Die Erinnerung des Raben - Dieter Scheidig - E-Book

Die Erinnerung des Raben E-Book

Dieter Scheidig

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Beschreibung

Liane leistet dem merkwürdigen Rat des Flattertieres Folge und findet ein ungewöhnliches Objekt, welches ihr aus einem roten Ferienhaus gestohlen werden wird. Aufklärung schafft ein ferner Freund, der zeitnah ins herbstliche Dänemark reist. Urgeschichte, Liebe, Betrug, Rauschmittel und die wunderbare Landgegend der Insel Sheland bilden den Kranz um eine durchaus verblüffende Auflösung der Novelle. Liane arbeitet in ihrem hastig angetretenen Job in Dänemark. Die hochsensible Liane glaubt ihren Augen und Ohren nicht zu trauen, als sie auf der Ausgrabungsstelle der Halbinsel Knudshoved Odde ein halluzinogenes Erlebnis hat. Liane Kroyer (31), abgebrochene Archäologiestudentin, leicht unglücklich, hochintelektuell und leidenschaftlich Robert Hörstel (42), Möchtegern-Buchautor, in Südthüringen im verwahrlosten Villen-Bau seines Vaters lebend Moon Arnsholt (28), Grabungshelfer in Dänemark mit leichter Heimtücke

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Dem guten Angedenken meines Vaters:

GERHARD HELMUT SCHEIDIG

20. 05. 1931 – 10. 07. 2000

geb. zu Rudolstadt – Volkstedt, Kleine Gasse

gest. in seinem Vaterhaus in Rudolstadt, Am Rosengraben

R.I.P.

Ich habe meine Jahre gezählt und festgestellt,

dass ich weniger Zeit habe, zu leben,

als ich bisher gelebt habe (…).

______

Aus: Meine Seele hat es eilig.

Mario de Andrade (1893-1945)

Die Erde ist so groß,

dass eine Menge Narren

nebeneinander darauf Platz hat.

_____

Adolph Freiherr von Knigge

Inhaltsverzeichnis

Vorbemerken des Autors

Dänemark

Der Rabe

Das Erinnern des Raben

Der Fund

Liane

In Moons Axtholms Haus

Ein Morgen der Wahrheit

Vorbemerken des Autors

Es gibt noch heute märchenhaftes! Und unwahrscheinlich erscheinendes! Ob nun die Erlebnisse der betulich oder rasch erzählenden Leute echt und wahrhaftig, oder nur ihrer mageren Phantasie entsprungen, scheint indes dabei fast gleichgültig: Ich glaube jede Spukgeschichte, welche mir erzählt wird; ich weiß, dass die Welt unsere Vorstellung ist.

Und da nun glaube ich nicht konsequent, um mit Schopenhauer zu sprechen, wenn man den Aufwand betriebe und aus jedem „Kopp“ die grau-blutige Gehirn-Grütze herausklopfte, durchaus nun auch prompt unser liebwerter Heimat-Planet verschwinden würde ...

Das folgende Stück ist auch ein wenig Grand Guignol, vielleicht zu sehr grotesk-triviales Grusel- und Rührstück. Auch Komödie enthält es. Das mag aber dann, am Ende der Zeilen und des Stücks angelangt, der geneigte Leser für sich selbst entscheiden. Mir jedenfalls ist die Geschichte in Dänemark ein- und „ausgefallen“. Eine Interference war es, die diesen Plot in meine Wahrnehmung rücken ließ: Das laute Krächzen von Raben! Vielleicht das laute Krächzen von Raben ...

Der englische Begriff der Interference bedeutet Störung oder Einmischung:

Ja! Das Element des Überraschenden, Novellistischen ... Unwirklichen! Ist das Wirkliche die Wahrheit?

Ist das Wirkliche das Wirkliche? Heideggersches Verwirrspiel! Ich nun glaube, dass es der Autor unter allen Neu-Schöpfenden am schwersten hat: Schreiben kann in unseren Breiten nämlich jeder, es ist geradezu eine fast unmittelbar gegebene basale Kulturleistung ohne nennenswerten Beachtlichkeitsanspruch. Wo ist der „Mehrwert“ des Schreibenden?

