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Zwei Brüder im Kampf gegen das Böse
Als der 12-jährige Michael sich an einem heißen Sommernachmittag in den Hügeln herumtreibt, ahnt er nicht, dass tief darunter seit Jahrhunderten ein gewaltiger Drache ruht. Gebannt dorthin durch ein keltisches Steinkreuz. Doch nun regt sich der Drache – er ergreift von Michael Besitz und nicht nur von ihm! Die Drachenjünger drohen, in dem kleinen Dorf die Macht zu übernehmen. Michael zur Seite steht allein sein Bruder, der ihn retten möchte. Ein atemberaubender Kampf zwischen Gut und Böse beginnt ...
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Seitenzahl: 362
© Random House / Maja Smend
DER AUTOR
Jonathan Stroud wurde im englischen Bedford geboren. Er arbeitete zunächst als Lektor. Nachdem er seine ersten eigenen Kinderbücher veröffentlicht hatte, beschloss er, sich ganz dem Schreiben zu widmen. Er wohnt mit seiner Frau Gina und den gemeinsamen Kindern Isabelle, Arthur und Louis in der Nähe von London.
Berühmt wurde er durch seine weltweite Bestseller-Tetralogie um den scharfzüngigen Dschinn Bartimäus.
Von Jonathan Stroud sind bei cbj erschienen:
Lockwood & Co. – Die Seufzende Wendeltreppe (Band 1)
Lockwood & Co. – Der Wispernde Schädel (Band 2)
Lockwood & Co. – Die Raunende Maske (Band 3)
Lockwood & Co. – Das Flammende Phantom (Band 4)
Lockwood & Co. – Das Grauenvolle Grab (Band 5)
Bartimäus – Das Amulett von Samarkand (Band 1)
Bartimäus – Das Auge des Golem (Band 2)
Bartimäus – Die Pforte des Magiers (Band 3)
Bartimäus – Der Ring des Salomo (Band 4)
Die Spur ins Schattenland
Die Eisfestung
Valley – Das Tal der Wächter
Mehr über cbj auf Instagram unter @hey_reader
JONATHAN STROUD
Aus dem Englischen von Nina Schindler
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1. Auflage 2018
Erstmals als cbt Taschenbuch Januar 2018
© 1999 Jonathan Stroud
Die Originalausgabe erschien 1999 unter dem Titel »Buried Fire«
bei Random House Children’s Books, London
© 2018 für die deutschsprachige Ausgabe
cbj Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Übersetzung: Nina Schindler
Umschlaggestaltung: semper smile, München
unter Verwendung eines Fotos von
© Shutterstock (dwph, ReVelStockArt), semper smile
MP · Herstellung: UK
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-22921-4V002www.cbj-verlag.de
Für Gina, in Liebe
Zusammengerollt und verborgen vor Winternebeln und Sommersonne, liegt in einer Höhle unter dem Hügelgrab des alten Königs ein Drache.
Seine nadeldünne Schwanzspitze reicht bis zu der rasiermesserscharfen Schnauze: Der Körper des Drachen verschließt den luftlosen Raum wie ein Riesenpfropfen. Der alte König, der einstmals stolz in der Mitte seines Goldschatzes saß, liegt nun in einer Ecke – ein Knochenhaufen, der in die Dunkelheit gefegt und vergessen wurde.
Nichts regt sich in der Schwärze. Der Drache liegt still und schweigend da, als wäre er tot. Seit tausend Jahren oder länger hat er sich nicht gerührt, keinen einzigen Fingerbreit.
Aber sein Verstand glüht.
Das Feuer ist nur ein blutroter Punkt, der im Dunkeln leuchtet, eine winzige Flamme aus Wut, Lust und Gier. In der Höhle gibt es keine Luft, aber der Drache braucht auch keine. Die Flamme seines Verstandes wird von ihrer eigenen weißen Wut genährt und brennt, brennt, brennt endlose Jahre lang.
Weit droben in der leuchtend grünen Welt leben und sterben kleine Wesen mit hastenden Leibern. Aber hier in der Stille darf sich nichts verändern, und der Drache weiß schon lange, wie man die Zeit einfach ignoriert.
Alle Erinnerungen hat er aus seinem Verstand herausgepresst. Und er gestattet dem Druck der Erdmassen über ihm, alle Spuren auszulöschen, die das Leben hinterlassen hat. Von Zeit zu Zeit reinigt er sich von seinen allerletzten Gedanken, sie steigen auf, dringen durch den Erdboden wie Luftblasen durch das Wasser im Meer. Schließlich erreichen sie die Oberfläche, schieben den Tau weg, steigen von der Erde auf und hängen über dem Gras, bis ein Lufthauch sie davonträgt.
Der Erdboden, wo die verstoßenen Gedanken auftauchen, ist dicht mit Fingerhutblüten und Glockenblumen bedeckt und wird bewohnt von vielen leuchtend bunten Eidechsen und kleinen Vögeln. Begierig nach dunklem Wissen beobachten sie von ihren Verstecken aus alles mit flinken Blicken und warten mit lautlosem Hunger.
Nur selten – ein- oder zweimal alle tausend Jahre – spürt der Drache die Erdmassen, die auf seinem Rücken lasten. Dann lodert die winzige Flamme in plötzlichem Zorn auf, und hoch oben erbebt die Erde.
Dann verstreichen wieder viele Jahrhunderte.
Die Höhle sackt ein unter dem Gewicht der Grassamen.
Der Drache rührt sich nicht.
ERSTER TAG
1
Der Junge schlief in der Senke unterhalb der Hügelkuppe, als der Gedanke des Drachen von tief unten aus der Erde emporstieg. Er umhüllte langsam den Körper des Jungen wie eine riesige Seifenblase, deren schimmernde Oberfläche in der Sonne zittert und glitzert.
Als er sich über die Brust und den Bauch des Jungen ausbreitete, bewegte der sich unruhig, aber er wachte nicht auf. Sein Gesicht verzog sich kurz zu einer Grimasse – dann waberte die Blase zu seiner Kehle und über sein Gesicht, und plötzlich brach sein Atemgeräusch ab.
Doch der Gedanke des Drachen stieg immer weiter nach oben, wurde zu einer durchsichtigen Kuppel, bis der Junge ganz darin verschwand. Das aufgeschlagene Buch neben seiner Hand im Gras ging bei der Vereinnahmung durch den Gedanken in Flammen auf.
Zeit verging.
Der Junge schlief im Licht der Nachmittagssonne weiter, während das Buch neben ihm brannte. Es brannte stoßartig mit einer zuckenden grüngelben Flamme, bis es nur noch feine weiße Asche war. Eine leichte Brise strich über die Senke, aber sie erreichte nicht das Innere des Drachengedankens, und das Aschehäufchen ruhte still auf dem Gras. Der Junge lag da wie eine einbalsamierte Mumie und atmete den Gedanken stetig in sich ein.
