Monat achtzehn.«

»Ist das nicht ein bißchen zu jung, um ganz allein zu reisen?«

Silvio warf sich in die Brust. »Ich bin ein Mann.«

Der Hauptmann grinste säuerlich. »Und immer noch Jungfrau, wetten?«

Silvio errötete, als hätte Annunziata das gesagt, und der Hauptmann lachte laut los. Doch gleich darauf fragte er in scharfem Ton: »Warum willst du nach Palermo?«

»Um meine Tante zu besuchen. Mein Vater – ihr Bruder – ist krank. Es gibt sonst keinen, zu dem ich gehen kann.«

»Was ist an deiner Tante so besonders?«

»Sie hat Geld. Für Medikamente.«

Der Hauptmann verzog das Gesicht. Vermutlich schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, daß sie den Jungen besser auf seinem Heimweg gefilzt hätten, wenn er Geld bei sich hatte. Schroff wandte er sich zu seinen Untergebenen um. »Nun?«

Der Sattel lag mit der Unterseite nach oben auf dem Boden. Die Decke war ausgebreitet, das Zaumzeug abgeschnallt. Der eine Polizist hatte dem Maultier seinen Gürtel um den Hals gebunden, um es festhalten zu können.

»Hier ist nichts«, sagte der zweite. »So sauber wie das Chorhemd eines Bischofs.«

»Durchsucht ihn«, ordnete der Hauptmann an.

»Zieh dein Hemd aus.«

»Bei dem Regen?«

»Zieh dein Hemd aus.«

Silvio tat, was von ihm verlangt wurde.

»Nun deine Hose. Und den Beutel, den du dir um den Bauch gebunden hast.«

Einer der Polizisten griff in Silvios Hosentaschen. In dem Beutel fand er ein Stück Salami und etwas Geld. Er steckte die Wurst zurück und zeigte das Geld.

»Gib’s ihm«, brummte der Hauptmann. »Wir sind schließlich nicht die Mafia.« Er deutete auf Silvios Beine. »Jetzt noch deine Stiefel.«

Danach bekam Silvio die Erlaubnis, sich wieder anzuziehen und das Maultier aufzuzäumen und zu satteln.

Er nahm die Zügel und schwang sich etwas unbeholfen auf den Rücken des Maultiers. »Darf ich jetzt weiter?«

Der Hauptmann musterte ihn argwöhnisch. »Bivona. Das ist Steinbrecher-Gebiet. Da wurde der englische Pfarrer entführt.«

»Ja«, stimmte Silvio zu. »Alle reden darüber.«

»Bist du diesem Mann je begegnet, diesem Nino Greco?«

»Nein. Aber ich würde es Ihnen auch nicht verraten, wenn’s so wäre.« Der Hauptmann zog finster die Brauen zusammen, bis Silvio hinzufügte: »Ich habe nämlich schreckliche Angst vor ihm.«

»Noch eine Frage«, sagte der Hauptmann und trat etwas näher. »Warum hast du den Schweif deines Maultiers geflochten?«

Silvio brach der Schweiß aus. Fast hatte er es geschafft, und nun dies! Er versuchte, so beiläufig wie möglich zu antworten. »Das habe nicht ich gemacht, sondern meine Schwester. Vor zwei Tagen. Wir haben alle Maultiere geschmückt, weil mein Vater Geburtstag hatte. Und dann wurde er plötzlich krank.«

Der Hauptmann trat hinter das Tier, um sich den geflochtenen Schweif genauer anzusehen. Er zündete sich wieder eine Zigarette an und zupfte erneut Tabakkrümel von seiner Zunge.

»Es ging alles so schnell«, erklärte Silvio. »Da blieb keine Zeit, ihn aufzuflechten.« War dem Hauptmann etwas aufgefallen? Plötzlich begann es noch stärker zu regnen, und die Sbirren hatten genug von der Nässe.

»Ab mit dir«, sagte der Hauptmann zu Silvio und rief dem eilig Davonreitenden noch hinterher: »Ich hatte meine erste Frau mit sechzehn.« Und wieder lachte er laut auf.

Silvio ritt eine halbe Stunde zügig durch den strömenden Regen, um möglichst weit von den Sbirren wegzukommen. Da er jedoch vermeiden wollte, daß der kostbare, grausige Päckcheninhalt naß wurde, trieb er schließlich das Maultier zwischen die Bäume, bis er von niemandem mehr gesehen werden konnte. Er saß ab und begann, den Schweif aufzuflechten.

Harriet Livesey zog die Gardinen zur Seite und schaute hinaus in den Garten, der an diesem Julimorgen von Sonnenlicht durchflutet war. Normalerweise hätte dieser Anblick ihr Herz mit Freude erfüllt, aber nun beschäftigte sie nur der Gedanke an ihren Bruder. Wann würde sie ihn endlich aus einer Kutsche steigen sehen?

Harriet ging zum Frühstück ins Erdgeschoß hinunter und nahm ihren Highlandterrier Rhum gleich mit. Er war ihr einziger Trost, seit ihr Bruder vor zwei Monaten von Kidnappern verschleppt worden war. Im Frühstückszimmer wurde auf ihre Anordnung der Tisch immer für zwei gedeckt. Sie würde ihren Bruder nicht aufgeben, nur weil er von ein paar lächerlichen sizilianischen Banditen gefangengehalten wurde.

»Guten Morgen, Edna«, begrüßte sie die junge Frau, die neben der Anrichte stand.

»Guten Morgen, Miß«, erwiderte das Dienstmädchen mit einem angedeuteten Knicks. Die Familie gehörte nicht zur Aristokratie, aber Pfarrer Henry Livesey verfügte über ein ansehnliches Einkommen, seit sein älterer Bruder, der im Wessex-Regiment gedient hatte, in Indien getötet worden war.

»Ich habe keinen Appetit, Edna. Bitte nur Tee.«

Bevor Harriet die Morgenzeitung zu lesen begann, schaute sie sich im Zimmer um. Sie hatte sich vorgenommen, daß während Henrys Abwesenheit jederzeit alles zu seinem Empfang bereit sein sollte. Nichts war verändert. Diese zwei verdammten Gemälde beherrschten immer noch die Wand gegenüber der Fensterfront. Verdammt waren sie deshalb, weil auf dem einen ausgerechnet jenes Tal abgebildet war, das Henry bei Fontana Murata auf Sizilien besaß. Wegen der wertvollen Schwefelminen war er ins Hinterland von Palermo gereist, wo er dann entführt worden war. Das zweite Bild war ein Porträt von Sir Thomas Lawrence, das Henrys und Harriets Urgroßvater, General Sir James Livesey, darstellte, dessen Feldzüge für Wellington den Grundstein für das Vermögen der Liveseys gelegt hatten. Das Porträt war nicht außergewöhnlich, aber es war eben ein echter Lawrence, und bei Christie’s hatte man es erst drei Monate zuvor, zwei Wochen vor Henrys Abreise nach Italien, auf 4000 Guineen geschätzt. Der Zufall wollte es, daß dies fast genau die Summe war, die der sizilianische Bandit Nino Greco nun forderte.

