Die einsame Buchhändlerin von Tokio - Nanako Hanada - E-Book

Die einsame Buchhändlerin von Tokio E-Book

Nanako Hanada

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein großes Vergnügen für alle, die Bücher lieben: der autobiografische Bestseller aus Japan »Alles begann damals in einer Nacht im Januar. Erschöpft saß ich in einem Bahnhofsrestaurant in Yokohama und starrte auf die Uhr, die unerträglich langsam auf zwei Uhr zu kroch. So spät in der Nacht wollte ich nicht mal mehr etwas lesen. Nach der Trennung von ihrem Mann ist Buchhändlerin Nanako Hanada erst einmal verloren. Ohne Freund*innen und ohne eigene Wohnung muss sie in Kapselhotels und öffentlichen Badeanstalten übernachten. Auch ihr Job in einer bekannten japanischen Buchhandelskette ist nicht mehr das, was er mal war. Doch eines Tages erfährt Nanako von einer neuen Dating-App und beschließt, endlich aus sich herauszugehen und neue Menschen zu treffen. Ihr Plan: Sie überwindet ihre Schüchternheit, indem sie ihre neuen Bekanntschaften in die Welt der Bücher entführt. Ein Neuanfang mit Hindernissen – und der Kraft der Bücher Zwar fällt sie gleich am Anfang auf einen Aufschneider rein, doch bald lernt sie Menschen kennen, die ihr viel zurückgeben. Aus ersten Begegnungen entstehen innige Freundschaften. Und je mehr sich Nanako ihren Mitmenschen annähert, desto leichter fällt es ihr, ihr altes Leben loszulassen.  »Die einsame Buchhändlerin von Tokio« ist die empowernde Autobiografie einer Frau, die nach einer Trennung ihr Leben in die Hand nimmt und mit der Kraft der Bücher über sich hinauswächst

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 216

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Nanako Hanada

Die einsame Buchhändlerin von Tokio

Mein Jahr der magischen Begegnungen mit Büchern und Menschen

Aus dem Japanischen von Sabrina Wägerle

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Nach der Trennung von ihrem Mann fühlt sich Buchhändlerin Nanako Hanada einsam und verloren.  Ohne Freund*innen und ohne eigene Wohnung flüchtet sie in die Welt der Bücher, bis sie eines Tages von einer neuen Dating-App erfährt und beschließt, etwas zu ändern. Ihr Plan: die eigene Unsicherheit zu überwinden, indem sie das macht, was sie nun mal am besten kann – ihren Dates Bücher empfehlen. Je mehr sich Nanako auf diese Weise den anderen Menschen im Tokioter Großstadttrubel annähert, desto leichter fällt es ihr, ihr altes Leben loszulassen.

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Prolog: Ein Ende und ein Neuanfang

1: Tokio, die Stadt der Verrückten

2: Village Vanguard, mon amour

3: Eine besondere Begegnung

4: Alle sind wir Abenteurer

5: Worte wie Staub

6: Die Gake-Buchhandlung

7: Der Grand Prix der Buchempfehlungen

Epilog: Ein Ende und ein Anfang

Nachwort: In einer Buchhandlung

Nanakos Buchempfehlungen

Prolog

Ein Ende und ein Neuanfang

Alles begann in einer Januarnacht.

Erschöpft saß ich in einem Bahnhofsrestaurant in Yokohama und starrte auf die Uhr, die unerträglich langsam auf zwei Uhr zukroch. So spät in der Nacht mochte ich nicht einmal mehr ein Buch in die Hand nehmen. Vor einer Woche hatte ich meinen Mann verlassen. Ich hatte eilig einen Koffer mit all meinen Habseligkeiten gepackt und war nach der Arbeit nicht mehr nach Hause gegangen.

Seit meiner impulsiven Entscheidung war ich wohnungslos und verbrachte jede Nacht woanders. Meine Unterkünfte wählte ich nach meinen dringlichsten Bedürfnissen aus, ob ich mich nur ausruhen oder auch Wäsche waschen oder möglichst wenig Geld ausgeben wollte. Je nachdem schlief ich in einem Hostel, dem öffentlichen Badehaus oder einem Kapselhotel. Heute wollte ich in einem Sentō-Spa mit Übernachtungsmöglichkeit schlafen. Es gab nur ein Problem: Bei mehr als sechs Stunden Aufenthalt musste man einen Aufschlag zahlen. Um unnötige Gebühren zu vermeiden, blieb mir nur übrig, das Sentō so spät wie möglich aufzusuchen.

