16,99 €
Das andere Entwicklungsbuch. Jedes Kind ist einzigartig. Es entwickelt sich individuell und unterschiedlich, denn jedes Kind passt sich an ganz verschiedene Lebens- und Umweltbedingungen an. Das bedeutet: Nicht mit starren Bewertungskriterien werden Sie Ihrem Kind gerecht, sondern durch Ihre genaue Beobachtung und durch Ihr eigenes Verhalten. Versetzen Sie sich in Ihr Kind hinein - und stärken und fördern Sie es. Lassen Sie sich von dem renommierten Kinderneurologen Professor Dr. Michaelis zum Staunen und Nachdenken anregen und sich in Ihrem gefühlvollen und sorgsamen Umgang mit Ihrem Kind bestärken.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 366
Prof. Dr. Richard Michaelis (1931-2017) war viele Jahre ärztlicher Direktor der Abteilung Kinderentwicklung und Kinderneurologie an der Universitätsklinik Tübingen. Er galt als einer der führenden Experten Deutschlands zur frühen kindlichen Entwicklung. National, im europäischen Ausland und in der Türkei war er als Referent sehr gefragt. Prof. Dr. Richard Michaelis hat sich als Vater von drei Töchtern sehr intensiv um seine sechs Enkel während ihrer Baby-Zeit und im Vorschulalter gekümmert und dabei vieles an Entwicklungsphänomenen genau verfolgt. Neben diversen wissenschaftlichen Fachbüchern und Beiträgen verfasste er auch den vorliegenden Ratgeber für Eltern und für alle, die sich über das heutige Wissen zur frühen kindlichen Entwicklung sachkundig, verständlich aber auch kritisch informieren wollen.
Prof. Dr. Richard Michaelis
Die ersten fünf Jahre
Wie sich Ihr Kind entwickelt
Neu gefragt: Wie entwickeln sich Kinder?
Wir wissen heute viel mehr
Zum Aufbau des Buches
Die Entwicklung Ihres Kindes
Reifung und Entwicklung
Reifung oder Entwicklung, wo ist der Unterschied?
Reifekonzept und Entwicklungskonzept: Konsequenzen
Warum Individualität und wie?
Einige notwendige neurobiologische Grundlagen
Das limbische System
Limbisches System und Lernen
Limbisches System und Bindungsverhalten
Die Gedächtnisse als Stützpfeiler der Entwicklung
Die unbewussten Gedächtnisse
Die bewussten Gedächtnisse
Nachahmung und Teilhabe
Funktionen des Nachahmungsverhaltens
Auslöser von Nachahmungsverhalten
Aktives Teilhaben
Auf dem Weg zum individuellen Selbst
Die Entwicklung der Vorstellung vom Selbst
Deutungen der eigenen Erfahrungswelten
Kinder in ihren Familien
Die heutige Kleinfamilie
Eltern tun alles. Tun sie zu viel?
Was muss ich für mein Kind tun?
Neurobiologie und Entwicklung
Menschen sind ihr ganzes Leben lang lernfähig
Entwicklung in Altersabschnitten
Grenzsteine der Entwicklung
Was sind Grenzsteine?
Wie nutzen Sie Grenzsteine?
Das erste Lebenshalbjahr: 1. bis 6. Lebensmonat
Altersgebundene Entwicklung – Entwicklungspfade
Altersgebundene Besonderheiten
Gefährdungen durch Unfälle
Das zweite Lebenshalbjahr: 7. bis 12. Lebensmonat
Altersgebundene Entwicklung – Entwicklungspfade
Altersgebundene Besonderheiten
Gefährdungen durch Unfälle
Das dritte Lebenshalbjahr: 13. bis 18. Lebensmonat
Altersgebundene Entwicklung – Entwicklungspfade
Altersgebundene Besonderheiten
Gefährdungen durch Unfälle
Das vierte Lebenshalbjahr: 19. bis 24. Lebensmonat
Altersgebundene Entwicklung – Entwicklungspfade
Altersgebundene Besonderheiten
Gefährdungen durch Unfälle
Das dritte Lebensjahr: 25. bis 36. Lebensmonat
Altersgebundene Entwicklung – Entwicklungspfade
Altersgebundene Besonderheiten
Gefährdungen durch Unfälle
Das vierte Lebensjahr: 37. bis 48. Lebensmonat
Altersgebundene Entwicklung – Entwicklungspfade
Altersgebundene Besonderheiten
Gefährdungen durch Unfälle
Das fünfte Lebensjahr: 49. bis 60. Lebensmonat
Altersgebundene Entwicklung – Entwicklungspfade
Altersgebundene Besonderheiten
Gefährdungen durch Unfälle
Glossar
Literatur
Register
Ich schreibe dieses Buch nicht, weil immer wieder einmal mehr oder weniger Neues oder Anderes über die Entwicklung von Kindern zu sagen ist oder weil ich besonders wirkungsvolle Rezepte zur Erziehung oder zur Entwicklungsförderung anzubieten hätte. Vielmehr hat sich in den letzten Jahren ein grundsätzlicher Wandel im Verständnis der kindlichen Entwicklung vollzogen, der bisher kaum wahrgenommen wurde, der aber unser Verständnis über die Entwicklung von Kindern grundsätzlich verändern wird.
Dieses neue Wissen möchte ich Ihnen vermitteln, damit Sie in der Lage sind, Ihr Kind informiert, mit Verständnis, Respekt und Faszination in seiner Entwicklung zu begleiten. Die neuen Einsichten in die Entwicklung Ihres Kindes bieten ein anderes, komplexeres, jedoch sehr viel zutreffenderes Verstehen der frühen Kinderwelten, die Sie, wenn notwendig, mit Kompetenz verändern können.
Die frühe Entwicklung von Kindern verläuft, wie wir heute wissen, sehr viel komplexer und mit einer eigenen, versteckten Logik. Entwicklungsprozesse laufen deutlich komplizierter ab, als sie die immer noch weithin gültige und vergleichsweise einfach gestrickte Reifetheorie (s. → S. 14 ff.) beschreibt. Das bessere Verstehen der Kräfte, die die Entwicklung Ihres Kindes steuern, macht sich jedoch direkt bezahlt durch eine kindgerechte und spürbare Sicherheit in Ihrer erzieherischen Kompetenz, die Sie gewinnen werden. Verstehen ist aber auch die wichtige Basis für Ihr Vertrauen in die Entwicklung Ihres Kindes.
Woher stammt mein „anderes“ Wissen über die frühe Entwicklung von Kindern? Aus meiner langjährigen und direkten Berufserfahrung mit Kindern der frühen Altersgruppen, als Leiter einer Abteilung für Entwicklungsneurologie an der Universitäts-Kinderklinik in Tübingen. Es stammt aber auch von der beruflichen Notwendigkeit, immer wieder Neues über die Entwicklung von Kindern zu lernen: Aus der Biologie und Neurobiologie, aus der Entwicklungspsychologie, aus der Pädagogik, den Sprachwissenschaften, aus der Evolutionstheorie und aus der Entwicklungsforschung der Kinderheilkunde.
Schließlich, und nicht zuletzt, verdanke ich mein Wissen der direkten, ganz bewussten Beobachtung sehr vieler Kinder bei allen nur möglichen, kindrelevanten Anlässen und Gelegenheiten. Das waren viele bekannte und unbekannte Kinder, wo immer ich ihnen begegnet bin. Dazu gehören auch meine Enkelinnen und Enkel. Oft habe ich die Eltern, auch wenn ich sie nicht kannte, zu ihren eigenen Meinungen und Erfahrungen befragt. Sie haben mir viele Details aus der Entwicklung ihrer Kinder bereitwillig erzählt. Ihnen allen sei an dieser Stelle besonders gedankt. Ihre Beiträge sind in den Text des Buches mit hineinverwoben, vor allem in die kleinen Beispielgeschichten.