Edna stellte die Teekanne auf den Tisch.

Harriet hatte die Lösegeldsumme bezahlen wollen. Was bedeutete denn ein Gemälde mehr oder weniger? Leider dachte jedoch der Anwalt der Familie, William Baldwin, der während Henrys Abwesenheit die Verfügungsgewalt über dessen Finanzen besaß, anders darüber. Baldwin war empört über die Forderung gewesen und hatte sich an den für diesen Distrikt zuständigen Abgeordneten, Sir Rupert Farrar, gewandt. Farrar hatte die Angelegenheit im Unterhaus vorgetragen, und danach war an ein Eingehen auf die Lösegeldforderung nicht mehr zu denken gewesen. Der Außenminister hatte versprochen, sich mit der italienischen Regierung in Verbindung zu setzen. Als er im Parlament harsche Kritik an den Italienern übte, die nicht in der Lage seien, Reisende in ihrem Land zu beschützen, wurde seine Rede in vielen Zeitungen abgedruckt. Doch trotz des wutschnaubenden Gehabes von Farrar und dem Außenminister blieb Henry verschollen.

Harriet überflog gerade die Titelseite der Morning Post, als es an der Tür klingelte. Inzwischen reagierte sie auf unerwartete Besucher nicht mehr so aufgeregt wie anfangs, als sie immer gehofft hatte, es könnte Henry sein. Sie warf einen Blick zur Uhr auf der Anrichte. Viertel nach zehn. Vermutlich der Postbote.

Kurz darauf klopfte es, und Venables, der Butler, kam herein.

»Die Post, Miß.«

Harriet machte eine Handbewegung zur Anrichte hin.

»Nein, Miß.« Venables wich nicht von der Stelle, und Harriet sah ihn erstaunt an. »Dieses Päckchen kommt aus Italien.«

Harriet stellte die Teetasse ab, stand auf und nahm das Päckchen von dem Silbertablett, das Venables ihr hinhielt. Der Butler verließ den Raum. Die Briefmarke war vor zwei Wochen in Palermo abgestempelt worden. Harriets Namen hatte jemand mit nicht allzu schreibkundiger Hand in unterschiedlich großen Druckbuchstaben geschrieben. Das Päckchen war mit Bindfaden verschnürt, aber nicht mit Wachs versiegelt.

Sicher stammte es von den Kidnappern. Sollte sie Baldwin holen lassen? Oder die Polizei? Noch während sie überlegte, fingerte sie schon an der Schnur. Warum ein Päckchen? Was mochte darin sein? Bei der ersten Kontaktaufnahme war es nur ein kurzer Brief gewesen. Sie löste die Schnur und faltete das Papier auseinander. Als Harriet den Inhalt des Päckchens sah, stieß sie einen Schrei aus und wurde ohnmächtig.

Das Päckchen fiel neben ihr auf den Teppich. Rhum war einen Moment beunruhigt über das Verhalten seiner Herrin, schnüffelte dann aber interessiert an dem Gegenstand, den sie hatte fallen lassen. Venables, der den Schrei gehört hatte, stürzte ins Zimmer.

Er erkannte das Ding auf dem Teppich ebenso rasch wie Harriet. Es war das Ohr eines Menschen.

Kapitel 2

Der knapp vierzigjährige Nino Greco stammte aus Campobello bei Licata. Seine Mutter war bei seiner Geburt gestorben, und seine langjährige Geliebte, Tomasetta Priola, hatte die Geburt von Annunziata nicht überlebt. Ninos Vater, Fermo, hatte es zum Vorarbeiter in einem Steinbruch bei Gela gebracht, und bereits mit dreizehn Jahren fing Nino ebenfalls dort an. Zwei Jahre lang lief alles gut. Dann jedoch kam heraus, daß Ninos Vater die Mafia mit Sprengstoff belieferte. Die Polizei konnte nachweisen, daß der Sprengstoff, der bei einem Banküberfall in Catania verwendet worden war, aus dem Steinbruch von Gela stammte, und Ninos Vater wurde zusammen mit mehreren anderen angeklagt, verurteilt und eingesperrt.

Während der drei Jahre, die sein Vater im Gefängnis saß, blieb Nino im Steinbruch, wo er das Handwerk erlernte. Man brachte ihm bei, wie Sprengladungen hergestellt und so geschickt angebracht werden, daß die richtige Menge an Felsgestein weggesprengt wird, wieviel davon nötig ist, um eine ganz spezielle Wirkung zu erzielen, wie man mit Lunten umgeht und vieles mehr.

Als Fermo Greco seine Haftstrafe abgesessen hatte, kümmerte sich die Mafia um ihn. Da er nicht in den Steinbruch zurückkonnte, gab man ihm den Posten des guardino, der in den Olivenhainen rings um Licata Schutzgelder einkassierte. Drei Jahre genoß Nino ein ruhiges, stetes Leben, wie er es nie gekannt hatte und vielleicht nie mehr kennen würde. Sein Vater war ein harter Mann, der aber ein gewisses Pflichtgefühl besaß, was seinen Sohn betraf. Er versorgte Nino mit einer Reihe wichtiger Tips über Sprengstoff. Nicht weniger wichtig war, daß er seinen Sohn mit nach Palermo nahm, wo er Nino in das Leben – hauptsächlich das Nachtleben – im Hafen mit all seinen Kneipen und Bordellen einführte.

Fermo und Nino standen bis zu einem gewissen Grade unter dem Schutz der Familie Priola, mit der sie verwandt waren. Da die Priolas mehrere große Dampfschiffe besaßen, brauchten sie gelegentlich Schützenhilfe, um auf den Piers keine Probleme mit den Arbeitern zu bekommen. Die Priolas aus Palermo galten als reiche, angesehene Leute, doch hinter dem offiziellen Schiffahrt- und Transportunternehmen gab es weniger seriöse Geschäfte, die von einigen ihrer Verwandten erledigt wurden.

Mit siebzehn Jahren lernte Nino die Freuden der käuflichen Liebe in der berüchtigten Via Scina von Palermo kennen. An einem Wochenende hatten zwei der Priola-Brüder Nino mitgenommen, hatten ihm mehrere puttane verschafft, wie die Nutten dort hießen, und ihm viele Gläser des starken sizilianischen Weins spendiert, für den der junge Mann eine große Vorliebe entwickelte. Völlig ausgepumpt und stolz auf sich, weil er an einem Tag vier Frauen gehabt hatte, war er eingeschlafen.

Als er wieder zu sich kam, befand sich ein fremder Mann im Zimmer. Ein unangenehmer Typ mit langer Nase und schiefen Zähnen, der sich gleich erkundigte, ob Nino sich gut amüsiert habe.

