Die Eisfestung - Jonathan Stroud - E-Book

Die Eisfestung E-Book

Jonathan Stroud

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Beschreibung

Der knisternde Psychothriller des umjubelten Bartimäus-Starautors

Eigentlich wissen Emily und Simon so gut wie nichts über Marcus. Es war Zufall, dass sie einander auf dem gesperrten Burggelände begegneten; und es war nur eine fixe Idee, einzusteigen und in der Ruine zu übernachten. Einfach so, als kleiner Nervenkitzel inmitten öder Ferien. Doch Marcus verwandelt die Burg in eine Festung mit vereisten Treppen und bereit liegenden Wurfgeschossen. Emily und Simon sind bei ihm, als er schwört, nie mehr nach Hause zurückzugehen – die beiden machen sich ihren eigenen Reim auf die blauen Flecken in Marcus’ Gesicht. Währenddessen rücken sie draußen vor: zunächst nur Marcus’ Vater, dann der Burgwächter, Polizei, eine Sozialarbeiterin, Feuerwehr mit Gerät – die Belagerer, der FEIND, der Markus herausholen will! Was als übermütiges Spiel begann, schlägt still, heimlich und leise um in einen Albtraum.

• Atmosphärisch dicht, unglaublich fesselnd – Hochspannung, die den Atem verschlägt
• Mit Kartenmaterial der Burgruine

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Seitenzahl: 326

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Inhaltsverzeichnis
 
Widmung
 
ERSTE KÄMPFE
Kapitel 1
Kapitel 2
 
Copyright
Jonathan Stroud wurde 1970 im englischen Bedford geboren. Er schreibt Geschichten, seit er sieben Jahre alt ist. Er arbeitete zunächst als Lektor für Kindersachbücher. Nachdem er seine ersten eigenen Kinderbücher veröffentlicht hatte, beschloss er, sich ganz dem Schreiben zu widmen. Er wohnt mit seiner Frau Gina, einer Grafikerin und Illustratorin von Kinderbüchern, und den gemeinsamen Kindern Isabelle und Arthur in der Nähe von London.
 
Bei cbj Taschenbuch sind erschienen:
 
