Die erstaunliche Wahrheit über Tiere - Lucy Cooke - E-Book

Die erstaunliche Wahrheit über Tiere E-Book

Lucy Cooke

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Beschreibung

Aale, die aus Sand entstehen; Schwalben, die unter Wasser Winterschlaf halten; und Bären, die gestaltlose Klumpen auf die Welt bringen, die erst von ihren Müttern in Form geleckt werden müssen … Die Geschichte wimmelt von abstrusen Behauptungen über Tiere, erfunden von den hellsten und einflussreichsten Köpfen ihrer Zeit. Diese Erklärungsversuche offenbaren nicht nur Interessantes über die Tiere, sondern auch über uns und die Dinge, an die wir glauben. Lucy Cooke deckt zahlreiche Mythen und Irrtümer auf, verrät faszinierende und höchst unterhaltsame Fakten, die sie gesammelt hat, während sie Hyänen hinterherjagte, Fledermäuse ausspionierte und betrunkene Elche stalkte. Sie erklärt, warum Faultiere ihr Leben riskieren, wenn sie ihren Darm entleeren; Pinguine manchmal unter Depressionen leiden; und dass sogar die bizarrste Theorie einen wahren Kern haben kann.

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Veröffentlichungsjahr: 2018

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Übersetzung aus dem Englischen von Gabriele Gockel, Christa Prummer-Lehmair und Jochen Schwarzer

Mit 48 Schwarz-Weiß-Abbildungen

ISBN 978-3-492-99005-9© Lucy Cooke, 2017Die englische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »The Unexpected Truth About Animals« bei Doubleday, Transworld Publishers.All rights reserved including the rights of reproduction in whole or in part in any form.Deutschsprachige Ausgabe:© Piper Verlag GmbH, München 2018Redaktion: Antje Steinhäuser, München

Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaas-buchgestaltung.deCovermotive: shutterstockLitho: Lorenz & Zeller, Inning am AmmerseeDatenkonvertierung: Uhl + Massopust, AalenSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

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Zur Erinnerung an meinen Vater, der mir die Augen für die Wunder der Natur geöffnet hat

INHALT

Einleitung

Der Aal

Der Biber

Das Faultier

Die Hyäne

Der Geier

Die Fledermaus

Der Frosch

Der Storch

Das Flusspferd

Der Elch

Der Panda

Der Pinguin

Der Schimpanse

Schluss

Dank

Bildnachweis

Anmerkungen

EINLEITUNG

»Warum gibt es eigentlich Faultiere, wenn sie doch solche Nieten sind?«

Als Zoologin und Gründerin der Sloth Appreciation Society – der Gesellschaft zur Würdigung des Faultiers – höre ich diese Frage oft. Manchmal wird »Niete« noch näher definiert, am häufigsten mit den Adjektiven »faul«, »dumm« und »langsam«. Und manchmal wird der Nachsatz »Ich dachte, bei der Evolution geht es darum, dass nur die Stärksten überleben?« angehängt, vorgebracht im Ton der Verwunderung oder, noch schlimmer, der Arroganz der überlegenen Spezies.

Jedes Mal, wenn das passiert, hole ich tief Luft und erkläre mit größtmöglicher Gelassenheit, dass Faultiere keineswegs Nieten sind. Tatsächlich gehören sie zu den skurrilsten Geschöpfen, die die natürliche Auslese hervorgebracht hat, und sind dazu noch unglaublich erfolgreich. Sich im Schneckentempo durch die Baumkronen zu hangeln, bedeckt von Algen, von Insekten wimmelnd, und nur einmal pro Woche Stuhlgang zu haben, mag Ihnen nicht erstrebenswert erscheinen, aber Sie versuchen ja auch nicht, in den Urwäldern Mittel- und Südamerikas, wo ein harter Konkurrenzkampf herrscht, zu überleben – und darin ist das Faultier ein wahrer Meister.

Um Tiere zu verstehen, ist es unerlässlich, den größeren Zusammenhang zu betrachten. Das Geheimnis der außerordentlichen Zähigkeit von Faultieren liegt in ihrer lethargischen Natur. Sie sind Paradebeispiele für Lebewesen mit niedrigem Energieverbrauch und verfügen über eine Reihe genialer energiesparender Eigenschaften, die über Tausende von Jahren hinweg verfeinert wurden und von einem höchst exzentrischen und begabten Erfinder stammen könnten. Ich werde jetzt nicht die ganze Palette aufzählen – in Kapitel 3 können Sie alles über die innovative Lebensweise des Faultiers nachlesen. Es genügt wohl, wenn ich sage, dass ich eine Schwäche für diesen sympathischen Außenseiter habe.

1 Ich liebe Faultiere. Tiere, die ständig so aussehen, als würden sie lächeln, und die einen ausgesprochen starken Hang haben, einen zu umarmen, muss man einfach mögen.

Das Faultier wurde dermaßen in Verruf gebracht, dass ich mich genötigt sah, die Sloth Appreciation Society zu gründen. (Unser Motto: »Schnelligkeit wird überbewertet.«) Ich ging in Schulen und auf Veranstaltungen, um den Menschen die erstaunliche Wahrheit über dieses viel geschmähte Geschöpf zu vermitteln. Ich erklärte, dass die Verunglimpfung des Faultiers auf eine Reihe von Entdeckern aus dem 16. Jahrhundert zurückgehe, die sich anmaßten, diesen ruhigen, vegetarischen Pazifisten als »dümmstes Tier, das sich auf Erden finden lässt«[1] zu brandmarken. Das vorliegende Buch ist auf der Grundlage dieser Vorträge entstanden, und weil ich das Bedürfnis verspürte, ein paar Dinge richtigzustellen – nicht nur in Bezug auf das Faultier, sondern auch auf andere Geschöpfe aus dem großen Reich der Fauna.

Wir neigen dazu, das Tierreich durch die Brille unserer eigenen, ziemlich begrenzten Existenz zu betrachten. Die baumgebundene Lebensweise des Faultiers ist uns derart fremd, dass es zu einem der verkanntesten Geschöpfe der Welt wurde, doch damit steht es keineswegs allein da. Das Leben nimmt eine wunderbare Vielfalt exotischer Formen an, und auch die einfachsten erfordern eine komplexe Betrachtung.

Die Evolution hat uns ein paar prächtige Streiche gespielt, indem sie ohne jede Logik und praktisch ohne einen Schlüssel zum Verständnis die unglaublichsten Kreaturen hervorbrachte. Etwa Säugetiere wie die Fledermaus, die lieber ein Vogel wäre. Vögel wie den Pinguin, der lieber ein Fisch wäre. Und Fische wie den Aal, dessen rätselhafte Lebensweise eine 2000 Jahre währende Suche nach seinen Gonaden ausgelöst und den Menschen in seinem Forscherdrang an den Rand des Abgrunds getrieben hat – eines Abgrunds, an dem die Aalforscher noch heute entlangtaumeln. Tiere geben ihre Geheimnisse keineswegs einfach preis.

*

Nehmen wir den Strauß. Im Februar 1681 schrieb der brillante britische Universalgelehrte Sir Thomas Browne einen Brief an seinen Sohn Edward, einen Leibarzt am Königshof, und bat ihn um einen reichlich ungewöhnlichen Gefallen. Edward war in den Besitz eines Straußes gelangt, nachdem der König von Marokko dem englischen König Karl II. eine ganze Schar dieser Vögel geschenkt hatte. Sir Thomas war als leidenschaftlicher Naturforscher von dem großen fremdländischen Vogel fasziniert und konnte es kaum erwarten, dass sein Sohn ihm dessen Gewohnheiten schilderte. Ist er wachsam wie die Gans? Hat er eine Vorliebe für Sauerampfer, verabscheut er Lorbeerblätter? Und frisst er Eisen? Die letzte Frage, riet er seinem Sohn, lasse sich womöglich am besten beantworten, indem man das Metall in einer Pastete verstecke – eine Art mit Eisen gefüllter Hotdog –, denn »vielleicht verschmäht er es, wenn man es ihm einfach so hinlegt«[2].

Dieser zoologische Rezepttipp diente einem dezidiert wissenschaftlichen Zweck. Browne wollte dem alten Mythos auf den Grund gehen, dass Strauße absolut alles verdauen können, sogar Eisen. Laut einem deutschen Gelehrten aus dem Mittelalter besaß der Strauß eine solche Vorliebe für dieses harte Zeug, dass die Mahlzeit des Vogels »aus einem Kirchentürschlüssel und einem Hufeisen besteht«[3]. Da die europäischen Königshöfe von den Emiren und Entdeckern Afrikas mit Straußen beschenkt wurden, ermunterten ganze Generationen begeisterter Naturforscher die exotischen Vögel, Scheren, Nägel und eine Fülle anderer Eisenwaren zu verspeisen.

Auf den ersten Blick wirken solche Experimente verrückt, doch beschäftigt man sich ein bisschen näher damit, hat der Irrsinn (wissenschaftliche) Methode. Strauße können kein Eisen verdauen, aber man hat beobachtet, dass sie große, scharfkantige Steine fressen. Warum? Der größte Vogel der Welt hat sich im Lauf der Evolution zu einem ziemlich ungewöhnlichen Weidetier entwickelt, dessen aus Gras und Blättern bestehende Kost schwer verdaulich ist. Und anders als ihre Pflanzenfresserkollegen in der afrikanischen Savanne, die Giraffe und die Antilope, besitzen Strauße keinen Wiederkäuermagen. Sie haben nicht einmal Zähne. Stattdessen müssen sie die faserigen Grashalme mit dem Schnabel aus dem Boden rupfen und im Ganzen herunterschlucken. Die spitzen Steine in ihrem muskulösen Kaumagen benutzen sie dazu, ihre holzige Nahrung in leichter verdauliche Stücke zu zermalmen. Sie können mit bis zu einem Kilo in ihrem Magen klappernden Steinen durch die Savanne stolzieren. (Die Wissenschaftler nennen sie hochgestochen Gastrolithen.)