Alle diese beruflichen und persönlichen Erfahrungen haben bei mir schließlich die Vermutung aufkommen lassen, dass Kinder sich vielleicht ganz anders entwickeln, als dies bisher wissenschaftlich, aber auch in den allermeisten Ratgebern zur Entwicklung beschrieben wird.
Kinder, und nicht Bücher, haben mich gelehrt, dass sie sich in ihrer Entwicklung kaum an die Regeln halten, die ihnen von Entwicklungsexperten aller Fachrichtungen vorgegeben werden. Diese stützen sich seit Langem auf die scheinbar bewährte und verlässliche Reifungstheorie der kindlichen Entwicklung: Nur ein streng zeitlich und altersgebundenes, genetisch festgelegtes „Schrittfür-Schritt-Programm“ garantiere eine normale Entwicklung (s. → S. 14 ff.).
Kinder erreichen bestimmte Ziele ihrer Entwicklung oft und zum Erstaunen und Unverständnis ihrer Eltern zu ganz anderen als zu den erwarteten oder von Ratgebern und Entwicklungstabellen geforderten Zeiten und oft auch auf sehr erstaunlichen Umwegen. Kinder durchlaufen einen ganz individuellen, einen nur ihnen eigenen Entwicklungsverlauf. Kinder „wundern“ sich vom ersten Tag ihres Lebens an (da sie bereits über vorgeburtliche Erfahrungen verfügen) über jede neue Erfahrung und über jedes neue Ereignis in ihrem Tagesablauf, die sie mit anderen, bereits gemachten Erfahrungen vergleichen. Sie versuchen also, eine Art von „Theorie“ aus ihren Erfahrungen zu gewinnen, damit ihnen neue Erfahrungen im Rahmen ihres bereits erworbenen, altersgebundenen Wissens verständlich werden. Wenn diese Erfahrungen sich nicht an bereits vorhandene anknüpfen lassen, müssen für neue Erfahrungen im Gedächtnis auch neue Kategorien, neue „Ordner“ angelegt und eröffnet werden. Warum verarbeiten und speichern Babys schon so früh, was sie erleben und erfahren? Nach gängigem Verständnis sind sie doch in den ersten Tagen und Wochen ihres Lebens völlig von ihren Pflegepersonen abhängig und kümmern sich scheinbar um nichts Weiteres zu als zu schlafen, zu trinken und sich immer wieder frisch windeln und wickeln zu lassen.
Sie tun es, weil sie damit schon sehr früh fähig werden, sich an die Bedingungen anzupassen, in die sie hineingeboren wurden. Die jedoch können sich von den gewohnten Bedingungen unserer Lebenswelt drastisch unterscheiden. Denn es ist nicht gleichgültig, ob ein Kinderleben unter den Bedingungen einer arktischen Welt, in der Sahara oder in Mitteleuropa beginnt. Wir begegnen hier schon zwei Schlüsselbegriffen, Individualität und Anpassung (Adaptation), die für das Verstehen von Entwicklungsprozessen im Verlauf des Buches von entscheidender Bedeutung sind.
Das Buch hat sich vor allem zum Ziel gesetzt, Sie über beondere Entwicklungsbedingungen zu informieren, damit Sie ihr Kind in seinem Verhalten, in seinen Absichten und in seinem Tun verstehen können. Erst das Verstehen führt zu nachvollziehbaren Alternativen und Vorschlägen, wie Kinder in ihren jeweiligen Entwicklungsphasen in ihrem Verhalten altersgerecht beurteilt werden können, ohne sie unbeabsichtigt zu kränken oder zu verletzen, weil die Absicht, das Handeln des Kindes überhaupt nicht verstanden wurden. Mit einem verstehenden Wissen lässt sich sehr viel rationaler ein kindliches Verhalten steuern, das Ihnen und oft auch Ihrem Kind zu schaffen macht und Handlungsbereitschaft fordert, z. B. bei einem ausufernden Trotzverhalten.
Sie werden allerdings in diesem Buch keine Ratschläge finden, wie Sie Ihr Kind am besten, am intensivsten, am sichersten und effektivsten fördern- oder auch auf Leistung trimmen können. Das Buch ist kein „Förderbuch“, in dem auf jeder Seite nachzulesen ist, was von Ihnen erwartet und getan werden muss, sondern ein „Verstehbuch“. Das Buch wird Ihnen nicht zu irgendwelchen Diagnosen verhelfen, wenn auch hin und wieder Diagnosen von Auffälligkeiten und Krankheiten erwähnt werden.
Auf mögliche Gefährdungen der Entwicklung durch bestimmte Ereignisse und Auffälligkeiten wird an den entsprechenden Stellen immer hingewiesen werden. Haben Sie Bedenken, sind Sie verunsichert, gehen Sie zu Ihrer Kinderärztin oder Ihrem Kinderarzt. Möglicherweise finden Sie auch in einer Buchhandlung einen Ratgeber, der Ihnen hilfreich erscheint.
Einen verbesserten Stand der Entwicklung Ihres Kindes, die über seine angeborenen und erworbenen Potenziale hinausführt, ihm zu einem „besseren Gehirn“ verhelfen würde, kann bisher keine Therapie und keine neue neurobiologische Erkenntnis anbieten, außer dem, was Sie, nach Bruer, s. → S. 99) ohnehin schon immer gewusst haben und was seit alters her weitergegeben wird. (Zur Information: Wir reden von sich unauffällig entwickelnden Kindern und nicht von Kindern mit Entwicklungsdefiziten!)
Sprechen Sie viel mit Ihrem Baby! Singen Sie mit Ihrem Baby! Streicheln Sie Ihr Baby! Lesen Sie Ihrem Kind vor! Lassen Sie es nicht zu viel fernsehen! Gehen Sie einfühlsam und sorgsam mit Ihrem Baby, mit Ihrem Kind um. Wenn es notwendig ist, suchen Sie eine Stunden- oder Tagesbetreuung, in der sich Ihr Kind wohl fühlt (und das sollte es dann auch!), in der, je jünger Ihr Kind ist, die betreuenden Personen auch eine Bindungsfunktion übernehmen können.
Was ich diesen simplen, verständlichen Empfehlungen schon hier in der Einleitung hinzufügen möchte, ist: Achten und würdigen Sie die individuelle Persönlichkeit Ihres Kindes, die ihm angeborene Bereitschaft zur Teilhabe und zur Imitation, und versuchen Sie, Ihr Kind so zu behandeln, wie Sie selbst behandelt werden möchten. Verletzen Sie nicht dauerhaft seine Integrität, denn erst dann beginnen, nach Bruer, die wirklichen Probleme und die berechtigten Sorgen.
Worum geht es bei dem neuen Verständnis? Im Folgenden finden Sie eine Auflistung einiger Grundprinzipen der kindlichen Entwicklung, die in diesem Buch eine Rolle spielen.
Vom ersten Tag ihres Lebens an sind Kinder unverwechselbare
Persönlichkeiten
und höchst perfekt mit allem versehen, was der jeweilige Entwicklungsstand von ihnen fordert. Kinder entwickeln sich individuell und daher auch unterschiedlich, also variabel, im Vergleich zu allen anderen Kindern.
Kinder sind
Anpassungskünstler.
Sie orientieren sich in ihrer Entwicklung perfekt an der Umwelt und an den kulturellen und sozialen Bedingungen, in die sie hineingeboren wurden.
Kinder sind von Geburt an hoch begabte
Kommunikatoren.
Sie versuchen mit allen Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen, andere Menschen zu einem „Dialog“, zu einem „Gespräch“ zu verführen.
Kinder streben nach
„Teilhabe“
und „Teilnahme“ am Leben ihrer Familie und das mit Power.
Kinder lernen vor allem durch
Nachahmung.
Sie ist der stärkste, angeborene Lernfaktor überhaupt. Mit der Nachahmung von Vorbildern gelingt es Kindern am besten und schnellsten, teilzuhaben und teilzunehmen.