Es belastete mich enorm, mir jeden Tag Gedanken um einen Schlafplatz zu machen und noch dazu Tag für Tag Unsummen an Geld für die Übernachtung auszugeben. Wie lange wollte ich so weitermachen?

 

»Ich kann nicht länger so tun, als wäre nichts passiert. Das hier ist nicht mehr mein Zuhause.«

Mit diesen Worten hatte ich vor einer Woche meinen Mann und mein altes Leben verlassen, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, wohin ich gehen wollte. Geschweige denn war es meine Absicht, meinen Mann unter Druck zu setzen, damit er sein Verhalten änderte.

Ich trank den kalten Kaffee, die Gedanken kreisten, und mein Kopf war bleiern schwer. Ich wusste nur eines. Egal, wie sehr ich in der Klemme saß, ich würde auf keinen Fall zu ihm zurückgehen. Ich würde mir eine eigene Wohnung suchen und ein neues Leben beginnen.

Meine Familie und Kollegen waren sicherlich entsetzt über mein Verhalten und außer sich vor Sorge. Ich durfte gar nicht daran denken. Mein Selbstbewusstsein litt enorm, weil meine Ehe gescheitert war. Ich musste achtgeben, mich nicht von den Reaktionen der anderen beeinflussen zu lassen. Auf keinen Fall durfte ich in Selbstmitleid versinken.

Doch das war leichter gesagt als getan. Bisher hatte ich mein gesamtes Leben mit meinem Mann geteilt, jetzt, so ganz allein, wusste ich nicht recht, was ich mit mir anfangen sollte.

Ich leitete eine Filiale des Village-Vanguard-Buchladens. Village Vanguard ist das Kuriositätenkabinett unter den japanischen Buchhandlungen, das neben Literatur auch Manga, lustige Geschenkartikel und allerlei irrwitzigen Schnickschnack verkauft. Bücher waren meine Leidenschaft, und auch in meiner Freizeit las ich am liebsten stundenlang, streifte durch andere Buchläden in Tokio und durchstöberte deren Sortiment, um mich inspirieren zu lassen. Freunde neben der Arbeit, mit denen ich an meinen freien Tagen etwas unternehmen könnte, hatte ich nicht.

Mein Kopf pochte, ein schmerzhaftes Ziehen. Was sollte ich nur tun? Meine Ehe war in die Brüche gegangen. Ich hatte kein Zuhause mehr. Ich stand vor dem Nichts.

Gerade, als mich die Verzweiflung zu überwältigen drohte, hörte ich eine kleine Stimme flüstern.

Gib nicht auf.

Ich hielt inne.

Das ist erst der Anfang, hörte ich die Stimme in mir sagen.

Da draußen wartet ein neues Leben auf dich.

 

Dieser Moment veränderte alles. Meine Orientierungslosigkeit wich einem Gefühl von Klarheit. Ich sprach kurz darauf mit meinem Mann, und wir beschlossen, dass ich offiziell ausziehen würde. Ich nahm mir eine kleine Wohnung etwas außerhalb von Yokohama, in der Nähe meiner Arbeit. Der große Kühlschrank aus der alten Wohnung wirkte wuchtig wie ein Wachturm in der winzigen Küche.

Es fiel mir schwer, in der neuen Wohnung zur Ruhe zu kommen. Ich vermisste den vertrauten Anblick aus meinem alten Fenster. Vor dem neuen Haus rauschte der Verkehr unentwegt auf einer mehrspurigen Straße vorbei. Jeden Tag starrte ich gedankenverloren aus dem Fenster auf die endlose Flut der Autos und redete mir ein, dass ich bald wieder Boden unter den Füßen haben würde.

 

Es muss zu dieser Zeit gewesen sein, dass ich in dem Artikel eines hippen, jungen Unternehmers, der neue, innovative Onlinedienste vorstellte, auf das Onlineportal »ThirtyMinutes« stieß. »Stellen Sie sich vor, Sie treffen sich dreißig Minuten mit einem Fremden, worüber reden Sie?«, stand da.

Das ist es, schoss es mir durch den Kopf. Ich legte die Zeitschrift zur Seite, griff nach meinem Smartphone und öffnete die App. Für die Anmeldung benötigte ich einen Facebook-Account. Den hatte ich nicht, denn soziale Medien hatten mich nie interessiert.