Bartimäus. Das Amulett von Samarkand (21695) Bartimäus. Das Auge des Golem (21853) Bartimäus. Die Pforte des Magiers (21957) Die Spur ins Schattenland (21847)
FÜR ELI UND MATT
GRUNDRISS
DER BURG
ERSTE KÄMPFE
1
Emilys erstes Verbrechen war klein und hatte mit dem Schnee zu tun.
Wurzeln versperrten ihr den Weg, ihre Stiefel versanken tief im Boden. Winzige Lawinen aus Pulverschnee donnerten ihr auf die Mütze, die Stirn und die Schultern herunter. Sie spürte die Kälte. Mit vorsichtigen Bewegungen quetschte sie sich durch das Loch in der dicken Hecke. Die schneebedeckten Zweige schlugen und kratzten gegen ihren Anorak. Schneeflocken fielen ihr in die Augen und machten sie blind. Hinter ihr blieb der Schlitten irgendwo hängen. Sie zerrte heftig an dem Seil und mit einem Ruck kam er wieder frei.
Noch ein Schritt und sie hatte es auf das Gelände der Burg geschafft. Mit klopfendem Herzen spähte sie umher, ob Gefahr drohte. So weit, so gut. Es war niemand zu sehen.
Sie stand bis zu den Knien in einer niedrigen Schneeverwehung, die sich an der Hecke gebildet hatte. Rechts in der Ferne flog ein Schwarm Vögel in den grauen Himmel über dem Wald hoch. Die Hecke hob sich als unregelmäßiger schwarzer Strich von dem Weiß ab. Der Schnee hatte alles geglättet, nur ein dunkler Schatten weiter vorne ließ erkennen, dass dort die Biegung des Burggrabens sein musste. Auf der gegenüberliegenden Seite des Grabens erhoben sich Reste eingestürzter Mauern.
Im Hintergrund ragte die eigentliche Burg wie ein schwarzer Fels empor.
Emily drehte sich noch einmal um und zerrte an dem Seil. Der Schlitten tauchte ruckartig auf. Dann klemmte er wieder in dem Dickicht aus Zweigen und dornigen Ranken fest. Sie beugte sich hinunter, hob den gelben Plastikschlitten hoch und drehte ihn so, dass er freikam. Dann bugsierte sie ihn aus der Hecke heraus und ließ ihn in den Schnee fallen.
Sie lauschte. Vom Burggraben hallte Gelächter herüber, abgedämpft durch die Entfernung und die Schneedecke. Das war gut, andere waren schon vor ihr hier eingedrungen und niemand hatte sie verjagt. Sie konnte ruhig bleiben.
Sie stapfte durch den Schnee. Bei jedem Schritt versanken ihre Beine in dem weißen Pulver. Die Kälte stach durch ihre Jeans. Später würde es nass und ungemütlich werden, aber jetzt fühlte sie sich stark und lebendig. Jeder Schritt ein eiskalter Nadelstich, aber die stickige Langeweile der letzten Tage, immer nur im Zimmer, hatte ein Ende.
Es ging einen leichten Abhang hinunter. Sie konnte die Burg jetzt nicht mehr sehen, nur noch einen Teil der äußeren Ringmauer, grau und mit Eis überzogen. Der Himmel war dick und schwer, bald würde es wieder schneien. Ihr Atem stieg in zottigen kleinen Wolken empor.
Die Stimmen kamen von da, wo der Burggraben am tiefsten war. Emily bahnte sich langsam ihren Weg dorthin. Es kam ganz darauf an, wer es war. Karen hatte gesagt, dass sie in der Woche vielleicht mal hingehen würde, und Emily mochte Karen eigentlich ganz gern. Wenn sie da war, würde Emily bleiben. Wenn nicht …
Mehrere Gestalten kletterten aus dem steilen Graben hoch, eine zog einen kleinen roten Schlitten hinter sich her. Zwei Mädchen und vier Jungs - alle rutschten immer wieder ab und keuchten und fluchten. An ihren Anoraks und Hosen klebte der Schnee. Karen war nicht dabei.
Als sie alle oben angekommen waren, fingen drei der Jungs sofort an, sich zu stoßen und zu schubsen. Sie johlten und brüllten, während sie miteinander rauften, alles nur, um die Aufmerksamkeit der beiden Mädchen auf sich zu lenken. Aber die beachteten sie überhaupt nicht und schauten dem vierten (und größten) Jungen zu, der den Schlitten in die richtige Position brachte. Dann ließ sich das eine Mädchen mit einem Plumpser darauffallen, das andere Mädchen quetschte sich mühsam dahinter und der größte Junge schmiss sich noch vorne quer darüber. Die Mädchen kreischten entzückt. Der Schlitten ächzte langsam ein Stück abwärts und blieb dann stehen, ein Wirrwarr aus Armen und Beinen ragte auf beiden Seiten heraus. Mit einem Mal kippten der Junge und das vordere Mädchen zur Seite, und das zweite Mädchen raste allein auf dem Schlitten den steilen Abhang hinunter, vor Schreck laut aufschreiend, bis sie unten im Graben durch die Schneeverwehung gebremst wurde. Sie landete kopfüber im Schnee. Die anderen Jungs hatten noch etwas weitergekämpft, aber ohne große Begeisterung, jetzt hörten sie ganz auf, schauten auf den großen Kerl, der mitten am Hang ausgestreckt auf dem Mädchen lag, und lachten neidisch.