Um den Strauß zu verstehen, gilt es wiederum, seine Lebenswelt zu betrachten. Aber wir müssen auch das Umfeld der Wissenschaftler miteinbeziehen, die jahrhundertelang herumstocherten und -piksten, um die Wahrheit über die Tiere herauszufinden. Als solcher ist Browne nur einer von vielen verschrobenen Fanatikern, denen Sie in diesem Buch begegnen werden. Da wäre des Weiteren ein Arzt aus dem 17. Jahrhundert, der versuchte, Kröten zu erzeugen, indem er eine Ente auf einen Misthaufen setzte (ein uraltes Rezept für die Zeugung von Leben). Und ein italienischer katholischer Priester, dessen Name an einen Bond-Bösewicht erinnert und der sich auch entsprechend verhielt: Lazzaro Spallanzani fuchtelte im Namen der Wissenschaft mit einer gefährlichen Schere herum, wahlweise um kleine maßgefertigte Unterhosen für seine tierischen Versuchsobjekte zu schneidern oder ihnen die Ohren abzuschneiden.

Das sind zwei Beispiele aus den Anfängen der Aufklärung, doch auch in jüngerer Zeit haben Wissenschaftler auf der Suche nach der Wahrheit bizarre und oft unsinnige Methoden angewandt – wie ein amerikanischer Psychopharmakologe im 20. Jahrhundert, dessen Neugier ihn dazu brachte, eine Herde Elefanten stockbetrunken zu machen, mit entsprechend bescheuerten Ergebnissen. Jedes Jahrhundert hat seine exzentrischen Tierexperimentatoren, und es werden zweifellos noch viele weitere folgen. Wir Menschen haben das Atom gespalten, sind zum Mond geflogen und haben das Higgs-Teilchen entdeckt, aber was das Verständnis von Tieren betrifft, haben wir noch einen weiten Weg vor uns.

Mich faszinieren die Fehler, die wir auf diesem Weg gemacht haben, und die Mythen, die wir geschaffen haben, um unsere Wissenslücken zu füllen. Sie zeigen, wie Entdeckungen zustande kommen, und verraten uns viel über die beteiligten Akteure. Als Plinius der Ältere beispielsweise ein Flusspferd beschrieb, das eine blutrote Flüssigkeit über die Haut absonderte, griff er auf vertraute Erklärungen – in diesem Fall aus der römischen Medizin – zurück und stellte sich vor, dass das Tier sich selbst zur Ader ließ, um gesund zu bleiben. Wie sollte er auch anders, er war schließlich ein Mann seiner Zeit. Er irrte sich, aber die richtige Erklärung für das rote Sekret des Flusspferdes ist genauso ungewöhnlich wie der alte Mythos – und sie hat tatsächlich mit Selbstmedikation zu tun.

Wenn man den größten Tiermythen mit dem Seziermesser zu Leibe rückt, verbirgt sich dahinter oft eine bestechende Logik, die uns in die Zeiten bewunderungswürdiger Naivität zurückversetzt, als man wenig wusste und alles möglich war. Warum sollen Vögel nicht zum Mond fliegen, Hyänen nicht je nach Jahreszeit ihr Geschlecht wechseln und Aale nicht ganz von selbst aus Schlamm entstehen? Zumal die Wahrheit, wie wir sehen werden, genauso unglaubwürdig erscheint.

Die unsinnigsten Tiermythen entstanden nach dem Untergang des Römischen Reiches, im Mittelalter, als die aufkommende Naturkunde vom Christentum gekapert wurde. Das war die große Zeit der Bestiarien. Diese frühen Handbücher über das Tierreich waren angefüllt mit vergoldeten Illustrationen und ernsthaften Beschreibungen exotischer Tiere, von Kamel-Spatzen (Strauße) bis zu Kamel-Leoparden (Giraffen) und See-Bischöfen (halb Fisch, halb Geistlicher und zu hundert Prozent Fantasie). Doch den Autoren ging es nicht darum, das Leben von Tieren zu erforschen. Sie stützten sich allesamt auf eine einzige Quelle, ein Manuskript aus dem 4. Jahrhundert namens »Physiologus«, das den Volksglauben mit einer Prise Fakten und einer enormen Dosis religiöser Allegorien vermengte. Der »Physiologus« wurde zu einem Riesen-Beststeller des Mittelalters (damals nur übertroffen von der Bibel) und in Dutzende Sprachen übersetzt, wodurch die absurden Tierlegenden von Äthiopien bis nach Island Verbreitung fanden.

2 Im Mittelalter herrschte der Glaube vor, dass jedes Landtier seine Entsprechung im Meer hatte: Pferde und Seepferde, Löwen und Seelöwen, Bischöfe und … Seebischöfe. Dieser fischige Geistliche, beschrieben in Conrad Gessners »Historiae Animalium« (1558), wurde angeblich vor der polnischen Küste gesichtet (sieht allerdings so aus, als käme er direkt von den Dreharbeiten zu »Doctor Who«).

Diese Bestiarien sind ein ziemlich derber Lesestoff, es ist viel von Sex und Sünde die Rede, was die Mönche erfreut haben dürfte, die sie für die kirchlichen Bibliotheken transkribierten und illustrierten. Sie erzählten von außerordentlichen Geschöpfen: dem Wiesel, das durch den Mund empfängt und durch das Ohr gebiert; dem Bison (oder »Bonasus«, wie er damals hieß), der seinen Jägern entkommt, indem er einen Furz ausstößt, der »so widerlich ist, dass die Angreifer gezwungen sind, sich in einem heillosen Durcheinander zurückzuziehen«[4] (das kennen wir doch alle); und dem Hirsch, dessen Penis die Angewohnheit hat, nach Anfällen übermäßiger Fleischeslust abzufallen. Aus diesen Geschichten ließ sich gar manche Lehre ziehen, die man an seine Schäfchen weitergeben konnte. Schließlich waren all diese Tiere von Gott geschaffen, und nur eine Art – der Mensch – hatte ihre Unschuld verloren. Aus Sicht der Gelehrten bestand die Funktion des Tierreichs darin, den Menschen als Beispiel zu dienen. Anstatt zu fragen, ob die Beschreibungen im »Physiologus« irgendeinen Wahrheitsgehalt besaßen, suchten sie bei Tieren nach menschlichen Eigenschaften und den moralischen Werten, die Gott in ihrem Verhalten versteckt hatte.

Daher sind manche Tiere in den Bestiarien schier nicht wiederzuerkennen. Elefanten zum Beispiel wurden als tugendhafteste und klügste Tiere gepriesen, so »mild und sanft«, dass man ihnen sogar eine eigene Religion zuschrieb. Man sagte ihnen nach, »großen Hass« auf Mäuse zu empfinden, hingegen eine solche Liebe zum Land, dass sie in Tränen ausbrachen, wenn sie nur an ihre Heimat dachten. Was die Unzucht betraf, waren sie »überaus keusch«[5] und blieben ihrem Partner ein Leben lang treu – und es war ein sehr langes Leben, das 300 Jahre dauerte. Der Ehebruch war ihnen zutiefst zuwider, und sie bestraften diejenigen, die sie auf frischer Tat ertappten. All das würde einen ganz normalen Elefanten, der ausgesprochen polygam lebt, wohl ziemlich überraschen.

*

Der Drang, in Tieren nach unserem Spiegelbild zu suchen und sie moralisch zu bewerten, setzte sich bis weit in das Zeitalter der Aufklärung hinein fort. Besonders hervorgetan auf diesem Gebiet hat sich der berühmte französische Naturforscher Georges-Louis Leclerc, Comte de Buffon, der in diesem Buch eine Hauptrolle spielt. Der grandiose Comte war eine führende Figur der wissenschaftlichen Revolution und strebte danach, die Naturforschung dem Einfluss der Kirche zu entziehen, was ein wenig paradox anmuten mag. Seine epische, 24 Bände umfassende Enzyklopädie ist nämlich aufgrund ihrer schwülstigen Sprache, die wie die meisten wissenschaftlichen Schriften jener Zeit eher an einen Liebesroman als an eine wissenschaftliche Analyse erinnert, ein lachhaft frömmelnder Wälzer. Seine vernichtenden Urteile über Tiere, deren Lebensweise er missbilligte, etwa die unseres Freundes, des Faultiers (»die niederste Form der tierischen Existenz«[6], wie er schrieb), sind fast ebenso absurd wie sein übertriebenes Schwärmen für jene Arten, die er verherrlichte. Er hielt sich einen Biber als Haustier und verstieg sich, beeindruckt von dessen Fleiß, zu solchen Hirngespinsten, dass einem der große Buffon, wenn man die Wahrheit kennt, als große Knallcharge erscheint.

Solche Impulse, Tiere zu vermenschlichen, gibt es noch heute. Pandas sind so niedlich, dass sie einen angeborenen Hegetrieb auslösen und unser Urteilsvermögen trüben. Wir möchten glauben, dass sie linkische, sexfaule Bären sind, die ohne unser Eingreifen nicht überleben würden, und nicht uralte Überlebenskünstler mit einem furchterregenden Biss und einer Vorliebe für wilden Gruppensex.

