Scheiße am Schuh - Dieter Scheidig - E-Book

Scheiße am Schuh E-Book

Dieter Scheidig

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Beschreibung

Das ewig Weibliche? Das Herz einer Frau Der Inhalt einer Worscht, Der Magen einer Sau Bleiben ewig unerforscht. Dieses wenig schmeichelhafte Zitat von Wilhelm Busch passt genau auf der Protagonisten Leiden an der Daseinswahrnehmung in Bezug auf die ihnen vertraut scheinenden Frauengestalten. Scheidig fokussiert seine Helden ganz genau. Immer geraten sie mit traumwandlerischer Sicherheit an Frauen des Typus Belle Dame sans mercie, also auf die wunderschöne, aber mitleidlose und daher siegesgewisse Frau. Ganz ehrlich, da kann ein Mann nur unterliegen! Die Beifahrertür klappte: Peter Kriener wollte am heutigen Mittwoch die für ordnungsgemäße Mülltrennung in bundesdeutschen Haushalten der 2020er Jahren bitternötige gelbe Folien-Tüten im Rathaus bei der Ausgabestelle im Bürgerservice holen. Nur eine Rolle pro Haushalt kündete ein handgeschriebenes Pappschild oberhalb einer Holzkiste im Foyer. Peter, obwohl er rechtlich als ein Haushalt firmierte, schnappte sich fünf Rollen und brachte diese zur seiner mürrisch im Auto wartenden Freundin ... Der sensible, aber indes irgendwie unfähige Kriener führte in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre zum großen Entsetzen seiner Eltern und des wesentlich älteren Bruders, beschützt von geheimer Gottheit, ein der DDR-nicht-Norm entsprechendes Leben. Ob es Alternativen gab, die er hatte oder nicht hatte, ob es sie überhaupt gegeben hatte, werden wir, die Leser und gleichsam Peter Kriener, nie in Erfahrung bringen.

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Dem guten Angedenken meines Vaters

GERHARD HELMUT SCHEIDIG

20.05.1931 – 10. 07. 2000

geb. zu Rudolstadt – Volkstedt, Kleine Gasse

gest. in seinem Vaterhause zu Rudolstadt,

Am Rosengraben

Inhalt

Ein Wort zuvor

Scheiße am Schuh

Was wir zu Corona sagen

Am Leben vorbei. Nachwort von E. Thaler

Man muss sich selbst erkennen. Wenn das nicht helfen sollte, das Wahre zu finden, so hilft es wenigstens dabei, sein Leben einzurichten, und es gibt nichts Richtigeres.1

Blaise Pascal

1 Pascal, Blaise, gest. 1662

Ein Wort zuvor

Ein Autor schreibt, daseinsleidend die eigenen Grenzen aufgebend, über das Wesentliche seines Erlebens, er wird Fotos, Gespräche, Ausflüchte, Erwandertes und Träume in sein Schreiben mit hinein nehmen … er nimmt sich einfach das sehr dreiste Recht, über „darüber“ zu schreiben. Das sollte er zumindest. Man erwarte hier nichts Raffiniertes: die Wahrheit neigt fast immer zur Simplizität und dem frustrierenden Ergebnis banaler und fehlgeschlagener Erwartungen.

Der tsunamiwellenhafte „Beachtlichkeitsanspruch“ (ein wunderbar passender Ausdruck des Philosophen Arnold Gehlen) manches Möchtegern-Autors kontrastiert merkwürdig mit dessen gesellschaftlich (von mir so empfundener) unmaßstäblich hoher Wahrnehmbarkeitsschwelle und dem mageren Gehalt und Erkenntnisgrund von deren Werken.

Aber wo beginnt der schwammige Begriff des „Möchtegern“ und was scheint die Ursache für die Verborgenheit manches literarischen Schöpfers? Ursache dieser eigenen Verborgenheit ist oft ein Mangel an Energie, welche den Zirkel der reinen Schreibarbeit verlässt: mangelnde Energie zur Eigenwerbung; Energie, Manuskripte verlagseinzusenden, Mangel-Energie, eine Selbst-Reklame zu organisieren ... Weiterschreiben! Weiterschreiben, „… gerade ich, der ich doch wissen sollte, dass man Bücher nur schafft, um über den eigenen Atem hinaus sich Menschen zu verbinden und uns so zu verteidigen gegen den unerbittlichen Widerpart allen Lebens: Vergänglichkeit und Vergessensein.“2

Aber wo nun beginnt das ausreichende Maß des wohl relativ erscheinenden Erkenntnisgrundes? Wer will dieses ermessen?

Wenn der Leser nicht mit hirnlosem Hedonismus, absoluten Wahrheiten und Kleinlichkeiten gequält wird, ist der Autor nicht gescheitert! Wenn der Leser nicht nach zwei Sätzen oder zwei Seiten das Buch in die Zimmerecke pfeffert …

Der nun, der Autor, braucht ja die Dinge durchaus nicht beschreiben, welche der empfindsame Leser selbst sieht … oder um mit Walker Percy3 zu sprechen, dass es eben nicht die Aufgabe eines Autors sei, zu schildern, wie die Dinge seien, sondern zu benennen, dass die Menschen nicht bemerken, wie schrecklich diese sind: Der Zeitgeist und der Autor sollten eine Fernbeziehung führen.