»Was geht Sie das an?«

»Weil es nichts umsonst gibt, mein Freund. Du hast gestern deinen großen Tag gehabt. Jetzt mußt du dafür zahlen.«

Nino geriet in Panik. »Zahlen? Ich bin erst siebzehn. Ich arbeite in einem Steinbruch und verdiene nicht viel …«

»Ich weiß, wer du bist und was du tust.«

»Aber … aber ich gehöre in gewisser Weise zur Familie.«

»Ja, auch das weiß ich. Ich gehöre nämlich selbst dazu.«

Nino überlegte kurz, ob er an dem Kerl vorbei aus dem Zimmer stürzen sollte. Doch er war nackt und sah auch nirgends seine Kleidung. Irgend jemand hatte sie entfernt. Plötzlich wurde ihm mulmig zumute. Der gestrige Tag und die Nacht waren geschickt inszeniert worden, um ihn in die Falle zu locken.

Es war unnatürlich still im Zimmer. Schließlich lächelte der Fremde. »Wie ich sehe, hast du begriffen.«

Er zündete sich umständlich eine Zigarette an und blies den Rauch in die abgestandene Luft.

»Du bist Sprengstoffexperte. Du arbeitest in einem Steinbruch. Du hast Zugang zu gewissen Substanzen, die wir brauchen.«

»Wer ist ›wir‹?«

»Mit deinen siebzehn Jahren solltest du alt genug sein, um zu wissen, welche Fragen man nicht stellen darf. Hör zu. Ich werde dir jetzt deine Kleidung geben und dich mit rausnehmen. Dann bringe ich dich zu einer Bank hier in Palermo. Ich führe dich in das Gebäude und zeige dir eine Tür. Eine Metalltür zu einem Tresorraum. Den Rest kannst du dir zusammenreimen. Du sollst ausrechnen, wieviel Dynamit nötig ist, um die Tür aufzusprengen. Nur die Tür, nichts sonst. Und dann mußt du uns soviel Dynamit beschaffen.«

Als der Mann fertig war, zitterte Nino am ganzen Leib. Welch perfekt ausgetüftelter Plan! Er dachte fieberhaft nach, schwieg aber verstockt.

Der andere rauchte genüßlich seine Zigarette. Schließlich meinte er: »Kein Grund, wütend zu sein oder zu schmollen. Wenn du den Auftrag gut erledigst, kannst du in Häusern wie diesem Stammkunde werden.«

Er ließ ein paar Sekunden verstreichen, bevor er weiterredete. »Wir haben dich beobachtet. Du bist gut, vielleicht sogar besser als dein Vater. Als er dich auf unsere Anweisung hin anlernte, wußten weder er noch wir, was aus dir werden würde. Es war eine gute Investition.«

Er drückte die Zigarette aus und stand auf. »Nino, dein Vater ist einer von uns. Akzeptier es, und basta. Los, gehen wir.« Er wandte den Kopf und rief: »Beppo!«

Die Tür wurde sofort geöffnet. Ein Mann kam mit Ninos Kleidung herein und warf sie achtlos auf das Bett.

Nino hatte diesen ersten Auftrag höchst widerwillig ausgeführt. Doch es war ein voller Erfolg geworden, und er hatte mehr Lire verdient als in sechs Monaten im Steinbruch. Binnen kurzem wurde er geradezu süchtig nach den Bordellen Palermos und gab all sein Geld dort aus. Ebenso rasch mauserte er sich zu einem Bankräuber ohne Skrupel. Noch vor seinem achtzehnten Geburtstag hatte er den Sprengstoff für vier größere Bankeinbrüche besorgt. Er liebte den Nervenkitzel, er liebte das Geld, und vor allem liebte er die Bordelle.

Und das wurde ihm natürlich zum Verhängnis. Welcher achtzehnjährige Steinbrucharbeiter kann sich die Lasterhöhlen Palermos leisten? Schon bald bekam er Besuch von den Sbirren, die wissen wollten, wo er das Geld herhatte, das er bei den Huren in der Via Scina ausgab. Seine Erklärung, er habe es beim Glücksspiel im Foro Biondo gewonnen, konnte von den Sbirren schwer widerlegt werden, überzeugte sie aber auch nicht. Von da an stand er unter Beobachtung.

Ein Jahr später brach im Hafen von Palermo ein Bandenkrieg aus. Bisher waren die Dockarbeiter von den Priolas kontrolliert worden, die die Arbeiterführer beschützten, sofern die Priola-Schiffe als erste und möglichst rasch beladen wurden. Sizilien exportierte Orangen, Zitronen und Oliven nach Frankreich, England, Holland und Amerika. Da es keine Möglichkeit gab, die Ladung zu kühlen, kam es ganz besonders auf Schnelligkeit an. Als die Eigner einer neuen Schiffahrtslinie, die Orestanos, Verträge mit einigen unabhängigen Besitzern von Orangenplantagen in der Nähe von Platani schlossen, drohte dies die Organisation der Priolas zu schwächen. Die Orestanos wollten nämlich auch eine besonders rasche Abfertigung und benutzten dieselben Piers.

Die wichtigsten Leute im Hafen waren die mandatori, die Agenten, die Ware und Käufer zusammenbrachten. Es handelte sich dabei um erbliche Posten, die vom Vater auf den Sohn übergingen und immer von der lokalen Mafia vergeben wurden. Bis zu dem Zeitpunkt hatten die meisten von ihnen unter dem Schutz der Priolas gestanden. Als man zwei mandatori fand, die garottiert worden waren – die herkömmliche sizilianische Art des Erwürgens –, war es mit dem guten Ruf der Priolas als Beschützer der Agenten nicht mehr weit her. Andere mandatori begannen sofort damit, die Fracht der Orestanos bevorzugt abzufertigen.

Da mußte rasch Vergeltung geübt werden, und zwar viel massiver, als es sich die Orestanos hätten träumen lassen. Eine Vergeltung mit Sprengstoff.

Nino wußte, daß er immer noch von der Polizei beschattet wurde, doch für ihn gehörte es schon fast zur Routine, die Sbirren zu bestechen, wenn es gelegentlich nötig war, seinem »Schatten« wenigstens einige Stunden lang zu entkommen. Der Sprengstoff wurde geliefert, am nächsten Tag flog das Lagerhaus der Orestanos in die Luft, und es regnete Orangen. Als Gegenmaßnahme äußerst wirkungsvoll. Unglücklicherweise explodierten aber nicht nur Orangen, sondern ein Mensch wurde getötet.

So hatte die Polizei keine andere Wahl, als Nino zu suchen und ihn nach Möglichkeit zu verhaften. Der Zusammenhang zwischen ihm und dem Vorfall war zu offensichtlich, als daß man ihn hätte übersehen können. Die Polizei brauchte einen Schuldigen. Die Beweise würde man später dann schon nachliefern.