Also, erst einmal auf Facebook registrieren, Profil anlegen, verifizieren lassen, dann auf ThirtyMinutes registrieren, Profil anlegen, auf die Verifizierung warten …

Nach einer kleinen Odyssee konnte ich mich endlich einloggen. Unzählige Profilbilder tauchten auf dem Bildschirm auf. Unter jedem Bild fanden sich Vorschläge für ein Treffen, das Datum, die Uhrzeit und der Ort, sowie ein kurzer Einladungstext:

Freue mich auf gute Gespräche.

Suche Austausch mit Leuten, die Firmen gegründet haben oder gründen wollen.

Wow, was ist das denn?, dachte ich und scrollte fasziniert durch die Profile. Auf den ersten Blick wirkte alles wie bei einer gewöhnlichen Dating-App. ThirtyMinutes war aber offensichtlich nicht für die Partnersuche gedacht, sondern um interessante Leute kennenzulernen und sich mit Gleichgesinnten auszutauschen. Die Seite machte einen angenehm seriösen Eindruck. Menschen aller Altersgruppen tummelten sich hier, Studenten, Rentner, Geschäftsleute, hübsch aussehende Sekretärinnen und Männer auf teuren Rennrädern.

Und ich kann hier einfach mit jedem reden?

Das schien mir unvorstellbar. Ich browste durch die vielen Profile und suchte nach jemandem, der meine Neugier weckte. Nutzern, die Phrasen wie »Interessiere mich für alles« in ihrem Profil stehen hatten, gönnte ich keinen zweiten Blick. Mich faszinierten Menschen mit einer Passion. Ich schaute auf das leere Textfeld in meinem Profil.

Was soll ich nur über mich schreiben?

»Bücherwurm möchte über Literatur reden«?

Nein, das war einfallslos.

Plötzlich hatte ich die Idee. Ja, das war’s.

Ich werde jedem, den ich treffe, ein Buch empfehlen. Lektüretipps für alle! So etwas hatte ich schon immer einmal ausprobieren wollen. Kaum hatte ich zu Ende gedacht, nagte der Zweifel an mir. Das war doch lächerlich. Ich verwarf den Gedanken. Wen interessierte das schon?

Was ist denn dabei? Die leise Stimme meldete sich wieder. Was hast du zu verlieren? Willst du lieber zu Hause sitzen und zuschauen, wie das Leben an dir vorbeirauscht?

Ich rang mit mir. Nein, das wollte ich nicht.

Na, dann los, sagte die leise Stimme.

Ich nahm allen Mut zusammen und begann zu schreiben:

»Hallo, hier bin ich, Nanako, sexy Buchhändlerin und Hobby-Bibliotherapeutin. Ich kenne über zehntausend Bücher und verspreche: Ich habe genau den richtigen Buchtipp für euch!«

Ich schaute den Text an. War das nicht etwas zu dick aufgetragen? Die Zweifel waren immer noch da.

Und wennschon, sagte die Stimme, das wird ein Abenteuer!

 

Und so begann sie, meine Geschichte auf einem skurrilen Datingportal voller fremder Menschen.

Noch ahnte ich nicht, was ich damit alles in Gang setzen würde.

1

Tokio, die Stadt der Verrückten

Sie müssen Nanako-san sein.«

Ich schaute auf. Vor mir im Café stand ein hochgewachsener Mann Ende vierzig. Seine gelassene Ausstrahlung überraschte mich. Ich hatte ihn mir ganz anders vorgestellt.

»Es freut mich, Sie kennenzulernen, ich bin Tsuchiya«, sagte er und nahm mir gegenüber Platz, »der Käsekuchen hier ist wirklich ausgezeichnet, ich würde Sie gerne einladen.«

So traf ich meine erste Bekanntschaft: Tsuchiya-san.

 

Nachdem ich mir auf ThirtyMinutes ein Profil angelegt hatte, ging es mir darum, erst einmal die Seite besser zu verstehen. Zentral bei ThirtyMinutes waren die Treffen mit den anderen Nutzern. Um so ein Treffen einzurichten, legte man zuerst Ort und Datum fest: am Soundsovielten um 17 Uhr in Shibuya. Viele fügten in einem entsprechenden Textfeld einen kurzen Satz dem Treffen hinzu: Ich freue mich auf nette Gespräche. Dann veröffentlichte man die Anfrage. Das nannte man einen »talk« posten. Die talks konnte man über ein Menü suchen und filtern. Wollte man einen Nutzer treffen, schickte man ihm eine Anfrage. Gab es mehrere Anfragen, konnte man sich seinen Favoriten aussuchen. War kein geeigneter Kandidat dabei, lehnte man alle Anfragen ab und löschte den talk. Antwortete niemand auf einen talk, verschwand er automatisch nach dem gesetzten Datum.