Ich habe Anfang der Neunzigerjahre bei dem großen Evolutionsbiologen Dr. Richard Dawkins Zoologie studiert, und er brachte mir bei, die Welt auf der Grundlage der genetischen Beziehungen zwischen den Arten zu betrachten – wie der Grad ihrer Verwandtschaft ihr Verhalten beeinflusst. Manches von dem, was ich damals gelernt habe, ist inzwischen aufgrund der wissenschaftlichen Fortschritte überholt, und wir wissen heute, dass die Art, wie man ein Genom auf zellulärer Ebene liest, mindestens genauso entscheidend sein kann wie sein Inhalt (daher teilen wir 70 Prozent unserer DNA mit einem Eichelwurm, sind aber auf einer Dinnerparty um einiges witziger). Ich erwähne dies, um darauf hinzuweisen, dass jede Generation – auch meine – denkt, mehr über Tiere zu wissen als die vorhergehende, und doch täuschen wir uns oft. Ein Großteil der Zoologie ist nicht viel mehr als Rätselraten auf hohem Niveau.

Moderne Methoden helfen uns, besser zu raten. Als Filmproduzentin und Moderatorin von Tiersendungen konnte ich die Welt bereisen und mit einigen der engagiertesten Wissenschaftler sprechen, die vor Ort Feldforschung betreiben, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen. In der Masai Mara habe ich eine Zoologin kennengelernt, die den IQ von Tieren testete, in China einen Händler, der Pandapornos verhökerte, ich traf die englische Erfinderin eines Po-o-Meters für Faultiere (es dient wissenschaftlichen Zwecken) und die schottische Autorin des weltweit ersten Wörterbuchs der Schimpansensprache. Ich habe einen betrunkenen Elch gejagt, an Biber-»Hoden« genagt, amphibische Aphrodisiaka probiert, bin von einem Berghang gesprungen, um mit Geiern zu fliegen, und habe versucht, ein paar Brocken Flusspferdisch zu sprechen (auch wenn es nicht auf Anhieb geklappt hat). Diese Experimente haben mir die Augen für viele erstaunliche Wahrheiten über Tiere und den Stand der Tierwissenschaften geöffnet. Mit dem vorliegenden Buch möchte ich diese Wahrheiten mit Ihnen teilen, die größten Irrtümer, Fehler und Mythen, die wir über das Tierreich ersonnen haben – ob sie nun von dem großen Philosophen Aristoteles oder den Nachfahren Walt Disneys in Hollywood stammen –, zusammentragen und dem Leser meine Menagerie der Verkannten vorstellen.

Also, machen Sie sich bereit für diese unglaublichen Geschichten. Erwarten Sie jedoch nicht, dass alle wahr sind.

Der Aal

Gattung Anguilla

Es gibt kein Tier, über dessen Ursprung und Leben so viele falsche Annahmen und alberne Märchen im Umlauf sind.

Leopold Jacoby, 1879[7]

Der Aal bereitete Aristoteles Kopfzerbrechen. Wie viele Exemplare der große griechische Denker auch aufschnitt, er fand keinen Hinweis auf ihr Geschlecht. Alle anderen Fische, die er in seinem Labor auf der Insel Lesbos untersucht hatte, wiesen leicht auffindbare (und oft überaus wohlschmeckende) Eier und deutlich erkennbare innen liegende Hoden auf. Der Aal hingegen schien vollkommen geschlechtslos zu sein. So musste der ausgesprochen methodisch vorgehende Naturphilosoph, als er im 4. Jahrhundert vor Christus sein wegweisendes zoologisches Werk schrieb, einräumen, dass der Aal »weder aus der Paarung noch aus einem Ei hervorgeht«, sondern stattdessen aus den »Eingeweiden der Erde«[8] geboren wird und aus eigenem Antrieb aus dem Schlamm hervorbricht; die Wurmhäufchen, die wir im feuchten Sand finden, hielt Aristoteles für aus dem Boden hervorgedrungene Aalembryos.

Aristoteles war der erste echte Wissenschaftler und der Urvater der Zoologie. Er stellte scharfsinnige wissenschaftliche Beobachtungen über Hunderte von Geschöpfen an, aber es überrascht mich nicht, dass ihn der Aal austrickste. Diese gerissenen Gesellen wissen ihre Geheimnisse gut zu verbergen. Die Vorstellung, dass sie aus der Erde hervorgehen, ist aberwitzig, aber nicht aberwitziger als die Wahrheit, beginnt der Europäische Flussaal, Anguilla anguilla, sein Leben doch als Ei, das in der Finsternis eines Unterwasserwalds in der Sargassosee ausgesetzt wird, dem tiefsten und salzigsten Abschnitt des Atlantiks. Als winziger Hauch von Leben, nicht größer als ein Reiskorn, begibt er sich von dort aus auf eine bis zu drei Jahre dauernde Odyssee zu den Flüssen Europas. Während dieser Zeit vollzieht er eine Transformation, die so radikal ist, als würde sich eine Maus in einen Elch verwandeln. Danach lebt er jahrzehntelang im Schlamm und legt sich einen Fettvorrat zu, um dann erneut die strapaziöse, 6000 Kilometer lange Reise zu seinem unergründlichen ozeanischen Schoß auf sich zu nehmen, wo er in den dunklen Klüften des Kontinentalschelfs laicht und stirbt.

Dass der Aal erst nach seiner vierten und letzten Metamorphose ganz am Ende seines außerordentlich merkwürdigen Lebens geschlechtsreif wird, hat dazu beigetragen, dass seine Ursprünge lange im Dunkeln blieben, und ihm einen mystischen Status verliehen. Der Wunsch, seine Geheimnisse aufzudecken, hat im Laufe der Jahrhunderte einen Wettstreit zwischen Nationen ausgelöst, Menschen in die entlegensten Winkel der Meere getrieben und den klügsten Köpfen in der Geschichte der Zoologie keine Ruhe gelassen. Und alle schienen sich darin überbieten zu wollen, wer mit der verrücktesten Theorie zur Genese des Aals aufwarten konnte. Aber so abwegig diese auch waren, nichts kam an die wahre Geschichte des gemeinen Flussaals heran, die alles andere als gewöhnlich ist: Sie handelt von Nazis, die Aale verhungern ließen, besessenen Gonadenjägern, waffenliebenden Fischern, dem berühmtesten Psychoanalytiker der Welt – und mir.

*

Auch ich war in meiner Kindheit regelrecht besessen von Aalen. Als ich ungefähr sieben Jahre alt war, grub mein Vater eine gusseiserne Badewanne in unserem Garten ein, und von da an wurde es zu meinem Hauptzeitvertreib, diesen sterilen Behälter zur Körperreinigung von Menschen in ein perfektes Teichökosystem zu verwandeln. Ich war ein wissbegieriges Kind und nahm meine Aufgabe äußerst ernst. Jeden Sonntag fuhr mein Vater mit mir in das von Wassergräben durchzogene Marschland von Romney Marsh, wo ich glückliche Stunden damit verbrachte, mit einem improvisierten Kescher, den er mir aus alten Tüllgardinen gebastelt hatte, nach allen möglichen Lebensformen zu fischen. Wenn wir uns am Nachmittag erfolgreich auf den Heimweg machten, beseelt vom Eifer viktorianischer Forscher, schwappte unsere Unterwasserbeute auf der Ladefläche seines uralten Mini-Pick-ups und wartete darauf, identifiziert und meinem Wasserkönigreich einverleibt zu werden. Wir hatten immer zwei von jeder Tierart: Seefrösche, Teichmolche, Stichlinge, Taumelkäfer und Wasserläufer, sie alle kamen zur Party in meinem Teich. Nur leider keine Aale. Zwar gingen sie mir ins Netz, aber der Versuch, ihre glitschigen Körper in einen Eimer zu verfrachten, war, als wollte man Wasser festhalten. Jedes Mal, wenn ich einen zu packen bekam, entwischte er mir und schlängelte sich über Land in Sicherheit – mehr einer Schlange ähnelnd als einem Fisch aus dem Wasser. Die Jagd auf die schlüpfrigen Tiere wurde zu meiner Suche nach dem Heiligen Gral.

Was ich allerdings nicht wusste: Wenn ich erfolgreich gewesen wäre, hätten die Aale meiner netten Teichgesellschaft ein Ende bereitet, weil sie nämlich alle anderen Gäste verspeist hätten. In der Süßwasserphase ihres Lebens fressen sich Aale wie Profiboxer ein Kampfgewicht an und bereiten sich so auf den langen Rückweg in die Sargassosee vor, um dort zu laichen. Mit diesem Ziel vertilgen sie alles, was sich bewegt – sie fressen sich sogar gegenseitig. Ihr räuberischer Appetit wurde durch ein grauenhaftes Experiment nachgewiesen, das zwei französische Wissenschaftler Ende der Dreißigerjahre in Paris durchführten. Die Forscher setzten tausend Glasaale – also junge, etwa acht Zentimeter lange Tiere – in ein Wasserbecken. Obwohl die Fische täglich gefüttert wurden, waren ein Jahr danach nur noch 71 Exemplare übrig, nun allerdings dreimal so lang. Wiederum drei Monate später blieb, nach »täglichen Szenen von Kannibalismus«[9], wie es ein Lokaljournalist beschrieb, nur noch ein Sieger übrig, ein 33 Zentimeter langes Weibchen. Es lebte noch vier Jahre allein weiter, bis ihm schließlich die Nazis den Garaus machten, wenn auch nicht mit Absicht – bei der Besetzung von Paris wurde der Wurmnachschub abgeschnitten.