Hastige Bewegungen raschelten im Gras in der Senke. Winzige Eidechsen mit grünen und orangeroten Schuppen suchten sich einen Weg zwischen Stechginsterzweigen und Heidekraut. Mit eifrigen, pfeilschnellen Bewegungen huschten sie näher an die Blase heran, bis sie eine nach der anderen in stetig wachsender Anzahl in sie eindrangen. Zünglein züngelten und tranken von dem brennenden Gedanken, während die Kleider des Jungen an den Rändern schwelten und sein Gesicht erblasste.
Zeit verging.
In das Nichts seines Schlafs trat eine rote Stille.
Sie brachte einen plötzlichen Hunger mit sich, ein Schärfen der Sinne und eine nie gekannte drängende Sehnsucht. Ihm war, als hätte er seit einem Monat nichts gegessen, seit einem Jahr, seit hundert Jahren – obwohl ihm seine Mittagsbrote noch schwer im Magen lagen.
Überall herrschte Röte. Alles um ihn herum brannte – die Bäume, die Felsen, die Erde, der Himmel. Obwohl seine Augen fest geschlossen waren, setzte die Hitze der lodernden Welt auch sie in Brand.
Aber als er fürchtete, dass bald sein ganzes Gesicht verbrennen könnte, ließ die schreckliche Hitze nach, und er öffnete die Augen. Er sah einen Himmel, an dem ein wilder Sonnenuntergang wütete, der die ganze Welt in Brand zu stecken schien. Dunkle Schatten kreisten jenseits der Wolken. Der Geruch nach Chemikalien und Höhlenwasser stach in seine Haut, und er vernahm das Geräusch von Gold, das tief im Innern der Berge schmolz. Im Mund hatte er den Geschmack von geschmiedetem Eisen.
Es war, als vergingen Tage und Nächte, die Sonne bewegte sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit, und über die unbekannte Landschaft legten sich Streifen aus Licht und Finsternis, während seine Augen und die Augen der dunklen, huschenden Schatten über ihm mit starrem Blick zuschauten.
Ihm war, als bewegte er sich
mit blitzartiger Geschwindigkeit,
und er befand sich an einem anderen Ort,
wo hohe Säulen aufragten
und winzige Wesen rannten, schrien, huschten
und das Gold auf dem Marmorboden explodieren ließen
neben seinen herabsinkenden Klauen.
Noch eine Bewegung, und jetzt
stockfinstere Dunkelheit, und er ist ein Teil davon.
Ein roter Schimmer auf einem nassen Steinfußboden,
ein Atemzug,
der ganz langsam erlischt.
Und jetzt …
Der blaue Himmel wurde gegen Abend heller, der Wind frischte auf und blies aus südöstlicher Richtung von Fordrace und dem Russet-Wald über die Hügelkuppe. Das verglühende Sonnenlicht glitzerte auf der Seifenblasenkuppel, und die Eidechsen lagen in einem vollkommenen Kreis, immer Kopf an Schwanz, innen am Rand der Blase, und zuckten unruhig.
Dann wurde die Blase von einem stärkeren Windstoß erfasst. Sie stieg höher und höher und wurde schließlich nach Westen geweht, in Richtung Little Chetton und der untergehenden Sonne. Die Eidechsen huschten davon, die Asche wurde vom Wind verstreut, und nur der Junge blieb zurück und schlief im Gras, mit blutroten Schwellungen auf Lidern und Wangen und bleicher als der Tod.
Fünfzehn Minuten später traf eine kühlere Brise sein Gesicht und Michael erwachte.
2
Pfarrer Tom Aubrey war ein vielbeschäftigter Mann. Noch vor Anbruch des Abends musste er eine Sitzung des Kirchengemeinderats leiten, am Kaffeekränzchen des Frauenvereins teilnehmen und die undichten Rohre in der Jungentoilette der Sonntagsschule inspizieren. Weil er so schwitzte, freute er sich auf keine dieser Aufgaben. Das lag ganz schlicht daran, dass heiße Sommer und steife Pfarrerkragen nicht zusammenpassen. Der enge weiße Kragen schnürte ihm die Kehle zu und wirkte in doppelter Hinsicht wie eine Schlinge: Der Schweiß tropfte von oben darauf und die aufsteigende Körperhitze fand keinen Ausgang. Der Kragen kniff und juckte und wurde zum Ärger von Pfarrer Aubrey zudem immer viel zu schnell schmutzig.
Er saß auf dem Sessel in seinem kleinen weißen Büro hinter der Sakristei und kratzte sich äußerst sorgfältig im Nacken. Vor ihm auf dem Schreibtisch starrte ihn ein hoher Stapel von kirchlichen Rundbriefen anklagend an und wollte gelesen werden. Sein Blick glitt zur obersten Seite und wurde dabei glasig. Durch die Spalten der Jalousie hinter ihm drangen zusammen mit den Sonnenstrahlen die Stimmen der Arbeiter auf dem Kirchhof, der Lärm ihrer Radios und das Geräusch ihrer Spaten.
Pfarrer Aubrey seufzte und aus dem Seufzer wurde ein Gähnen.
Es blieb lediglich eine halbe Stunde bis zum Beginn der Sitzung mit dem Finanzausschuss der Kirchengemeinde, und er musste noch die Anmerkungen des Küsters dazu lesen. Widerstrebend blätterte er in den Papieren und suchte nach dem Bericht. Dabei hob er zufällig seine Augen ein wenig höher und erhaschte einen Blick auf sein Spiegelbild im Bürospiegel, eingerahmt von den Garderobenhaken mit den Soutanen und Talaren, die er nur selten trug. Er betrachtete sein Spiegelbild und fragte sich, was Sarah wohl denken würde, wenn sie ihn jetzt sehen könnte.
Sah er gut aus? Vielleicht.
Verstrubbelt? Bestimmt.
Brauchte er dringend eine Dusche und frische Klamotten? Aber klar.
Es klopfte an der Tür.
Pfarrer Aubrey senkte den Kopf und beschäftigte sich mit dem zuoberst liegenden Papier.
»Herein!«, rief er, als wäre er gerade sehr beschäftigt.
»Tom …« Elizabeth Price, die Kirchenvorsteherin, streckte ihren Kopf durch den Türspalt. »Der Vorarbeiter möchte dich sprechen – wenn du nicht zu sehr beschäftigt bist. Bist du zu beschäftigt, Tom?«
»Viel zu beschäftigt«, sagte Pfarrer Aubrey. »Aber ich komme gleich. Was ist es denn diesmal?«
»Weiß ich nicht genau. Sie haben was gefunden. Sie wollen mir nicht sagen, was es ist, aber sie arbeiten nicht weiter, deshalb solltest du lieber kommen und dich drum kümmern.«
»Zweifellos nur der Vorwand für eine Teepause. Na gut, dann wollen wir uns mal ansehen, um was es geht.«
Sie nahmen den längeren Weg durch das Hauptschiff, weil der Seiteneingang durch die Geräte der Arbeiter blockiert war. In der Kirche von St. Wyndham war es nie warm, dennoch fühlte Tom die nachmittägliche Hitze immer noch gnadenlos von außen drücken. Alle zehn Schritte schossen Sonnenlichtkegel durch die Buntglasfenster herunter, angefüllt mit lautlosen Spiralen aus tanzendem Staub. Seltsamerweise erinnerte sich Tom plötzlich an ein Gedicht.