ThirtyMinutes war also keine Webseite wie Facebook oder Twitter, auf der man stundenlang herumsurfen konnte. Die Seite lebte vom persönlichen Kontakt mit den anderen Nutzern. Ein Profil allein half nicht viel, so konnte man höchstens den Top-Usern ein »Gefällt mir« geben oder anhand von Tags wie #Lesen oder #Reisen nach Gleichgesinnten suchen.

Ich schaute mir die aktuell angebotenen Treffen an. Es waren so viele, dass die meisten unbeantwortet verschwanden.

Und was, wenn niemand auf meine Anfrage antwortete? Da waren die Zweifel wieder. Ich käme mir ganz schön blöd vor. Oder noch schlimmer, was, wenn mich nur komische Typen anschrieben?

Ich begann, den Mut zu verlieren. Da ploppte plötzlich eine Facebook-Nachricht auf meinem Bildschirm auf.

»Hallo 👋 Ich heiße Tsuchiya und arbeite in einer Werbeagentur. Ich habe dich auf ThirtyMinutes gesehen, du siehst sympathisch aus. Du bist neu hier, oder?«, stand da. Ich las weiter. »Willkommen! Ich bin auch kein Profi, aber schreib mir gerne, wenn du Fragen hast.«

Ich war verwundert. Woher hatte er meinen Kontakt? Sollte ich ihm antworten?

Ich war hin- und hergerissen. Auf den ersten Blick schien dieser Tsuchiya harmlos zu sein. Vielleicht sollte ich es einfach probieren.

Ich begann zu tippen: »Danke für die Nachricht. Aber woher weißt du, dass ich auf ThirtyMinutes bin?«

»Du meinst, weil ich dir auf Facebook schreibe? 😉«, antwortete er sofort. »Auf deinem ThirtyMinutes-Profil sind deine Accounts von Facebook und Twitter verlinkt. Wenn du die entsprechenden Logos anklickst, kommst du auf das jeweilige Profil des Nutzers. Bei Anfragen von Unbekannten kann man so mehr über sie herausfinden, wo sie arbeiten oder was sie in letzter Zeit gepostet haben. Außerdem werden einem neue Nutzer empfohlen. Das sind die User unten. Siehst du das?«

Dieser Tsuchiya schien mir ein wenig aufdringlich. Zugleich war ich froh über seine Hilfe.

»Das wusste ich nicht. Danke schön«, schrieb ich zurück.

»Du hast noch keinen talk gepostet, oder? Schaust du dich noch um?«, fragte er.

»Ich überlege noch. Ich würde schon gerne. Aber was macht man, wenn niemand antwortet?«

Er antwortete prompt: »Verstehe. Wie wäre es, wenn du dich erst einmal mit mir triffst? Wenn wir einen Tag finden, an dem wir beide Zeit haben, kannst du ein Treffen auf ThirtyMinutes erstellen, und ich antworte darauf. Probier es ruhig. Nur keine Angst 🎵!«

Das hatte ich nicht erwartet. Ein wenig Angst hatte ich schon. Wollte ich mich wirklich mit einem Fremden treffen? Doch was war die Alternative? Ich hatte keine Lust mehr, mich weiterhin alleine durch die Seite zu klicken.

»Das ist nett, danke schön. Ich erstelle gleich ein Treffen«, schrieb ich ihm.

 

Und so kam es, dass ich mich mit Tsuchiya-san in einem schicken Café in Shibuya verabredete. Bis zu seinem Eintreffen war ich fürchterlich nervös. Immer wieder spähte ich zum Eingang hinüber, um zu schauen, ob er schon da war, und strich mir die Falten meines Rockes glatt.

Jetzt, da er vor mir saß, war ich auf einmal total ruhig. Seine Gelassenheit war ansteckend. Als die Bedienung mit unserer Bestellung kam, war meine Angst vor dem Unbekannten so gut wie verflogen. Ich hatte Lust auf ein Abenteuer.