Diese Horrorgeschichte hätte die früheren Generationen von Naturforschern schockiert, die den Aal für einen harmlosen Vegetarier mit einer besonderen Vorliebe für Erbsen hielten – angeblich waren die Aale so versessen darauf, dass sie ihre nassen Gefilde verließen, um sich an Land auf die Suche nach ihrem Lieblingsgemüse zu machen. Solche Berichte waren dem im 13. Jahrhundert lebenden Dominikanermönch Albertus Magnus zu verdanken, der in seinem Buch »De Animalibus« anmerkte: »Der Aal kommt auch nachts aus dem Wasser, wo er Erbsen, Bohnen und Linsen findet.«[10] Dass sich der Aal wie ein Hippie ernährte, war noch 1893 die gängige Meinung, als in einem Buch über die Geschichte skandinavischer Fische die »Beobachtungen« des Mönchs durch saftige Soundeffekte ergänzt wurden. Das Anwesen der Gräfin Hamilton wurde von einer Invasion von Aalen heimgesucht, die mit »einem schmatzenden Geräusch, wie es die Schweine beim Fressen machen« ihr Gemüse verschlangen. Es mag ihnen an Manieren gemangelt haben, aber die Aale der Gräfin waren immerhin so anspruchsvoll, dass sie »nur die weiche und saftige Haut verzehrten«[11] und den Rest übrig ließen. Auch wenn es stimmt, dass Aale dank ihrer feuchten, atmenden Haut ganze 48 Stunden an Land überleben können – eine Anpassung, die es ihnen erlaubt, sich in Trockenzeiten auf die Suche nach einem anderen Teich zu machen –, waren die Berichte über ihre Landausflüge, bei denen sie Erbsen stahlen und geräuschvoll verzehrten, reine Fantasie.

Die gefräßigen Süßwasserjahre des Aals führen zu einem beeindruckenden Größenwachstum, wenn auch vielleicht nicht in dem Maße, wie es uns die alten Naturforscher weismachen wollten. Wenn es um Fische geht, neigt der Mensch zwar zu unglaublichem Anglerlatein nach dem Motto: »Da ist mir so ein Riesenbrocken entwischt.« Trotzdem war die Behauptung des bedeutenden römischen Naturforschers Plinius in seinem Monumentalwerk »Naturalis Historia«, dass Aale aus dem Ganges »dreißig Fuß«[12], also zehn Meter lang würden, selbst für dieses arg strapazierte Reich der Lügenmärchen eine dreiste Übertreibung. Izaak Walton, Autor einer Anglerbibel aus dem 17. Jahrhundert mit dem Titel »The Compleat Angler«, bewies bei der Beschreibung eines in Peterborough gefangenen Aals etwas mehr Zurückhaltung und bezifferte seine Länge auf »einen Yard und drei Viertel«, also ungefähr 1,60 Meter. Zweiflern nahm Walton den Wind aus den Segeln, indem er, vielleicht etwas voreilig, hinzufügte: »Wenn Sie mir nicht glauben, überzeugen Sie sich selbst in einem der Kaffeehäuser in der King Street in Westminster« (wo er vermutlich fröhlich Cappuccino schlürfte und die anderen Gäste mit Geschichten seiner Jugendabenteuer auf See erfreute). Noch gemäßigter fällt das Ergebnis von Dr. Jorgen Nielsen vom Zoologischen Museum in Kopenhagen aus, der einen toten Aal aus einem Teich in Dänemark untersuchte. Tom Fort gegenüber, dem Autor von »The Book of Eels«, gab er an, das Prachtexemplar habe es auf 1,25 Meter gebracht.

3 Der Aal in Adriaen Coenens Fischalmanach (»Visboeck«, begonnen 1577) ist ein wahrhaftes Ungeheuer, das es auf kolossale »40 Fuß« brachte (damit war er seit der Beschreibung des römischen Naturforschers Plinius noch einmal um zehn Fuß gewachsen).

Das glitschige Ungeheuer ereilte leider ein früher Tod, denn der Eigentümer des Teichs hatte es dabei erwischt, wie es seinen geliebten Zierwasservögeln nachstellte, und erschlug es mit der Schaufel.

Die Aale, die ich fing, waren ein bisschen kleiner, nur ungefähr so lang und dick wie ein Bleistift. Sie waren zweifellos erst am Anfang ihrer Süßwasserphase, die zwischen sechs und 30 Jahren dauern kann. Man weiß von Aalen, die weitaus älter wurden. Ein schwedisches Exemplar mit dem Spitznamen Putte, das 1863 in der Nähe von Helsingborg als Glasaal gefangen und in einem öffentlichen Aquarium gehalten wurde, starb mit 88 Jahren. Begleitet von umfassender Berichterstattung wurde Puttes Tod betrauert, sein rekordverdächtiges Alter brachte ihm einen Berühmtheitsstatus ein, wie er einem langen, schleimigen Fisch normalerweise nicht zuteilwird.

Aale, die dieses Alter erreichen, hat man durch die Gefangenschaft davon abgehalten, ihrem natürlichen Drang folgend ins Meer zurückzukehren. Auch wenn die Wahl eines Aals als Haustier ungewöhnlich erscheinen mag – er eignet sich nicht zum Kuscheln –, weinte der römische Redner und Senator Quintus Hortensius angeblich beim Tod seines Aals, den er »lange hielt und außerordentlich liebte«[13]. Angesichts dessen bin ich eigentlich ganz erleichtert darüber, dass es mir nie gelungen ist, einen Aal zu fangen. Ich hätte ihn womöglich noch heute am Hals.

Die lange, gefräßige Süßwasserphase des Aals ist jedoch nur eines von vielen Stadien, die dieser Fisch durchläuft (wenn auch das einzige, das ich und zahllose andere Naturforscher im Lauf der Jahrhunderte studieren konnten). Es bietet keinen Hinweis auf seine restlichen Lebenszyklen – Geburt, Fortpflanzung und Tod –, all das vollzieht sich verborgen im Meer und unter so merkwürdigen Umständen, dass man seit über 2000 Jahren auf der ganzen Welt alles daransetzt, die geheimnisvollen Gonaden des Tiers zu lokalisieren.

*

Aristoteles war der Erste, der sich an der Genese dieses offenkundig geschlechtslosen Fisches die Zähne ausbiss. Er ordnete den Ursprung des Aals seiner Theorie der spontanen Erzeugung unter, die er großzügig bei einer bunten Vielfalt von Lebewesen anwandte – von Fliegen bis zu Fröschen –, deren Vermehrung ihm unerklärlich erschien. Plinius der Ältere brach einige Jahrhunderte später mit den Vorstellungen seiner griechischen Vorgänger und entwickelte seine eigenen fantasievollen Theorien über die Fortpflanzung des Aals; er glaubte, dass sie sich fortpflanzen, indem sie sich an Felsen reiben, und »die Abschilferungen werden lebendig«. In der Hoffnung, diesbezüglich das letzte Wort zu haben, schloss der römische Naturforscher kategorisch: »Dies ist die einzige Art, wie sie sich vermehren.«[14] Plinius’ asexuelle Reibung war jedoch reine Erfindung.

In den folgenden Jahrhunderten sprossen fantastische Gerüchte über die Reproduktion des Aals wie Pilze aus dem Boden. Aale schlüpften angeblich aus den Kiemen anderer Fische, entstanden aus süßem Morgentau (aber nur in bestimmten Monaten) oder aus rätselhaften »elektrischen Störungen«. Ein »ehrwürdiger Bischof«[15] gab der Royal Society gegenüber an, er habe junge Aale gesehen, die auf einem Reetdach geboren worden waren. Die Eier, behauptete er, hätten zwischen den Schilfrohrstängeln gesteckt und wären durch die Sonnenwärme ausgebrütet worden. Nicht alle kirchlichen Naturforscher standen derart zweifelhaften Geschichten so aufgeschlossen gegenüber. In seiner »History of the Worthies of England« spottete Thomas Fuller über den in den Moorgegenden Cambridgeshires weitverbreiteten Glauben, dass die illegitimen Frauen und Kinder von Priestern vor der Verdammnis gerettet würden, indem sie die Form eines Aals annahmen. Das, so sagte er, sei eindeutig »eine Lüge«. Um den Ernst der Angelegenheit zu unterstreichen, schob er hart urteilend hinterher: »Zweifellos hat der Urheber einer so verdammenswerten Unwahrheit inzwischen seinen gerechten Lohn erhalten.« Vielleicht indem er sein restliches Leben als Nacktschnecke fristen musste.

Die Wissenschaftsgenies der Aufklärung fegten solche fantastischen Geschichten mit sehr viel weniger albernen – wenn auch kein bisschen zutreffenderen – Theorien beiseite. Antoni van Leeuwenhoek, der holländische Pionier der Mikroskopie, der sowohl die Bakterien als auch die Blutzellen entdeckte, vertrat die glaubhafte, aber irrige Hypothese, dass Aale wie Säugetiere vivipar seien, also ihre Eier im Mutterleib befruchtet würden und die Weibchen lebende Junge zur Welt brächten. Immerhin wandte van Leeuwenhoek die wissenschaftlichen Methoden seiner Zeit an, indem er seine Annahme auf Beobachtungen stützte. Er hatte in seine Linse geblickt und etwas gesehen, das Babyaalen ähnelte, in einem Gebilde, das er für den Uterus des Fisches hielt. Leider waren diese angeblichen Säuglinge in Wirklichkeit parasitische Würmer, die sich in der Blase des Aals eingenistet hatten und schon von Aristoteles fast 2000 Jahre zuvor als solche verworfen worden waren.

