Das trojanische Klavier - Dieter Scheidig - E-Book

Das trojanische Klavier E-Book

Dieter Scheidig

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Beschreibung

Das trojanische Klavier An einem geschenkten Flügel der 1850er Jahre verletzt sich ein Protagonist der ersten Erzählung des Buches bei der Restaurierungs-Demontage. Der Notdienst ist ratlos. Nochmals in die Villa der sächsischen Kleinstadt fahrend, welche die letzten hundert Jahre den Standort des Instrumentes bildete, wird das dortige Stadtarchiv zum Lösungsansatz einer Mordstory. Das Erinnern des Raben Der Studienabbrecherin Liane Kroyer passiert während ihres neuen Jobs als archäologische Grabungshelferin in Dänemark eine eigentlich völlig unglaubwürdige Story: Der Rabe Kolk spricht sie inmitten der Hügelgrab-Landschaft der Halbinsel Knudshoved Odde an. Liane leistet dem merkwürdigen Rat des Flattertieres Folge und findet ein ungewöhnliches Objekt, welches ihr aus ihrem roten Ferienhaus gestohlen werden wird. Aufklärung schafft ein ferner Freund, der auf Lianes heftiges Bitten rasch ins herbstliche Dänemark reist. Urgeschichte, Liebe, Betrug, Rauschmittel und die wirklich wunderbare Landgegend Dänemarks bilden den Kranz um eine durchaus verblüffende Auflösung dieser Novelle.

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Der Zeitverschüttung entreissen!

Dem Andenken des Bruders meines Vaters

WERNER PAUL SCHEIDIG

Geboren 29. Juli 1922 in Volkstedt bei Rudolstadt

Gefallen 19. Januar 1945 zu Zetten (NL)

Vom Erstbestattungsort Valburg umgebettet nach Ijsselstein

Block AO, Reihe V, Grab-Nr. 116

R. I. P.

Es geschieht zu jeder Zeit etwas Unerwartetes;

unter anderem ist auch deshalb das Leben so interessant.

Marie von Ebner-Eschenbach

Inhaltsverzeichnis

Es beginnt

Es beginnt erneut

Die Information

Der Spuk

Das Ende

Das Erinnern des Raben – Eine Interference

Liane Kroyer

Dänemark

Der Rabe

Das Erinnern des Raben

Der Fund

Liane

In Moons Axtholms Haus

Ein Morgen der Wahrheit

Nachbemerken des Autors

Das trojanische Klavier

Es beginnt

Wir befinden uns in diesen trockenen, warmen Frühjahrstagen des Jahres 1926. Auf einer gartenseitigen Freitreppe spucken schwitzende Dienstmänner geräuschvoll tiefbraunen Priemsaft aus. Wir sind nur passive Beobachter, wissen nichts, können nichts, sind relativ verblüfft und zur völligen Unaktivität verurteilt. Woher wissen wir eigentlich, dass wir uns im Jahr 1926 befinden? Ein Abreißkalender mit der werbenden Aufschrift „ARBA-AG“ verrät es uns. Dieser sagt überdies auch noch mit guter, deutscher Gründlichkeit den Tag: Es ist Freitag, der noch belanglose 23. April. Seit Wochen regnete es nicht. Durch breite, grobgewebte und schmutzfarbige Transport-riemen gehalten, welche sich die sechs schwitzenden und spuckenden Männer in weiten Schlaufen um ihre Schultern gelegt haben, schwebt eine flache, in graue Decken gehüllte, sehr große Kiste fast schwerelos durch eine weit geöffnete Flügeltür. Die Männer haben unerinnerliche, gleichgültig-graue Gesichter und tragen fleckige Schirmmützen. Es sind eben schwitzende Dienstmänner! Eine helle, glockenhafte Stimme ertönt laut: „Bitte folgen sie mir, der Flügel kommt in das Kuppelzimmer!“ Die das sagt, heißt Frau Sylda (es ist indes eigentlich völlig belanglos, daß Frau Sylda Frau Sylda heißt), trägt ein braunes Chiffonkleid, ist unbestimmbaren Alters und die Haushälterin von Herrn Dr. Ing. A. Stoppel. „Bitte sehr, spucken sie jetzt nicht auf die Teppiche! Isses es Ihnen so recht, Herr Doktor?“