Wo und worauf basierend, ragt diese Kunstform heraus... bei einem originellen, gleichwohl modernen Musikstück fällt die Beurteilung in die wertenden Kategorien „Scheiße“ oder „Trefflich“ leichter ... bei Plastik und Malerei wohl auch ...

Wenn der Autor seltenerweise sensibler „Semaphor1“ (ich bin es nicht), mag das Urteil unschwer sein. Ein gutes Philosophenwort leicht verändert: Ein Autor hängt nicht von einem Autor ab, „(...) sondern hängt, wenn er denkt, dem zu Denkenden an. Die Kleinen dagegen leiden lediglich an ihrer verhinderten Originalität und verschließen sich deshalb dem weither kommenden Ein-Fluß.“2

Doch um die geheimen Dornen des Seins weiß nun jeder, der nicht oberflächlichen Schlagerweisheiten wie: „... und irgendwie ist alles ok ...“ (Originalton der Gruppe Nena, um 1985, durchaus damals flott und glaubhaft gesungen) anhängt und diese heftig nickend und blöde nachspricht, selbst am besten ... Jeder weiß ob dieser Dornen, der im Alltag und Jetztzeit fremdelt, nicht in Beruf oder sozialbeachteter gesellschaftlicher Stellung im fetten Austernleben3 und Bauchdienst souteniert4, nur wenig „Wokeness“5 hat und nicht prompt auf die Knie fällt, um all dieses Lebensweltliche nun aus der Echokammer seines Gebets-Kartons ehrfürchtig anzubeten.

Der Südwesten der dänischen Insel Sjeland nun steckt voller unerforschter Hinterlassenschaften der Bauernsteinzeit. Bestes Beispiel ist die beim Pflügen in der Moorlandschaft von Trundholm 1902 entdeckte Skulptur der älteren Nordischen Bronzezeit: einen Sonnenwagen. Er beflügelt bis heute die Phantasie von Archäologen und interessierten Laien.

Bei der weiblichen Hauptprotagonistin dieser Erzählung, Liane Kroyer, welche sich übrigens im Moment dieser Niederschrift einer noch immer harmonischen Partnerschaft ohne liebestötenden Ehealltag, bester Gesundheit, heiterster Laune und zweier munterer Kinder (übrigens Zwillinge!) erfreut, mag wie bei allen intelligenten, klugen und dadurch manchmal ein wenig kompliziert und komplizierend erscheinenden „Frauenzimmern“ der Spruch indes sehr gültig erscheinen: Je größer die Insel des Wissens, desto länger die Küste der Verzweiflung und Gefahr. Aber auch das Rettende. Das wächst nämlich.6

Der Niederschreiber dieses Plots, im Jahre 2020

Liane Kroyer

Liane Kroyer sah eigentlich gut aus. Wenn man sie von der richtigen Seite betrachtete. Zum Beispiel von hinten! Ein Positionswechsel des Beobachtenden machte sie allerdings vom römischen Herrscherinnenportrait zur leicht lächerlichen Figur ...

Aber es blieb ihr indes sehr hübscher Jeans – Po im Erwachsenenalter wirklich für jeden heterosexuell empfindenden Mann eine echte, sinnliche Rechnungsgröße und optische „Hinschau“-Herausforderung. Echt und wirklich! Sozusagen die Wirklichkeit des Wirklichen!

Liane hatte es schwer! Als Kind in fast jedem Fall und jeder Situation, auch später als adultes Exemplar! In den Haushalt des charakterschwierigen Kriminalpolizisten Sigurd Kroyer und seines Eheweibs Anfang der 1980er geboren, waren kleine Unglücksfälle und Hemmnisse vorprogrammiert:

Das Einzelkind Liane entsprach nicht seines, Sigurds, optischen Erwartungen. Übrigens, Liane entsprach auch nicht ihren eigenen Erwartungen. Linda-Liane hatte ein dem Fremdbetrachter kaum auffälliges Hängelied, eine Ptosis, eine Ptose ... Nennt es doch, wie ihr wollt: eine Schädigung der Lidmuskulatur oder deren zugehöriger Nervenstränge.