Er sagte: »Liebe hieß mich willkommen: doch meine Seele zog sich zurück, schmutzig von Staub und Sünde … Na ja, und heute handelt es sich bloß um Staub und Hitze. Es ist ein Wunder, dass wir nicht ersticken.«
Eine alte Frau saß in der letzten Bankreihe vor der Tür. Tom beäugte sie im Näherkommen misstrauisch. Er war erst seit drei Monaten in St. Wyndham, und er hatte nur drei Tage gebraucht, um Mrs Gabriel kennenzulernen und sie unsympathisch zu finden. Wie immer trug sie ihren dicken roten Schal und einen missbilligenden Gesichtsausdruck. Tom zwang sich zu einem freundlichen Lächeln und versuchte erfolglos, ungeschoren an ihr vorbeizukommen.
»Schämen Sie sich denn nicht, Herr Pfarrer?« Sie sah stur geradeaus in Richtung des weit entfernten Altars.
Tom und Elizabeth blieben stehen.
»Schämen, Mrs Gabriel? Warum denn?«, fragte Tom, obwohl er genau Bescheid wusste.
»Wegen des Sakrilegs, das Sie begehen, indem Sie den Kirchhof aufgraben!« Sie wandte sich ihm nicht zu. »Das wäre bei Pfarrer Staples nie passiert, und auch nicht bei Pfarrer Morrison.«
»Mrs Gabriel, wir haben doch schon darüber gesprochen«, holte Tom aus, aber Elizabeth unterbrach ihn.
»Ich geh schon mal vor und sage Mr Purdew, dass du gleich kommst«, sagte sie und verschwand eilig durch das Westportal.
Tom sah ihr neidisch nach.
»Der Kirchhof ist heiliger Boden«, fuhr Mrs Gabriel fort und starrte immer noch zum Altar hin. »Wobei ich wohl kaum erwarten kann, dass so ein Begriff Ihnen etwas bedeutet, junger Mann. Diese Leute, die hier begraben sind, hatten bestimmte Wünsche, was ihre letzte Ruhe angeht – ganz egal, wie lang das her ist. Und jetzt graben Sie sie aus.«
»Mrs Gabriel«, sagte Tom und trat von einem Fuß auf den andern. »Sie müssen sich deshalb wirklich keine Sorgen machen. Das habe ich Ihnen doch schon erklärt. Die Grundmauern der Kirche geben an der Nordseite etwas nach. Das ist nicht gefährlich, aber wir müssen sie abstützen. Deshalb graben die Männer da draußen. Und weil nie jemand auf dieser Seite der Kirche begraben wurde, besteht wohl kaum eine Möglichkeit, dass wir die letzte Ruhe von irgendjemandem stören.«
Er holte tief Luft und fragte sich, ob er gewonnen hatte. Zum ersten Mal wandte ihm Mrs Gabriel jetzt das Gesicht zu.
»Und trotzdem meine ich …«, fing sie an. Doch Tom reichte es jetzt. »Es tut mir leid, Mrs Gabriel, aber ich muss mich beeilen. Ich habe gleich eine Sitzung. Wir sehen uns dann hoffentlich am Sonntag.«
Tom nickte ihr lächelnd zu, eilte weiter und ließ die alte Frau allein in der Kirche sitzen. Als er das Portal öffnete, hörte er ihre letzte Unverschämtheit.
»Wie ich Sie kenne, Herr Pfarrer, finden Sie bestimmt auch einen Grund, um mich nach meinem Tod auszugraben.«
Das werde ich mir ganz bestimmt verkneifen, dachte Tom im Hinausgehen.
Der Kirchhof der Gemeinde Fordrace zog sich in einem geschlossenen Ring um die Kirche, umgeben von einer alten Steinmauer. Auf drei Seiten der Kirche erstreckte sich ein weites, sonniges Grundstück, durchzogen von wild durcheinanderstehenden, gepflegten Grabsteinen. Doch im Norden von St. Wyndham lag ein schmaler Grasstreifen fast immer im Schatten. Entlang der Kirche führte ein Weg vorbei und vier alte Eiben standen gekrümmt an der Mauer. Hier gab es keine Grabsteine und keinerlei Anzeichen, dass die Wiese jemals in der langen, stillen Geschichte von Fordrace für Gräber genutzt worden war. Es war ein etwas düsterer Fleck, und wären die absackenden Grundmauern der Kirche nicht gewesen, hätte Tom ihn nur zu gern unberührt gelassen.
Er bog um die Ecke und entkam damit der brütenden Hitze, die rundherum die Farbe der ziegelroten Dächer des Dorfes und auch den blaugrünen massigen Umriss des Wirrim-Hügels verblassen ließ. Die schattige Seite des Kirchhofs war übersät mit Erdhaufen und herumliegenden Werkzeugen, und die sonnengebräunten Arbeiter saßen auf der Steinmauer in den Ausläufern des Schattens, streckten ihre Beine in den Sonnenschein und tranken in großen Schlucken ihre Cola oder Fanta.
Elizabeth und der Vorarbeiter standen neben dem Graben. Wo zuvor der Weg verlaufen war, zog er sich nun fast an der gesamten Kirchenmauer entlang und endete unter den schwarzgrünen Blättern der Eibe.
Tom ging zu den Arbeitern auf der Mauer und lächelte ihnen zu. Einer von ihnen grinste zurück.
»Hallo, Herr Pfarrer. Diesmal haben wir für Sie eine echte Überraschung!«
»Habt ihr ein Gerippe gefunden, Jack?«
»Viel besser, Herr Pfarrer. Sie machen sich gleich in die Hose, bestimmt!«
»Das werd ich schön bleiben lassen. Haben Sie was Gutes gefunden, Mr Purdew?«
Der Vorarbeiter war ein dünner Mann, dessen Gesichtshaut durch viele Jahre in den verschiedensten Klimazonen ledrig geworden war. Er erinnerte Tom an die Moorleiche, die er vor seinem Umzug nach Fordrace im Britischen Museum gesehen hatte. Die gleiche traurige Resignation umgab Mr Purdew, wie er in diesem Augenblick misstrauisch in den Graben glotzte, während eine Zigarette fast vertikal von seinen Lippen hing.
Elizabeth sah Tom an, ihre Augen funkelten.