Der so Angeredete ist in einen kimonohaften, sehr bunten Hausmantel gehüllt und raucht gerade seine Morgenzigarette, Marke „Kyriatzi“. Sein schmales Gesicht scheint von Schmissen zerhackt und wirkt wie aus unterschiedlichen Materialien zusammengesetzt. Ein Provinz-Akademiker? Bums! Klirr! Die Männer setzen das Instrument auf dem dicken Teppich ab, die Saiten schwingen leicht, wie ein disharmonisches Orchester.

„Schraubt die Beine noch an, Männer, nicht daß ich das noch machen muss!“ sagte Stoppel mit starker sächsischer Sprachfärbung. „Sowas haben wir im Feld allein an der Uhrkette getragen. Die drei Dinger fix anschrauben, dann geb ich ne Kippe aus, Frontkameraden!“ Kurze Zeit später greifen die Träger mit ihren schwarzen, klebrigen Fingern bereitwillig in die ihnen hingehaltene, flache gelbe Pappschachtel, auf der ein Wasserpfeife rauchender Türke bunt-lustig dargestellt ist. Sie entnehmen jetzt jeder verlegen eine dieser ovalen, duftenden, filterlosen Zigaretten. Streichhölzer zischen. Prompt durchziehen den Raum aromatische Rauchschwaden, die sich mit dem frischzitronigen Eau de Cologne des Kimonoträgers und dem derben Schweiß- und Körpergeruch der Träger vereinen. Die naserümpfende Sylda bringt auf Anweisung von Stoppel unwillig Flaschenbier.

„Muss er immer schützengrabenhaft fraternisieren?“ fragt sie sich in ihrem sächsisch-kleinstbürgerlichen Hirn. Halt auch nur ein schlichtes Leutehirn!

Plopp! Plopp! Die Bügelkorken aus Porzellan schnippen durch Daumendruck mit leichtem Knall. „Wo wartn ihr vor zehn Jahren?“ Einer antwortet mit arg schielendem Blick: „Gerade ausm Lazarett entlassen! Ich hab beim `Toten Mann`2 eine vor die Plauze bekommen. Seitdem hab ich änn Holzauge!“ Alle lachen. Manche lachen bekümmert. Wir, als Beobachter der Szenerie wundern uns indes über die Gegenwärtigkeit des Erlebens vor zehn Jahren im Gespräch der Männer. „Los! Ab jetzt, Kameraden!“ unterbricht Agnus Stoppel die Rauchrunde. Von ferne klingelt nämlich schrill der Hausanschluss des Inhabers der „ARBA-AG“.

Nach kurzem Telefonat wendet sich Stoppel mit hochgezogenen Augenbrauen an die Sylda: „Der scheußliche Nudelmeier-Klimperkasten ist von meinem zukünftigen Schwager?“ „Jawohl, Herr Doktor, der Transportschein ist auf Otto Leodatus von ...“ „Verschonen sie mich bitte, bitte mit der Vollständigkeit dieses ungeheuerlichen Namensungetümes!“

Stoppel verzog beim Sprechen sein Gesicht. „Der Flügel is aus Freiburg vom Otto und das Geburtstagsgeschenk für das gnädige Frollein.“ „Hmmmm!“ „Das Expertisen-Beiblatt spricht von Clara Schumann, geborene Wieck, als ehemaliger Besitzerin. Sie wissen, wie sehr Fräulein Senta die verehrt.“ Bei der Erwähnung dieses Namens verklärte und glättete sich das Gesicht von Agnus für Sekundenbruchteile.