Deirdre Pollard, Katie Fern und die Allen-Brüder. Emily verzog das Gesicht und kehrte um. Sie würde lieber allein Schlitten fahren. Deirdre und Katie waren blöde Hühner und mit den Allen-Brüdern wollte sie nichts zu tun haben. Nur Simon, der Jüngste, ging noch auf die Schule; die anderen machten nichts anderes, als irgendwo rumzuhängen und die Zeit totzuschlagen. Martin Allen, der Älteste, war ein richtiger Schlägertyp, aber man hatte ihn im Dorf schon seit einiger Zeit nicht mehr gesehen. Emily hatte gehört, dass er im Gefängnis war.
Als sie sich von der Gruppe wieder ein gutes Stück entfernt hatte, hielt sie an. Sie drehte den Schlitten in die richtige Stellung, auf den oberen Rand des Burggrabens, und setzte sich darauf. Unter ihr fiel der Boden steil ab, ein trügerisches, weiches Weiß, das alle Felsvorsprünge und Löcher verdeckte. Emily hielt kurz inne, biss die Zähne zusammen und stieß sich ab.
Aufstäubender Pulverschnee, eiskalter Fahrtwind, ein weißer Wirbel. Dann verlangsamte sich der Schlitten und kam mit einem Ruck auf der gegenüberliegenden Seite, wo der Graben wieder anstieg, zum Stillstand, ihr Körper schnellte nach vorne, und ihre ausgestreckten Stiefel bohrten sich in den Schnee.
Reglose Stille. Das alles hatte nur drei Sekunden gedauert.
Emily saß da, schnappte nach Luft, spürte das Adrenalin im Blut. Lächelte.
Dann traf sie etwas im Gesicht.
Es stieß ihren Kopf zur Seite und ließ sie aufschreien, als ihr der spitze kalte Schmerz in die Wange fuhr. Dass das so plötzlich kam, verwirrte sie. Sie wusste, dass es ein Schneeball war, aber er fühlte sich an wie ein Faustschlag.
Lautes Gelächter. Vor ihrem Gesicht flog pfeifend noch ein Schneeball vorbei. Ein weiteres Wurfgeschoss prallte gegen ihr Bein, zersplitterte in Schneescherben, ein paar davon trafen sie in die Augen.
Emily kämpfte sich auf die Füße hoch, verhedderte sich in der Schlittenleine, halb blind von den Tränen, die ihr bei dem ersten Treffer in die Augen geschossen waren. Wie durch regennasse Scheiben sah sie die Angreifer auf dem Grund des Wassergrabens stehen, nicht weit weg von ihr. Noch mehr Schneebälle sausten durch die Luft, einer traf ihren Brustkorb, ein anderer ihren Magen. Sie bückte sich nach dem Seil, drehte sich um und begann, durch den tiefen Schnee davonzustapfen.
Sie rutschte aus, wäre fast hingefallen, richtete sich wieder auf - und dann bekam sie einen fürchterlichen Schlag auf den Hinterkopf, dass es ihre Mütze herunterriss, Eisstückchen prasselten herab, und sie spürte, dass sie jetzt gleich losheulen würde.
Sie stapfte tapfer weiter und ließ die Mütze einfach liegen. Davonrennen war nicht möglich, dafür waren die Schneeverwehungen viel zu hoch, aber allmählich wurde der Kugelhagel spärlicher, und das Hohngelächter wurde schwächer. Noch einmal traf sie ein Wurfgeschoss am Bein, ein anderes zischte an ihrem Ohr vorbei, dann war der Angriff vorbei.
Emily setzte ihren Weg in der Senke des Burggrabens fort, vor Zorn und Verzweiflung liefen ihr Tränen die Wangen herunter. Endlich wagte sie es, einen Blick nach hinten zu werfen, und merkte, dass sie längst um die Kurve des Burggrabens gebogen war und die anderen sie nicht mehr sehen konnten.
Sie trottete langsam vor sich hin. Der Graben war auf beiden Seiten zu steil, um hochklettern zu können, aber sie wusste, wenn sie weiterging, würde sie bald zu der Stelle kommen, wo Stufen zur Brücke hinaufführten. Danach konnte sie oben zu dem Loch in der Hecke zurück und dann nach Hause.