»Tsuchiya-san, Sie sind schon länger auf ThirtyMinutes. Wie kamen Sie dazu?«, fragte ich ihn, nachdem wir den Käsekuchen probiert hatten. Er war wirklich gut.

Er überlegte kurz. »Gute Frage. Ich hatte Lust, neue Menschen kennenzulernen, ich bin gerne in Gesellschaft. Durch Gespräche mit jungen Leuten bekomme ich auch immer wieder Inspiration für meine Arbeit. Wie ist es bei Ihnen, Nanako-san?«

»Ich wollte nach meiner Trennung gerne etwas Neues ausprobieren. Zufällig passte es genau zu meinem lang gehegten Wunsch, meine Leidenschaft für Bücher mit anderen Menschen zu teilen.«

»Sie leben getrennt? Das war sicherlich keine einfache Entscheidung«, sagte er. »Ich spüre eine Geschichte dahinter. Sie sind eine interessante Person, Nanako-san. Dürfte ich nach dem Grund für die Trennung fragen? Sie müssen natürlich nicht darüber sprechen, wenn Sie nicht möchten.«

Ich zögerte. Davon hatte ich bisher niemandem erzählt.

Mein Mann arbeitete ebenfalls bei Village Vanguard, zwar in einer anderen Abteilung, doch wir hatten viele gemeinsame Freunde. Hätte ich mich vor unserer Trennung bei anderen über ihn beschwert, hätte ich mich zum Opfer stilisiert, und das wäre ihm gegenüber nicht fair gewesen. Der Grund unserer Trennung ging nur uns beide etwas an. Außerdem hatte ich ihm nichts vorzuwerfen, und böse war ich ihm auch nicht. Im Gegenteil. Es tat mir leid, dass ich mir nicht anders zu helfen wusste, als einfach vor allem davonzulaufen.

Doch Tsuchiya-san hatte mit alldem nichts zu tun. Ich musste mir keine Sorgen machen, dass er Gerüchte verbreiten oder meinem Mann erzählen könnte, was ich über ihn gesagt hatte. Niemand würde mir hier die Worte im Mund herumdrehen. Vielleicht täte es mir gut, mir endlich alles von der Seele zu reden. Vor einem Fremden brauchte ich keine Hemmungen zu haben.

Tsuchiya-san hörte mir aufmerksam zu und nickte ab und zu. »Auf ThirtyMinutes werden Sie viele interessante Leute kennenlernen«, sagte er dann. »Jetzt, da Sie Ihre Trennung hinter sich haben, steht Ihnen nichts mehr im Wege. Ich hoffe, Sie verzeihen mir meine Direktheit, Nanako-san, aber ein kaltes Bett ist ja auch nicht gerade gemütlich.«

Schlagartig hatte ich ein mulmiges Gefühl. Wollte er mich trösten? Da hatte er wohl etwas missverstanden. Vielleicht war es normal, dass man bei diesen Treffen auch unverfänglich über Dinge wie Sex redete. Ich versuchte, das Thema unauffällig zu wechseln.

»Ich schlafe gut, danke schön. Gegen einen neuen Freund hätte ich aber in der Tat nichts einzuwenden.«

Vergeblich. Er ließ nicht locker. »Entschuldigen Sie, dass ich das so direkt sage, aber was ist denn mit Ihren weiblichen Bedürfnissen? Sie müssen sich nicht genieren, Frauen sind in diesem Punkt nicht viel anders als Männer.«

Hatte ich mich verhört? Wieso sprachen wir plötzlich über den Zustand meines Sexlebens? Tsuchiya-san ließ sich nicht davon abbringen. »Letztendlich geht es doch immer darum«, redete er weiter. »Ich bin ein großer Verfechter der Gleichstellung und respektiere Frauen sehr. Nur, wissen Sie, verdächtig sind mir die, die am lautesten behaupten, sie bräuchten keinen Mann. Jede Frau will doch von einem Mann geliebt und umsorgt werden, erst dann fühlen sie sich richtig erfüllt.«

Ich lächelte gezwungen. »Also ich weiß nicht.«

»Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Ich maße mir nicht an zu wissen, ob Sie einen Mann brauchen, noch wirken Sie schrullig auf mich. Ich will Ihnen eigentlich nur sagen: Sollten Sie einen Mann suchen, wird eine Frau wie Sie keine Schwierigkeiten haben.«

Ich räusperte mich. »Danke. Wenn ich mir einen aussuchen könnte, dann gerne jemanden wie Pierre Taki«, versuchte ich das Thema zu wechseln.