»Kommt drauf an, was Sie mit gut meinen«, sagte Mr Purdew. »Es wird höllisch schwer mit dem Rausholen, das ist schon mal sicher.«
»Sehen Sie sich das bloß an, Tom!« Elizabeth grinste aufgeregt. »Morgen stehen wir alle in der Zeitung!«
Tom stieg auf die ausgehobene Erde an der Grabenkante und schaute hinein.
»Gütiger Himmel!«, sagte er.
Auf dem Grund des Grabens lag ein großes Steinkreuz. Es war mit gelbem Lehm verschmiert und lag rechtwinklig zu den Grabenwänden, sein Schaft zeigte von der Eibe weg und der linke Querbalken steckte noch in der Erde.
»Ich glaube, es ist sehr alt«, sagte Elizabeth atemlos.
Tom nickte.
Es war uralt, das erkannte man an der Form. Es glich zwar einem einfachen römischen Kreuz mit drei kurzen Balken und einem längeren, doch es hatte außerdem noch einen Kreis, der die Mitte umschloss und die vier Balken durch Steinbögen miteinander verband, die wie Henkel von Riesentassen geformt waren.
Tom vermutete, es wäre vielleicht ein Keltenkreuz, obwohl er irgendwo mal gehört hatte, dass nicht nur die Kelten solche Kreuze gehabt hatten.
Doch die mit Steinmetzarbeiten geschmückte Vorderseite war so mit Lehm verschmiert, dass man die Art der Ornamente nicht genau erkennen konnte.
»Herrjemine«, sagte Tom schließlich. »Mr Purdew, das ist ein wundervoller Fund.«
»Tja. Und jetzt wollen Sie wohl, dass wir das rausholen, was?« Mr Purdew schnippte mit einem Lippenzucken Asche von seiner Zigarette.
»Wir müssen erst mal umgehend die archäologischen Fachleute benachrichtigen. Und ja, mit ihrem Segen müssen wir es dann rausholen.«
»Ich nehme mal an, dass Sie uns den Graben ausschachten lassen wollen«, sagte Mr Purdew und fuhr sich mit der Hand durch das schüttere Haar.
»Um den Rest freizulegen, ja, natürlich. Warten Sie, ich will es mir noch mal aus der Nähe anschauen.«
Der Pfarrer ging am Rand des Grabens in die Knie und ließ sich hineingleiten. Er landete schwer auf der festgetretenen Erde neben dem halb vergrabenen Kreuz. Er zog sein Taschentuch heraus und wischte damit eifrig an den Lehmklumpen in der Kreuzmitte herum. Schon bald ertönte seine Stimme aus dem Graben.
»Es könnte keltisch sein oder angelsächsisch; ich glaube, die Wikinger sind nicht so weit westlich gelandet, oder, Elizabeth?«
»Nicht so weit«, erwiderte sie. »Nach was sieht es denn aus, Tom?«
»Es sind lange, tiefe Ornamente. Jedenfalls hier in der Mitte. Ein ganz verschlungenes Muster. Es könnte irgendein Tier darstellen. Ja! Da ist eine Klaue.«
»Das hört sich für mich nach Angelsächsisch an. Was meinen Sie, Mr Purdew?«
»Wie gesagt, ich meine, dass es sich nur höllisch schwer da rausholen lässt. Können die Leute jetzt Feierabend machen, Herr Pfarrer, wenn Sie den ganzen Nachmittag da unten bleiben?«
»Ach, Mr Purdew, es tut mir leid! Ich überlass das jetzt Ihnen. Wir müssen es heute noch rausschaffen!« Pfarrer Aubrey stopfte sein lehmverschmiertes Taschentuch wieder in die Hosentasche und richtete sich auf. Dann stieß er einen Fluch aus. »Oh, verdammt, ich fürchte, einer der Arme ist abgebrochen! Der dort, der noch im Lehm steckt. Hier ist eine Bruchkante.« Er fuhr mit dem Finger zwischen der harten Grabenwand und dem Stein entlang. »Ja, verdammt.«
»Komm hoch, Tom«, sagte Elizabeth. »Lass uns das Museum anrufen.«
Zögernd ließ Tom das Kreuz liegen und lief im Graben zurück zum anderen Ende, wo eine steile Rampe hinauf zur ebenen Erde führte.
Sein Herz tanzte. Sollte doch Mrs Gabriel so viel schwatzen wie sie wollte – so etwas war jedenfalls zur Zeit von Pfarrer Staples oder Pfarrer Morrison nie geschehen! Tom Aubrey, der neue Pfarrer, hatte hier graben lassen – und wenn das jetzt sein Dorf nicht ein bisschen wachrüttelte, dann fraß er einen Besen!
3
Michael wachte auf.
Sein Mund schmerzte und seine Augen brannten. Sein ganzer Körper kribbelte schwach wie im Fieber. Er versuchte die Augen zu öffnen, aber das Licht blendete ihn, und er kniff sie wieder zu.
»Dammde Cheiche«, sagte er, und danach »Micht!«, als ihm aufging, dass seine Zunge so stark geschwollen war, dass er kaum sprechen konnte. Die Zunge tat weh und war gleichzeitig belegt, als hätte er sich an zu heißer Suppe verbrannt.
Michael stöhnte in einer Mischung aus Schmerz und Panik und versuchte sich aufzusetzen. Aber sein Körper weigerte sich mit einem jäh aufzuckenden Schmerz und er ließ sich wieder ins Gras zurückfallen.
Verdammter Mist, dachte er. Was ist denn mit mir los? Dann hatte er die Antwort: Ich hab einen Sonnenstich, dachte er. Wie blöd.
Er hob seinen rechten Arm und legte die Hand an die Stirn. Aber ja doch – die Haut glühte und war ganz trocken. Ich hab alles Wasser ausgeschwitzt, überlegte er, und jetzt ist keins mehr da. Jetzt bin ich überhitzt und werde sterben.
Er versuchte sich an all das zu erinnern, was er jemals über einen Sonnenstich gehört hatte.
Stephen hatte mal einen gehabt, während ihrer ersten Ferien auf Teneriffa. Er war den ganzen Tag ohne Sonnenhut am Strand gewesen, und obwohl Michael noch sehr klein gewesen war, hatte er nie die Peinlichkeit vergessen, als Stephen sich mitten in der Hotelhalle übergeben musste und alles vollgekotzt hatte.
Aber bisher war ihm noch nicht übel geworden. Das war doch ein gutes Zeichen.
Ihm fiel ein, dass Stephen damals ein kaltes Bad genommen hatte. Michael hatte zur Bar gehen und nach Eis fragen müssen. Puterrot im Gesicht vor Wut, hatte Stephen gebrüllt und gezappelt, als er mit allen Klamotten in die Badewanne gesteckt wurde.
Delirium. Das war noch ein Symptom. Aber er war noch nicht im Delirium.
Doch er war völlig verschwitzt, fühlte sich schwach und war den ganzen Nachmittag über in der Sonne gewesen, so wie Stephen damals. Es musste ein Sonnenstich sein. Und seine Augen taten so verdammt weh!