Der schwedische Botaniker und Zoologe Carl von Linné behauptete im 18. Jahrhundert ebenfalls, dass Aale vivipar seien, er habe etwas, von dem er glaubte, dass es Babyaale seien, im Innern eines ausgewachsenen Weibchens gesehen. Gewiss wollte sich niemand mit dem großen Vater der Taxonomie anlegen – einem Mann, der so pedantisch war, dass er sogar seinen eigenen Namen latinisierte und sich Carl Linnaeus nannte. Doch als sich herausstellte, dass der Meister der Klassifizierung die Arten durcheinandergebracht hatte, ließ sich ein Streit nicht mehr vermeiden. Die peinliche Wahrheit war, dass Linné gar keinen Aal seziert hatte, sondern einen Aal-Doppelgänger, ein ähnlich aussehendes Tier namens Aalmutter. Diese Fischart gebar ihre Nachkommen ungewöhnlicherweise lebend, war jedoch nicht mit dem Aal verwandt. Was allerdings nicht bedeutete, dass Linnés Kritiker mit korrekten Fakten aufwarteten. Eine der Autoritäten, die seine Arbeit überprüften, warf ihm vor, die Arten verwechselt zu haben – verkündete beeinflusst von Aristoteles jedoch, dass die jungen Aale, die der Schwede entdeckt hatte, parasitische Würmer seien. Damit ließ er die Auffassung, dass Aalmuttern lebende Junge zur Welt brachten, als unrichtig und fragwürdig erscheinen.

In dieses hochtrabende akademische Gefecht mischte sich ein beherzter Außenseiter. Im Jahr 1862 posaunte der Schotte David Cairncross in die Welt hinaus, dass er, ein bescheidener Ingenieur aus Dundee, endlich das Rätsel des Aals gelöst habe, mit dem sich Generationen von Philosophen und Naturforschern herumgeschlagen hatten. »Der Leser wird hiermit darüber informiert, dass … der Erzeuger des Blankaals ein kleiner Käfer ist«, verkündete er mit der Großmäuligkeit eines Menschen, der wirklich nicht die geringste Ahnung hat. Seine enthusiastische, wenn auch wissenschaftlich fragwürdige Theorie – nach seinen Angaben das Ergebnis von 60 Jahren fortlaufender Experimente – floss in ein kleines Buch mit dem Titel »The Origin of the Silver Eel« ein.

Zu Beginn seiner Abhandlung entschuldigte sich Cairncross zunächst einmal für sein mangelndes Interesse daran, sich jedwede Regel und Norm der zeitgenössischen Wissenschaft anzueignen. »Man kann nicht von mir erwarten, dass ich mit den von Naturforschern zur Klassifizierung der unterschiedlichen Tiere verwendeten Namen und Begriffen vertraut bin, da meine Kenntnisse solcher Bücher begrenzt sind«, schickte er zu seiner Verteidigung voraus. Seine unkonventionelle, wenn auch ziemlich bequeme Lösung bestand darin, »meine eigenen Namen und Begriffe zu verwenden«. Das bedeutete, dass er eine neue Klassifizierung der Tiere in drei unsinnige Gattungen vornahm, angesichts derer sich Linné im Grabe herumgedreht hätte, und dass es noch schwieriger wurde, die ohnehin verwirrende Theorie des Schotten zu verstehen.

Cairncross’ Entdeckungsreise beginnt im zarten Alter von zehn Jahren, als er einige »Haaraale« (seine Bezeichnung) in einer offenen Abflussrinne beobachtete. »Woher mögen die wohl kommen?«, überlegte er. Ein Freund erzählte ihm von einem verbreiteten Volksglauben, wonach junge Aale »vom Schwanz der Pferde fallen, während diese trinken; und das Wasser erweckt sie zum Leben«. Der junge Cairncross machte sich über diese höchst unwahrscheinliche Erklärung lustig, ehe er selbst auf eine ebenso unplausible Idee kam. Dazu angeregt hatten ihn ein paar tote Käfer, die am Grund derselben Rinne dümpelten. Vielleicht gab es zwischen den beiden Tieren ja einen Zusammenhang? Dem Schotten ging diese faszinierende Geschichte zwei Jahrzehnte lang nicht mehr aus dem Kopf, »meine Gedanken kehrten oft zu diesem Mysterium zurück«, erinnerte er sich.

Eines Sommers erspähte der erwachsene Cairncross dann einen ähnlich aussehenden Käfer in seinem Garten in Dundee. Er beobachtete das Tier aufmerksam und versuchte, seine Gedanken zu lesen, während es entschlossen auf eine Pfütze zumarschierte und sich hineinstürzte. Der Käfer, so Cairncross, »sieht sich ein bisschen um«, bevor er »in einem ziemlich verstörten Zustand« wieder aus seinem Badeteich herausklettert. Wie Cairncross zu seiner Diagnose über den psychischen Zustand des Käfers gelangte, ist leider unbekannt. Die einzige Illustration des Buchs jedoch bietet dem Leser eine wertvolle Hilfe, um das merkwürdige Verhalten des Käfers zu verstehen, das nun folgt. Darunter steht: »Der Käfer beim Geburtsvorgang«, und sie zeigt Cairncross’ ungewöhnlichen Helden auf dem Rücken liegend, wobei zwei Gebilde, die Lassos ähneln, aus seinem Hinterteil austreten. Wie der Schotte behauptet, gebar der Käfer zwei Fische.

4 Falls es Ihnen schwerfällt, sich vorzustellen, wie ein Käfer zwei Aale gebären kann, liefert »The Origin of the Silver Eel« diese bezaubernde Illustration, um die aberwitzigen Behauptungen des Autors zu untermauern. Netter Versuch, Cairncross, aber ich bin immer noch nicht überzeugt.

Dies war für Cairncross ein Heureka-Moment. Er vertiefte nunmehr seine Forschungen, indem er Käfer sezierte, »Haaraale« aus ihnen entfernte und am Leben hielt, wenn auch nie sehr lange. Er gab unumwunden zu, dass seine Theorie »seltsam erscheinen mag«, sah sich jedoch durch einen Vergleich mit »Angehörigen des Pflanzenreichs« bestätigt. Wenn man eine Baumart auf eine andere aufpfropfen kann, »kann der große Schöpfergärtner dann nicht auch eine fremde Art auf ein Insekt aufpfropfen?«, überlegte er.

In modernen Labors sind bereits alle möglichen Arten von Frankenstein-Wesen ersonnen worden: Man hat Menschenohren auf Mäuse transplantiert und mithilfe einer wohldosierten Portion von Quallengenen Fische erschaffen, die im Dunkeln leuchten. Aber dabei war nicht die Hand des »großen Schöpfergärtners« im Spiel.

Hätte Cairncross der Wissenschaftsgemeinschaft diese Frage gestellt, hätte sie geantwortet, dass seine »Haaraale« nur wieder die lästigen parasitischen Würmer waren und nicht der Fisch in einem frühen Entwicklungsstadium. Doch der Ingenieur hatte noch nie etwas von Peer Review gehört. Er legte seine außergewöhnlichen Forschungsergebnisse nicht der Royal Society zur Überprüfung vor, sondern präsentierte sie zwei Bauern, denen er zufällig über den Weg lief und die sich über die Massen von Blankaalen in einem Bach auf ihrem Grund wunderten. Er erklärte ihnen seine Theorie, wonach die vielen Aale aus dem Hinterteil eines Käfers gekommen seien, und war hocherfreut über ihre Antwort. »Sie glaubten mir«, verkündete er voller Stolz, »und jubelten, weil dieses Rätsel endlich gelöst war.«

Trotz der Begeisterung der ortsansässigen Landwirte gewann Cairncross mit seiner Theorie nicht an Einfluss auf die allgemeine Richtung der Aalforschung. Er werkelte in geistiger Abgeschiedenheit über 60 Jahre lang vor sich hin und bekam nichts mit von den radikalen Fortschritten, die auf der Jagd nach den Gonaden des Fisches erzielt wurden. Viele Kilometer von Dundee entfernt hatte »die Aalfrage« die größten wissenschaftlichen Geister Europas gepackt, und sie standen kurz vor dem Durchbruch – zumindest sah es so aus.

*

An vorderster Front standen die Italiener, die in der Suche nach den fehlenden Sexualorganen des Aals eine willkommene Gelegenheit sahen, um den Nationalstolz ihres von Unruhen geschüttelten Landes aufzupäppeln.

Die Italiener pflegten bereits eine lange Beziehung zum Aal, die hauptsächlich darin bestand, dass sie ihn in großen Mengen verspeisten. Der Aal ist ein ungewöhnlich fetter Fisch – eine evolutionäre Anpassung, damit er, wie erwähnt, die beschwerliche, 6000 Kilometer lange Odyssee zurück zu seinen Laichgründen in den Tiefen der Sargassosee übersteht. Zum Pech für den Aal macht ihn dieser hohe Lipidgehalt besonders wohlschmeckend, was nicht unbemerkt blieb. Der römische Feinschmecker Marcus Gavius Apicius, Autor des vermutlich ersten Kochbuchs, schrieb, dass bei den Feierlichkeiten anlässlich von Julius Cäsars Sieg 6000 Aale aufgetischt wurden. Seiner Empfehlung nach »wird der Aal schmackhafter«, wenn man ihn mit einer Soße aus »getrockneter Minze, Weinrautenbeeren, harten Eidottern, Pfeffer, Maggikraut, Met, Essigbrühe und Öl«[16] serviert. Das klingt nicht besonders appetitanregend, aber hier in England verzehren wir Aal immer noch am liebsten gekocht und in Aspik eingelegt, was mit Sicherheit eines der größten gastronomischen Verbrechen sein dürfte, die die Briten in ihrer langen und illustren Geschichte der Verhunzung von Gerichten begangen haben. Ungeachtet solcher primitiver Rezepte wurden Aale lange Zeit mit großen Festen und Völlerei in Verbindung gebracht. Die Jünger auf Leonardo da Vincis »Abendmahl« verzehren Aal, und der berüchtigte Vielfraß Papst Martin IV. starb angeblich einen vorzeitigen Tod, weil er zu viel von dem schlüpfrigen Fisch in sich hineingestopft hatte.