Kinder scheuen keine Konflikte. Der Drang zur Nachahmung, zur Imitation ist so stark, dass er, besonders in den ersten Lebensjahren, in Konflikt mit dem Denken und Handeln der Erwachsenen gerät, Konflikte, die dann allzu rasch als Trotzphase missverstanden werden.
Kinder wollen verstehen. Damit beginnen sie sofort nach der Geburt. Sie versuchen, Geschehnisse und Erfahrungen einzuordnen, die ihren täglichen Tagesablauf bestimmen. Sie bilden dazu
„Theorien“
, mit denen sie neue Erfahrungen in ihrem Gedächtnis sinnvoll einspeichern können.
Erzieherische
Konflikte
ergeben sich meist aus den angeborenen Eigenschaften der „Teilnahme“ und der „Nachahmung“ (Imitation), deren starke Triebfedern von Erwachsenen kaum wahrgenommen, geschweige denn verstanden werden.
Weil Kinder „teilhaben“ wollen, gebühren ihnen Zuwendung, Verständnis und
Respekt
, wie anderen Mitmenschen auch. Dass sie auf ihrem Weg in ein teilhabendes und aktives Leben auf unsere Hilfe in besonderem Maße angewiesen sind, mindert nicht im Geringsten ihre Forderung nach Akzeptanz und Würdigung ihrer Persönlichkeit vom ersten Lebenstag an.
Das Buch ist, nach der Einleitung, in zwei Teile gegliedert. Im ersten Teil werden die Generierungsprozesse vorgestellt, die Entwicklungsverläufe auslösen, antreiben und steuern. Einige neurobiologische Zusammenhänge vom limbischen System, zuständig für die Entwicklung von Gefühlen und für das Bindungsverhalten, sowie die verschiedenen Aufgaben der unterschiedlichen Gedächtnisse und der neuronalen Netzwerke werden erläutert.
Im zweiten Teil werden die Entwicklung in bestimmten Altersabschnitten und ihre altersrelevanten Besonderheiten besprochen. Für jeden Altersabschnitt werden Sie zum Abschluss sogenannte Grenzsteine der Entwicklung finden, mit denen Sie die Entwicklung Ihres Kindes überprüfen können, wenn Sie das tun möchten.
Im ersten Teil des Buches werden wir den Konditionen nachgehen, die die frühe kindliche Entwicklung auslösen, antreiben und steuern. Folgende Themen, die für das Verständnis der Entwicklung Ihres Kindes in einem bestimmten Alter spielen, werden behandelt:
Reifung oder Entwicklung?
neurobiologische Grundlagen (Emotionen und Lernen; Bindung und Bindungsverhalten)
verschiedene Arten und Funktionen der Gedächtnisse
Nachahmung und Teilhabe
der Weg der individuellen Entwicklung und die Entwicklung zum Selbst
Kinder in ihren Familien
Die altersgebundene Entwicklung wird für folgende Altersgruppen beschrieben:
je ein Kapitel für die ersten vier Lebenshalbjahre
das dritte Lebensjahr
das vierte Lebensjahr
das fünfte Lebensjahr
In diesen sieben Kapiteln werden die Entwicklungspfade in ihrem altersgebundenen Ablauf bis zum Ende des fünften Lebensjahres beschrieben und erläutert. Zeitlich gebundene Entwicklungsereignisse, die nur in einem bestimmten Alter die kindliche Entwicklung für eine gewisse Zeit bestimmen und beeinflussen, sind bei der Altersstufe eingeordnet, in der sie am bedeutsamsten sind.
Zu den altersgebundenen Entwicklungsverläufen, den sogenannten Entwicklungspfaden, gehören:
die Bewegungsentwicklung des Körpers und der Hände und Finger
die Sprach- und Sprechentwicklung
die kognitive Entwicklung
die soziale und die emotionale Entwicklung
die Entwicklung des Selbst (Ich-Entwicklung) und die Selbstständigkeitsentwicklung
Das Schlafverhalten, altersbedingte Ängste, frühe Lernstörungen, Verhaltensauffälligkeiten und Gefährdungen durch Unfälle werden bei den jeweiligen Altersgruppen gesondert angesprochen.
Auf die ausführliche Beschreibung der körperlichen Entwicklung Ihres Kindes habe ich bewusst verzichtet, da sie im Vorsorgeheft Ihres Kindes, auch für Sie nachvollziehbar, dokumentiert ist. Die zeit lichen Entwicklungsverläufe sind so dargestellt, wie sie bei etwa 50 bis 90 Prozent aller sich normal entwickelnden Kinder erfolgen. Es gibt also keinen Grund zur Panik, wenn Ihr Kind noch nicht seine Altersnorm erreicht hat. Die Grenzsteine am Ende jedes Kapitels weisen darauf hin, bis zu welchem Alter spätestens ein bestimmter Entwicklungsschritt erreicht sein muss.
Ein Sprichwort sagt: Man sieht nur was man weiß. Das Verständnis für die vielen Facetten der Entwicklung und des Verhaltens Ihres Kindes befähigt Sie, die Entwicklung Ihres Kindes gelassen richtig einzuschätzen und sich an Ihrem Kind und seinen besonderen Fähigkeiten zu erfreuen.
Im täglichen Sprachgebrauch werden die Wörter „Reifung“ und „Entwicklung“ als etwa gleichwertige Begriffe verwendet. Richtiger ist jedoch nachzufragen, was denn „reifen“ und was „sich entwickeln“ soll. Wie wir sehen werden, ist die Beantwortung dieser Frage für das Verstehen, wie Kinder sich tatsächlich entwickeln, von ganz besonderer Bedeutung.
Reifungsprozesse verlaufen gradlinig und wenig von außen beeinflussbar. Ihr Ablauf ist in einem genetischen Programm festgelegt. Entwicklungsprozesse reagieren dagegen auf sich verändernde Umweltbedingungen. Sie sind daher Lernprozesse. Sie ermöglichen damit ein adaptives (anpassendes) Verhalten.
Das Wort Reifung beschreibt das Wachstum und die Ausbildung von Organen und ihren Funktionen, z. B. der Leber oder des Herzens oder der Seh- oder Hörorgane. Auch das Gehirn reift in seinen Zellstrukturen. Aber zur Ausbildung seiner Funktionen und Fähigkeiten sind Lernprozesse für das Gehirn unerlässlich, was schon auf den Begriffder Entwicklung verweist. Organe entstehen nach einem detaillierten, genetisch (erblich) festgelegten Bauplan und damit auch in sehr genau vorgegebenen, zeitlichen Abläufen. Haben Organe wie Herz, Leber, Nieren die für ihre Funktionen notwendige Ausreifung erreicht, arbeiten sie lebenslang oder mit zeitlicher Begrenzung unverdrossen weiter, es sei denn, sie werden durch Krankheiten oder andere Faktoren in ihrer Funktion beeinträchtigt.
Als Beispiel für einen Reifungsprozess soll hier das Gehör stehen: In der 28. Schwangerschaftswoche ist das Gehör eines ungeborenen Kindes voll ausgereift und funktionsfähig, was nicht zufällig ist, wie wir im Zusammenhang mit der Sprach entwicklung noch erfahren werden. Ab dem 30. Lebensjahr beginnt, jedenfalls in unserer Kultur, bereits eine Abnahme der Hörfähigkeit. Eine sehr viel frühere Schädigung der Hörfähigkeit droht heute oft schon Jugendlichen durch die extreme laute Beschallung durch Kopfhörer und in Diskotheken. Diese Reifung des Gehörs ist ein charakteristischer Reifungsprozess, der sich nur in geringem Maß an veränderte Umweltbedingungen anpassen kann oder, wie es in der Fachsprache ausgedrückt wird: Ein Reifungsprozess hat keine adaptiven Fähigkeiten.