»Pierre Taki, der Musiker? Solche Männer gefallen Ihnen?«, sagte er verwundert. »Zugegeben, ich bin kein Pierre Taki, aber mit mir können Sie immer gerne über Ihren Ex-Mann sprechen oder was Ihnen sonst auf dem Herzen liegt. Ich wäre auch durchaus offen für mehr, aber das liegt ganz bei Ihnen.«

Ach du meine Güte. Mein ungutes Gefühl hatte mich nicht getäuscht. Er hatte das Gespräch genau auf diesen Punkt lenken wollen.

»Tsuchiya-san, um ehrlich zu sein, freue ich mich momentan vor allem darauf, auf ThirtyMinutes viele interessante neue Leute kennenzulernen«, sagte ich und versuchte, freundlich zu bleiben.

Hoffentlich merkte er jetzt, dass ich nicht an ihm interessiert war.

»Ich verstehe. Aber geben Sie acht, auf ThirtyMinutes gibt es auch viele schräge Vögel«, erwiderte er.

Du bist doch nicht besser, hätte ich ihm am liebsten gesagt. Ich zögerte kurz und nahm dann allen Mut zusammen. Vielleicht konnte ein wenig Humor die verfahrene Situation auflockern.

»Danke für die Warnung, Tsuchiya-san. Sie sind ja auch ziemlich schräg«, sagte ich scherzhaft.

Er antwortete verschmitzt. »Sagen Sie doch so etwas nicht, Nanako-san, Sie brechen mir das Herz.«

»Ihr Herz kann das sicherlich verkraften«, konterte ich trocken.

»Was soll das denn heißen?«, er schien es mit Humor zu nehmen.

Der Wortwechsel begann, mir Spaß zu machen.

Wer hätte gedacht, dass ich in nur dreißig Minuten mit einem Fremden solch ein schlagfertiges Gespräch führen könnte? Wie befreiend zu wissen, dass ich ihn danach nie wiedersehen musste.

Meine sanfte Zurückweisung schien gewirkt zu haben. Während des restlichen Treffens erzählte mir Tsuchiya-san einige Anekdoten von der Arbeit in der Werbebranche. Bei einer Werbekampagne konnte offenbar ganz schön viel schiefgehen.

Als sich unsere Unterhaltung dem Ende zuneigte, fiel mir siedend heiß ein, dass ich ihm ja ein Buch empfehlen wollte.

Also fragte ich ihn, was er gerne lese und welche Bücher ihn besonders interessierten.

»Würden Sie mir wirklich einen Roman empfehlen?«, antwortete er. »In letzter Zeit komme ich nicht viel zum Lesen.«

Er schien weder besonders belesen zu sein noch jede Neuerscheinung zu verschlingen. Seine Altherrenart, mich in Gespräche über Sex zu verwickeln, war mir sehr unangenehm, doch wenn es um die Arbeit ging, hatte er mir aufmerksam zugehört und gute Ratschläge gegeben. Zog ich seinen Charakter und seine Arbeit in der schnelllebigen Werbebranche in Betracht, würde ihm sicherlich ein aktuelles Buch mehr zusagen als ein Klassiker.

Der literarische Shootingstar der letzten Jahre, Takehiro Higuchi, war meine erste Wahl. Dieser Autor hatte mich zuletzt beim Lesen vollkommen in den Bann gezogen. Higuchi besaß eine ganz eigene Formensprache und literarische Ästhetik, die mich faszinierte. Seine Bücher würden Tsuchiya-san bestimmt gefallen. Zuerst dachte ich an »Auf Wiedersehen, Zōshigaya«, ein Roman, der wegen seines an Tarantino erinnernden Stils von der Kritik gepriesen wurde.

Doch dann erinnerte ich mich an unser Treffen. Tsuchiya-san beschäftigte sich scheinbar gerne mit Sex, Higuchis anderer Roman würde noch besser zu ihm passen. Er hatte sogar Sex im Titel: »Der japanische Eros«. Das Buch erzählte die Geschichte eines Ehepaares, das sich auf das Wagnis eines Partnertausches einließ. Zuerst wirkt die Erzählung wie ein Erotikroman, doch dann wird es schnell brutal. In der Mitte wandelt sich der Roman in einen Gerichtsthriller, nur um schlussendlich doch in eine klassische Liebesgeschichte zu münden. Diese groteske Achterbahnfahrt macht die Lektüre zu einem wahren Vergnügen. Das würde Tsuchiya-san gefallen.