Nino verschwand von der Bildfläche. Es war nicht allgemein bekannt, daß die Schwester des Abtes von Quisquina mit einem Priola verheiratet war, und die Familie hängte es auch nicht an die große Glocke. Doch mitunter waren solche Familienbande recht nützlich. Nino verbrachte zwei Monate in Quisquina – manchmal sogar als Mönch verkleidet –, bis sich die ganze Aufregung über den Zwischenfall mit dem Lagerhaus gelegt hatte.

Natürlich konnte er nicht ewig im Kloster bleiben, und außerdem brauchte er Geld. Viehdiebstahl schien die beste Lösung zu sein. Tunesien war ein guter Markt für billiges Fleisch aus Sizilien, und gestohlene Rinder waren am allerbilligsten. Das damit verbundene Risiko war minimal, und speziell umgebaute Boote oder Barken verließen mit zwanzig bis vierzig Tieren an Bord regelmäßig die Südküste Siziliens.

Die Tatsache, daß durch seine Mithilfe jemand getötet worden war, verlieh Nino eine traurige Berühmtheit, die er nie gewollt hatte. Als es mit dem Viehdiebstahl nicht mehr so recht klappte, stahlen er und einige Freunde aus einem Steinbruch bei Chiaramonte weiteren Sprengstoff, mit dem sie einen Anschlag auf die Bahnlinie zwischen Messina und Palermo verübten, die gerade im Bau war. Sie raubten den Waggon aus, in dem die Lohngelder für die Bahnarbeiter transportiert wurden, und erbeuteten außerdem eine große Menge Dynamit. Nino wurde noch berühmter.

Inzwischen hatte er ein neues Standquartier in Bivio Indisi gefunden, nachdem der Ort durch einen Erdrutsch von der Außenwelt abgeschnitten und von seinen Bewohnern verlassen worden war. Dahinter ragten die Berge Indisi und Catera auf. Die Straße von Filaga, die in Erd- und Geröllmassen endete, konnte mühelos überwacht werden. Jeder andere Zugang erforderte eine zweitägige Tour durchs Gebirge. Bivio Indisi war so sicher wie ein Adlerhorst auf dem Berg Cammarata.

Nino war nicht nur ein harter Mann, sondern er war auch clever. Er wußte von Anfang an, daß seine Art zu leben nur von Dauer sein konnte, wenn er eine Machtbasis hatte. Ein Mafioso auf Sizilien mußte aber nicht nur Macht, sondern auch Stil haben, und genau das wollte Nino erreichen. In den Städten hatten die Mafiabosse Erpresserbanden, die einen Teil vom Verdienst vieler Bürger einkassierten, dafür aber auch deren Interessen notfalls mit brutaler Gewalt verteidigten. Nino verfügte über gute Beziehungen zu den Priolas in Palermo, durfte sie aber nicht zu häufig und nicht zu offenkundig in Anspruch nehmen. Er mußte allein zurechtkommen. Und so hatte er seine eigene Form der malavita gefunden, wie die Unterwelt genannt wurde.

Aus der Erlöserkirche in Erice wurde ein Madonnenbild von Tintoretto entwendet, für das Nino dann viel Lösegeld forderte. Eigentlich also ein unpopuläres Verbrechen, doch Nino verteilte viel von dem erpreßten Geld an die Bauern der Gegend, in der er lebte. Er spendete sogar einen gewissen Betrag der Lösegeldsumme dem Kloster in Quisquina, doch darüber wurde natürlich Stillschweigen bewahrt. Diese Tat war in zweierlei Hinsicht für ihn ein Erfolg, verhalf sie ihm doch zu noch größerer Berühmtheit und verbesserte zudem seine Sicherheit, denn die Nutznießer von Ninos Großzügigkeit würden sein Versteck nie verraten. Außerdem bekam er fast so etwas wie einen politischen Nimbus. Die Raubzüge des Steinbrechers wurden von den Einheimischen gewissermaßen als Protest angesehen, denn indem er die Bauern unterstützte, schien er die italienische Regierung wegen ihrer Vernachlässigung Siziliens anzuprangern.

Dies führte dazu, daß Nino alle möglichen Gefolgsleute anzog, die zum großen Teil selbst auf der Flucht vor der Justiz waren. »Ein Hund ist kein Hund ohne seine Flöhe.« So hatte es der Kardinalerzbischof von Palermo einmal ausgedrückt. Einige von diesen Leuten waren entfernte Verwandte, manche brachten sogar ihre Frauen und Kinder mit. In Kürze war daraus eine »Familie« mit fast hundert Mitgliedern geworden. Etwa zweimal im Jahr planten sie irgendeinen spektakulären Überfall und zogen sich hinterher in das abgelegene Bergnest zurück, das nun ihr Zuhause war.

Die Polizei unternahm gelegentlich Versuche, Nino gefangenzunehmen, meistens auf Drängen irgendeines Politikers oder sogar auf Anordnung vom Festland. Diese Versuche scheiterten jedoch immer. Dank eines raffinierten Systems von Warnpfiffen, das die Schafhirten ausgeklügelt hatten, erfuhr Nino es stets rechtzeitig, wenn die Polizei hinter ihm her war. Manchmal versteckte er sich, manchmal wurden die Polizisten in einen Hinterhalt gelockt und mußten unverrichteter Dinge wieder abziehen. Der Steinbrecher schien unverwundbar zu sein.

Dann wurde plötzlich Taddeo Panero, ein italienischer Richter, nach Sizilien versetzt, um die Verbrechen der Mafia aufzuklären. Zwei Mafiosi wurden wegen des Verdachts der Erpressung verhaftet, und Panero schien stichhaltige Beweise zu haben. Er wußte jedoch nicht, daß einer der Verdächtigen, ein Arzt, zwei Babys der Priolas entbunden hatte und somit unter dem Schutz der Familie stand. Die Explosion, die Paneros Hotel zerstörte und ihn tötete, trug die Handschrift des Steinbrechers. Bei der verqueren Moral, die in Sizilien herrschte, erhöhte diese Tat noch Ninos Ruhm. Außerdem standen die Priolas nun in seiner Schuld.

Etwa zu dieser Zeit wurde der nun fünfunddreißigjährige Nino als Don anerkannt. Damit galt er nicht mehr nur als gefürchteter Anführer, sondern als Respektsperson, die Gunstbeweise verteilte und Ratsuchenden half. Die dem Bergnest nächstgelegene Stadt war Bivona, wo Nino manchmal zu Abend speiste oder ins Bordell ging. Die Polizei wurde bestochen, so daß er sich dort gefahrlos ein, zwei Nächte aufhalten konnte. In der malavita, der Welt der Mafiosi und ihrer Freunde, sprach es sich schnell herum, wenn Nino sich in Bivona aufhielt, und dann kamen alle möglichen Leute mit ihren Problemen zu ihm.