Entwicklungsprozesse hingegen werden durch neue Erfahrungen und Lernen angestoßen, nicht durch genetisch festgelegte Programme. Sie lösen nachhaltige Änderungen im Verhalten und in den Reaktionen von Menschen auf ökologische (umweltbedingte) und soziale Störungen und Veränderungen aus, z. B. im menschlichen Miteinander, in der Familie, in Freundschaften und in sozialen Gruppierungen. Entwicklungsprozesse verlaufen individuell. Jeder Mensch, jedes Kind löst daher Probleme auf seine Art und im Hinblick auf seine eigenen Ziele und Bedürfnisse.
Nachhaltige Veränderungen des Verhaltens sind im Verlauf des menschlichen Lebens notwendig: Aufnahme in Kindergarten und Schule, Ausbildung, Beruf, Familiengründung, Geschwister, Einzelkind, Krankheiten, Verlust eines Partners, einer Partnerin, der Tod Nahestehender oder die Konfrontation mit dem eigenen Tod, um nur einige zu nennen. Entwicklungsprozesse nehmen daher keinen geregelten, vorhersagbaren Verlauf. Sie geschehen lebenslang immer wieder neu, als gelungene, teilweise gelungene oder nicht gelungene Anpassungen. Sie sind daher Adaptationsprozesse.
Entwicklung wird immer noch in den meisten Entwicklungsbüchern, Arnold Gesell folgend (siehe Kasten → S. 16), als ein Reifungsprozess dargestellt und beschrieben. Schematisch und mit einer gewissen Vereinfachung lässt sich ein solches „Schrittfür-Schritt-Modell“ für die Entwicklung z. B. der Körperbeweglichkeit (Körper motorik) folgendermaßen darstellen, so wie es auch heute noch in vielen Entwicklungstabellen zu finden ist:
Rückenlage → Bauchlage → Sitzen → aus dem Liegen direkt zum Sitzen kommen → Kriechen → Krabbeln → Hochziehen zum Stehen → Stehen mit Festhalten → Gehen mit Festhalten → freies Gehen.
Ein reifebezogenes Verständnis von Entwicklungsprozessen nach Gesell muss jedoch notwendigerweise zu weiteren Konsequenzen führen:
Die Gehirnentwicklung muss zuerst einmal die altersbedingten Reifestufen erreicht haben, bevor das Gehirn überhaupt zum Lernen befähigt ist.
Entwicklung verläuft in voraussagbaren Schrittabfolgen, von einfachen zu schwierigeren Fähigkeiten. Kein vorangehender Entwicklungsschritt darf, ohne eine Störung des Gesamtablaufes zu riskieren, ausgelassen werden.
Eine normale Entwicklung kann an der normalen zeitlichen Abfolge der einzelnen Entwicklungsschritte abgelesen werden. Diese sind strikt linear (aufeinanderfolgend) organisiert.
Alle Kinder dieser Welt entwickeln sich auf die gleiche Art und Weise.
Und, von besonderer Wichtigkeit: Eine Störung der normalen, (genetisch) festgelegten Schrittfolgen in einem oder in mehreren Entwicklungspfaden weist auf eine nicht normale, eine auffällige oder sogar krankhafte Entwicklung hin.
WISSEN
Arnold Gesell
…, ein Kinderarzt und Kinderpsychologe an der Yale-Universität in den USA (1880–1961), hat in den 20er- und 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts als Erster Entwicklungstests für Kleinkinder entwickelt und veröffentlicht. Sie sind bis heute die Grundlage nahezu aller Entwickungstests und Entwicklungsbeurteilungen für Kleinkinder geblieben. Gesell war der Überzeugung, dass Entwicklungsprozesse am besten zu erklären seien als Reifungsprozesse, also von biologischen Faktoren, von Genen bestimmt (determiniert) und von ihnen in ihrem Ablauf gesteuert. Gesell und seine Mitarbeiterinnen haben sehr populäre Entwicklungsbücher veröffentlicht. Sie sind vielfach übersetzt worden, auch ins Deutsche. Gesells Grundlagen und Kriterien für Entwicklungsbeurteilungen sind bis heute eine Art Kulturgut der westlichen Welt für Eltern und Entwicklungsfachleute geblieben, die bis heute Gültigkeit beanspruchen.
Gesells Reifetheorie liegt immer noch den meisten Tests der Entwicklungsbeurteilungen von Kindern zugrunde. Wir werden jedoch gleich sehen, dass das Konzept der Reifung nicht mehr genügt, um alle Besonderheiten der kindlichen Entwicklung zu verstehen und zu erklären.
Wer Kinder in ihrer Entwicklung über längere Zeit mit gezielter Aufmerksamkeit begleitet, wird mit einer gewissen Verblüffung feststellen, dass sich jedes Kind seinen eigenen, individuellen Entwicklungsverlauf sucht und ihn auch findet. Untersuchungen darüber, wie ansonsten ganz unauffällige Kinder sich individuell, also jedes für sich, entwickeln, wurden vor einigen Jahren an der Universitäts-Kinderklinik Tübingen durchgeführt. Dort war uns über die Jahre aufgefallen, dass viele Kinder sich anders entwickeln, als mit einer Reifungstheorie zu erwarten gewesen wäre. Und doch waren die meisten der Kinder bis zu Beginn des Schulalters ganz unauffällig geblieben.
Normalerweise erfolgt die Beurteilung von bestimmten Entwicklungsschritten nach statistischen Werten. Sie werden an sogenannten Normalpopulationen, also aus Entwicklungsbefunden von Kindern gewonnen, die sich normal entwickelt haben. Die individuelle Entwicklung eines einzelnen Kindes interessierte dabei nicht. Warum nicht? Durch die statistische Bearbeitung der Einzelbefunde zu Mittel- oder Perzentilenwerten gehen die individuellen Werte des einzelnen Kindes verloren, sie sind schlicht bedeutungslos.
Nehmen Sie sich die Zeit und schauen Sie sich die Tabelle genauer an. Welche Informationen können Sie ihr entnehmen? Die Zahlen in der Tabelle sagen Ihnen, dass z. B. 10 Prozent der Kinder einer Untersuchung, die an 100 sich unauffällig entwickelnden Kindern durchgeführt wurde, im Alter von sechseinhalb Monaten fähig waren, sich selbst zum Stehen hochzuziehen. 50 Prozent der Kinder konnten das mit achteinhalb Monaten, 100 Prozent, also alle, mit dreizehn Monaten. Gehen mit Festhalten konnten 10 Prozent der Kinder mit sieben Monaten, mit 13 Monaten alle Kinder. Ebensolche Informationen lassen sich der Tabelle für die Entwicklung bestimmter sprachlicher Fähigkeiten in Perzentilen entnehmen.
10%
50%
100%
Hochziehen zum Stehen
6,5.
8,5.
13. Monat
Gehen mit Festhalten
7.
10.
13. Monat
Freies Gehen
10,5.
12,5.
19. Monat
Silbenverdoppelung
6.
8.
12. Monat
Zwei-Wort-Sprache
15.
20.
24. Monat
Die Tabelle zeigt, bis zu welchem Monat 10 Prozent, 50 Prozent und 100 Prozent der Kinder einer Untersuchungsgruppe, die sich unauffällig entwickelte, ein bestimmtes Entwicklungsziel erreicht hatten.
Wie sich ein individuelles Kind entwickelt hat, gibt die Tabelle nicht preis, obwohl die Werte der individuellen Entwicklungen aller Kinder den Zahlen der Tabelle zugrunde liegen. Was jedoch aus der Tabelle entnommen werden kann, ist: Die Zwei-Wort-Sprache erscheint in einer Gruppe sich normal entwickelnder Kinder frühestens mit 15 Monaten, und alle Kinder haben diese Fähigkeit bis zum 24. Lebensmonat gelernt.
Für die Festlegung sogenannter Grenzsteine der Entwicklung sind (s. → S. 106 ff.) solche Angaben von besonderem Wert, denn damit lässt sich festlegen, ob ein Kind deutlich längere Zeit für die Entwicklung einer Fähigkeit benötigt als Kinder, die sich in einem festgelegten Zeitfenster normal entwickelt haben. Das war nun aber bereits ein Vorgriffauf die Grenzsteine der Entwicklung.