Er legt eben nicht grenzaufgebend seine unbefangenen Meinungen, sondern vor allem als Beschwörungskünstler die Erwartungshaltung seiner Rezipienten in das Geschriebene hinein: „Wer bin ich, wenn ich bin, was ich habe, und dann verliere, was ich habe“, möchten die Protagonisten der folgenden Seiten mit Erich Fromm fragen: Jeder muss zu seiner Bestimmung, zu seiner Wahrheit geführt werden.

Am Ende, im Schließfach der Pathologie angelangt, hat jeder seine Biographie: Mit einem allerdings tatsächlich notwendigen Quentchen Glück und Demut pervertiert diese nicht, geht nicht vor die Hunde, sondern gelingt mehr oder minder ...

2 Zweig, Stefan: Kleine Chronik, Drei Erzählungen. Insel-Bücherei Nr. 408, Insel Verlag 1951. S. 82.

3 Percy, W.: amerikanischer Schriftsteller, 1916-1990

Scheiße am Schuh

1

Die Beifahrertür klappte: Peter Kriener wollte am heutigen Mittwoch die für ordnungsgemäße Mülltrennung in bundesdeutschen Haushalten der 2020er Jahren bitternötige gelbe Folien-Tüten im Rathaus bei der Ausgabestelle im Bürgerservice holen. „Nur eine Rolle pro Haushalt“ kündete ein handgeschriebenes Pappschild oberhalb einer Holzkiste im Foyer. Peter, obwohl er rechtlich als ein Haushalt firmierte, schnappte sich fünf Rollen und brachte diese zur seiner mürrisch im Auto wartenden Freundin Mirna. Wieso war sie in letzter Zeit eigentlich so komisch?

Im raschen Vorübergehen sah er einen alten Charakterkopf-Mann. Der könnte in seiner leicht albernen Diktatoren-Markantheit auch auf einem litauischen oder rumänischen Geldschein abgebildet sein, dachte er belustigt. Du kennst den doch, du kennst ihn, sagte P. zu sich selbst. Sei nicht so unhöflich, so teilunangenehm dir auch ein Erinnern an diese Zeit sei!

Es war der sehr, sehr gealterte Vater seines Schulfreund-Feindes Jasper Watteck. Er, der Alte, kannte Peter noch blutjung: Jasper kam in der sechsten oder siebenten Klasse in die Schulklasse von Peter: Seine Eltern zogen von einer fernen Bezirksstadt nach Greuda. Was sich rasch als tuschelnde Flüsterfama in der Schule „POS-Fritz Schmenkel“ verbreitete: Der Vati von Jasper Watteck, Herr Gerhard Watteck nämlich, war weiland Leiter der Kreisdienststelle des MfS, seine Mami frische Verkäuferin in einem der zwei Intershop-Läden Greudas.

Deren fröhlich-blonden Sohn Jasper focht das indes nicht im Geringsten an, dieser war ein reger und intelligenter, frühreifer Teenager mit für sein Alter erstaunlichem Zynismus und dem exotisch-dänischen Vornamen. Peter war wirklich froh, ihn zum Freund zu haben.

Alles dies war durchaus entsetzlich lange her … Mehr als drei Jahrzehnte trennten alle vom einstigen Zeit-Horizont. Er gewahrte des Alten sofort und grüßte den noch immer achtungsgebietenden Mann mit fast militärischer Attitüde. „Du bist doch der Peter?“ sprach der alte Watteck, schaute jovial und Peter duzte ihn gleichfalls. „Und klar, du bist der Herr Watteck … Was macht Jasper?“

Die Jungen Peter und Jasper nun verloren sich nach Beendigung der Schule sofort aus den Augen, zu unterschiedlich waren die Interessen- und Lebensart-Gemengelagen dieser beiden Menschen: Jasper nun sah als Teenager umwerfend aus, die blondlockigen 80er-Jahre-Vorstadt-Schulmädchen-Schönheiten der Parallelklasse klebten geradezu am Jasperlein, ohne dass der merkwürdig alt und betulich wirkende Schüler Peter, welcher damals optisch noch zu allem Überfluss mit lächerlichem Überbiss ausgestattet war, einer waschechten Prognathie übrigens, von der Lebhaftigkeit seines Schulfreundes in irgend einer teilhabenden Art und Weise partizipieren konnte.

„Oh, Jasper lebt jetzt in Berlin, ist immer noch Klempner.“ Jetzt wurde der Alte triumphierend: „Aber als sehr gut bezahlter! Er ist Hausmeister im „Karl-Liebknecht-Haus“ der Linken und hat sich ein Häuschen in Rahnsdorf gekauft.“

Peter kannte Rahnsdorf. Peter kannte aber auch Jasper Watteck und seinen ihm seit gemeinsamer Schulzeit bekannten Opportunismus ... Der jungsche Watteck schien wirklich nur Glück und keine Biographie zu besitzen. Würde Kriener mit ihm tauschen wollen? Als Teenager ja, nicht mehr allerdings als alternder Mann, dessen glänzende Zukunft hinter ihm lag: Oft erinnerte er sich des Oskar-Wilde-Bonmots und kicherte dabei in sich hinein.