Am nächsten Tag schrieb ich ihm eine Dankesnachricht auf Facebook und schickte ihm meine Buchempfehlung.

 

Fremde Menschen kennenzulernen war viel leichter, als ich angenommen hatte. Zu meiner Überraschung verflog nach dem Treffen mit Tsuchiya-san die leichte Depression im Ansatz, die seit meiner Trennung und der Situation bei der Arbeit auf mir lastete. Ich spürte, wie meine Fröhlichkeit langsam zurückkehrte.

Ich war auf den Geschmack gekommen. Am nächsten Tag war ich bereit für das nächste Treffen mit einem Unbekannten. Den ganzen Tag war ich in Tokio unterwegs, und am Abend hatte ich Lust, jemanden zu treffen. Ich veröffentlichte einen kurzen talk. Ob jemand spontan Zeit haben würde? In der Stadt waren die Menschen immer so beschäftigt.

Zehn Minuten vergingen. Niemand meldete sich.

Abends schauten bestimmt nicht mehr viele Leute auf ThirtyMinutes. Ich war kurz davor, aufzugeben und nach Hause zu fahren, da ploppte eine Nachricht auf. Ein Nutzer namens Kōji.

»Ich habe Ihr Treffen gesehen und würde gerne kommen. 20 Uhr schaffe ich leider nicht, ich bin noch auf der Arbeit. Wie wäre es mit 20:30 Uhr?«

Ich schaute mir sein Nutzerprofil an, bevor ich ihm antwortete. Gemessen an der Zahl seiner Reviews, schien er auf ThirtyMinutes ziemlich aktiv zu sein.

Kōji ist ein superwitziger und aufgeschlossener Typ, stand da.

Wir haben so viel geredet, dass wir die Zeit ganz vergessen haben.

Kōji ist ein total cooler und lebenslustiger Mensch!

Na, das klang doch gut. Also antwortete ich ihm: »Okay, ich warte hier im Café und lese. Bitte machen Sie sich keine Umstände. Bis gleich.«

So kam es zu meiner zweiten Bekanntschaft: Kōji-san.

 

Ich wartete in einem Retrocafé aus den Siebzigerjahren und las. In dem Café war es sehr still. Ob das wirklich ein guter Ort für ein Kennenlerngespräch war?

Da kam eine neue Nachricht von ihm: »Es tut mir wirklich leid, es ist später geworden. Wenn ich jetzt losgehe, bin ich kurz nach 21 Uhr da.«

Ich ärgerte mich. War das sein Ernst? Nun hatte ich eine Stunde auf ihn gewartet. In dieser Zeit hätte ich problemlos jemand anders treffen können. Stattdessen hatte ich hier die Zeit mit Warten totgeschlagen. Was dachte er sich nur?

Doch was war die Alternative? Das Treffen abzusagen und nach Hause zu gehen? Wollte ich das wirklich? Nein, sagte die Stimme in mir. Zu Hause wartet sowieso niemand auf mich.

Das Café, in dem ich saß, schloss um 21 Uhr, und ich musste mir einen neuen Treffpunkt suchen. Ich hatte Hunger. Alle anderen Cafés in der Umgebung waren ebenfalls schon zu, daher entschied ich mich für eine Bar.

»Ich warte hier«, schrieb ich meiner verspäteten Verabredung und schickte ihm einen Link zu der Bar. Ich hatte keine Lust, auf ihn zu warten, daher bestellte ich mir einen Drink und etwas zu essen.

 

»Nanako-san? Es tut mir so leid, bitte entschuldigen Sie!«

Vor mir stand ein Typ Mitte dreißig, er hatte eine kräftige Stimme und breite Schultern wie ein Schwimmer. Er klang überhaupt nicht, als würde ihm die Verspätung leidtun. Ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen. »Nein, ist schon gut. Ich esse hier in Ruhe meine Pizza.«

»Puh, zum Glück lachen Sie«, sagte er und setzte sich zu mir. »Da fällt mir ein Stein vom Herzen. Ein Riesenstein. Pizza ist eine gute Idee. Ich sterbe vor Hunger. Was für eine Pizza ist das? Ist die Küche noch offen? Lassen Sie uns etwas essen. Und dann trinken wir einen zusammen. Das geht alles auf mich, als Entschuldigung!« Kōji-san redete wie ein Wasserfall. Er rief die Bedienung. »Ein Bier, bitte! Das größte, das ihr habt. Wie? Ja, ist auch okay. Kein Problem, kein Problem.« Er schien wirklich nicht stillsitzen zu können.