Im Vorschulalter wurde bei der gar sehr zierlichen und untergewichtigen Liane versucht, das hängende linke Oberlid operativ anzuheben. In der nahen sächsischen Universitätsstadt ging das durchaus schief, die ausführende medizinische Kapazität, welche den sogenannten Lidhebemuskel korrigieren sollte, zuckte unter Vater Sigurds Schreianfall nur resigniert mit den Schultern und wandte sich ab. Nur die „Parteizugehörigkeit“ und noch etwas anderes7 schützte Sigurd vor späteren Negativergebnissen dieses Wutausbruches in der „Klinik für plastische und wiederherstellende Gesichtschirurgie“.

Kindhaft unbeholfen noch, versuchte Liane die verminderte Sicht aus der verkleinerten Lidspalte zu verbessern: Ihre aristokratisch anmutende Kopfhaltung mit fast krankhaft erhobenem Kinn entstand bereits im Kleinkindalter und wurde von ihr mißwollender Umgebung als eitler Stolz gedeutet. Erhält oder enthält das infantile Erleben bereits die Schädigung?

Die frühesten Kindheitserinnerungen von Mini-Liane waren die durch Vaters Schlechtlaunigkeit verpatzten Weihnachtsabende und die dick mit Binden umwickelten Beine der im elterlichen Haushalt lebenden adipösen Mutter Sigurds, ihrer geliebten Omi.

Und auch die schwarze, kleine Rabenfigur aus der Mitte der 1930er, karikierend-lustig aus Pappmache und Stoff gefertigt, immer in dem Glasteil des Art-Deo-Stubenbuffets von Großmutter stehend, neben den leicht verstaubten, winzigen Schnapsgläsern und der dicken Karaffe, welche beide mit bunten Emaille-Farben bemalt waren.

Von ihrer unmittelbaren Umgebung vertrauensvoll Linda genannt, litt sie resignierend unter diesem rapid abnehmenden Grenzwertnutzen ihrer selbst bereits seit ihrer frühen, empfindsamen Jugend am Ende der 80er Jahre. Die nun waren an politischen und persönlichen Verwerfungen nicht arm, was sie aber mit ihren zehn Jahren durchaus nicht begriff. Nicht begreifen konnte! Sie begriff nur die familiären Spannungen in ihrer unmittelbaren Umgebung. Das allabendliche Geschrei der Eltern. Die Mutter, die mit Sigurd wohl seit langem schon nicht mehr schlief, mit dem schrill heulenden AKA-Elektrik-Ost-Staubsauger den Fernsehflimmer - Abend enervierend störte oder besonders die Montagabende im Oktober 1989, wenn Silke zur Kleinstadtdemo gehen wollte und erst nach einem hysterischen Schreianfall in Sigurds Richtung auch ging! Der Korrekturmechanismus Sex fehlte in dieser Ehe-Beziehung wohl seit langem ...

Silke war 16 Jahre jünger als Sigurd; beide lernten sich in der Mitte der DDR-1970er auf der Bezirksparteischule kennen, wo er eine „Qualifikation“8 zum Parteisekretär absolvierte und sie seit kurzem als dralle Küchenhilfe arbeitete.

Sigurd sah damals mit seinen breitschultrigen 35 unverlebten Nichtraucherjahren blendend aus – wie eine Melange aus Sportreporter und jungem Belmondo. Silke dagegen, von ihrer unmittelbaren Sozialumgebung wissend-abfällig „Schönchen“ genannt, verschwieg ihrerseits erfolgreich ihre einjährige Jugendwerkhofzeit, und bald tuschelte die gesamte Schule. Das war ein Spektakel! Die geschwätzige Parteischule “Lilo Hermann“ hatte nun ihren waschechten Honeckerzeit-Skandal!

„Der Turm wackelt, der Turm wackelt, die Spitze fällt ab ...“ Die im zu kleinen Einfamilienhaus mitlebende Mutter von Sigurd machte in ihrer undifferenzierten, plump manichäischen9 Parteinahme für ihren einzigen Sohn das Kraut der Mißstimmung noch fetter.