Er musste sich bewegen.
Michael zwang sich zum Nachdenken. Er musste rasch nach Hause und ein eiskaltes Bad nehmen. Sonst würde er sterben.
Und er war weit von zu Hause weg. Erst musste er aus dem Pit heraus und über die hohe Kuppe des Wirrim und dann noch zwei Meilen abwärts marschieren, dahin, wo sein Bruder und seine Schwester waren – oder vielleicht auch nicht.
Egal. Reiß dich zusammen. Los.
Langsam rollte Michael sich mit immer noch geschlossenen Augen auf die Seite, dann auf den Bauch, bis sein Gesicht das kühle Gras berührte. Das roch schwach nach irgendeiner Chemikalie.
Der Geruch verursachte ihm Übelkeit. Mist, das war das erste Anzeichen für einen Sonnenstich! Verzweifelt stemmte er mit aufgestützten Händen und zitternden Ellenbogen den Kopf und die Brust hoch.
Dann wurde ihm schlecht.
Als es vorbei war, fühlte er sich etwas besser. Er blieb, mit geschlossenen Augen und aufgestützten Armen, wo er war, und wünschte nur, er hätte die Hände etwas weiter auseinander aufgestützt. Dann erhob er sich auf die Knie und versuchte aufzustehen.
Das klappte überraschend leicht. Die Kraft schien in seinen Körper zurückzuströmen. Eine oder zwei Minuten stand er mit gesenktem Kopf in der frischen Brise da, die über den Pit wehte, und hoffte, sie möge ihm Kühlung bringen. Aber das Blut hämmerte in seinen Schläfen und hinter seinen Augäpfeln wie Meeresbrandung. Dann bedeckte er die Augen mit den Handflächen und versuchte, eines zu öffnen.
Der Schmerz war so heftig, dass er aufschrie und fast gestürzt wäre. Stattdessen musste er sich wieder übergeben, was den Schmerz besänftigte, doch nun stieg Verzweiflung in ihm hoch.
Oh nein, dachte er, wenn ich nicht sehen kann, finde ich nicht den Weg aus der Senke, aus dem Pit. Und dann kann ich nicht den Hügel runtersteigen. Vielleicht erblinde ich! Vielleicht bin ich schon blind! Die Brust wurde ihm eng und sein Magen krampfte sich zusammen. Aber das macht nichts, dachte er, ich kann sowieso nicht nach Hause und baden, deshalb ist alles zu Ende.
Bei der Vorstellung von dem unerreichbaren Bad wurde Michael von Verzweiflung überwältigt. Er beugte sich nach vorn, umklammerte mit den Händen seine Knie und fing an zu weinen. Die Tränenflut verschaffte seinen Augen die erste Erleichterung seit dem Aufwachen. Das Salzwasser spülte seine Lider, wodurch sie gleichzeitig brannten und abkühlten.
Ein leises, wütendes Zischen ertönte, als würde ein heißer Topf in Spülwasser getunkt. Michael spürte, wie ihm heiße Tränen über die Wangen liefen und wie zwischen seinen zusammengekniffenen Lidern zu beiden Seiten seines Kopfes heiße Luft aufstieg.
Kein Zweifel – seine Augen dampften.
»Herrje«, stöhnte Michael. »Wassissen nur mimirlos?«
4
Für Stephen McIntyre war der Tag ab dem Frühstück mies und immer mieser gelaufen.
Der Grund dafür war die Laune seiner Schwester. Die hatte sich wie ein verrückt spielendes Barometer von sonnigsten Aussichten zu trübseligster Düsternis gewandelt. Und mittlerweile standen alle Anzeichen auf Sturm.
Am Morgen war sie noch ein großzügiger Engel gewesen. Sie hatte Frühstück gemacht, was selten vorkam, und hatte sogar Blutwurst aufgetischt, was noch seltener passierte. Während sie aßen, hatte sie fröhlich geschwatzt, ohne das leiseste Anzeichen von dem, was Stephen ihre »Märtyrer-Miene« nannte. Dann war sie aufgestanden, ohne auch nur einmal auf den Abwasch hinzuweisen, was Stephen und Michael so verwundert hatte, dass sie ihn automatisch erledigten. Doch während des Vormittags hatte sich dann alles geändert. Zunächst hatte Sarah der Heuschnupfen wieder schwer zu schaffen gemacht und ihr die Laune verdorben. Dann hatte sie zwischen ihren Niesanfällen die Immobilienfirma angerufen und eine angespannte Unterhaltung mit ihrem Chef geführt, nach der sie vor Zorn glühte. Anschließend hatte sie Informationsmaterial über ein Anwesen in einem Tal nördlich des Wirrim für ihren neuen Kunden bereitgelegt. Gegen zehn war sie losgefahren, um die Schlüssel zu holen und die Besichtigung zu machen. Als sie kurz vor halb zwölf zurückkehrte, hatte sie rabenschwarze Laune, weil die Besichtigung schiefgelaufen war. Inzwischen quälte ihr Heuschnupfen sie schlimmer denn je zuvor. Dann brüllte sie Michael an, weil er seine Turnschuhe auf den Küchentisch gelegt hatte, und Stephen, weil er zum falschen Zeitpunkt reinplatzte und sich nach dem Mittagessen erkundigte.
»Ich wollte doch nur wissen, ob du auch hungrig bist«, hatte Stephen protestiert.
»Damit ich was zu essen für dich mache, wenn ich schon mal dabei bin«, brüllte Sarah.
»Eigentlich wollte ich was für dich kochen«, erklärte Stephen freundlich und nicht ganz wahrheitsgemäß.
»Aber jetzt will er nicht mehr«, steuerte Michael bei.
»Ich bin sowieso nicht hungrig«, sagte Sarah, mit den Nerven völlig am Ende.
»Auch gut«, meinte Stephen. »Wie lief’s mit dem Haus?«
Ihm war sofort klar, dass es exakt die falsche Frage gewesen war. Seine Schwester explodierte prompt, und als der Ausbruch vorbei war, sprachen sie alle drei nicht mehr miteinander. Sarah aß dann auf ihrem Zimmer.
Als sie danach wieder auftauchte, hatte sie etwas anzukündigen.
»Tom kommt zum Abendessen.« Es hörte sich wie eine Herausforderung an. »Macht also bloß keine Unordnung.«
»Na klar«, sagte Stephen.
»Der Papst«, sagte Michael. »Dann lasst uns mal beten.«
»Halt die Klappe«, sagte Sarah. »Wenn es dir nicht passt, kannst du ja weggehen.«
Nachdem die Tür mit einem Knall ins Schloss gefallen war, saßen Michael und Stephen einen Augenblick lang nachdenklich schweigend da.