Betrachten Sie sich nun genauer die Beispiele einer individuellen Entwicklung bei drei Kindern aus der Tübinger Studie, in der 100 Kinder von Geburt an in zwei Kinderarztpraxen in ihrer Entwicklung begleitet wurden. Die Eltern hatten die Bewegungsentwicklung ihrer Kinder nach einem vorgegebenen Schema protokolliert und das Alter angegeben, in der der jeweilige Entwicklungsschritt sicher und selbstständig erlernt worden war. Der Entwicklungsstand und die Protokolle wurden in den Praxen noch einmal mit den Eltern besprochen und nachgeprüft. Die drei Abbildungen basieren auf dem Schema der Entwicklung der Körpermotorik (Körperbewegungen), das auf dem linken Rand des Bildes mit 10 Symbolen dargestellt ist (von unten nach oben):
Umdrehen von Rückenlage in die Bauchlage
Umdrehen von Bauchlage in die Rückenlage
freies, sicheres Sitzen
Hochkommen vom Liegen zum Sitzen
Robben
Krabbeln
Hochziehen zum Stehen
Stehen mit Festhalten
Gehen mit Festhalten
freies, sicheres Gehen
Am unteren Rand ist, von links nach rechts, das Alter in Monaten angegeben, in dem ein Kind ein bestimmtes Ziel seiner Bewegungsentwicklung erreicht hat.
Beispiel: Lilli In der Abbildung unten verläuft die Entwicklung von Lilli, wie es nach dem Reifekonzept zu erwarten ist.
Schritt für Schritt hat Lilli das freie Gehen erlernt. Kein Schritt wurde ausgelassen, einer erfolgte immer nach dem anderen, allerdings wurden von Lilli das Hochziehen zum Stehen und das Stehen mit Festhalten zur selben Zeit, am Ende des 11. Lebensmonats, erlernt.
Verlauf der motorischen Entwicklung von drei Kindern.
Beispiel: Jan Jan dagegen (Abb. → S. 18) hat zwischen dem 7. und 8. Lebensmonat sozusagen nebeneinanderher sechs Entwicklungsziele erreicht: freies Sitzen, Hochkommen zum Sitzen, Kriechen, Krabbeln, Hochziehen zum Stehen, Stehen mit Festhalten.
Beispiel: Kathie Einen ganz anderen Verlauf ihrer Entwicklung zeigt Kathie (Abb. → S. 18) Wie Sie nun schon selbst sehen können, verläuft ihre Entwicklung im motorischen Bereich fast „chaotisch“, wenn die Regeln eines Reifekonzeptes zugrunde gelegt werden. Von einem „Schritt-für-Schritt-Ablauf“ der Entwicklung kann keine Rede mehr sein.
Alle drei Kinder blieben in ihrer weiteren Entwicklung bis zum Schulalter unauffällig. Von den 100 Kindern der Studie hatten 25 Prozent einen Entwicklungsverlauf, wie er hier von Lilli beschrieben wurde. Die anderen 75 Prozent zeigten Verläufe ähnlich denen von Jan und Kathie, also Verläufe, die mit einem Reifeprozess nicht mehr zu erklären sind.
Etwa 15 Prozent der Kinder haben während ihrer motorischen Entwicklung die Schrittfolge des Kriechens und/oder des Krabbelns nicht durchlaufen, was auch in anderen Studien gefunden wurde. Die Entwicklungsschritte des Kriechens und Krabbelns wurden von diesen Kindern einfach übersprungen, ohne dass sie Schaden an ihrer motorischen Entwicklung genommen hätten. Später, nachdem sie frei gehen gelernt hatten, konnten sie auch sicher und flink krabbeln, sobald sie auf dem Boden spielten und sich dort schnell fortbewegen wollten, ohne erst wieder eine senkrechte Stellung zum Gehen einzunehmen. Jedoch als entscheidende Schritte für ein korrektes Bewegungserlernen waren offenbar die Entwicklungsschritte Kriechen und Krabbeln nicht von fundamentaler Bedeutung.
Die ersten freien Schritte, als wichtigstes Etappenziel der motorischen Entwicklung, sind für jedes Kind ein überwältigendes Ereignis. Die Freude und der Stolz über die neue und mit unermüdlichem Wiederholen erworbene Leistung spiegeln sich deutlich in der Mimik eines Kindes wider. Wer gelernt hat, solche Gemütsäußerungen im Gesicht eines Kindes zu suchen und darauf zu achten, wird berührt und beeindruckt sein von der Freude des Kindes an seiner gewonnenen Selbstständigkeit. Es hat nun den gleichen Status wie andere, ältere Kinder und wie seine Eltern: Es kann aufrecht und sicher gehen! Es kann jetzt teilhaben und teilnehmen an den Aktivitäten aller Menschen, die es bisher kennengelernt hat. Es gehört von nun an unübersehbar dazu.
Untersuchungen der individuellen Entwicklung von Kindern zeigen im Einzelverlauf jedoch scheinbare „Auffälligkeiten“ der kindlichen Entwicklung, die erklärt werden müssen. Warum ist z. B. ein Kind schon einmal einige Schrittchen frei gegangen, oder es hat bereits, zur Begeisterung der Eltern, Mama oder Papa gesagt? Dann aber war die neu erworbene Fähigkeit, zur großen Enttäuschung der Eltern, plötzlich wieder verschwunden. Trotz aller Ermunterungen nicht aktivierbar, ist sie plötzlich, nach einigen Tagen oder Wochen, wieder da und wird nun auch endgültig beibehalten.
Solche Aufschübe werden Inkonsistenzen genannt. Sie sind charakteristisch für eine adaptive, unauffällige Entwicklung. Neue Fähigkeiten, die sich anbahnen, stehen nicht von heute auf morgen stabil zur Verfügung. Wer Kinder beobachtet, dem fällt immer wieder auf, wie hartnäckig, unverdro ssen und unermüdlich Kinder eine neu zu erwerbende Fähigkeit ausprobieren, bis sie tatsächlich perfekt gelingt und vollständig automatisiert ist.
Entwicklungsfortschritte pendeln sich offenbar erst durch Nutzung und Üben auf einem höheren Niveau ein. Das ist einleuchtend, denn es sind die neuronalen Netzwerke im Gehirn, die erst (synaptisch) verknüpft werden müssen, bevor sie neue Leistungen optimal steuern können.
Mit der Beschreibung eines individuellen Entwicklungsverlaufes der Körpermotorik wurde ein allgemein gültiges Entwicklungsprinzip gefunden. Dieses Prinzip lässt sich in allen Entwicklungspfaden, wie in der Sprachentwicklung, der geistigen Entwicklung und darüber hinaus auch bei der emotionalen und sozialen Entwicklung, nachweisen.
Kinder entwickeln sich in allen ihren Entwicklungspfaden immer individuell. Dabei zeigen sich Inkonsistenzen und verschiedene Formen von Variabilitäten.
Inkonsistenzen. Innerhalb eines bestimmten Entwicklungspfades (z. B. der Sprachentwicklung oder der Entwicklung der Fingerfertigkeiten) können bestimmte Wegstrecken rasch oder langsam oder parallel laufend bewältigt werden. Es kann aber auch geschehen, dass ein Kind scheinbar in seiner Entwicklung wieder zurückfällt, den einen oder anderen Entwicklungsschritt überspringt oder ihn für seine Entwicklung offenbar gar nicht benötigt. Diese Varianten in einem individuellen Entwicklungsablauf, die sogenannten Inkonsistenzen, sind Unregelmäßigkeiten in einem Entwicklungsverlauf, die es nach der Reifetheorie gar nicht geben darf. Sie wären als Auffälligkeit oder gar als Entwicklungsstörung zu bewerten, weil die Schritt-für-Schritt-Abfolge gestört ist. Wird Entwicklung jedoch als ein Anpassungsgeschehen verstanden, sind Inkonsistenzen geradezu zu erwarten.