„Von mir aus kann auch der Kaiser von China letzter Besitzer der Kiste gewesen sein!“ Der bunte Kimonoträger wirkt sofort wieder verspannt, winkt kurz ab und zieht einen sauren Flunsch. Er lässt keinen Zweifel daran, wie unerhört unsympathisch ihm sein künftiger Schwager ist. „Geben sie dem neuen Chauffeur Bescheid, ich muss gleich ins Werk fahren! Er soll draußen, auf der Straße warten. Sie bereiten bitte das heutige Diner für Sentas Geburtstag vor“. „Seit Tagen tu ich nichts anderes!“ Der Doktor dreht sich jetzt weg. Frau Syldas Augen werden schmal und schwarz. Nach dreißig Minuten rauscht der kürzlich kreditierte, schwarzdunkle Neuwagen aus der nahen Autometropole Zwickau davon. Übrigens ein turmhoher, sehr kantiger, geschlossener Kraftwagen mit doppelten Nickelstoßstangen und einem durch kurze Dachverlängerung gebildeten Sonnenschutz unmittelbar über der Frontscheibe. Leichter Benzingeruch und Schwaden von grauem Rauch blieben zurück ...

Die Vergangenheit verliert sich - das Bühnen-Szenario wandelt sich in die Apriltage des Jahres 2018.

Es beginnt erneut

Luis Raber beobachtete ratlos die schmale Sichel des zunehmenden Mondes. Heute früh war er doch indes an einer ganz anderen Stelle über der Landschaft zu finden? War es später als gestern? Eben stand er doch noch über dem sehr schiefen Schornstein des Nachbarhauses. Oder war das bereits vor Tagen? Dieser merkwürdige Planet ... rast beständig durchs All, von seinem eitrigen Trabanten ständig und anhänglich begleitet und wir machen uns hier große Gedanken. Es ist doch alles so sinnlos! Sinnlos! So derart sinnlos, dachte Luis Raber in einem seiner sehr häufigen philosophischen Primitivo-Anfälle. Wer bist du, Luis, der du hier mit rast ... für Sekunden ... Sekundenbruchteile ... begreifst du das mystische Moment? Worthülsen! Transzendent scheinende Allerweltsweisheiten ... Und nur Binsen …

Gerade noch hatte er von seiner Ex-Frau Jördis einen Anruf erhalten. „Fick dich ins Knie“ waren ihre letzten Worte, ehe sie zischend das Telefonat unterbrach. Eine Meinungsverschiedenheit? Unhöflich! Miststück! Emotionale Pest! Oder war er einfach nur unfähig?

Wenn ihm doch nur ein Glück erführe ... ein unerhörtes, finanzielles Lebensglück: Mal kein Pechvogel sein, nur einmal zu den Glückspilzen gehören ... Ja, so primitiv war Luis, dass er die Wirkung und das rasche Um- und Verwandlungsergebnis von Geld schätzte, ungemein wertschätzte: Als das wohl Höchste, als das absolute Movens, was diese irdische Existenz wohl zu bieten hatte.

Der schwarze Dackelmischling stupste ihn jetzt feucht mit seiner Ledernase an. Ein wirklich schöner Hund, so der kritisch-lustige Raber-Freund Raik Werbig, welcher „größer wirkt, als er aussieht“. Luis konnte sich ständig über diesen fast behämmert scheinenden Gag ausschütten vor Lachen. Er hob das Tier auf ein unbequemes, hochbeiniges Bett und schaute ihn nachdenklich tuend an: „Bist du ein Hund?“ fragte er das Tier, Patkul benamt. Der Hund blickte aus seinen sehr glänzenden, nussbraunen Augen ruhig und wissend zurück.

„Oder bin ich der Hund, und du bist der Mensch? Bin ich dir ein gutes Herrchen?“ Er fragte seinen Hund dies häufig. Luis dachte daran, daß auch dieses Bemerken von Raik Werbig immer mit einem ins Zynische fallenden Sprachspaß quittiert wurde: „Vor allem, Luis, bist du dir selbst ein gutes Herrchen ...! Vor allem!“

Die Information

Pieeeep! Luis Raber (54) und sein wirklich x-beiniger Dackelmix (4) bekamen von der lieben und dabei überhaupt nicht mütterlich erscheinenden Facebook-Freundin Edita Oborska (75) aus der Nachbarstadt Vierheim eine Whatsapp mit einem Link zu einer Ebay-Kleinanzeige auf sein markenloses Phon:

……..