Schließlich sagte Michael: »Sie hat recht. Der Tag ist zu schön, um hier drin zu braten. Ich geh hoch auf den Wirrim. Bis später.«
Dann war er mit ein paar Äpfeln und einem Roman aus dem Regal ihrer Großmutter losgezogen. Für eine sittsame alte Dame hatte sie eine unübliche Vorliebe für das gehegt, was sie »gewagte Geschichten« nannte. Zuerst hatte sich Stephen und dann Michael an der Sammlung bedient, was ihre Großmutter sicherlich überrascht hätte.
Stephen war während des heißen Nachmittags zu Hause geblieben, bis Sarah plötzlich mit Staubsaugen loslegte. Das war zu viel gewesen. Der nervige Lärm und die bedrückende Atmosphäre hatten ihn schließlich auch aus dem Haus getrieben und er hatte sich auf sein Fahrrad geschwungen.
Draußen stieg die Sommerhitze vom Garten auf und schwebte in flimmerndem Dunst vor den mächtigen Buchen und der Lorbeerhecke.
Stephens Armbanduhr zeigte halb sechs.
Michael wurde oben auf dem Wirrim inzwischen bestimmt zu einer Fritte gebraten, falls er nicht so schlau gewesen und im Schatten geblieben war – aber das hielt Stephen für unwahrscheinlich. Einen kurzen Moment lang war er versucht, der Straße nach rechts bis zu dem schmalen Pfad zu folgen, der in steilen Kurven zu den Steinbrüchen unterhalb des Wirrim führte, aber die drückende Hitze lastete zu schwer auf ihm. Viel zu anstrengend, dachte Stephen, als er die Richtung nach Fordrace einschlug.
Die Häuser von Fordrace reihten sich um einen großen Dorfanger, an dem zu allen Jahreszeiten – sogar im Hochsommer – ein ziemlich großer Bach vorbeifloss, der von den Quellwassern des Wirrim gespeist wurde. Im Norden lag ein dichter Buchen- und Eichenwald, den die Einheimischen den Russet nannten und der sich bis zum Ausläufer des Wirrim hinaufzog. Im Osten und Süden lag altes Ackerland, auf dem jetzt hoch der Weizen stand. Das Dorf selbst hatte sich in den vergangenen Jahrhunderten nur wenig vergrößert. Bis auf den schmalen Streifen von dicht aneinandergedrängten Backsteinhäusern hinter dem Gasthaus hatte es sein mittelalterliches Aussehen beibehalten. Die Backsteinhäuser waren in den frühen Achtzigern erbaut worden und galten inzwischen als Bausünde. Die Kirche von St. Wyndham ragte hinter dem Anger auf, an dem außerdem die »Alte Mühle« (jetzt ein Café) lag sowie der Mühlenteich mitsamt seinem Schwarm von hübschen, gut gefütterten Enten. Ansonsten gab es am Anger noch die Schule aus dem 19. Jahrhundert, eine kleine Dorfbibliothek und zwei Tante-Emma-Läden.
Stephen kannte sich mittlerweile gut aus, ohne sich jedoch richtig heimisch zu fühlen. Als kleiner Junge hatte er hier oft seine Großmutter besucht, und aus diesen längst vergangenen Tagen waren Erinnerungen geblieben: der Tante-Emma-Laden (besonders die Bonbongläser), die Enten und die staubige Langeweile der unvermeidlichen Sonntagmorgengottesdienste. Aber dann waren seine Eltern in den Norden umgezogen, hatten Stephen und Michael mitgenommen und Besuche in Fordrace wurden selten.
Sarah war nicht mitgezogen. Sie hatte lieber bei der Großmutter wohnen wollen und sich um sie gekümmert, als Oma krank wurde. Später hatte sie dann den Job bei der Immobilienfirma gefunden.
Stephen konnte sich noch gut daran erinnern, wie glücklich Sarah über ihre Unabhängigkeit gewesen war.
Und jetzt hast du uns wieder am Hals, dachte er, als er den Hügel runterradelte. Das freut dich bestimmt!
Stephen lehnte das Rad an den hölzernen Wegweiser am Rand des Angers. Ohne festes Ziel wanderte er über die große Wiese, wich ein paar brüllenden Kleinkindern und deren schwitzenden Eltern aus und erreichte dann den Tante-Emma-Laden von Mr Pilate.
Das kühle Innere lockte.
»Ja, mein Herr, was kann ich für Sie tun?«
Mr Pilate gehörte zu den Ladenbesitzern, die sich ihre Kunden genauso tüchtig wünschen, wie sie selber sind. Die drei Wände seines Ladens schwankten fast unter den deckenhohen Regalen voller Dosen, Gläser und Schachteln, die alle mit höchster Sorgfalt geordnet und ausgestellt waren. Der Laden erinnerte Stephen mit seiner Kühle und Düsternis an Bilder von ägyptischen Tempeln, wobei die Türme von Suppen- und Würstchendosen wie mit Hieroglyphen verzierte Säulen in der Dunkelheit aufragten.
Stephen wählte spontan etwas aus.
Mr Pilate griff mit blinder Sicherheit hinter sich und holte die Schokolade und die Dose aus der Kühltruhe, während er Stephen anlächelte, als warte er auf die eigentliche Bestellung, die sich erst für ihn lohnen würde.
»Noch etwas?«, fragte er, was bedeutete: Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich damit zufrieden bin? Sieh doch nur die reichhaltige Auswahl, denk an die vielen Stunden, die ich bei den Großhändlern in Stanbridge zugebracht habe, um dann alles fein säuberlich für dich aufzubauen, und jetzt kommst du hier hereingeschneit und willst ein Snickers und eine Fanta und bist noch nicht mal ganz bei der Sache. Da hab ich aber was Besseres verdient.
»Danke, nein«, sagte Stephen. »Das wär’s.«
Mr Pilate stieß einen leisen Seufzer aus und drückte die schäbigen Beträge in die Tasten seiner altmodischen Registrierkasse.
»Das wären dann siebenundfünfzig Pence«, sagte er. »Bitte sehr.«
Stephen reichte ihm das Geld und nahm seine Sachen. Als Mr Pilate das Wechselgeld zurückgab, sagte er plötzlich: »Tja, du bist mein letzter Kunde. Heute schließe ich früher. Ich muss rasch zur Kirche.«
»Warum? Was ist denn da los?«
»Sie haben auf dem Kirchhof ein altes Kreuz gefunden. Das war dort vergraben. Soll sehr alt sein, heißt es. Die Frau vom Museum ist da, und sie wollen es bald rausholen. Anscheinend ist es ein Riesending. Sie brauchen dazu einen Kran.«
»Hört sich ja spannend an«, sagte Stephen.
»Bestimmt kommt das ganze Dorf hin.« Mr Pilate hob den beweglichen Teil des Tresens hoch und schlüpfte hindurch. »Euer Freund, der Pfarrer, rennt da rum wie eine verrückt gewordene Hummel. Platzt fast vor lauter Wichtigtuerei.«
»Der ist nicht mein Freund. Da müssen Sie wen verwechseln.«
»Versteht ihr euch nicht? Er ist doch ziemlich oft bei eurer Schwester, oder?«
Trotz der kühlen Luft im Laden bekam Stephen einen roten Kopf. Mr Pilates Zähne schimmerten in der Dunkelheit, als er Stephen zur Tür scheuchte.