Gleich in der Anfangszeit hatte ihm eine junge Lehrerin geklagt, das Klavier der Schule sei gestohlen worden, nun gebe es keine Musik mehr, und die tägliche Andacht sei beeinträchtigt. Nino hatte genickt und geflüstert: »Ich bin ein umgänglicher Mann.« Er fand das Klavier, ließ es in die Schule zurückschaffen und brach den beiden jungen Dieben die Finger. Die elementare Gerechtigkeit dieses Vorgehens hatte Nino bei den Einheimischen sehr beliebt gemacht. Es hieß, keiner, der sich an den Don um Hilfe wandte, ginge mit leeren Händen weg.

Es war sein fast schon politisches Ansehen, das ihn auf die Idee brachte, einen im Ausland lebenden Großgrundbesitzer zu kidnappen. Diese waren auf Sizilien äußerst unbeliebt, da sie das Land ausbeuteten, aber woanders lebten. Es war ein Zufall, daß es sich bei dem auserwählten Großgrundbesitzer um einen englischen Pfarrer handelte. Wie es auch ein Zufall war, daß ein amerikanischer Künstler mit daran glauben mußte, nur weil er sich gerade in Begleitung des Pfarrers befand. Man entführte die beiden, als sie unterwegs waren von Valledolmo zu den Schwefelminen bei Fontana Murata, die sich im Besitz des Engländers befanden und die der Maler zeichnen wollte. Pech für sie, daß der Steinbrecher einen spektakulären Coup geplant hatte, um den Leuten erneut zu beweisen, daß er der Don war.

Das Café Bivona am Hauptplatz von Bivona war nicht so großartig wie einige der Cafés in Palermo, aber es war das beste, was dieser Ort zu bieten hatte. Im Freien standen ein paar Tische, wo Silvio nach seinen seltenen Besuchen in der gegenüberliegenden Kirche gern etwas trank. Ihm war immer klar gewesen, daß im rückwärtigen Teil des Cafés irgendwelche Geschäfte abgewickelt wurden, aber nun erst erfuhr er, um was es wirklich ging.

Seit Silvios erfolgreicher Rückkehr aus Palermo behandelte ihn Nino Greco wie seinen eigenen Sohn. Es hatte ihm imponiert, daß Silvio das Ohr des Pfarrers und das Packpapier im geflochtenen Schwanz des Maultiers versteckt hatte. »Das erforderte Verstand und Mut«, hatte er gelobt und Silvio den Arm um die Schulter gelegt. »Und das richtige Blut hast du ja sowieso.« Danach hatte er seinen jungen Schützling aus dem Haus, in dem die Kinder wohnten, umgesiedelt in das Quartier der Junggesellen. Außerdem hatte er ihm ein eigenes Maultier und ein Gewehr gegeben. Bastiano brachte Silvio nun das Schießen bei.

Am meisten gefiel Silvio aber, daß er Nino an diesem Tag nach Bivona begleiten durfte, wohin der Don jeden Sonntag mit einem halben Dutzend Leibwächtern ritt. Zwei der Männer wurden an den Stellen postiert, wo die Straße in den Ort hinein- und wieder hinausführte. Weitere zwei saßen vor dem Café, und die letzten beiden, von denen einer Silvio war, nahmen rechts und links von Nino an Nebentischen Platz. Was Silvio betraf, so war dies offensichtlich extra arrangiert, damit er alles beobachten konnte.

Als sie sich gesetzt hatten, nahm Nino eine Olive aus einer Schüssel und hielt sie hoch. »Außen weich, innen hart. So muß ein Mann sein, ein Anführer. Denk immer daran.« Er hatte Silvio zugelächelt und sich die Olive in den Mund gesteckt.

Während der nächsten Stunde empfing Nino einen Strom von Besuchern, und Silvio hörte zum ersten Mal, wie die Leute seinen Onkel mit »Don Bivona« oder »Capo« anredeten. Sie waren sehr respektvoll und sprachen nur halblaut, damit sie von anderen nicht belauscht werden konnten.

Als erstes kam an diesem Vormittag Calogero Lanzone, ein Bauer, der sich bei Don Bivona beklagte, sein Nachbar flußaufwärts habe den Simeto gestaut, so daß nicht genug Wasser bis zu seinen eigenen Feldern und Wiesen floß. Alles war verdorrt, Schafe und Ziegen gaben kaum noch Milch. Konnte man dagegen etwas unternehmen?

Nino antwortete, der andere Bauer werde bestimmt zur Vernunft kommen. Dann schwieg er wieder.

Nino war ein guter Zuhörer. Er saß unbeweglich da. Während die Leute ihm ihre Probleme schilderten, forschte er in ihren Mienen und zwang sie, wahrhaftig zu sein.

Nie erhob er seine Stimme, und bevor er etwas äußerte, trommelte er immer mit den Fingerspitzen auf seinen Lippen. Im Gegensatz zu den meisten Menschen störten Nino Gesprächspausen nicht. Nun wartete er darauf, daß der Bauer weiterredete.

Lanzone erklärte, ein Verwandter von ihm gehöre der Polizei im nahegelegenen Cammarata an. Falls Don Bivona dort einmal Hilfe brauche, werde dieser Verwandte ihm zu Diensten sein, das könne er versprechen.

Nino trommelte wieder mit den Fingerspitzen auf seinen Lippen. Offenbar gefiel ihm dieses Versprechen, denn er versicherte Lanzone nun, er brauche sich keine Sorgen mehr zu machen. Seine Wasserversorgung werde bald wiederhergestellt sein. Dann sprach er die Worte, die Silvio immer wieder von Nino hören sollte: »Das ist kein Hahnenblut.« Silvio wußte, in manchen Kirchen auf Sizilien gab es Heiligenstatuen, die aus Kummer über die Menschheit manchmal »bluteten« und dann verbunden wurden. Die blutgetränkten Verbände wurden anschließend für viel Geld als heilige Reliquien verkauft, die angeblich Wunder bewirken konnten. In Wahrheit war das Ganze ein Schwindel, denn das Blut stammte von Hähnen. Nino wollte mit seinen Worten also ausdrücken, daß es kein leeres Versprechen war, sondern ernst gemeint.

Lanzone erbat keine Erklärung. Er bedankte sich bei Nino und ging.

Als nächstes wandte sich Maria Camastra an den Capo, eine Frau in mittleren Jahren, deren Tochter vom Sohn des Luca Mancuso, einem Weinbergbesitzer aus Borgo Regalmici, geschwängert worden war. Der Sohn, Gaetano, weigerte sich, Marias Tochter zu heiraten, und entehrte somit die Familie.

Nino zögerte. Ein schwieriges Problem. Luca Mancuso war ein reicher und angesehener Landbesitzer, ein großes Tier. Wie konnte Maria Camastras Tochter nur so töricht gewesen sein?