Die wohlschmeckendsten Tiere kamen angeblich aus Comacchio und dem angrenzenden ausgedehnten grauen Marschland am Podelta. Dort lagen Europas größte Aalfischereien, zur Hochsaison wurden jede Nacht 300 Tonnen Aale aus dem Wasser geholt, und dort hatten auch die fantastischsten Behauptungen und Kontroversen um das Geschlecht des Aals ihren Ursprung. Es fing 1707 an, als einem örtlichen Wundarzt in einem Fang von vielen Tausend Aalen ein ungewöhnlich dickes Exemplar auffiel. Der Arzt schnitt das Tier auf und entdeckte etwas, was er für einen Eierstock voller reifer Eier hielt. Er schickte den trächtigen Fisch zu seinem Freund, dem angesehenen Naturforscher Antonio Vallisneri, der daraufhin die jahrhundertelange Suche nach den Geschlechtsteilen des Aals voreilig für beendet erklärte. Der gelehrte Professor war bereits Namensgeber der Wasserpflanze Vallisneria, im Volksmund Aalgras genannt, doch die Genitalien des weiblichen Aals sollten nicht nach ihm benannt werden. Bei näherer Untersuchung wurde die Entdeckung nämlich als krankhafte und aufgeblähte Schwimmblase diagnostiziert.

Vallisneris Flirt mit dem Sieg rief die italienische Wissenschaftsmafia auf den Plan, die es nunmehr als »Angelegenheit von äußerster Wichtigkeit« betrachtete, »die wirklichen Ovarien des Aals zu finden«[17]. Es waren turbulente Zeiten für die unfertige Nation, da die Halbinsel von fremden Mächten besetzt war. Und während viele Italiener ihre nationalistischen Hoffnungen in die Revolution setzten, träumte diese kleine Gruppe von Intellektuellen davon, ihren Landsleuten dadurch den Rücken zu stärken, dass sie als Erste die unauffindbaren Gonaden des köstlichen Fisches entdeckten.

Die Professoren ersannen einen Plan. In Comacchio wurden täglich Tausende Aale gefangen; jetzt mussten sie nur noch eine reizvolle Belohnung für denjenigen Fischer aussetzen, der ihnen das erste Exemplar mit vorhandenem Rogen lieferte. In Deutschland scheiterte ein ähnlicher Plan, denn der beteiligte Naturforscher bekam derart viele Aalinnereien zugeschickt, dass er »weinte und um Gnade flehte«[18]. Das Projekt in Italien hingegen war bald von Erfolg gekrönt – so schien es zumindest. Die Freudenfeier wurde abgebrochen, als sich herausstellte, dass der gerissene Fischer einfach seinen Aal mit den Eiern eines anderen Fisches befüllt hatte.

Dieser ernüchternde Schlag dämpfte den Eifer der italienischen Professoren für gut 50 Jahre, bis 1777 ein weiterer dicker, glitschiger Verdächtiger in Comacchio an Land gespült wurde. Er wurde unverzüglich von dem Anatomen Carlo Mondini, der an der nahe gelegenen Universität von Bologna lehrte, untersucht. Der Professor machte eine geniale Entdeckung: Die gekräuselten Bänder im Bauch des Aals waren, anders als früher angenommen, kein ausgefranstes Fettgewebe, sondern die bisher unentdeckten Eierstöcke des Aalweibchens.

Die italienischen Wissenschaftler jubelten, vielleicht wieder ein bisschen zu früh. Immerhin fehlte weiterhin jede Spur von den Hoden des Aals sowie eine klare Vorstellung davon, wie sich dieser rätselhafte Fisch fortpflanzte. Und so fiel die Aufgabe, das Puzzle der Aalgenitalien zu vervollständigen, einem Kandidaten zu, von dem man es kaum erwartet hätte: einem ehrgeizigen jungen Medizinstudenten, der später dafür berühmt wurde, dass er die Lustzentren lokalisierte, wenn auch beim Menschen und nicht beim Aal. Es handelte sich um Sigmund Freud.

*

Der Vater der Psychoanalyse nahm als 19-jähriger Student an der Universität von Wien seinen ersten Forschungsauftrag an und traf 1876 in der zoologischen Versuchsstation in Triest an der italienischen Adriaküste ein. Seine Aufgabe lautete, die Hoden des Aals zu finden.

Der einzige Weg, um Aufschluss über das Geschlecht des Fisches zu erhalten, war, ihn aufzuschneiden, »da die Aale keine Tagebücher schreiben«, wie Freud in einem Brief an einen Freund sarkastisch bemerkte. Wochenlang tat er nichts anderes, Tag für Tag, von acht Uhr morgens bis fünf Uhr nachmittags, in einem heißen, muffigen Labor. Er sollte der Behauptung des polnischen Professors Szymon Syrski nachgehen, er habe die Hoden des Aals gefunden. »Aber weil er, wie es scheint, nicht weiß, was ein Mikroskop ist«, nörgelte Freud in seinem Brief, »[hat er] keine genaue Beschreibung davon gegeben.«

Nach vier Wochen und 400 ausgenommenen Aalen gab er auf. »Ich plage nun mich und die Aale […], aber vergebens, alle Aale, die ich aufschneide, sind vom zarteren Geschlecht«[19], jammerte er und verzierte den Brief mit Krakelzeichnungen von Aalen, die ein spöttisches Grinsen im Gesicht tragen. Freuds Arbeit mit dem Titel »Beobachtungen über Gestaltung und feineren Bau der als Hoden beschriebenen Lappenorgane des Aals« war seine erste Veröffentlichung. Obwohl er vermutete, dass Syrski recht hatte, konnte er die Behauptungen des Polen weder bestätigen noch widerlegen.

5 Sigmund Freuds Zeichnungen in einem Brief an einen Freund illustrieren, was in ihm vorging, als er erfolglos den Hoden des Aals nachspürte. Zu sehen sind hier die rätselhaften Aale, die ihm so sehr zusetzten, und ein paar Schnörkel, die ihre unauffindbaren Spermien und Eier darstellen (ein Psychoanalytiker würde vielleicht behaupten, dass sie verdächtig weiblichen Brüsten ähneln).

Es lässt sich nur spekulieren, inwieweit die langen Tage, die er mit dem Sezieren von phallusartigen Fischen verbrachte, in dem vergeblichen Versuch, ihre Geschlechtsorgane zu finden, Freuds spätere Theorien über den Penisneid in der psychosexuellen Entwicklung des Menschen beeinflussten. Jedenfalls machte er sich danach an die Erforschung weniger schlüpfriger Gegenstände wie der Psyche des Menschen, und das mit deutlich mehr Erfolg.

Zwanzig Jahre später schließlich ließ ein einsames Aalmännchen die Hüllen fallen. Der Biologe, dem der Fisch ins Netz ging, war wiederum ein Italiener, Giovanni Grassi. Er fand das Aalmännchen, dessen Sexualorgane prall mit Spermien gefüllt waren, in den Gewässern vor der Küste Siziliens. Grassi hatte bereits eine bahnbrechende, wenn auch nicht gerade fesselnde Arbeit über die Anatomie der Termiten veröffentlicht und eine neue Spinnenart nach seiner Gattin benannt (wenn das nicht Liebe ist!). Aber was die Aale betraf, hatte er eine regelrechte Glückssträhne. Er fuhr nicht nur den Sieg für Italien im internationalen Aalhodenwettbewerb ein, sondern hatte im Jahr davor auch noch eine ebenso entscheidende Entdeckung gemacht und war einem wichtigen Entwicklungsstadium im rätselhaften Lebenszyklus des Aals auf die Spur gekommen.

Bereits seit den 1850er-Jahren war ein winziger durchsichtiger Fisch von der Form und Dicke eines Weidenblatts, mit schwarzen Kugelaugen und furchterregenden Hasenzähnen dokumentiert, der in großen Mengen an die italienischen Strände gespült wurde. Dieses kleine Ungeheuer wurde als Leptocephalus brevirostris klassifiziert – ein typischer Fachbegriff im Stil von Linné, der übersetzt »Schmalkopf kurznasig«[20] bedeutet – und rasch als eines von vielen undefinierbaren Meereslebewesen abgetan, die die dunklen Tiefen bevölkern. Grassi war von diesem kleinen Streifen Leben fasziniert. Er vermutete, dass es sich bei den Tieren um Larven und keine ausgewachsenen Exemplare handelte, und um das zu überprüfen, wandte er einen ziemlich schlauen Trick an. Er zählte ihre embryonalen Rückenwirbel – es waren im Durchschnitt 115 – und suchte nach einer Spezies mit derselben Anzahl. Er fand sie im Europäischen Flussaal. Das war eine äußerst folgenschwere Entdeckung, hatte er doch das fehlende Verbindungsstück im rätselhaften Lebenszyklus des Aals identifiziert.

Mehrere kluge Köpfe hatten bereits die These vertreten, dass der Flussaal im offenen Meer laichen müsse. Das war ein unkonventioneller Ansatz – bei allen anderen Langstrecken-Wanderfischen, die sowohl im Salz- als auch im Süßwasser lebten, wie zum Beispiel dem Lachs, war es genau andersherum. Aber warum sonst sollten die Aale jeden Herbst in so großer Zahl und so zielstrebig flussabwärts schwimmen und eine Miniversion davon jedes Frühjahr denselben Weg flussaufwärts? Für diese schlüssige Hypothese gab es jedoch noch keinen Beweis. Man hatte noch nie einen Babyaal im Meer entdeckt. Aber immerhin hatte Grassi nicht nur das fehlende Larvenstadium aufgespürt; er hatte den Aal außerdem als Weltmeister der Metamorphose ausgemacht.