»Ich will gar nichts gegen ihn sagen. Er ist jung. Und vielleicht ein bisschen übereifrig. Hier bei uns gehen wir alles gern ein bisschen langsamer an. Das lernt er schon noch.«
»Auf Wiedersehen, Mr Pilate.«
Stephen lief über den Anger, während der Ladenbesitzer abschloss und zur Kirche hinüberging. Der Kirchturm wurde vom Abendrot umhüllt und eine große Menschengruppe drängte sich vor der Mauer. Ein gelber Abschleppwagen mit einem Kran und einer Seilwinde war auf der Straße rückwärts herangefahren, und jetzt ragte der schwenkbare Kran über den Kirchhof.
Während Stephen den Anger überquerte, trank er die Limo aus. Er warf die Dose in einen Abfallkorb und quetschte sich durch die nächste Lücke zwischen den Zuschauern. Der Schwenkarm des Krans reichte bis zu einem langen Erdloch. Drei dicke Metallkabel hingen von ihm herunter.
Einige Arbeiter standen um den Graben herum, und Tom Aubrey war bei ihnen und unterhielt sich angeregt mit einem Mann, der ein Heft und einen Stift in der Hand hielt.
Der findet das super, dachte Stephen. Jetzt wird er wochenlang unausstehlich sein.
In diesem Augenblick erschien eine untersetzte Frau auf der Leiter, die aus dem Graben ragte, kletterte umständlich heraus und rief den umstehenden Arbeitern energische Befehle zu.
Stephen wandte sich an einen Mann, der neben ihm stand. »Was läuft denn da?«
»Scheint so, als ob sie es jetzt rausholen. Endlich. Ich warte hier schon den ganzen Nachmittag. Die Frau da hat es ewig lange nicht erlaubt, aber anscheinend meint sie jetzt, dass es doch geht.«
»Hoffentlich lassen sie’s nicht fallen.«
Der Mann nickte. »Bloß nicht. Der Typ da ist vom Herald, jawohl.«
»Haben Sie’s schon gesehen?«
»Ja, ich hab vorhin mal reingeschaut. Wiegt bestimmt ’ne Tonne. Ein Querbalken fehlt, aber ansonsten ist der Zustand tadellos, deshalb sind ja auch alle so aufgeregt.«
Der Mann verstummte, und Stephen fiel auf, dass sich das allgemeine Gemurmel der Menge gelegt hatte.
Schweigend kletterten zwei Arbeiter aus dem Graben, Tom und der Reporter zogen sich auf sicheren Abstand zurück, und die Archäologin inspizierte noch einmal mit gerunzelter Stirn die Kabel. Schließlich trat auch sie beiseite. Erwartung hing in der Luft.
Der Vorarbeiter nickte.
Ein Mann in einer ärmellosen Jeansjacke schwang sich über die Mauer, bahnte sich einen Weg durch die Menge und korrigierte noch einmal das System von Kabeln und Winde auf der Ladefläche des Lastwagens.
Alles wartete.
Stephen bemerkte am Rand des Grabens einen fahrbaren Metalltisch, wie es sie in Krankenhäusern gibt, nur größer und schwerer. Er war mit einer Plastikplane bedeckt.
»Wann immer du willst, Charlie«, sagte der Vorarbeiter und spuckte seine Zigarette hinter sich in den Graben.
Der Mann beim Laster nickte und drückte auf einen Schalter. Mit einem leisen Summen begann sich die Kabeltrommel auf dem Laster zu drehen und die Metallseile wurden angezogen. Zuerst strafften sie sich, dann stockten sie kurz und das Summen der Trommel wurde lauter.
Die Menge stand schweigend da.
Das einzige Geräusch war das des Kranmotors.
Jetzt erschien das lehmverschmierte Kreuz über dem Rand des Grabens, es war mindestens zwei Meter lang. An drei Stellen waren die Kabel am Balken befestigt, zwei am Längsbalken und einer an dem waagerechten Arm. Durch die daran klebenden Lehmklumpen wirkte der Umriss unregelmäßig und klobig. Ein Stück des Querbalkens fehlte, es war an dem Steinring abgebrochen. Als das Kreuz durch die Luft schwebte, fühlte Stephen sich an eine dieser Rettungsaktionen erinnert, wo hilflose Körper auf irgendeiner Klippe oder einem umgekippten Boot von einem Hubschrauber aus hochgehievt werden. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er die Luft angehalten hatte und die anderen ringsum dasselbe taten. Alle schwiegen mit reglosen Mienen. Sogar Toms Mund war zu einem angespannten Strich verzogen.
Nach zwei Minuten leisem Surren drehte Charlie wieder am Schalter.
Das Kreuz hing über dem Graben, etwa auf einem halben Meter Höhe. Wortlos legte Charlie einen Hebel um, wonach der Kranarm langsam nach links schwenkte. Zunächst ruckte er heftig. Auf halbem Weg begann das Kreuz in der Luft stark zu wackeln und pendelte mit erschreckender Heftigkeit vorwärts und rückwärts. Eine Kabelschlinge verrutschte etwas zum Ende des Balkens hin. Mit kalkweißem Gesicht und starrem Blick verlangsamte Charlie die Bewegung des Krans. Allmählich nahm das Schwingen des Kreuzes ab und hörte fast ganz auf. Nun hing es nur wenige Zentimeter über dem Metalltisch und immer noch hatte niemand etwas gesagt.
»Alles klar, Charlie, setz es ab«, sagte der Vorarbeiter. Seine Stimme klang vor lauter Erleichterung ganz heiser.
Charlie ließ die Kabel herab und das Kreuz sank auf den Tisch. Der Motor wurde abgestellt.
Ein kollektives Seufzen wegen der nachlassenden Anspannung stieg von der Menge auf. Stephens T-Shirt war klatschnass.
Wortlos, als wären sie von einem Bannspruch befreit, begannen die Zuschauer sich zu zerstreuen.
Bei der Mauer klopfte Tom dem Vorarbeiter auf den Rücken und die Arbeiter öffneten Bierdosen.
Stephen wandte sich rasch ab. Nach all der Spannung verspürte er plötzlich ein überwältigendes Bedürfnis nach Bewegung. Zwei Minuten später saß er wieder auf seinem Rad und strampelte wie wild.
5
Michael schlug die Augen auf.
Der Schmerz, der ihn noch vor einer Stunde geblendet hatte, regte sich zwar wieder, aber schwächer, als habe er an Kraft verloren.