Antiker Flügel, A. Bretschneider, Sammlerstück. Kostenlos.

Wir verschenken einen alten Flügel der Marke A. Bretschneider mit der Seriennummer 1961 (Baujahr Ende des 18. Jahrhundert). Der Flügel müsste generalüberholt werden, um ihn spielbar zu machen. Daher handelt es sich im jetzigen Zustand eher um ein Sammlerstück/Dekoflügel.

09323 Renig, Krautstraße 60, Haus Sommersberg, Bertram Formfett

…....

Die unscharfen, grobverpixelten, licht- und aussageschwachen Bilder der Anzeige zeigten ein elegantes, wenngleich abgeschrappt - furnierblasiges Tasteninstrument der 1850er Jahre. Der antiquitätenaffine Sammelfanatiker Raber, durch ständige, lange Museums- und Flohmarktgänge punktexakt einschätzungstrainiert, erkannte indes sofort einen eleganten, hellen Flügel seiner Lieblingszeit, nämlich der schönen, trügerisch sicheren Mitte des 19. Jahrhunderts. Der Lapsus der Anzeige mit - „Ende 18. Jahrhundert“ - passierte ihm selbst letztmalig vor über langen dreißig Jahren als blutjungem Nachtwächter auf der ortsprägenden und dominanten Orsburg, welche schroff und ewig plump seit der Renaissance seinen Heimatort Einstädt überragt. Seit der höhnischen Korrektur im süffisant-eitlen akademischen Stimmtimbre durch den elf Jahre älteren Mitarbeiter der Chefetage, Herrn Benkel, passierte ihm dies just nicht mehr ... Nie mehr! Nie!

Der Raber nun alarmierte seinen bescheidenen Freundeskreis, um diese vorgebliche Chance prompt zu nutzen und fuhr mit seiner alten, imposanten Limousine und Werbig, Raik Werbig, welcher großmäulig auf die technischen Komponenten des Transportes achten wollte, ins westsächsische Renig: Diese Stadt, die so zersiedelt aussah, als hätte jemand einen Eimer Wasser ausgegossen, war noch vor 100 Jahren gebauter, wegweisender Fortschritt.

„Das war mal der Intershop Deutschlands!“ meinte Luis' geschichtsklügelnder Co-Pilot mit hochgezogenen Augenbrauen. „Hier wurden mal Weltprodukte hergestellt. Waschmittel, Seifen, feinste Papiere für den Druck von Banknoten, und knatternde Motorräder!“

Hatte Raik vorher gegoogelt oder sog er sich das vermeintliche Wissen einfach aus den Fingern?

Raber war sich da unsicher, denn der Raik-Werbig-Superschlau hatte auf jede, auch noch so beiläufig gestellte geschichtliche Frage eine lange, eloquente Antwort. Vielleicht hatte er auch nur eine wirklich blühende Phantasie, gepaart mit ausreichendem, substantiellem Grundwissen? „Im Ruhrgebiet wurden riesige Eisenräder gegossen und gigantische Kessel genietet, in diesen sächsischen Kleinquitschen dagegen Dinge hergestellt, die man täglich brauchte: Zahnpulver, Süßigkeiten und Zellstoff! Sogenannte inferiore Waren!“ In einer am zerpflückten und abgefegten Stadtrand beginnenden Landschaft von räudigen Kleingartenanlagen und DDR-zeitlichen Sportstätten fanden sie die riesige, vereinzelt stehende Villa. „Krautstrasse 60! Da isses!“ sagte halblaut der mitfahrende Werbig und zeigte auf ein bröckelndes Torhaus. Schauend durch rostiges Jugenstil-Torgitter sahen Luis und Raik unter noch blattlosen Kastanien eine Villa im Formgemisch von Berliner Reichstag und Gruselgruft. Villa Sommersberg! Das ist der Sommersberg!