Variabilität. Kinder zeigen daher auch innerhalb ihrer Entwicklungsverläufe eine große Unterschiedlichkeit, eine große individuelle Variabilität. Diese überraschende und oft große Variabilität kann ein einzelnes Kind in einem Teilgebiet seiner Entwicklung aufweisen, z. B. bei der Körpermotorik. Die motorische Entwicklung kann aber auch rasch, die Sprachentwicklung dagegen eher langsam verlaufen oder gerade umgekehrt. Die Variabilität innerhalb einer Einzelentwicklung wird intraindividuelle Variabilität genannt.
Kinder entwickeln sich aber auch gegenüber anderen Kindern immer und stets unterschiedlich. Das gilt ebenso für Geschwister. Die von Kind zu Kind unterschiedliche Entwicklung wird interindividuelle Variabilität genannt.
Die unterschiedlichen individuellen Variabilitäten in der kindlichen Entwicklung legen nahe, dass sie im Laufe der Evolution des Menschen entstanden sind. Sie haben die Anpassungsfähigkeit des Menschen an seine Umwelt so drastisch verbessert, dass Menschen dazu fähig wurden, in den heißesten, kältesten und unwirtlichsten Zonen der Erde bis heute zu überleben. Daraus lässt sich ableiten, dass die Ent wick lungsverläufe bei Kindern anderer Kulturen auch unterschiedlich sein müssen. Die Variabilität in der Entwicklung von Kindern unterschiedlicher Kulturen wird daher transkulturelle Variabilität genannt. Ihre Existenz wird viel zu wenig beachtet.
Als wichtigste Konsequenz eines Reifekonzeptes ist also festzuhalten: Eine Störung der normalen, (genetisch) festgelegten Schrittfolgen in einem Entwicklungspfad (oder in mehreren) verweist auf eine auffällige oder sogar krankhafte Entwicklung eines Kindes. Als wichtigste Konsequenz eines adaptiven Entwicklungskonzeptes gilt jedoch:
Variabilität und Inkonsistenzen in der Entwicklung, in den Entwicklungspfaden, dokumentieren eine normale Entwicklung. Starre, schematisch nicht variabel verlaufende Entwicklungsprozesse sind typisch für eine nicht normale, eine auffällige oder sogar krankhafte Entwicklung eines Kindes. Sie zeigen kein adaptives Verhalten auf Veränderungen der Umwelt.
Diese Schlussfolgerungen aus zwei verschiedenen Entwicklungskonzepten stehen in einem nicht zu übersehenden, eklatanten Widerspruch. Sie widersprechen sich vor allem darin, wie Kinder in ihrer Entwicklung richtig zu beurteilen sind. Im Abschnitt über die Grenzsteine (s. → S. 106) lässt sich nachlesen, wie Sie Ihr Kind mithilfe eines adaptiven Entwicklungskonzeptes in seiner Entwicklung beurteilen können.
Wenn hier Individualität, Variabilität und Adaptivität als die entscheidenden Faktoren in der frühen kindlichen Entwicklung bewertet werden, steckt dahinter nicht nur pures theoretisches Interesse. Wie wir noch sehen werden, führen diese Erkenntnisse zu ganz praktischen Konsequenzen für die Entwicklungsbeurteilung selbst. Ohne sie ist aber auch das wirkliche Verstehen von Kinderwelten, die Erwachsenen sonst nur mit besonderen Kenntnissen, Erfahrungen oder mit einem angeborenen Einfühlungsvermögen zugänglich sind, nicht möglich. Es ist daher alles andere als gleichgültig, ob Kinder auf dem Hintergrund eines Reifungskonzeptes in ihrer Entwicklung beurteilt werden oder ob mit dem Wissen und der Kenntnis, wie variabel, individuell und adaptiv die kindliche Entwicklung tatsächlich verläuft.
Ein Kind, das sich in seiner Entwicklung nicht an die Schrittfolgen der Reifungsprozesse hält, läuft Gefahr, als „auffällig“ oder als in seiner Entwicklung „bedroht“ beurteilt zu werden. Diese Fehlbeurteilung geschieht auch heute noch, und viel zu oft. Die Empfehlungen, wie einer Fehlentwicklung zu begegnen ist, laufen dann darauf hinaus, unbedingt die genaue Schrittfolge der Entwicklung bei einem Kind therapeutisch nachzuholen, da sonst die gesamte Entwicklung des Kindes bedroht sei – bis hin zu einer späteren Lese-Rechtschreib-Schwäche oder einer anderen gravierenden Lernstörung.
Ich habe nicht so selten erlebt, dass Eltern mit ihrem Kind nach einer physio- oder ergotherapeutischen (Krankengymnastik, Beschäftigungs-)Therapie in die Sprechstunde kamen. Ihr Kind konnte schon mit Festhalten stehen, saß jedoch noch nicht frei, konnte nicht krabbeln und war auch noch nicht in der Lage, mit eigener Hilfe aus dem Stand wieder auf den Boden zurückzugelangen. Das Kind freute sich jedoch königlich und für die Eltern unübersehbar über den neu gewonnenen Überblick in seiner Lebenswelt aus höherer Warte: Seine Teilnahmekompetenz hatte sich dramatisch verbessert. Den Eltern war jedoch von therapeutischer Seite, ganz im Sinne eines Reifungskonzeptes, dringend empfohlen worden, ihr Kind unter allen Umständen am viel zu frühen Stehen zu hindern. Erst müssten die anderen vorausgehenden Entwicklungsschritte vom Kind erlernt worden sein, besonders das Krabbeln, bevor eine Aufrichtung erst wieder zugelassen werden dürfe. Ihr Kind, hatte man den Eltern erklärt, habe zu seinem eigenen Wohle die nun einmal notwendigen Entwicklungsschritte zu durchlaufen, auch wenn es dazu mehr oder weniger gezwungen werden müsse. Davor sollten die Eltern nicht zurückschrecken. Und der Hinweis fehlte nie, dass nur die Einhaltung der festgelegten Sequenz des Entwicklungsverlaufes eine normale Entwicklung ihres Kindes garantieren könne.
Es wird Ihnen sicher nicht schwerfallen, sich nun vorzustellen, was in Kind (Drang zur Teilnahme) und Eltern vorgeht, wenn sie sich gezwungen sehen, solchen „Dr.-Eisenbart“-Empfehlungen nachzukommen, obwohl sie ihr Kind selbst ganz in Ordnung finden, und Ihre Kinderärztin bzw. Kinderarzt das genauso sieht.
Allerdings ist eine gewisse Lockerung in der Beurteilung des Verlaufes der kindlichen Entwicklung erfolgt. Akzeptiert wird, dass die zeitliche Dauer und das zeitliche Auftreten eines bestimmten Entwicklungsschrittes durchaus auch individuell verlaufen könne. Jedoch: Die Abfolge der, wie in unserem Beispiel, zehn Ziele der Bewegungsentwicklung sei genetisch festgelegt und müsse doch immer gewahrt bleiben. Diese Meinung wird auch heute noch sehr allgemein vertreten, auch von führenden Entwicklungsexperten.
Inzwischen wissen wir jedoch, dass sich auch die Abfolge der einzelnen Entwicklungsschritte variabel verändert. Kinder bestimmen selbst und adaptiv darüber, entgegen jeder anderen, auch von Fachleuten geäußerten Meinung über die für sie „richtige“ Abfolge der eigenen Entwicklungsschritte.