Ein Bruchstück der äußeren Ringmauer erhob sich über der rechten Böschung des Grabens aus dem Schnee. Emily wünschte, sie könnte die Mauer auf die Idioten herabstürzen lassen, die sie gerade angegriffen hatten. Sie hatte aufgehört zu weinen und stieß bei jedem Schritt wütend gegen den Schnee. Katie Fern, Deirdre Pollard - das würden die beiden noch bereuen, da konnten sie Gift drauf nehmen. Aber bei den Jungs war nichts zu machen, keine Chance - die waren einfach zu stark, sogar dieser dämliche Simon war stärker als sie.
Sie hasste sie! Sie hasste das ganze Dorf! Alle dort waren dumm und beschränkt, sie fühlte sich immer total einsam, und es gab nichts, womit man sich halbwegs die Zeit vertreiben konnte. Schlittenfahren war die einzige Möglichkeit, um der Langeweile der Weihnachtsfeiertage zu entkommen- und jetzt hatte sie dafür Prügel bekommen! Sie konnte auch nirgendwo anders hin. Im Umkreis von 20 Meilen war hier alles flach - ein endloses, langweiliges Tischtuch aus grauweißen Feldern, durchzogen von Eisfurchen, Gräben und Bächen. Überall gefrorener Schlamm und Wasser, nirgendwo ein Hügel in Sicht. Der Burggraben war der einzige Ort, wo man mit seinem Schlitten hinkonnte, und von dort wurde sie jetzt vertrieben, zurück nach Hause und zu ihren Eltern, wo alles stickig und muffig war.
Sie war so überwältigt von ihrer hilflosen Wut, dass sie ihn erst bemerkte, als sie nur noch ein paar Meter von ihm entfernt war. Eine plötzliche Bewegung ließ sie aufschauen. Und da sah sie ihn. Er stand an der tiefsten Stelle des Grabens. Ein Junge, den sie nicht kannte.
Er wirkte etwas älter als sie, vielleicht fünfzehn, dünn, dicke schwarze Haare, die unter der dunkelblauen Pudelmütze in alle Richtungen hervorstanden. Er trug einen blauen Anorak, der ziemlich warm aussah, aber seine Turnschuhe mussten schon ganz durchgeweicht sein. Und er hatte keine Handschuhe an. Er presste den Schnee mit seinen bloßen Händen zu festen Schneebällen zusammen und schmiss sie zu der halb eingestürzten Mauer oben am Grabenrand hoch. Einen Schneeball nach dem anderen. Sie prallten gegen das Mauerwerk oder versanken mit einem sanften Geräusch im Schnee am Fuß der Mauer. Doch da oben, soweit Emily das sehen konnte, war niemand. Der Junge war allein.
Emily stand da und schaute ihm zu. Er verriet mit keiner Regung, dass er sie auch gesehen hatte, sondern bückte sich nach einer Handvoll Schnee für den nächsten Schneeball. Er warf ihn mit aller Kraft in Richtung Mauer. Als das Geschoss am weißen oberen Rand der Böschung zerschmetterte, gab er einen missbilligenden Laut von sich.
Seine Hände waren rot von der Kälte.
»Versuchst du, sie über die Mauer werfen?«, fragte Emily.
Der Junge drehte sich nicht um. »Ja.«
»Ist aber sehr hoch.«
»Einmal hab ich’s geschafft, aber meine Arme werden müde.«
»Warum hörst du dann nicht auf?«
Der Junge antwortete nicht, sondern packte mit seinen eiskalten Fingern den nächsten Schneeball und warf ihn. Der schaffte es den halben Abhang hoch und plumpste dann kraftlos nach unten.
»An deiner Stelle würde ich jetzt aufhören«, sagte Emily.
»Was ich bräuchte, wäre eine Belagerungsmaschine«, erklärte der Junge, rieb sich die klammen Hände und stopfte sie dann in die Anoraktaschen. »Ein riesiges Katapult. Damit könnte ich es aus vielen Meilen Entfernung schaffen.«
»Was denn?«
»Felsbrocken auf die Verteidiger schleudern. Oder pechgetränkte brennende Wurfgeschosse, um alles anzuzünden. Das wäre am besten.«
Emily schaute den Jungen an. Er hatte ein schmales, langes Gesicht, blasse Haut und dunkle unruhige Augen, die dauernd zwischen ihr und dem Mauerstück hin und her sprangen.
»Ich hab gedacht, Burgen sind aus Stein«, sagte sie. »Mit Feuer wäre dann nichts zu machen.«
»Die Nebengebäude waren oft aus Holz«, antwortete der Junge. »Aber du hast Recht. Feuer würde nicht viel ausrichten, ein paar Verteidiger würden zu Grillkohle, das ist alles.«
Ein kurzes Schweigen.
»Eine andere Möglichkeit«, fuhr er fort, »wären natürlich Köpfe.«
»Köpfe?«
»Von Feinden. Von Leuten des Ritters, die bei Scharmützeln umgekommen waren, oder von Dorfbewohnern. Wir würden ihnen die Köpfe abhacken und sie dann über die Mauer katapultieren. Kleiner Gruß an ihre Familienangehörigen und Freunde. Nennt man psychologische Kriegsführung.«