„Da siehste ma, was es hier um 1900 für ein Mehrprodukt gab!“ Auf der Freitreppe des großen Hauses trafen sie Herrn Formfett, neuer Besitzer von Haus und Instrument. „Sie kommen wegen des Klaviers?“ sagte der kleingewachsene Träger eines blauen Arbeitsanzuges lächelnd-eifrig, schlenkerte mit seinen dünnen Ärmchen und versuchte, leicht enervierende Höflichkeit zu versprühen. Werbig raunte: „Dies ist wohl das Männchen, das im Märchen die Scheiße verteilt!“

„Ja, er ist noch da!“ Der Mann sprach unaufhörlich: Herr Formfett wollte den Flügel, wenn er nicht bald abgeholt würde, weiß streichen, in den Garten stellen und bepflanzen. So sagte er. Auf abgescheuerten, im Verlauf ihrer wohl hundertjährigen Benutzung Laufspuren und Pfade gebildet habenden, jetzt sehr stark farbbekleckerten Perserteppichen lief die kleine Gruppe über einen langen Flur in den Raum, wo der Flügel unter hoher Stuck-Kuppeldecke sein staubgraues, traurigunbespieltes und einsames Dasein fristete. Luis Raber nickte, heimlich begeistert und befriedigt! Ein tolles Instrument! Erard’sche Bauart! Gern, nur allzugern bewunderte Luis seinen eigenen Scharfsinn!

Der Transport wenige Tage später war für das verzagte, kleine Häuflein um Luis und Raik eine sehr knapp bewältigte, gewaltig gewichtsintensive Verzweiflungstat. Da half es auch nichts, dass Luis den Flügeldeckel, die Pedale und die Tastenabdeckung mit geschickten Griffen abmontierte. „Schwer wie Hund“ keuchte Raik! Auch Luis brummte der Rücken.

Dieser optisch wirklich mit einem Salonmöbel der Spätbiedermeierzeit konkurrieren könnende, hochelegante Flügel wurde nach der 150 Kilometer langen Fahrt stöhnend und ächzend in der Halle der zerschrammten, einst ockerfarbenen Bröckelputzvilla am Stadtrand von Einstadt positioniert.

Luis Raber wohnte allein in diesem riesigen, aber völlig verkommenen Gebäude, von welchem er in den beginnenden 1990er Jahren durch einen halbherzig gestellten, aber erfolgreich und rasch beschiedenen Restitutionsantrag an die neuen und unerfahrenen BRD-Behörden Eigentümer wurde.

Die Villa wurde ihm indes von seiner alten Großtante Alice vererbt, welche in dem Gebäude noch bis Ende der 1980er Jahre gewohnt hatte, obwohl es ihr nach geltendem Recht längst nicht mehr gehörte: Die städtische DDR-Wohnungswirtschaft enteignete die Tante schlicht mittels hohen Zwangs-Sanierungshypotheken. Als die Summe der Darlehen den sogenannten DDR-„Verkehrswert“ des ungünstig gelegenen, fleckigen Kastens überstiegen, erfolgte die formelle Enteignung im schier wunderbaren ersten Arbeiter- und Bauernstaat. Die drohte jetzt indes auch unserem verbummelten Luis durch schier unerfüllbare Auflagen der Kreisdenkmalpflege: Der Bau war mit Efeu, Knöterich und wildem Wein bis zur Konturenauflösung bewachsen, Dachziegel und ein uraltes Spaliergitter fielen auf die Straße und ebendort parkende West-Autos ... Ein Endlosstreit mit den unnachgiebigen und bösartig scheinenden Behörden tat sich höllenschlundgleich auf ... Der doch ohne jedes schlechtes Gewissen traditionell recht faule Luis Raber schlief täglich bis in die späten Vormittagsstunden, schrieb lieber an seinem nie fertigwerdenden Erstlingsroman „Der Rat der Hühner“ und tat wenig für des eigenen Hauses schöneren Aufputz.