Wir stießen an, und erst jetzt schien er zur Ruhe zu kommen. Er wandte sich mir zu. »Sie sind erst seit Kurzem bei ThirtyMinutes, nicht wahr, Nanako-san? Schön, dass Sie sich heute mit mir treffen.«

»Die Freude ist ganz meinerseits«, sagte ich, »ich habe gesehen, Sie haben schon recht viele Leute getroffen.«

»Das kann man wohl so sagen …« Er kratzte sich verlegen am Kopf.

»Wie kam es dazu, dass Sie auf ThirtyMinutes sind?«, fragte ich.

»Ich arbeite bei einem Start-up. In den nächsten Jahren will ich mich selbstständig machen und spare dafür gerade das nötige Eigenkapital und bin immer auf der Suche nach neuen Impulsen. Da ich schon lange im Bildungsbereich arbeite, konzentriere ich mich auf diese Branche. Auf der Arbeit bin ich nur von Männern umgeben, daher bin ich neugierig, was Frauen von meinen Ideen halten«, sagte er wie aus der Pistole geschossen.

»Sie pitchen also Ihre Idee anderen ThirtyMinutes-Nutzern?«, sagte ich. Daran hatte ich bisher nicht gedacht.

Kōji-san nickte. »Was ist mit Ihnen, Nanako-san?«

Ich erzählte ihm dieselbe Geschichte wie zuvor Tsuchiya-san.

»Großartig! Sie stellen sich einer neuen Herausforderung«, Kōji-san nickte eifrig, »wir scheinen uns genau zur richtigen Zeit kennenzulernen. Ihre Einstellung macht mir Mut«, und zeigte ein Lächeln, »ich wünsche Ihnen, dass Ihnen alles gelingt!« Er streckte mir seine Hand für ein Highfive entgegen.

Woher nahm er nur diese Energie? »Danke …« Ich hob zögerlich die Hand.

»Moment«, er sah mich argwöhnisch an, »Sie denken gerade bestimmt, was für ein nerviger Typ ich bin, stimmt’s?«, wieder dieses Nicken beim Reden. »Das überrascht mich nicht. Ich war schon immer so. Ich bin daran gewöhnt, dass sich die Leute von mir abgeschreckt fühlen.«

»Nein, entschuldigen Sie«, versuchte ich, die Situation zu kitten. »Ich kenne Sie einfach noch nicht so gut. Ich brauche immer einen Moment, um aufzutauen.«

»Auftauen?« Kōji-san winkte ab. »Sie können ruhig sagen, dass ich anstrengend bin. Das höre ich ständig«, er fuhr fort, »aber ich bin der festen Überzeugung, dass es wichtig ist, die Wahrheit zu sagen. Worte haben eine Seele. Mein Lebensmotto ist, so frei und wild wie möglich zu leben!« Sein Wortschwall prasselte auf mich ein, und es fiel mir schwer, ihm zu folgen, »Übrigens, kennen Sie Takei Sō, den ehemaligen Leichtathleten? Der hat das gesagt.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Sie kennen ihn nicht? Wirklich nicht?«, er schaute mich wieder an, dann: »Übrigens, Nanako-san, Sie sind wirklich hübsch! Sehr hübsch. Sehr, sehr, sehr hübsch.«

»Was?«, platzte es aus mir heraus.

Er grinste.

Kōji-sans Art war wirklich überwältigend. Er besaß die Gabe, Menschen mit seinem überschwänglichen Elan mitzureißen.

Im Nu vergingen zwei Stunden, in denen wir uns über alles Mögliche unterhielten. Vor uns standen unsere letzten Drinks. Ich fragte ihn, ob er einen Buchwunsch habe.

»Ich möchte mehr über dich wissen, Nanako«, sagte er.

Huch, seit wann duzte er mich?

»Verrate mir dein Lieblingsbuch. Ich werde es auf jeden Fall lesen.«

Ich war überrascht, wie leicht er sich auf meine Frage einließ. Ich hatte nicht erwartet, dass er gerne las.