»Schneebälle sind mir lieber«, sagte Emily.
Wieder Schweigen.
»Bist du hier aus der Gegend?«, fragte der Junge schließlich.
»Aus dem Dorf. Und du?«
»Ich bin von King’s Lynn mit dem Fahrrad gekommen. Halbe Stunde, mehr nicht.«
»Und wo hast du dein Fahrrad?«
»Hinter der Hecke.«
»Ach so.« Damit schien der Gesprächsstoff erst mal ausgegangen zu sein. Emily hatte die Stufen erspäht, die aus dem Graben hochführten. Sie setzte sich wieder in Bewegung.
»Magst du keine Burgen?«, fragte der Junge plötzlich.
»Doch. Aber jetzt ist mir kalt. Ich muss mich bewegen.«
»Burgen sind der Wahnsinn. Jede ist anders. Sie mussten sich immer wieder was Neues ausdenken, weißt du, wegen der ganzen Entwicklungen in der Kriegstechnik. Die hier stammt noch aus der Anfangszeit.«
»Tatsächlich?« Emily trat von einem Fuß auf den andern, aber sie fand es unhöflich, einfach wegzugehen, während der Junge auf sie einredete.
»An der Kernburg, daran kann man das erkennen. Später haben sie so was nicht mehr gebaut. Solche befestigten Wohntürme konnten viel aushalten, aber es war alles sehr eng. Und wenn sie eckig waren, wurden sie immer irgendwann unterhöhlt. Du weißt schon, mit unterirdischen Gängen.«
»Die hier ist nie erobert worden«, sagte Emily mit einem gewissen Stolz.
»Stimmt. Aber was ist mit der Ringmauer? Irgendjemand hat sie in Trümmer gelegt. Wer war das?« Er schaute Emily an, wartete auf eine Antwort.
»Keine Ahnung.«
»Du weißt das gar nicht?« Der Junge sagte das mit einer Enttäuschung, die Emily etwas nervte. »Manche Heere hatten mächtige Belagerungsgeräte«, fuhr er fort. »Aber sie mussten die Mauern gar nicht immer zerstören. Hast du von den Mongolen gehört? Sie haben irgendwo eine Burg der Christen belagert. In der Türkei, glaub ich. Schafften es nicht hineinzukommen. Weißt du, was sie da gemacht haben?«
»Nein.«
»Sie haben die Leichen von mongolischen Kämpfern, die an der Pest gestorben waren, vor die Burg geschafft. Mit schwarzen Pestbeulen übersät. Haben abgewartet, bis die Beulen voller Eiter waren, kurz davor aufzuplatzen...«
Er machte eine Sekunde Pause, als wartete er darauf, dass Emily etwas sagte. Was sie aber nicht tat.
»... dann katapultierten sie die Leichen über die Mauern in die Burg. Bald waren auch die ersten Verteidiger von der Pest befallen. Die Seuche verbreitete sich blitzschnell, alle saßen in der Falle. Es gab kein Entkommen. Fast alle starben. Dann zogen die Mongolen ab. Sie waren nicht ins Innere der Burg vorgedrungen, aber das brauchten sie auch nicht mehr. Sie hatten fürchterliche Rache genommen!«
»Wie eklig!« Emily verzog das Gesicht. Sie war beeindruckt. Der Junge grinste.
»Und als die Überlebenden nach Europa zurückkehrten, brachten sie die Pest mit. So ist die Seuche dorthin gekommen. Hat sich überall ausgebreitet. Kam alles durch die Belagerung dieser Burg.«
»Woher weißt du das alles?«, fragte Emily.
»Hab ich irgendwo gelesen.« Er warf noch einen Schneeball, der nach einem trägen Bogen im Schnee versank. »Liest du nicht gern?«
»Ja, aber nicht solche Sachen.«
»Du musst nur mal drauf achten. Solche Geschichten merk ich mir immer.«<
Emily zuckte mit den Schultern. Der Wind war stärker geworden und sogar im Schutz des Burggrabens spürte sie seine schneidende Kälte, trotz ihrer dicken Jacke. »Na dann«, sagte sie schließlich. »Ich geh jetzt heim. Und das Betreten des Grundstücks hier ist sowieso verboten.«
»Aber das gehört doch zum Spaß dazu, oder?« Der Junge warf ihr einen schnellen, prüfenden Blick zu. »Hör mal, bevor du gehst, wie wär’s mit einer kleinen Schneeballschlacht? Dann wird dir bestimmt schnell warm. Du kannst der Verteidiger sein. Oder der Angreifer, was dir lieber ist, aber Verteidiger ist bestimmt leichter. Du kannst dich da oben hinstellen, neben das Loch in der Mauer.«
»Nein danke. Von Schneebällen hab ich für heute genug.«<
Der Junge wirkte enttäuscht. »Musst du selber wissen. Aber wir hätten bestimmt viel Spaß miteinander. Du könntest siedendes Öl auf mich herunterschütten - du weißt schon, den Schnee mit den Händen hochschaufeln und einfach runterschmeißen! Wenn du mich erwischst, hast du gewonnen. Dann tauschen wir.«