Er erinnerte sich sehr intensiv, wie sein Vater, der alte Raber, den im Villenobergeschoss stehenden, tiefschwarzen Steinwayflügel im Jahr 1985 während der Abwesenheit von Luis (er leistete gerade seinen „Ehrendienst“ als Sandlatscher der Nationalen Volksarmee im beglückenden Eggesin im nördlichsten Norden „unserer“ Republik) an den Antikhandel Pirna3 verkaufte. Auf seine maulende Beschwerde darauf hörte er nur den cholerischen Alt-Raber heiser schreien: „Kannste Klavier spielen? Nä! Willst du die schwere Kiste runterbuckeln, wenn de Ällis ma tot is? Näää!“

Das wurmte unseren noch jugendlichen Helden gar sehr und erzeugte in ihm eine lange und starke, fast manische Flügel–Entbehrungsneurose ... Ist alles fanatische Sammeln nun durch eine Neurose bedingt? Oder ist es Fetischismus? „Kein Glück ohne Fetischismus.“ Sagte übrigens bereits Adorno ...

Der Spuk

Bereits in der ersten Nacht war es da. Besser gesagt, sie war da. Luis hatte am Abend Bier getrunken. Viel Bier! Er tat das jeden Abend. Wieder und wieder! Auch schlief er dadurch rasch gegen 21 Uhr ein, um dann zwei Stunden später, rasch pinkeln müssend, aufzuwachen. Ohnehin mit zunehmendem Lebensalter schlecht und mit beachtlichen nächtlichen Unterbrechungen schlafend, ging Luis in seinem langen Nachthemd, übrigens darüber den karminroten, mit kleinen silbernen Sternen gemusterten Hausmantel, zum nächtlichen Flügel; einfach, weil er jetzt und gerade einen Freu-Anfall über das schöne Instrument empfand und sich des alten Klangkastens optisch vergewissern wollte ... Da stand er! Im größten Raum des Hauses! Am Ende der geschwungenen Holztreppe mit ihrem schönen, aalglatten Handlauf.

Er schritt bedächtig die leicht altersknarzenden Stufen hinab. Massiv und gleichzeitig elegant stand das Instrument im Dunkel der großen Haushalle. Es sah jetzt schwarz aus. Dunkelschwarz! Schwarz und leicht böse. Wie ein düsterer, bedrohender Katafalk. Luis Raber wunderte sich über diesen veränderten Eindruck, den die des Tages doch heiß begehrte Kiste jetzt auf ihn machte.

Die Standuhr der 1930er Jahre im oberen Flur machte jetzt, in dieser Minute, ihren gedämpften Westminster-Mitternachtsspektakel.

Unmittelbar nachdem sich das Tosen der Klangstäbe gelegt, geschah zur großen Verwunderung von Luis folgendes: In den letzten, nachsummenden Tonabklang der Standuhr mischten sich sehr leise, kaum hörbare, hohe Klavierakkorde. Gut, dachte er, „du verträgst das Bier nicht mehr!“ und er wendete sich zum Gehen. „Scheißböhmisches Billigbier!“ murmelte er, in seinem Schlafzimmer angekommen. Nachdenklich plätschernd urinierte er in das irdene Nachtgeschirr. Sein Hund schlief im Bett. Unruhig und zuckend, fiepte er im Traum.

„Patkul, ruhig!“, sagte Luis herzklopfend zu dem zitternden Tier und tätschelte dessen langen Fang. Er und der Hund wurden nach kurzer Weile indes durch ein hartes hölzernes Knallen hochgeschreckt. Es war, als würde eine schwere Tür laut zugeschlagen. Danach Ruhe, die sich bleischwer auf Haus und Stimmung legte. Herzklopfen bei Luis! Waren Einbrecher unterwegs? Eher unwahrscheinlich! Das Erdgeschoss seiner Gerümpelvilla war durch ständig geschlossene Fensterläden und klobige Kastenschlösser gesichert. Und wenn doch? Luis ängstigte sich leicht.

Noch war der Hund unruhig, wurde aber zusehens entspannter. Rasch wieder im Tiefschlaf, blaffte und schnaufte er nun zufrieden. Die zögerliche Turmuhr des Einstädter Residenzschlosses Orsburg schlug durch das offene Schlafzimmerfenster gut hörbar und scheppernd ein Uhr, die Tonstäbe seiner Westminsterstanduhr im langen Flur Sekunden später auch.