Die eben formulierten Vorstellungen zur individuellen und variablen Entwicklung von Kindern sollen an zwei Beispielen noch einmal gezeigt werden. Remo Largo, ehemaliger Leiter der Abteilung Wachstum und Entwicklung an der Universitäts-Kinderklinik in Zürich, hat Schulkinder in einem bestimmten Alter nach ihren unterschiedlichen Begabungen untersucht und sie nach ihrem Altersstand bewertet. Leider gibt es solche Untersuchungen bei Vorschulkinder bisher nicht; wir können jedoch davon ausgehen, dass unterschiedliche Begabungen, also die gleichen Entwicklungsprofile, auch bei den Vorschulkindern existieren.
Entwicklung ist variabel.
In den Abb. auf → Seite 25 werden die Ergebnisse von zwei Kindern dargestellt. Oben: Ein elf Jahre und vier Monate alter Junge entspricht im Sprachverständnis und in seiner Auffassungsgabe einem fast Sechzehnjährigen, in seiner Sprachfähigkeit einem Dreizehnjährigen; im Lesen und Schreiben liegt er etwas über seinem Alter. Seine sozialen Fähigkeiten sind altersentsprechend, sein logisches Denken und seine Rechenleistungen gleichen dem eines Vierzehneinhalbjährigen, sein räumliches Vorstellungsvermögen liegt knapp unter seinem Altersdurchschnitt, aber seine motorische Bewegungsfähigkeit ist nicht viel besser als die eines knapp achtjährigen Jungen, bei insgesamt normaler kognitiver Entwicklung.
Die untere Abbildung auf → S. 25 demonstriert die Begabungsstruktur eines neunjährigen Jungen mit einer Lese-Rechtschreib-Störung bei einer insgesamt normalen Intelligenz: Seine sprachliche Auffassungsgabe und sein Sprachvermögen liegen etwas über der Norm neunjähriger Jungen. Die Leistungen im Lesen und Schreiben entsprechen einem Sechsjährigen. Das Sozialverhalten ist das eines Zehneinhalbjährigen. Die Fähigkeit zu logischem Denken liegt knapp über der Altersnorm; seine Rechenleistungen sind die eines Sechsjährigen, während sein räumliches Vorstellungsvermögen fast dem eines vier zehnjährigen Jungen entspricht. Seine motorischen Fähigkeiten liegen in der Altersnorm.
In einer anderen Studie hat Largo gezeigt, dass schon Einschulungskinder mit einer großen zeitlichen Bandbreite von unterschiedlich entwickelten Fähigkeiten ihre Schulzeit beginnen.
Zwanzig Kinder in einer Klasse von Schulanfängern sind in vielen Aspekten ihrer Entwicklung hintan oder voraus, bei etwa gleichem Alter. Geprüft wurden Körpergröße, der Intelligenzquotient (IQ), Lesen, Rechnen, Zeichnen sowie Musizieren. Die Streubreite der geprüften, eben genannten Alterswerte der normalen Entwicklung gleichaltriger, siebenjähriger Kinder liegt dabei zwischen fünfeinhalb und achteinhalb Jahren!
Bei Übernahme eines Klassenjahrgangs geht eine Lehrerin, ein Lehrer, ganz im Sinne eines Reifungskonzeptes, davon aus, dass bei siebenjährigen Kindern die Entwicklung, mit kleineren Abweichungen, doch insgesamt gleichwertig sei.
Lehrerinnen und Lehrer werden ihre eigenen beruflichen Qualitäten daran messen, ob es ihnen gelingt, alle ihre Schülerinnen und Schüler am Ende des Schuljahres in die nächste Klasse weiterzugeben. Gelingt dies bei dem einen oder anderen Kind nicht, kann das eigentlich nur an einer Schwäche der kindlichen Intelligenzleistungen liegen, nicht an ihnen, nicht am Lehrplan und nicht an ihren altersbezogenen Lehrmethoden.
Der Erwerb der verschiedenen Kompetenzen kann sehr unterschiedlich verlaufen.
Sie können anhand der beiden oberen Beispiele die Vielfalt der Möglichkeiten und Varianten bei den individuellen Begabungen leicht erkennen. Dort sehen Sie auf einen Blick, wie unterschiedlich sich die beiden Schulkinder entwickeln.
Anpassungsprozesse sind Lernprozesse, die im Gehirn gespeichert, festgeschrieben werden, damit sie immer wieder und bei Bedarf abgerufen und genutzt werden können. Kinder müssen sich an vieles anpassen:
an die familiäre Situation, in die sie hineingeboren wurden,
an die Geborgenheit, Zuwendung oder an deren Mängel, die sie erfahren und
auch an die Erziehungs- und Wertevorstellungen, die ihre Eltern für richtig und angemessen halten und die sie versuchen, bewusst oder unbewusst auf ihr Kind zu übertragen.
Großeltern, Babysitter, Tanten, Onkel, Freunde und Freundinnen der Familie bieten einem Kind vielfältigste Gelegenheiten, sich anzupassen – vergnüglich, herzlich, neutral oder gar abweisend.
Wie wir noch sehen werden, verfügen Kleinkinder jedoch über außerordentlich effektive Gaben, im Aussehen und im Verhalten, mit denen sie Zuwendung nahezu erzwingen können: Schutzmechanismen, die ihr Überleben in gefährdeten Situationen sichern können, wie sie Sara Bluffer Hrdy in ihrem Buch „Mutter Natur“ beschrieben hat.
Ein Garten wird andere Erfahrungen bieten als das Leben in einer Millionenstadt mit Hochhäusern. Ein Kind wird, unter den üblichen Bedingungen, seine Umwelt, in der es lebt, zunächst nicht als gut oder schlecht, angenehm oder lebensfeindlich bewerten. Es wird sie hinnehmen, wie sie ist, und versuchen, sich in die Vorgaben zu schicken, also sich anzupassen, solange Mutter, Vater oder andere verlässliche Bindungsperso nen ihm die Sicherheit bieten, stets versorgt, geborgen, angenommen und geliebt zu sein.
Auch die geografische und kulturelle Umwelt, in der ein Kind aufwächst, zwingt zu adaptiven Lernprozessen. Eskimokinder können ihre Entwicklung unter extrem anderen Bedingungen ebenso durchlaufen wie Kinder, die im tropischen Dschungel aufwachsen. Dass sich unter solch unterschiedlichsten Lebensbedingungen auch die einzelnen Entwicklungspfade in ihrem Ablauf verändern müssen, ist fast schon eine Selbstverständlichkeit. Kinder entwickeln sich, als Adaptationsantwort auf ihre besonderen Lebens- und Umweltbedingungen, in bestimmten Phasen schneller oder langsamer, oder sie erwerben sehr spezielle und hoch komplizierte Fähigkeiten, die ihnen ihre Umwelt und das Leben in ihr abverlangen.
Junge Indios, die an einem großen Fluss leben, lernen schon ab drei Jahren, zu mehreren in einem kippligen Boot stehend, mit Pfeil und Bogen Fische zu erlegen – eine notwendige Adaptation an die Bedingungen, unter denen sie leben. Während europäische Kinder zu solch einer atemberaubenden Ausbalancierung ihres Gleichgewichts nicht fähig wären, sind für die Indiokinder solche Fähigkeiten pure Selbstverständlichkeiten, die zu ihrem gewohnten Lernprogramm gehören.
Leicht einzusehen ist, dass z. B. der Entwicklungsschritt des Krabbelns, wenn er denn eine genetisch absolut notwendige Stufe der motorischen Entwicklung wäre, solche Anpassungsleistungen eher verhindern als fördern würde.
Das Gleiche gilt für das Einleben in die sehr unterschiedlichen kulturellen Eigenheiten anderer Gesellschaften. Die Vorstellungen, wie Kinder sich verhalten sollten, können schon in europäischen Staaten sehr unterschiedlich sein: In Frankreich sind Eltern eher der Meinung, Kinder seien durch ihre Geburt zunächst nur kleine „Wilde“, die von früh an, ab dem zarten Alter von eineinhalb Jahren, einer strengen Erziehung zu den Manieren bedürfen, die in Frankreich bei älteren Kindern und Erwachsenen erwartet, ja vorausgesetzt werden.