Emily überlegte. Auf eine Schneeballschlacht hatte sie jetzt wirklich keine große Lust. Aber der Junge war so begeistert von seiner Idee, dass er sie damit schon angesteckt hatte. War bestimmt besser, als sich jetzt allein nach Hause zu verdrücken. Wenn sie ihn mit Schnee beschmiss, konnte sie vielleicht auch etwas von ihrer aufgestauten Wut loswerden.
»Wie heißt du?«, fragte sie.
»Marcus. Und du?«
»Emily - oder einfach Em. Okay, und wie komm ich da rauf?«
Das Gesicht des Jungen hellte sich auf. »Super! Ist ziemlich steil hier, aber da vorn sind Stufen. So bin ich auch runtergekommen.«
Emily runzelte die Stirn. »Ich mach doch nicht den ganzen Umweg. Ich klettere hier hoch.«
Aber sie hatte kaum damit angefangen, als sie Schritte hörte, die durch den vereisten Schnee des Grabens stapften. Sie ließ sich nach unten rutschen und drehte den Kopf. Ein Junge kam auf sie zu.
Emilys Augen verengten sich. Es war Simon Allen und er hatte ihre Mütze in der Hand.
Sie stellte sich ihm direkt entgegen und starrte ihn finster an, ihre Arme hingen steif herab. Der Junge war rot im Gesicht und wirkte unbeholfen. Als er bei Emily angekommen war, blieb er stehen und schaute schweigend auf den Schnee vor ihren Füßen. Auch Emily sagte nichts. Sie konnte sehen, wie die Blicke von Marcus zwischen ihr und dem Jungen hin und her wanderten.
Simon Allen streckte ihr die Mütze entgegen. Emily machte einen Schritt vorwärts und nahm sie ihm weg, riss sie ihm fast aus der Hand. Sie setzte die Mütze nicht auf, sondern ließ ihre Arme wieder zur Seite sinken und zwang sich, dem Jungen direkt ins Gesicht zu schauen.
Wie seine Brüder war er kräftig gebaut, fast so groß wie ein Mann, obwohl er nur eine Schulklasse über Emily war. Aber anders als seine Brüder war er noch kein richtiges Schwergewicht - er war ziemlich mager und seine Arme und Beine wirkten noch etwas schlaksig, einfach zu lang für ihn. Er hatte rotblonde, stoppelkurze Haare, ein rötliches, sommersprossiges Gesicht und blaue Augen. In diesem Augenblick stand sein Mund einen Spalt offen, weil er etwas sagen wollte, ohne so recht zu wissen, was. Emily wartete und schaute ihn an.
Schließlich öffnete er den Mund ganz. »Die hab ich gefunden«, sagte er. »Das... das ist doch deine Mütze?«
»Das ist meine Mütze«, sagte Emily. »Deshalb hab ich sie auch genommen. Ich stehle keine Sachen.« Sie machte eine Pause. »Nicht so wie andere Leute.«
Der Junge lief rot an und ballte seine Fäuste. »Was meinst du damit?«
Emily grinste. »Euren großen Bruder hab ich vorhin gar nicht gesehen. Feiert fröhlich Weihnachten, was?«
»Blöde Zicke - nimm das zurück!«
»Verpiss dich.«
Simon Allen machte eine Bewegung nach vorne. Emily grinste ihn weiter spöttisch an, obwohl ihr Herz vor Angst wild pochte. »Mach nur. Ein Mädchen verdreschen. Gleich zweimal am Tag. Ziemlich guter Schnitt.«
Der Junge stoppte, sein Mund verzog sich wütend. »Hör mal, du blöde Scheißkuh«, sagte er, »ich bin extra gekommen, mit deiner Mütze und weil ich’tschuldigung sagen...«
»Und warum hast du das dann nicht?«
»Was?«
»’tschuldigung gesagt, du Blödmann.«
»Ich... ich...« Der Junge war so überrumpelt, dass er nur noch stotterte. Er schien vor lauter Verwirrung und Wut ganz durcheinander zu sein. Da fragte Marcus: »Was hat er denn gemacht?«
»Schneebälle geworfen. Hat richtig weh getan.«
Simon Allen schaute hoch. »Hab ich nicht gemacht. Das waren die andern.«
»Klar, sind immer nur die andern.«
»Verdammt noch mal, ich war’s nicht! Ich hab vielleicht einen geworfen, aber der ging daneben. Carl hatte die meisten Treffer.«
»Dann kannst du nur nicht gut zielen. Das ist der einzige Unterschied.«
»Jetzt hört mal beide zu«, sagte Marcus, gerade als Simon vor Wut fast explodierte. »Ich hab einen Vorschlag. Er bittet dich um Entschuldigung und du nimmst seine Entschuldigung an - und dann hört ihr einfach damit auf. Wie wär das? Und danach beginnen wir einen fairen Kampf. Wie wir es gerade vorhatten, nur mit zwei Angreifern - der Verteidiger hat es sowieso viel leichter. Zwei Angreifer würden das wettmachen. Er könnte zum Beispiel der Verteidiger sein und du und ich, wir sind die Angreifer. Was haltet ihr davon? Das wäre doch fairer. Und ganz nebenbei kriegt ihr beide eine Gelegenheit, dem andern das Hirn rauszuprügeln.«