Grassi legte sich ein Aquarium zu, um die Metamorphose mit eigenen Augen zu beobachten. Das war ein kluger Schachzug, denn sonst hätte ihm wahrscheinlich niemand geglaubt. Im Lauf von mehreren Wochen verdickte sich das blattartige, hauchzarte Geschöpf an beiden Enden und entwickelte unzweifelhaft eine aalartige Form. Seine Körperlänge schrumpfte um fast ein Drittel, die vorstehenden Zähne bildeten sich zurück, und der Anus wanderte aus unklaren Verdauungsgründen an eine andere Stelle. Nach einigen Tagen schwamm eine vollkommen durchsichtige, glupschäugige Nudel, bekannt als Glasaal, im Aquarium herum. Im Überschwang der Begeisterung über seine Entdeckung erklärte Grassi die Straße von Messina vor der Küste von Sizilien zum Laichgrund sämtlicher Europäischer Flussaale. Damit verleibte er den schmatzenden Fisch mit dem ungewöhnlichen Lebenszyklus dem kürzlich vereinigten Königreich Italien ein.

Doch wie häufig der Aal selbst, entglitt dem Italiener der in kürzester Zeit erlangte Ruhm schnell wieder. Grassi hatte bequemerweise ignoriert, dass die Schmalköpfe, die er gefangen hatte, alle ungefähr sieben Zentimeter lang waren. Wenn sie also nicht aus unvorstellbar großen Eiern geschlüpft waren, waren diese Larven schon ziemlich ausgereift, als sie die Straße von Messina erreichten. Konnten sie dann tatsächlich so nah an der italienischen Küste geboren worden sein? Es gab einen Mann, der nicht davon überzeugt war, dass sich das Aalrätsel so leicht lösen ließ.

*

Wie viele seiner Vorgänger legte der Ozeanograf Johannes Schmidt eine geradezu monomanische Entschlossenheit an den Tag, den unbekannten Laichgrund des Flussaals ausfindig zu machen. Fast 20 Jahre lang durchkämmte der »krankhaft ehrgeizige«[21] Däne die riesigen Weiten des Atlantiks, um frisch geschlüpfte Jungfische in der Größe von Kiefernnadeln aufzuspüren. Sein Unternehmen war so gewaltig und technisch so anspruchsvoll – und führte zu einem so unerwarteten Ergebnis –, dass die glorreiche Aalgeschichte von den Italienern auf die Dänen überging. Schmidts Mission begann 1903, als der junge Fischereibiologe auf dem dänischen Forschungsschiff Thor anheuerte, um die Fortpflanzungsgewohnheiten von Speisefischen wie Kabeljau und Hering zu untersuchen. Im Sommer jenes Jahres, als sie westlich der Färöer-Inseln im Atlantik segelten, verfing sich eines Tages eine winzige Fischlarve in dem gewaltigen feinmaschigen Schleppnetz des Schiffs. Schmidt identifizierte die unscheinbare Larve als die des Europäischen Flussaals – die erste ihrer Art, die außerhalb des Mittelmeers gefunden wurde. Es war ein »Glücksfall«[22], der Schmidt zu der Annahme brachte, dass der Aal nicht vor der italienischen Küste geboren worden war, sondern etwa 4000 Kilometer weiter nördlich – es sei denn, der Schmalkopf hatte sich vollkommen verirrt.

Die Suche nach dem wahren Herkunftsort des Aals wurde für den Dänen zu einer Obsession, die selbst die der anderen vom Aal Besessenen vor ihm – Aristoteles, Cairncross, Freud, Mondini und Grassi – in den Schatten stellte. Zu seinem Glück war der verbissene Wissenschaftler im Jahr zuvor mit der Erbin der Carlsberg-Brauerei eine aussichtsreiche Verlobung eingegangen. Ein ehrgeiziger Aalforscher wie er hätte keine bessere Partie machen können, war die Brauerei doch dafür bekannt, die Meeresforschung mit großzügigen Spenden zu unterstützen. Ob seine Braut über den Handel ebenso erfreut war, sei dahingestellt, denn er bedeutete, dass der frischgebackene Ehemann zwei Jahrzehnte lang die Meere kreuzen und voller Besessenheit einem klitzekleinen Fischlein hinterherjagen würde.

Schmidt trat die Suche nach den kleinstmöglichen Schmalköpfen, die ihn, so seine logische Schlussfolgerung, zu ihrem Geburtsort führen mussten, mit jugendlichem Enthusiasmus an. »Ich konnte damals nicht ahnen, mit welch außerordentlichen Schwierigkeiten diese Aufgabe verbunden sein würde«, schrieb er später. »Es stellte sich heraus, dass die Aufgabe von Jahr zu Jahr größer wurde, in einem Maß, wie wir es uns niemals vorgestellt hätten.« Er schleppte feine Netze »von Amerika nach Ägypten, von Island zu den Kanarischen Inseln«[23] und verschliss dabei vier große Schiffe, von denen eines in der Nähe der Jungferninseln auf Grund lief und sank und seine kostbaren Schmalkopfexemplare fast mitgerissen hätte. Dann kam der Erste Weltkrieg. Viele der Schiffe, die er für seine Mission zweckentfremdete, wurden von deutschen U-Booten abgeschossen.

Während Schmidt sich durch die Weltmeere kämpfte, musste er gleichzeitig das wissenschaftliche Establishment bearbeiten, das empörend unwillig war, seine intensiven Bemühungen anzuerkennen. Im Jahr 1912 hatte er seine ersten Ergebnisse veröffentlicht: dass die Aallarven immer kleiner wurden, je weiter er sich von der europäischen Küste entfernte, was darauf hindeutete, dass der Geburtsort des Aals tatsächlich irgendwo im Atlantik lag. Die Royal Society erhob jedoch mit der Bemerkung, Grassis Arbeit zum Thema werde »für ausreichend befunden«[24], Einspruch dagegen. Damit trieb sie Schmidt wieder zurück aufs Meer.

Der Durchbruch kam am 12. April 1921 in der südlichen Sargassosee, wo Schmidt seine kleinsten Larven fand: Schmalköpfe, die nur fünf Millimeter lang waren und seiner Ansicht nach nicht älter als ein oder zwei Tage sein konnten. Nach 20 Jahren näherte sich die Mission des Dänen endlich ihrem Ende. Zumindest konnte er voller Überzeugung verkünden: »Hier liegen die Laichgründe der Aale.«[25]

Dieses Ergebnis war erstaunlich; Schmidt selbst war von der Tragweite seiner Entdeckung überwältigt. »Bei Fischen ist keine andere Art bekannt, die ein Viertel des Globus umrunden muss, um ihren Lebenszyklus zu vollenden«, schrieb er 1923 (in Nature), »und Larvenwanderungen über eine solche Strecke und von einer solchen Dauer wie die des Aals sind im Tierreich absolut einzigartig.« Grassi und die Italiener waren besiegt worden, und Schmidt und sein dänisches Heimatland konnten sich voller Genugtuung für immer und ewig die Entmystifizierung des Aals ans Revers heften.

Doch »für immer und ewig« kann trügerisch sein, in der Wissenschaft wie im Leben. Fast hundert Jahre danach können wir, was den Lebenszyklus des Aals betrifft, weiterhin nur kostspielige Spekulationen anstellen. Obwohl man Milliarden von Dollar investiert und topmoderne Technik eingesetzt hat, ist es bis heute nicht gelungen, einen ausgewachsenen Anguilla anguilla auf seiner Reise von den Flüssen Europas in die Sargassosee durchgehend zu verfolgen oder eine Paarung in freier Wildbahn zu beobachten. Und Eier von Aalen hat man auch nie gefunden.

Ich habe Kim Aarestrup, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Technischen Universität Dänemark und einer der weltweit führenden Aalforscher, gefragt, ob man absolut sicher sein könne, dass der Flussaal wirklich in der Sargassosee geboren wird. Seine Antwort war ein verlegenes »Nein«.

Dabei bemühte man sich durchaus. Es wurden Expeditionen mit moderner Ausrüstung durchgeführt, um ausgewachsenen Aalen mithilfe eines Sonars auf der Spur zu bleiben. Forscher folgten den schemenhaften Tiefseewesen quer durch den Atlantik, ohne genau zu wissen, ob sie überhaupt dem richtigen Fisch hinterherjagten oder nur einem Geschöpf, das ihm ähnlich sah. Also bestückten noch mehr Forscher Hunderte Aale mit den modernsten Satellitensendern. Doch leider landeten viele dieser teuren Sender im Magen von Haien und Walen, von wo sie zur wachsenden Verblüffung der Forscher weiterhin Signale sandten – die Raubfische streiften quer durch die Ozeane, weitab vom normalen Lebensraum der Aale.

Ein Forscher wollte es besonders schlau anstellen, um den Aal in flagranti zu erwischen. Er hängte in den Tiefen der Sargassosee Fallen mit verführerischen Aalweibchen auf, die er mit künstlichen Hormonen zur Laichreife gebracht hatte, sodass sie vor Paarungsbereitschaft beinahe platzten. Aber nicht einmal diesen prallen Verführerinnen gelang es, erwachsene Männchen anzulocken. Die Käfige der glitschigen Sirenen versanken spurlos im Meer und mit ihnen die Hoffnung darauf, sexbereite männliche Aale zu fangen.