Er nun war viel zu sensibel und aufmerksam, um nicht zu wissen, dass auch Jasper sich über ihn in seiner Abwesenheit recht lustig machte und seinen lebensfrohen und beweglichen, disco-rauen Freundeskreis dem stillen und vertrieftnachdenklichen Überbiss-Kriener bei weitem vorzog.

Das alles war jetzt Lichtjahre her … Diese Ereignisse müssen sich noch in der Neandertaler- oder Denisovaner-Zeit abgespielt haben. Peter konnte jetzt den Alten wirklich mit Befriedigung grüßen. Er hatte alles nachholen können: Seine ganze, tief verdruckste Kindheit und Jugend konnte er wirklich durch die vielen Jahren eigener, praller Lebenserfülltheit, gleich einem abgelebten Kokon, einen unpassenden, plumpen Schildkrötenpanzer hinter sich lassen.

2

Er erwachte kopfschüttelnd und leicht schweißklebrig aus einem realistisch-unrealistischen Traum: Er hatte einen Vogel! Doch ich greife dem Trauminhalt des Protagonisten unserer Erzählung unzulässig vor …

Nun gleich zum Traumgeschehen: Eine verwirrende Konferenz oder Meeting (auch so eine herzigneudeutsche Bezeichnung!), welche Kriener in Begleitung seiner doch bereits vor vier Jahren verstorbenen Mutter absolvierte, war trotz der Anwesenheit vieler, eifrig Wurstbrote essender Facebook-Freunde (darunter sein lokaler Lieblingsfeind Matthes Amrell-Löbel mit dem lächerlichen Bart des zweiten Wilhelm) so derart langweilig und enervierend, dass Peter wie in Trance hinaus in den milden und warmen Spätsommerabend trat.

Einen Mauerdurchbruch durchschreitend (klar, er war vor Tagen auf einem Dorffriedhof mit zerstörter steinerner Umgrenzung), befand er sich auf einer trockenen, seit Jahren nicht gemähten mannshohen Wiese unter gelbem Himmel. Sein Blick fiel nach links, und sofort sah er den sehr dünnen, grauen und alten Pfau, welcher auf irgendeinem hohen Grasbusch-Gesträuch saß.

Dass es ein Pfauenmännchen war, erkannte er an der fein bebommelten Federkrone auf dem wirklich mitleid-erheischenden Greisen-Köpflein des müden Tieres.

Er hob den zutraulichen, sehr matten Vogel vom Busch und nahm ihn in die Arme. Der müde alte Pfau legte seinen Kopf und langen Hals über Peters schmale Schulter.

Er spürte die Körperwärme des Vogels. Eine ungeheuerliche, elementare Traurigkeit und enorme Vergänglichkeitsahnung flutete ihm wuchtig und seiend im Traume an.

Beide, Vogel und Mensch, begannen jetzt völlig ungeniert und heftig zu weinen. Er nahm das schwache Tier mit in den Konferenzraum, welcher eher einem Schulzimmer glich, und das mehr als hühnergroße Vogeltier kroch listig unter Peters grauen, zu weiten Schlabberpullover.

Wieder angekommen im Raume der Konferenz, Krieners einstigem Schulspeisungssaal der Polytechnischen Oberschule der Deutsch-Sowjetischen-Freundschaft im grauen Greuda-Ost ähnelnd, wurden durch die Teilnehmer der Veranstaltung barocke Schreittänze durchgeführt. Auch Peter Kriener reihte sich in diese Bewegungen ein, zu denen jedoch weder Westernmusik noch Barockmenuett gespielt wurde. Er konnte sich tatsächlich nicht daran erinnern, was nun eigentlich für Weisen gespielt wurde … oder hörte er nur Schaben und Klappern des Schuhwerkes und das Rauschen der Bewegungen? Wurde gar keine Musik gespielt?

Der kranke und wohl dadurch sehr anhängliche, greise Vogel befand sich jetzt aber nicht unter dem Pullover, sondern wieder auf dem linken Unterarm unseres Protagonisten. So begegneten nun Kriener und sein Vogel während der schreitenden Tanzbewegung der bestürzend schlichten, alten und latent sehr bösartigen, störrischen Mutter seines Studienfreundes Smilo, die ihn, Peter Kriener, sofort wegen des Tieres unverhältnismäßig anzuschreien begann. Die sehr dürre, agile Greisin schrie: „Das Verreckertier! Es stirbt ohnehin bald! Das Vieh hat Flöhe! Flöööööhe!!!! So’n Vogel stirbt!“

Sie hieb ganz kräftig und urplötzlich mit dem rechten Arm und Hand auf das geschwächte Tier ein, welches durch die heftige Wucht eines einzelnen Schlages von Peters Arm in eine Ecke des Raumes geschleudert wurde und sich bekümmert krümmend rasch verkleinerte. Hier nun wachte er herzklopfend, wutig und schweißnass auf.

3