Emily und Simon starrten Marcus stumm an. Emily war so verdutzt über den Vorschlag, dass sie ganz vergaß, was sie eben noch sagen wollte, und obwohl irgendwas gemeinsam mit Simon Allen zu unternehmen, ganz bestimmt die Sache auf der Welt war, zu der sie am wenigsten Lust hatte, kamen ihr alle Einwände kindisch und dumm vor, sobald sie zu sprechen ansetzte. Man konnte klar sehen, dass es Simon genauso ging. Er hustete und schaute dann wieder auf den Schnee vor Emilys Füßen.
»’tschuldigung«, nuschelte er, »wegen der Schneebälle.«
»... okay, angenommen.« Emily brachte es kaum über die Lippen.
Marcus grinste breit. »Super! Dann mal gleich los. Du kletterst den Hang hoch, Kumpel, und du...« Er hörte mitten im Satz auf. »Was ist das denn für’ne Truppe? Noch mehr Freiwillige?«
Emily folgte seinem Blick. Ihr Herz krampfte sich zusammen. Fünf Gestalten, fünf grinsende Gesichter kamen durch den Burggraben näher. Katie Fern, Deirdre Pollard, die drei restlichen Allen-Brüder.
»Das geht hier ja zu wie auf’ner Autobahn«, sagte Marcus.
Der größte Bruder ergriff das Wort. »Habn dich verlorn, Si«, sagte er. »Habn uns schon Sorgen gemacht. Wusstn nich, wo du warst.«
»Jetzt habt ihr mich gefunden«, sagte Simon mürrisch. »Seid ihr nun zufrieden?«
»Hast dich heimlich fortgeschlichn. Sind wohl neue Freunde von dir?«
»Hör auf, Carl.« Simons Stimme klang resigniert und trotzig zugleich.
»Vielleicht sind wir dir nich gut genug?«
»Hör auf. Ich hab hier gar nichts gemacht.«
Katie Fern zeigte auf Emilys Schlitten. »Er wollte Schlitten fahren«, sagte sie.
Carl pfiff durch die Zähne. »In dem Ding da?«
»Wollte ich nicht, ich wollte nicht Schlitten fahren.«
»Billiges Spielzeugteil«, sagte Carl. »Für Kinder.« Er lachte und die beiden Mädchen antworteten sofort mit einem Kichern.
»Hast du was gegen unsern Schlitten?«, fragte Carl Simon.
»Nein.«
»Solltest du aber. Deirdre hat ihn nämlich mit ihrem Arsch grade kaputt gemacht.« Noch mehr Gekichere. »Aber darum geht es nicht«, sagte Carl, noch näher an Simon heranrückend. »Sondern - was treibst du hier bei dieser blöden Kuh, die sich für was Besseres hält?«
Emily wurde wütend und warf ihm Schimpfwörter an den Kopf.
»Wie bezaubernd«, sagte einer der Brüder.
»Echt schweinisch«, stimmte Katie Fern ihm zu.
»Oh, darling«, sagte Carl. »Pass auf deine Sprache auf, wenn du mit unserem Simon zusammen bist. Er ist ein so braver kleiner Junge.«
»Verpisst euch doch.« Emily griff nach der Schlittenleine und wandte sich zum Gehen, aber Carl streckte seinen dicken starken Arm aus und versperrte ihr den Weg. »Sekunde noch«, sagte er. »Ich möchte wissen, was an dem Ding so super ist.« Er riss Emily das Seil aus der Hand und ließ seinen Hintern auf den Schlitten fallen. Ein lautes Knacken war zu hören. Die beiden Mädchen quietschten vor Schadenfreude.
Wie ein Stromstoß durchzuckte Emily eine spitze, scharfe Wut. Bevor sie überhaupt wusste, was sie tat, hatte sie einen Satz zur Seite gemacht und Carl Allen so heftig, wie sie nur konnte, gegen das Schienbein getreten. Er stöhnte vor Schmerz, fiel auf den Rücken und umklammerte sein Bein.
Einer der anderen Brüder machte einen Schritt nach vorne und versetzte ihr einen Faustschlag. Durch ihre Benommenheit hindurch fühlte sie, wie sie im Schnee aufschlug. Der Junge war ein bedrohlicher Schatten über ihr; er hob einen Stiefel - oh nein, gleich würde er zutreten! -, da sah sie, wie Simon sich von der Seite auf seinen Bruder stürzte und ihn mit dem Gesicht nach unten hinter den Schlitten zerrte.
Emily rappelte sich wieder hoch. Der Kampf zwischen Simon und seinem Bruder wogte hin und her, gerade landete Simon bei ihm einen Treffer voll ins Gesicht; Carl Allen hielt immer noch schmerzbetäubt sein Schienbein umklammert, der dritte Bruder kam auch näher - und plötzlich tauchte Katie Fern vor ihr auf, die Fäuste wild schwenkend.