Auch die natürlichen Bedingungen in der Sargassosee tragen zu den Schwierigkeiten bei. Sie ist atemberaubend tief, an Stellen, wo sich im Kontinentalschelf unterseeische Schluchten gebildet haben, bis zu 7000 Meter. Man geht davon aus, dass der Europäische Flussaal, eine mehr als 40 Millionen Jahre alte Art, angefangen hat, in diesem Tiefseegraben zu laichen, als der europäische und der amerikanische Kontinent (geografisch) noch viel näher beieinanderlagen. Während die Kontinente auseinanderdrifteten, war der Aal gezwungen, immer weitere Wege zurückzulegen, um zu seinem Geburtsort zurückzugelangen. Die Chance, ihn beim Geschlechtsakt zu erwischen, wird nicht nur durch die enorme Tiefe erschwert, sondern auch durch gefährliche Dünungen – die Sargassosee ist das einzige Meer, das nicht von einer Küste begrenzt wird. Sie besteht vielmehr aus einem fünf Millionen Quadratkilometer großen Wirbel, der von einem mächtigen, im Uhrzeigersinn fließenden Strömungssystem umgeben ist, dem Nordatlantikwirbel. Die Laichsaison der Aale fällt nicht nur mit der Zyklonsaison zusammen, die Sargassosee liegt auch »genau in der Mitte des Bermuda-Dreiecks«, wie Aarestrup ausführte.

Ich habe noch die Melodie von Barry Manilows Song »Bermuda Triangle« im Kopf, mit dem er in den frühen 1980er-Jahren die Charts eroberte. Dass die berüchtigte Katastrophenzone, in der schon zahlreiche Schiffe vom Meer verschlungen wurden, ebenfalls eine Rolle in der außergewöhnlichen Geschichte des Aals spielt, könnte zu dem Aberglauben verleiten, Poseidon höchstpersönlich habe ein Interesse daran, dass das Geheimnis um das Geschlechtsleben des Aals ungelüftet bleibt. Und vielleicht könnte der Schnulzensänger aus den 80ern ja einen Nachfolgehit damit landen, dass er die gefährliche Langstreckenromanze turtelnder Aale besingt.

*

Mit dem Knacken des Aalrätsels lässt sich inzwischen nicht mehr nur Ruhm, sondern auch beträchtlicher Reichtum anhäufen. Aale sind ein Riesengeschäft. Der Fisch, der schon im Mesolithikum den Menschen ernährte, mag in den meisten Ländern von der Speisekarte verschwunden sein, doch die Japaner können nicht genug davon bekommen. In ihrem Land wird jährlich eine Milliarde Dollar mit dem einfachen Fisch umgesetzt. Seinem fetten Fleisch schreibt man traditionell eine kühlende und belebende Wirkung zu, und es ist besonders in den heißen Sommermonaten beliebt. Zwar sind die Japaner bekannt dafür, dass sie Aaleis essen und es mit Cola mit Aalgeschmack hinunterspülen, aber am liebsten essen sie den Fisch gegrillt und mit süßer Soße und Reis serviert. Über 100000 Tonnen dieser japanischen Spezialität namens unagi werden jedes Jahr verspeist. Dafür muss man eine Menge Aale fangen.

Momentan gehen weltweit die Aalpopulationen stark zurück, mancherorts um bis zu 99 Prozent, was zum einen an der Überfischung liegt, zum anderen an der Umweltverschmutzung und anderen ungünstigen Faktoren – wie etwa riesigen Wasserkraftwerken an ihren bevorzugten Flüssen, die ihnen den Weg versperren. Aufgrund des weltweiten Aalsterbens sind viele früher verbreitete Süßwasserarten, darunter der Europäische Flussaal, als gefährdete Art auf der Roten Liste der Weltnaturschutzunion (International Union for Conservation of Nature, kurz IUCN) gelandet, was ihren Verzehr ungefähr so politisch korrekt macht, als würde man Pandabären zu Sushi verarbeiten. Obwohl man für einen glitschigen, schlangenartigen Fisch wohl kaum dieselben Sympathien wie für einen großen, knuddeligen Bären wecken kann, sind die Bemühungen um die Fortpflanzung des Aals in Gefangenschaft ebenso intensiv wie beim Pandabären – auch wenn die Medien kaum Notiz davon nehmen. Die Japaner haben nach jahrzehntelanger Forschung und unter Einsatz von Milliarden Dollar gewisse Erfolge mit der Züchtung ihres Flussaals, Anguilla japonica, erzielt, der in einer Tiefseerinne mitten im Pazifik laicht. Es ist ihnen gelungen, erwachsene Tiere mithilfe einer Hormonbehandlung zum Ablaichen zu bringen und sogar ein paar ihrer anspruchsvollen Nachkommen am Leben zu erhalten, indem sie ihnen eine Spezialkost verabreichten – pulverisierte Haieier. Eine gefährdete Art mit den Eiern einer anderen gefährdeten Art unter aufwendigsten Laborbedingungen zu füttern, ist nicht gerade eine praktikable Lösung. Der Aalexperte Kim Aarestrup erzählte mir, dass sich die Erzeugungskosten für einen einzigen Glasaal in einem japanischen Labor auf ungefähr 1000 Dollar belaufen. Das würde ein Sushi unerschwinglich teuer machen.

Vorerst müssen die Japaner ihren Aalbedarf also ausschließlich aus den schwindenden Vorkommen wild lebender Glasaale decken. Man fängt sie, wenn sie zu Beginn ihres Süßwasserlebens flussaufwärts schwimmen, und mästet sie dann in asiatischen Fischfarmen. Manche dieser Aale stammen aus Japan oder Europa, die meisten jedoch aus Amerika, wo sich bis vor Kurzem kaum jemand für Aale interessierte. Der amerikanische Flussaal, Anguilla rostrata, ist ein naher Verwandter des Europäischen Flussaals; er laicht ebenfalls in der Sargassosee, nur wandern seine Larven zu den Süßwasserflüssen an der amerikanischen Ostküste. Man nimmt an, dass er zu der Nahrung zählte, die die Pilgerväter von der Mayflower vor dem Verhungern bewahrte, nachdem die indianischen Ureinwohner ihnen freundlicherweise beigebracht hatten, wie man ihn fängt. Der fette Fisch wurde später jedoch als Lebensretter vom Truthahn verdrängt (an Thanksgiving isst man keine gefüllten Aale). Ein paar Hundert Jahre später kreierte Präsident George W. Bush kurz nach seiner Amtseinführung mit seinen Cowboystiefeln aus Aalhaut, versehen mit dem blauen Präsidentensiegel, einen neuen Modetrend. Er verschenkte solche Stiefel auch gern an Freunde, allerdings ohne das Siegel, dafür mit seinen Initialen (falls sie vergessen sollten, von wem sie sie bekommen hatten). Doch nicht einmal die Unterstützung von so hoher Stelle konnte die Nachfrage nach dem Fisch auf dem US-Markt steigern.

Heute sieht das alles ganz anders aus, da ein Glasaalfischer 100000 Dollar in einer Nacht damit verdienen kann, eine Aalreuse im Fluss zu versenken, die für 25 Dollar zu haben ist. Die 40 Millionen Dollar schwere amerikanische Glasaalindustrie hat in Maine, einem der wenigen Staaten, wo die Glasaalfischerei erlaubt ist, einen regelrechten Goldrausch ausgelöst, zum Teil verbunden mit dunklen Geschäften – zwielichtige Glasaalhändler treffen sich auf Motel-Parkplätzen mit ihren Mittelsmännern und übergeben ihnen Millionen Dollar in bar, und Fischer fuchteln bei bewaffneten Auseinandersetzungen über die besten Fischgründe mit Kalaschnikows herum. Nach Berichten der Lokalpresse drängen auch Banden aus Mittelamerika ins Geschäft, da die Fischer einen Großteil des Geldregens in illegale Drogen investieren – eine Fischersgattin soll sich für ihre Einnahmen aus einem besonders lukrativen Fang allerdings neue Brüste geleistet haben.

*

In seinem Bericht über den Amerikanischen Aal für die US Commission of Fish and Fisheries räumte der deutsche Meeresbiologe Leopold Jacoby 1879 ein:

»Es ist sicherlich ein wenig demütigend für Männer der Wissenschaft, dass ein Fisch, der in manchen Teilen der Welt der gewöhnlichste aller Fische ist, (…) den man täglich auf dem Markt und auf dem Teller vorfindet, es trotz der gewaltigen Hilfe durch die moderne Wissenschaft geschafft hat, die Art und Weise seiner Vermehrung, seiner Geburt und seines Todes in einen Schleier der Dunkelheit zu hüllen, der bis zum heutigen Tage nicht gelüftet wurde. Seit es die Naturwissenschaft gibt, gibt es auch eine Aalfrage.«[26]

Über hundert Jahre lang hat sich daran nicht viel geändert. Aber die Zeit, um das Aalrätsel zu knacken, läuft ab.

Manche Experten machen sich Sorgen, dass sich das Überleben des Flussaals zu einem Zahlenspiel entwickeln könnte. Um es zu gewinnen, muss jedes Jahr eine beträchtliche Aalpopulation den Weg zurück in die Sargassosee bewältigen, um sich an deren eigentümlichen Ufern zu paaren. Wenn dort nicht genügend Aale auftauchen, finden sich vielleicht keine Paare, und sie werden einfach von dem riesigen Wasserwirbel verschluckt. Sollte das geschehen, nimmt der Aal das Geheimnis um seine Paarung mit in sein unergründliches Grab.

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