Das gab Maria sofort zu, aber die Kleine sei eben erst achtzehn. Don Bivona habe doch auch eine Tochter von achtzehn Jahren …

Dies verfehlte nicht seine Wirkung. Nino überlegte.

Dann verriet ihm Maria Camastra, sie arbeite als Putzfrau im Amt des Bürgermeisters von Santo Stefano, wo auch das Polizeihauptquartier untergebracht sei. Könnte es für den Don nicht nützlich sein, an einem so wichtigen Ort ein Paar Augen und Ohren zu haben?

Nino nickte und flüsterte: »Ich bin ein umgänglicher Mann.« Maria Camastra lächelte erleichtert. Nino fügte hinzu, er werde mit Luca Mancuso reden. »Kein Hahnenblut.« Maria Camastra war zufrieden.

Den größten Schock bereitete es Silvio, als Federico Imbaccari das Café betrat. Wie sich herausstellte, war er der Direktor einer Bank in Santo Stefano. Ein kleiner, aber elegant gekleideter Mann. Er brachte Nino einen Korb Orangen mit. Nino bedankte sich, ließ ihn jedoch auf dem Tisch stehen.

»Was kann ich für Sie tun, Signor Imbaccari? Ich fühle mich geschmeichelt, daß ein Bankdirektor mich aufsucht.«

Imbaccari räusperte sich. »Ich habe ein Problem, Don Bivona. Aber ich komme nicht in meiner Funktion als Bankdirektor zu Ihnen, sondern als Mann. Vor fünf Jahren kaufte mein Cousin Vito Raffadali Land von mir, zahlte mir aber nichts dafür. Wir vereinbarten, Vito solle Orangenbäume pflanzen. Sobald sie Früchte trugen, sollte er sie verkaufen und mir vom Erlös allmählich das geschuldete Geld zahlen. Die Bäume tragen inzwischen, er macht einen guten Profit, weigert sich aber, seine Schuld zu begleichen. Als ich ihn zur Rede stellte, drohte er, falls ich vor Gericht ginge, werde er meiner Frau von meiner Geliebten in Cammarata erzählen.«

»Welch ein Pech, daß Sie so verwundbar sind. Vito Raffadali wußte sicher schon über Ihre Liebschaft Bescheid, bevor er das Land von Ihnen bekam. Er hatte nie die Absicht, es zu bezahlen.«

Imbaccari senkte den Blick. »Ja, das ist mir jetzt auch klar.«

Wieder ließ Nino das Schweigen zwischen ihnen fast spürbar werden.

»Es ist eine Frage des Respekts, Don Bivona. Natürlich möchte ich das Land zurückhaben, denn Vito hat sich schändlich verhalten, aber ich überlasse Ihnen gern den Ertrag aus dem Orangenhain für, sagen wir, fünf Jahre.«

Nino überlegte. »Erzählen Sie mir von Ihrer Frau.«

Imbaccari zögerte, gab dann aber doch Auskunft. »Sie ist eine gute Frau. Sehr religiös. Sie hilft im Waisenhaus von Santo Stefano. Wir sind glücklich. Sie weiß nichts von Rosa in Cammarata, aber … da gehe ich auch nur einmal in der Woche hin.«

Nino wandte sich an Silvio. »Du hast den ganzen Vormittag zugehört. Nun begreifst du, was ich tue. Die meisten Menschen haben einfache Probleme, wie du sieht. Leicht zu lösen. Aber diese Situation ist komplizierter.«

Bat Nino ihn um Rat? Einen Siebzehnjährigen? Silvio wurde reichlich nervös. Nein, dachte er bei genauerer Überlegung, Nino wollte keinen Rat, erwartete aber eine Reaktion von Silvio. Deshalb hatte er ihn heute mitgenommen. Es war ein Test, wie es ein Test gewesen war, als er das Päckchen nach Palermo bringen sollte. Dabei war sein Mut erprobt worden, hier kam es auf seinen Verstand an.

Er mußte rasch antworten. »Wäre es nicht fair«, sagte er halblaut, »wenn das Waisenhaus davon profitieren würde?«

Nino musterte ihn und nickte dann lächelnd: »Du hast recht.« Leise fügte er hinzu: »Fast höre ich aus dir deinen Vater sprechen.« Einen Moment schien Nino in Gedanken versunken zu sein. Dann wandte er sich wieder an den Bankier.

»Also gut, ich rede mit Vito Raffadali. Ich denke, ich werde ihn zur Einsicht bewegen können. Kein Hahnenblut. Sie kriegen Ihr Land zurück. Aber ich will nur die Hälfte Ihrer Orangen, und auch nur drei Jahre lang.«

Imbaccari machte ein überraschtes Gesicht.

»Ich möchte, daß Sie die andere Hälfte fünf volle Jahre dem Waisenhaus geben, in dem Ihre Frau soviel Gutes tut. Und vergessen Sie nicht, dort zu erwähnen, daß diese Schenkung meinen Segen hat. Ist das klar?«

»Aber natürlich«, stimmte Imbaccari begeistert zu. »Eine hervorragende Lösung, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.«

Kaum hatte Imbaccari das Café verlassen, wandte Nino sich an Silvio. »Gut gemacht. Wer weiß, vielleicht wirst du irgendwann mal mein Nachfolger.« Er machte eine Handbewegung zur Piazza, die Imbaccari gerade überquerte. »Niemand geht mit leeren Händen fort. Das ist wichtig.« Er suchte sich eine Orange aus, zerteilte sie mit dem Messer, das er immer bei sich trug, und hielt eine Hälfte hoch. Das Fruchtfleisch war tiefrot. »Schau her«, sagte er leise. »Hör auf einen älteren Mann und lerne aus seinen Fehlern. In Sizilien bluten sogar die Orangen.«

»Rhum! Wirst du wohl folgen! Komm sofort her! Entschuldigen Sie bitte, Sir Rupert. Er findet Besucher immer so aufregend.« Harriet Livesey nahm den Highlandterrier hoch, der sich an den Hosenbeinen des Baronets zu schaffen gemacht hatte. Nachdem sie sich gesetzt hatte, den Hund auf ihrem Schoß, schenkte sie Tee ein. »Ich danke Ihnen, daß Sie gleich nach der Ansprache des Premierministers zu mir kommen.«

Sir Rupert Farrar machte eine abwehrende Handbewegung. »Aber das ist doch das mindeste, was ich tun kann, Harriet, als Freund Ihrer Familie und als Ihr Abgeordneter. Nur schade, daß Sie selbst nicht dabei waren.«

Sie reichte ihm eine Tasse Tee. »Wie lief es im Parlament?«

»Die Sitzung war gut besucht, und beide Seiten waren sich einig. Gladstone brachte die Angelegenheit gleich zu Beginn zur Sprache. Der Vorsitzende der Opposition hat bekanntlich eine kräftige Stimme, doch er mußte schreien, um sich Gehör zu verschaffen. Er erwähnte, wie ›tief empört‹ er und seine Parteikollegen darüber seien, was Ihnen neulich zugemutet wurde. Die Abgeordneten bekundeten ihre Zustimmung zu seiner Rede, indem sie kräftig mit den Füßen trampelten und ›Hört, hört‹ riefen. Gladstone erinnerte an das zweimalige Versprechen der italienischen Regierung, Henry zu suchen, einmal direkt nach seiner Entführung und ein zweites Mal, als die erste Lösegeldforderung eintraf. In Wirklichkeit sei aber kaum etwas unternommen worden.«

»Sehr richtig«, sagte Harriet. »Es freut mich, daß er so deutliche Worte wählte.«

»Oh, aber das beste habe ich ja noch gar nicht erzählt«, erwiderte Farrar. »Er kam sogar auf das Papier zu sprechen, in dem das … Ohr verpackt war. Sie wissen schon, das mit der Zeichnung.«

Harriet nickte und schloß einen Moment lang voller Abscheu die Augen.