Deutsche Eltern und Großeltern neigen hingegen zunächst dazu, ihre Kinder und Enkel als einzigartige Wesen zu erleben, denen alle Wege offenstehen. Die Kindheit wird daher als eine Zeit gesehen, in der es Kindern gut gehen sollte; eine frühe, strenge Erziehung ist nicht unbedingt Voraussetzung für ein erwünschtes Verhalten im späteren Erwachsenenleben. Die deutsche, permissive Erziehung steht der französischen, direktiven, konträr gegenüber.
Die insgesamt recht freie westliche Erziehung ist keineswegs selbstverständlich für Kulturen, in denen auch heute noch der Gehorsam des Kindes Eltern und Erwachsenen gegenüber ein entscheidender Erziehungsfaktor ist, wie u.a. in Japan, in indianischen und in islamischen Kulturen.
Kinder müssen sich also von Geburt an sehr unterschiedlichen Lebensbedingungen anpassen, wenn sie in ihnen bestehen und, in einem direkten, aber auch im weitesten Sinne, überleben wollen. Die Fähigkeit, sich anzupassen, zu lernen, beginnt, wie wir heute wissen, bereits im intrauterinen Leben und endet wohl erst mit dem Tod. Sie begleitet Menschen als Hilfe in den täglichen Herausforderungen, Bedrängnissen, aber auch Freuden lebenslang. Die beim Menschen besonders hoch entwickelte Anpassungsfähigkeit kann auch als eine Mitgift der Evolution verstanden werden. Kinder sind Anpassungskünstler und Anpassungsexperten. Wirkungsvollere Entwicklungshilfen als die adaptiven Kräfte der Evolution und durch die wichtigsten Bindungspersonen kann es für ein Kind eigentlich nicht geben.
Ein Kind ist zu jedem Zeitpunkt seiner Entwicklung fähig und vorbereitet, auf nahezu alle Umwelteinflüsse und Lebensanforderungen reagieren zu können. Von Geburt an kann es saugen und trinken, ohne dass es Gefahr liefe, die Milch in die Lungen zu befördern, was Ersticken oder eine tödliche Lungenentzündung zur Folge haben könnte.
Ein Schritt für Schritt organisierter Entwicklungsverlauf wäre biologisch lebensgefährdend. Werden Entwicklungsprozesse als eine Art Zahnradsystem verstanden, wie es die Reifetheorie unterstellt, bei dem jedes Zahnrad exakt in ein anderes Zahnrad zu greifen hat, erlitte das ganze Räderwerk schnell einen Totalausfall, sobald nur das kleinste Rädchen beschädigt wäre oder ausfiele. Die Verteilung der Gesamtentwicklung eines Kindes auf unterschiedliche Entwicklungspfade, auch bei krankheits- oder unfallbedingten Einschränkungen, bedeutet dagegen eine erhöhte Chance, über andere Pfade wesentliche Entwicklungsziele doch noch zu erreichen und damit das Überleben zu sichern.
Durch Lernen und Erfahrungen gelingt es Kindern und Erwachsenen bis heute, sich an Bedingungen in ihrem Leben anzupassen, die sich verändern oder die geändert werden müssen. Der seit Jahrmillionen wirksame Faktor Fähigkeit zur Anpassung ist also auch heute noch effektiv, in jedem einzelnen menschlichen Leben und bei jedem Kind in seiner individuellen Entwicklung jedes Mal neu.
Individualität muss ein besonderer Überlebensvorteil für die Menschheit gewesen sein, sie hätte sonst nicht bis heute überlebt. Aber warum hat sich während der Evolution herausgestellt, dass Individualität sich für höhere Lebewesen bezahlt macht? Um es auf einen kurzen und einfachen Nenner zu bringen: Individualität bietet die Chance zur Entstehung einer Vielfalt nützlicher (aber auch schädigender) Eigenschaften eines Lebewesens, weil sie eventuell eine größere und bessere Chance bietet, sich an die Änderungen in seiner Umwelt anzupassen.
Zwei Arten von Individualität sind dabei zu unterscheiden: eine angeborene und eine erworbene.
Dass es eine angeborene Individualität gibt, wurde erst verstanden, nachdem zu Beginn des letzten Jahrhunderts die Chromosomen und Gene und deren Kombinationen entdeckt wurden. Die Hälfte der Chromosomen stammt von der Mutter. Sie sind eine zufällige Auswahl von Vorfahreneigenschaften, die die Mutter in ihrem eigenen Chromosomensatz trägt und weitergibt. Das Gleiche gilt für die väterlichen Chromosomen. Dabei ist es wiederum dem Zufall überlassen, welche Chromosomen von der mütterlichen Seite und welche von der väterlichen Seite sich in einem neuen Lebewesen zusammenschließen.
Damit wird verständlich, dass keine Person der anderen gleichen kann. Die Zufälligkeit dieses „Verfahrens“ garantiert eine einzigartige Individualität.
Sie entsteht durch individuell erlebte Erfahrungen und durch individuelles Lernen. Gene bestimmen nicht alleine und auch nicht endgültig unser Handeln und Verhalten, wir sind ihnen nicht ausgeliefert. Erfahrungen und Lernen, also Adaptationsprozesse, spielen eine ebenso bestimmende Rolle in der Entwicklung und im Leben von Menschen. Die Gesamtheit der Gene eines Menschen, der sogenannte Genotyp, legt nicht alleine das individuelle Verhalten fest. Der Genotyp eines Kindes mit der Vielfältigkeit seiner Anlagen bestimmt nur die Basis, nur die Disposition, zu einem nicht weiter aufschlüsselbaren Mix aus Genetik und Lernen.
Oder, anders gesagt: Erst der Mix aus genetischen Vorgaben in Verbindung mit Lernen und Erfahrung ermöglicht ein individuelles Verhalten, das alleine einem Kind, einem Menschen eigen ist und ein Leben mit individuellen Fähigkeiten überhaupt erst ermöglicht.
Wie aber entsteht Individualität im Gehirn? Alles, was wir bisher über die kindliche Entwicklung gelernt haben, schließt sich in dieser einen Frage zusammen.
Tun und Verhalten können nur, wie ich versucht habe zu erklären, individueller Art sein. Das setzt voraus, dass auch das Gehirn in seinem Aufbau und in seinen Leistungen individuell organisiert sein muss und sich individuell entwickelt.
Gefühltes und Wahrgenommenes werden in einem Verbundsystem von Nervenzellen, in den sogenannten „neuronalen Netzwerken “, gespeichert und zu anderen, zielorientierten Zentren im Gehirn weitergeleitet. Dort stehen sie auf Abruf zur Verfügung, wenn sie gebraucht werden.
Dazu müssen die neuronalen Netzwerke jedoch erst mit einer Art „Software“ eingerichtet werden, wie sie Gerald Edelman mit seiner Theorie der individuellen Organisation neuronaler Netzwerke beschrieben hat. Die „Software“ entsteht mit dem individuellen, kontinuierlichen Strom der einlaufenden Sinneswahrnehmungen: Individuelle neuronale Netzwerke werden über eine individualisierte Wahrnehmung arbeitsfähig. Oder, anders ausgedrückt: Ein Kind mit seinem eigenen, individuellen und kontinuierlichen Wechselspiel von Aktivitäten und Sinneswahrnehmungen bestimmt damit selbst die neuronale Organisation seines Gehirns.
Eine Reifung des Gehirns alleine kann keine adaptiven und variablen Entwicklungsprozesse garantieren. Nur individuell programmierte, neuronale Netzwerke sind dazu in der Lage. Kinder lernen nur gut und mit Erfolg, wenn sie mit ihrem eigenen Tun, Fühlen und Empfinden den Aufbau der eigenen neuronalen Netzwerke bewerkstelligen. Die eigenen Aktivitäten sind durch nichts und niemand zu ersetzen, wenn es gilt, individuelle neuronale Netzwerke aufzubauen und zu aktivieren.