Langsam entspannten sich die Lider und Michael sah sich zum ersten Mal um. Er saß immer noch auf dem Grund der Senke, zwischen Farnsträuchern, verstreuten Felsbrocken und Grasbüscheln. Ein paar Wolken hingen zerzupft am Himmel. Alles war noch genau wie zu dem Zeitpunkt – vor einer Ewigkeit –, als er das Buch zur Seite gelegt und die Augen geschlossen hatte.
Es war alles wie vorhin – aber auch wieder nicht. Die ganze Welt war in einen roten Schimmer getaucht. Das Gras, vorhin ein von der Sonne vertrocknetes Gelb, war jetzt rostrot gefärbt. Der ehemals blaue Himmel war nun eine graue Weite wie aus gehämmertem Metall und von einem rosafarbenen Hauch überzogen. Die sommerliche Buntheit wirkte ausgeblichen.
Michael hielt den Kopf fest umklammert und presste die vor der Hitze zurückzuckenden Fingerspitzen auf seine pochenden Lider. Er blickte sich wieder um: Alles schien ihm seltsam zweidimensional, wie ein Gemälde ohne Perspektive. Allem fehlte die normale Tiefe, über die er sich bisher noch nie Gedanken gemacht hatte, aber ihr Fehlen versetzte ihm nun einen scharfen Stich.
Ihn durchzuckte die Frage, ob es gefährlich war, mit solch eingeschränkter Sicht vom Hügel hinabzusteigen. Aber das war nicht wichtig.
Wichtiger war etwas anderes: Sein körperlicher Zustand stellte ihn vor ein Rätsel. Er fühlte sich etwas kräftiger, und das war seltsam, denn es war kaum kühler geworden und immer noch brannte die Sonne. Ein plötzliches Anschwellen der Energie, die seinen Körper von unten nach oben durchströmte, hatte ihm den Kopf klarer gemacht und sein Zittern beendet.
Michael stand auf und machte sich daran, den Hang hochzuklettern. Alles sah immer noch zweidimensional aus. Ein paarmal vertat er sich bei dem Abstand zu einem Felsbrocken oder Grasflecken und kam ins Rutschen, aber seine Sicht war nicht so sehr gestört, wie er befürchtet hatte, und bald erreichte er den Höhenrücken. Dort blieb er stehen, um sich zu orientieren.
Es ging ihm gut. Eigentlich bestens. Das Klettern hatte ihm gutgetan. Wenn bloß seine Schwester nicht –
Ein Kaninchen rannte am anderen Ende der Senke über den Hügelkamm und verschwand. Michael blieb stocksteif stehen und das Herz wummerte in seiner Brust.
Die Bewegungen des Kaninchens waren geisterhaft gewesen. Es war schnell gerannt, doch obwohl er nur wenige Sekunden hatte sehen können, wie es über das Gras flitzte, war das lang genug gewesen, um zu erkennen, dass etwas daran überhaupt nicht stimmte.
Er hatte direkt durch das Kaninchen hindurchgesehen!
In dem grau-roten Zwielicht, das ihn umgab, war es fast unsichtbar gewesen. Er hatte die Konturen des Kaninchens erfasst, die Form seiner Ohren, seiner Pfoten. Aber wo war der Körper, wo war dessen Substanz? Während es rannte, hatte Michael das Gras hinter dem Körper ausmachen können. Und was war das für eine kristallklare Helligkeit gewesen, wo eigentlich der Kopf des Tiers hätte sein müssen? Aus der Abenddämmerung war plötzlich dieses Leuchten aufgetaucht, überraschend wie eine Perle im Matsch.
Michael schüttelte den Kopf.
Das war der Sonnenstich.
Denk daran, sagte er sich, Stephen ist auch im Delirium gewesen. Aber egal. Er musste es bis nach Hause schaffen. Hastig drehte Michael der Senke den Rücken zu und wanderte zwischen den Schächten der alten Mine entlang abwärts.
Fünf Minuten später erblickte er etwas, das ihn endgültig davon überzeugte, dass er verrückt geworden war. Zwei Gestalten näherten sich auf dem Pfad, der in einer lang gezogenen Kurve in die Schlucht hinunter nach Fordrace führte. Als er sie sah, waren sie noch mehrere Hundert Meter entfernt, sie liefen nebeneinanderher und hielten sich an den Händen, aber ihre unteren Körperhälften erschienen seltsam undeutlich. Michael konnte sich überhaupt nicht auf ihre Beine konzentrieren, doch das war völlig unwichtig angesichts des Entsetzens, das ihn packte, als er ihre Köpfe sah.
Es waren zwei Gestalten mit Schafsköpfen.
Sie hatten die langen Ohren und die stumpfen, gekrümmten, albernen Mäuler von Schafen. Außerdem umgab sie eine Art Aura von Schafsköpfigkeit: zufrieden, nett und irgendwie blöd.
Allerdings setzten sich die Köpfe aus einem Muster beweglicher Lichter zusammen, sie glitzerten wie Fischschuppen oder wie die Facetten eines Diamanten. Im Näherkommen erschienen die Oberflächen der Köpfe, als würden verschiedene Farben miteinander verschwimmen. Ihre Umrisse lösten sich auf zu einer Art Aureole. Trotzdem erschienen sie deutlicher, wirklicher und dreidimensionaler als alles, was Michael jemals gesehen hatte.
Er blieb stehen und starrte die beiden Spaziergänger total verdutzt an.
»Schöner Abend«, sagte der linke Kopf.
»Hallo«, sagte der rechte.
Eine Männerstimme. Eine Frauenstimme. Sie liefen dicht an ihm vorbei und Michael roch noch das Parfüm, hörte das Knirschen ihrer Schritte und hörte wie im Traum den linken Schafskopf nahe am Ohr des rechten zwei Wörter voller menschlicher Ironie sagen: »Netter Kerl!«
Michael sah ihnen mit offenem Mund nach. Er zwinkerte einmal. Und als wäre ein Schleier gelüftet worden, änderte sich das Bild. Der Himmel war wieder blau, keine Spur von Dämmerung, das Gras vertrocknet und gelbgrün wie zuvor, und die zwei Gestalten waren plötzlich ein ganz gewöhnliches Paar und so sehr miteinander beschäftigt, dass sie sich nicht groß um die Aussicht kümmerten.
Da stürzte Michael los und schlitterte in panischer Angst den Abhang hinunter, ohne auf den Weg oder den Abgrund zu achten, der Farn peitschte gegen seine Beine. Er rannte, ohne zu blinzeln, bis seine Augen vom Luftwiderstand schmerzten und sich mit Tränen füllten. Dann stolperte er über eine Wurzel und stürzte blindlings nach vorn, überschlug sich immer und immer wieder, bis das knackende Gestrüpp den Sturz bremste und sich schließlich über ihm schloss.
6
Als Mr Cleever in der Kirche vorbeischaute, stand Tom hemdsärmelig und mit offenem Kragen in der Sakristei und wusch den letzten Rest Lehm von dem Kreuz.