»›Dieser Verbrecher legt sich mit der britischen Regierung an‹, sagte Gladstone, wenn ich mich recht erinnere. Er schlug dabei auf das Rednerpult, was für ihn sehr ungewöhnlich ist. Und er sagte, er wolle Taten vom Premierminister, nicht nur Worte. Es war ein großartiger Auftritt.«

»Wie hat Disraeli darauf reagiert?« erkundigte sich Harriet und setzte Rhum, der sich beruhigt hatte, auf den Teppich.

Farrar lächelte. »Disraeli kann gelegentlich ein streitsüchtiges Scheusal sein, aber heute begann er geradezu verhalten, stimmte Gladstone zu, daß Ihnen Gräßliches angetan wurde. Er fügte sogar hinzu, er sei angewidert von den Geschehnissen, und erwähnte dann noch beiläufig, Sie hätten einen Kondolenzbrief von der Queen bekommen. Ist das wahr?«

Harriet nickte. »Ihre Majestät war so gütig.«

Farrar hielt ihr seine Tasse hin. »Nun, wie üblich hat der Premierminister das Abgeordnetenhaus perfekt manipuliert. Nach der Erwähnung der Queen legte er eine Pause ein. Erwartungsvolle Stille im Saal. Dann sagte er rasch: ›Beileidsbezeugungen reichen nicht.‹ Am vergangenen Freitag, als er von der neuesten Entwicklung erfuhr, habe er den italienischen Botschafter zu sich bestellt. Diesem habe er kurz und bündig erklärt, die italienische Regierung habe Hilfe versprochen, aber noch nichts erreicht. Anscheinend habe Italien keine Macht über Sizilien. Falls Signor Falfani heute keine befriedigende Antwort für ihn vorweisen könne, sei er sicher, die Abgeordneten würden ein entschiedeneres Vorgehen unsererseits befürworten.«

Harriet hatte gespannt zugehört. »Meine Güte. Wie haben die Italiener reagiert?«

»Tja, es sieht ganz so aus, als weite sich die Angelegenheit zu einem internationalen Zwischenfall aus«, erwiderte Farrar. »Laut Disraeli war Signor Falfani heute morgen erneut bei ihm. Der Botschafter hatte Nachricht aus Rom. Anscheinend wird ein Regiment der Lazio-Brigade, vierhundertvierundachtzig Mann, das zur Zeit bei Caserta in Süditalien stationiert ist, noch vor dem Wochenende nach Sizilien verlegt. Die Soldaten werden in Trapani an Land gehen, an der Westspitze der Insel. Ihr Befehl lautet, den Mafioso festzunehmen, der als der Steinbrecher bekannt ist, und Pater Livesey zu befreien.«

Harriet seufzte. »Endlich! Wie lange hat es gedauert, Rupert? Fast drei Monate? Drei Monate voller Kummer und schlafloser Nächte. Aber nun geschieht etwas. Ich hoffe, die Italiener meinen es diesmal ernst mit dem, was sie sagen.«

Farrar stellte seine Tasse ab. »Disraeli sagte zu dem italienischen Botschafter, Rom scheine also tatsächlich Maßnahmen ergreifen zu wollen. Doch für alle Fälle habe er sich inzwischen über die Position der Schiffe der Royal Navy im Mittelmeer informiert. Ich muß schon sagen, Harriet, der Premierminister wirkte sehr überzeugend. Die Royal Navy! Kaum zu glauben, nicht wahr? Jedenfalls erklärte Disraeli weiter, unser Kreuzer Hook liege vor Tripolis und der Zerstörer Clarendon bei Gibraltar. Eine Stunde vor der Parlamentssitzung wurden beide Schiffe per Funksprüchen nach Sizilien beordert. Am Wochenende müßten sie dort eintreffen, Harriet, meine Liebe. Der Premierminister hat Falfani erklärt, die Regierung Ihrer Majestät werde den Mannschaften der beiden Schiffe Befehl erteilen, an Land zu gehen und die Angelegenheit zu regeln, falls die italienische Regierung nicht Wort halte und das Lazio-Regiment nicht wie geplant in Sizilien eintreffe. Sie können sich vorstellen, wie wenig begeistert Falfani darüber war. Disraeli schmunzelte an dieser Stelle seines Berichts. Falfani hatte ihm mitgeteilt, ein solches Vorgehen unsererseits in Italien könne nicht toleriert werden und sei auch gar nicht nötig, da ja Rom fest entschlossen sei zu handeln.«

Er nahm einen Schluck Tee. »So steht es nun, Harriet. Die Regierung wird die Lage genau im Auge behalten und notfalls eingreifen. So oder so, meine Liebe, dies ist jedenfalls der Anfang vom Ende des Antonino Greco.«

Kapitel 3

»Toto! Toto! Wach auf, Geburtstagskind!«

»Annunziata?« Alle nannten ihn Silvio, bis auf Nino, der Sylvano sagte, und Annunziata, für die er seit ihrer Kindheit immer Toto gewesen war. Warum sie ihn so nannte und was es bedeutete, hatte er vergessen.

»Du vergeudest kostbare Zeit«, flüsterte sie.

»Wieviel Uhr ist es denn?«

»Vier. Vier Uhr an deinem Geburtstag. Alle anderen schlafen. Zieh dich an.«

Silvio fand sich in dem Zimmer auch im Dunkeln zurecht und griff nach Hose und Hemd. Er hatte wirklich Glück. So mancher andere im Dorf mußte auf einer Pritsche schlafen, unter der nachts die Ziegen lagen. Der Gestank war unerträglich, doch das war immer noch besser, als sie sich stehlen zu lassen. Silvio tastete nach seinen Stiefeln, zog sie aber noch nicht an. Seine Augen gewöhnten sich an das Dämmerlicht, und er konnte Annunziatas Umrisse in der offenen Tür erkennen. Sie trug einen langen weißen Rock und eine weiße Bluse. Für eine Sizilianerin war sie hochgewachsen und hellhäutig. Ihre Haut hatte die Farbe von Mandeln.