Die konsistente und inflexible Unnachgiebigkeit, mit der Vater Sigurd die sogenannten gesellschaftlichen

Veränderungen ablehnte (oh sancta simplicitas!), begrüßte Klein - Liane als willkommene Meinungs-Opposition zur lebenshungrigen Mutter, welche kurz nach der alles entscheidenden Grenzöffnung zum neuen, jüngeren Freund nach Nürnberg zog. Von Bernburg nach Nürnberg! Ein Familienschicksal also, von dem wir alle zu Beginn der 1990er entsetzt hörten: Ehe- und Langzeitbeziehungen wurden durch offene Grenzen obsolet. Das überforderte Kind blieb bei Vater und Oma in dem efeuberankten kleinen Einfamilienhaus der Bernburger Nernstraße.

Lianes Schulnoten waren indes durchaus ausreichend und der Systemwechsel so rechtzeitig getimt, dass das Kind aufs Gymnasium gehen konnte – und nicht nur die drei Klassenbesten - der Zeitwirrnis und Zeitverwirrung der beginnenden 1990er geschuldet. Liane meisterte auch diese Schulzeit – Phase hinlänglich und begann kurz nach der weltweit (ob nun Welt, oder Bundesland Sachsen-Anhalt ... ist ja ohnehin fast identisch) falsch gefeierten Jahrtausendwende (die Magie der runden Zahl! Lach!) ihr Nicht-Numero-Clausus-Studium im nahen Halle.

Zu dieser Zeit begab es sich, da unser spätpubertierendes Mädchen (Liane sah über viele Jahre stets wirklich durchaus mehr einem Waschbrett mit Zöpfen ähnlicher, als ihrer üppig gewachsenen, adult wirkenden Schulmädchenumgebung) erste Erfahrungen mit dem Gegen-Geschlecht sammelte. Und mit dem Alkohol! Sie war indes zu und mit beiden Behufen untalentiert.

In dieser Zeit begab es sich außerdem, dass Lianchen sich bei den geringsten Stress-Situationen ruckartige Kopf-, Gesichts- und Körperbewegungen angewöhnte: Wenn sie im REWE – Einkaufsmarkt in Halle gleichzeitig die Stoff-Beuteltasche aus ihrem turmhohen Rucksack per aufwendigem Absetzten und hektischen Suchen herausholen musste und gleichzeitig ihre 7,35.- Euro aus ihrem Brustbeutel zu fingern gezwungen war, „zuckte“ sie, warf in einer eckigen Bewegung Kopf und Schulter.

Auch gewöhnte sie sich durch tätige Mithilfe ihrer Hallenser Wohngemeinschafts – Zimmer - Mitbewohnerin Mandy (ein wahres und wirkliches Vorbild! Katzenhaltung in der WG, vorgegebenes Studium der Tiermedizin im 12. Semester!) das abendliche Wein- oder Martinitrinken an. Wahlweise! Martini oder Weißwein! Manchmal auch beides! Mandy Vechte nun hatte das Gesicht eines niedlichen Ferkels, war leicht pyknisch, dicklich und dazu untersetzt.

Diese sah einer fehlgeprägten, durch ein Versehen des in diesem einen Exemplar zu viel rosa Plastik verarbeitenden Spritzgussautomaten, hypertrophierten Barbie nicht unähnlich und roch vernehmlich nach Schweiß und billigem Nachwendeparfüm.

Einfach überwältigend. Überwältigend im Negativen. Wirklich! Wie ein hauch- und wasserdünner Aufguss von Fatty Arbuckle10 - nur halt in weiblich!. Wenn Liane von ihren Vorlesungen kam, flimmerten auf Mandys frühen Flat-Screen laute und scheußliche Hinterhof-Pornofilme und abends hämmerte diese mit ihren kurzbefingerten Patschpfötchen auf ihrer klebrigen PC-Tastatur in irgendwelchen virtuellen Internet-Chaträumen herum. Auch telefonierte sie lange mit ihrer übrigens überraschend angenehmen Telefonstimme mittels ihres sehr geräumigen Nokia – Funktelefons und hatte proper Männerbesuch, der wohl das Vakuum ihrer Seele füllen sollte. Sicherlich nicht nur das ihrer doch sicherlich und hoffentlich unsterblichen Seele ...

Dass es sich bei Mandy um gar keine Studentin der Tiermedizin handelte, kam unserer arglosen Liane erst sehr, sehr spät in den Sinn.