Im nächsten Augenblick hatten sie sich gepackt, Emily spürte, wie an ihren Haaren gezerrt wurde, und zerrte selbst an Katies Haaren; blind vor Schmerz und verzweifelt schaffte sie es, ihren Fuß hinter Katies Ferse zu setzen, und stieß sie heftig von sich weg. Katie kippte mit einem Aufschrei um und fiel auf den Rücken.
Emily schaute umher. Simon war wieder auf den Füßen und wehrte zwei Brüder gleichzeitig ab, aber seine Niederlage war nicht mehr aufzuhalten. Mit fürchterlichem Grinsen erhob sich Carl, drückte seine Brüder zur Seite und versetzte Simon mit eiserner Faust einen Kinnhaken. Simon taumelte und Carl holte zu einem weiteren Schlag aus. Da geschah etwas vollkommen Unerwartetes.
Aus dem Nirgendwo kam plötzlich eine Rakete angeschossen und prallte gegen Carl. Die Rakete hatte die Form einer menschlichen Gestalt, ziemlich schlaksig, die ihre Hände um Carls Hals presste und ihn mit solcher Kraft nach hinten stieß, dass er das Gleichgewicht verlor und in den Schnee fiel. Carl schrie auf und langte sich an den Hals. Marcus setzte sich neben ihm auf und blickte benommen in die Runde.
»Gut gemacht, Marcus!«, rief Emily, und dann: »Pass auf!... Oh weh!«
Carl Allen schlug ihm hart ins Gesicht. Marcus sank in den Schnee. Carl kam auf die Füße, trat einmal mit dem Stiefel fest zu, dann, vorsichtig seinen Hals betastend, drehte er sich um und begann, durch den Burggraben fortzuhumpeln.
Sein Rückzug war das Zeichen für das Ende des Kampfes. Die anderen folgten ihrem Anführer, Katie Fern warf Emily noch einen bösen Blick zu. Deirdre Pollard, die die ganze Zeit zugeschaut und gekreischt hatte, bildete die Nachhut.
»Was, ihr gebt auf?«, brüllte Simon ihnen atemlos nach.
Ein Bruder blickte zurück. »Wir sehen uns zu Hause.«
Einer nach dem anderen verschwanden sie um die Biegung des Burggrabens. Ihre Schritte und ihr Husten verklangen in der Luft. Drei Gestalten blieben auf dem Schlachtfeld zurück und pflegten ihre Wunden.
2
Simon Allen stand langsam auf. Er rieb sich den Unterkiefer, schaute Emily an und fragte: »Alles okay bei dir?«
»Ja.« Sie fühlte sich, als ob ihr alle ihre Haare mitsamt Haarwurzeln ausgerissen worden wären. »Alles prächtig.« Sie machte einen tiefen Atemzug.
»Danke, dass du mich rausgehauen hast.«
»Ach was. Hab gesehen, wie du’s Katie gegeben hast.«
»Ja.«
»Echt gut. Die ist’ne stockblöde Kuh. Und Carl wird sein Bein noch’ne ganze Weile spüren. Auch ziemlich gut.«
Neben ihnen stöhnte jemand. Marcus saß immer noch im Schnee. Er blutete aus der Nase.
Simon kauerte sich neben ihn. »Alles in Ordnung?«
»Hmmmm.«
»Tut mir wirklich leid... Mein Bruder... aber war echt gut, wie du da angeschossen gekommen bist. Er hat gar nicht mitgekriegt, was ihn da getroffen hat.«
Marcus stützte sich auf den Ellenbogen und rieb sich eine Gesichtshälfte. »Ging mir genauso«, presste er hervor.
»’tschuldigung.« Simon blickte wieder zu Emily hoch. »War aber echt klasse, was? Da hat’s Carl aber mal gezeigt gekriegt.«
»Er hat was verloren.« Emily hielt einen Flachmann hoch, in dem eine gelbbraune Flüssigkeit hin und her schwappte.
»Das gehört mir.« Marcus streckte die Hand aus. »Kann ich jetzt gut gebrauchen.« Er nahm die Flasche, schraubte den Verschluss ab und nahm einen Schluck. Dann streckte er die Hand wieder aus. »Hier.«
»Was ist da drin?«, fragte Simon.
cbt - C. Bertelsmann Taschenbuch Der Taschenbuchverlag für Jugendliche Verlagsgruppe Random House
 
1. Auflage Erstmals als cbt Taschenbuch Januar 2009 Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform © 2003 Jonathan Stroud Die englische Originalausgabe erschien 2003 unter dem Titel »The Last Siege« bei Random House Children’s Books, London.
© 2007 für die deutschsprachige Ausgabe
cbj, München Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten Übersetzung: Bernadette Ott Karten: Gina Stroud Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie, Werbeagentur, München - Zürich he ∙ Herstellung: ReD
eISBN : 978-3-641-02353-9
www.cbt-jugendbuch.de
 
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