»Komm mit, Toto«, forderte sie ihn auf und verschwand.

Er stieg die Stufen zum Hof hinunter, der mit Steinen gepflastert war. Annunziata wartete auf der gegenüberliegenden Seite. Silvio zögerte. Hinter zwei Fenstern flackerte Kerzenschein. Es waren also doch schon Leute wach. Mit den Stiefeln in der Hand schlich er lautlos an der Mauer entlang und stand bald neben Zata, wie er sie nannte, wenn sie allein waren. Hier begann eine Wiese, und er zog sich die Stiefel an.

Annunziata führte ihn zwischen Olivenbäumen hindurch. Er glaubte zu wissen, wohin sie mit ihm wollte – zu einem grasbewachsenen Felsplateau, auf dem steinerne Reste eines Tempels aus der Antike aufragten, als Sizilien unter griechischer Herrschaft gestanden hatte. Da eine kleine Quelle aus den Felsen sprudelte, wuchsen hier zwei Bäume, und im Frühling gab es sogar weiches Moos und Blumen. Sie hatten dieses idyllische Plätzchen bereits in ihrer Kindheit entdeckt, als sie einmal Ziegen einfangen wollten. Bei Tag konnte man aufs Dorf hinunterschauen und alles beobachten, ohne entdeckt zu werden. Sie nannten es ihren geheimen Garten. Oft trafen sie sich hier ganz früh, um die Sonne über dem Massa Caraciotto aufgehen zu sehen.

Nino stellte nachts Wachtposten auf, doch Annunziata und Silvio konnten sie problemlos umgehen, wenn sie einen Umweg in Kauf nahmen.

Diesmal gab es gar keine Probleme, und nach ungefähr vierzig Minuten kletterte Silvio vor Annunziata auf den Felsvorsprung. Beide legten sich auf den Rücken, ruhten sich vom Aufstieg aus, unterhielten sich dabei und schauten zu den Sternen hinauf, die zu verblassen begannen. Wie oft hatten sie schon gemeinsam erlebt, wie die Sonne höher stieg und die Landschaft in Farbe tauchte.

»Zu welcher Tageszeit wurdest du geboren? Weißt du das?« fragte Annunziata mit ihrer klaren Stimme. Ihre zarte Haut roch nach den Strohsäcken, auf denen sie alle schliefen. Beide hatten es nicht gewagt, sich zu waschen. Für Silvio klangen ihre Worte wie das melodiöse Plätschern von Wasser über Kieselsteine.

»Keine Ahnung. Ist das denn wichtig?«

Bastiano und seine Frau Smeralda hatten sich große Mühe gegeben, ihm seine Eltern zu ersetzen, und immer viel Aufhebens um seinen Geburtstag und seinen Namenstag gemacht. Aber nichts konnte darüber hinwegtäuschen, daß er Waise war. Und dabei hätte er vielleicht den Tod seiner Eltern verhindern können. Wenn er doch nur mehr Geistesgegenwart gezeigt hätte! Nicht einmal Annunziata kannte sein trauriges Geheimnis.

Ninos Bemerkung an jenem Sonntag in Bivona hatte nicht ihre Wirkung verfehlt. Den Titel »Capo« konnte man nicht erben, man mußte ihn sich verdienen. Nino hielt es offenbar für möglich, daß Silvio es eines Tages schaffen würde. Als Ninos Neffe hatte er das richtige Blut. Mut besaß er auch, wie sein Ritt nach Palermo bewiesen hatte. Aber reichte sein Verstand aus? Und welche Art von Verstand brauchte man? Die Sache mit den Orangen im Café von Bivona hatte ihm sehr zu denken gegeben. »Auf Sizilien bluten sogar die Orangen«, hatte Nino gesagt. Silvio war klar, er hatte noch eine Menge zu lernen.

Annunziata rollte sich auf die Seite, um ihn anzuschauen. Ihre braunen Augen wirkten in der Morgendämmerung besonders dunkel. »Ich muß sicher sein, daß du heute Geburtstag hast, bevor ich dir dein Geschenk gebe«, antwortete sie auf seine Frage.

»Also gut, ich wurde eine Minute nach Mitternacht geboren, und jetzt ist garantiert schon mein Geburtstag. Aber ich sehe kein Geschenk.«

Annunziata lächelte und begann, ihre Bluse aufzuknöpfen. »Zieh dein Hemd aus«, flüsterte sie und wandte sich ihm zu. Einen Arm hielt sie sich vor die Brust, um ihre Blöße zu bedecken.

Er folgte ihrer Aufforderung.

»Ich habe gestern die alte strega bei Cammarata besucht«, erklärte sie ihm. Die strega war eine Hexe. »Sie hat mir etwas gegeben, damit ich nicht schwanger werde. Jetzt leg dich hin und schließ die Augen.«

Das Gras unter seinem Rücken fühlte sich kühl und stachelig an. Er hörte, wie sich Annunziata bewegte.

»Nicht schauen!« zischte sie. »Versprich es!«

Silvio hielt die Augen fest geschlossen. »Ich verspreche es.«

Dann berührte etwas seinen Bauch an zwei Stellen, und es fühlte sich glatt und zart an. Noch immer hielt er die Augen geschlossen, und er wagte kaum zu glauben, was da passierte. Doch es gab keinen Zweifel. Sie hatte ihm für seinen Geburtstag eine Überraschung versprochen. Annunziata beugte sich über ihn, und ihre Brüste strichen sacht über seine nackte Haut. Wo hatte sie das bloß gelernt?

Silvio hatte sich nie vorgestellt, daß Annunziata die führende Rolle übernehmen würde, wenn sie zum ersten Mal miteinander schliefen. In seiner Phantasie war immer er der Aktive gewesen.

In Zickzackbewegungen schlängelte sie sich langsam an ihm höher. Einen Moment lang berührten ihn ihre Brüste nicht mehr, und er fühlte sich wie beraubt. Doch dann spürte er, was er sich so gewünscht hatte – ihre Brustwarze an seinen Lippen.

»Küß mich«, wisperte sie.

Er tat es.

»Beiß mich. Ganz leicht …«

Als er es tat, wimmerte sie leise.

Silvio war verwirrt. Er wußte nicht, ob er Annunziata weh tat, doch andererseits klang das Wimmern auch lustvoll. Er biß sie noch einmal, und sie wimmerte wie zuvor.

Nun öffnete Silvio die Augen, zog Annunziata an sich und vergrub sein Gesicht zwischen ihren Brüsten. »Zata«, stöhnte er. »Zata, Zata, Zata.« Es war ihm, als versinke er wieder im Sosia, einem Fluß, in dem sie als Kinder nackt gebadet hatten. Damals, als Annunziata auch der besondere Liebling seines Vaters gewesen war. Er hatte sie passero