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»Ein isländischer Schriftsteller kann nicht leben, ohne beständig über die alten Bücher nachzudenken.« Halldór Laxness Der Stellenwert, den die Isländersagas im kulturellen Gedächtnis der Isländer einnehmen, ist enorm. Bis heute haben die fesselnden Geschichten rund um die Besiedelung der nordischen Insel nicht an Leuchtkraft verloren: Die Prosatexte aus dem 13. und 14. Jahrhundert sind eine Sternstunde der Geistesgeschichte Europas – und können hier in einer breiten Auswahl bewundert werden. Mit der vorliegenden Neuedition öffnet sich dem Leser ein Tor in eine Welt, die beseelt ist von wütenden Außenseitern, starken Frauen und Rechtskundigen, von Rache, Totschlag und Buße, aber auch von Schadenszauber und Wiedergängern und nicht zuletzt abenteuerlichen Reisen in ferne Länder. Die Isländersagas sind Weltliteratur. Die ›Isländersagas‹ - vorgelegt von den besten literarischen Übersetzern und angereichert mit wissenschaftlichen Zusatzinformationen - räumen einer der bedeutendsten Literaturen den Platz ein, der ihr gebührt. Mit einem Vorwort der Herausgeber Mit Faksimiles der mittelalterlichen Handschriften Mit Karten der Handlungsorte der Sagas Mit einem Glossar
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Seitenzahl: 92
Die Erzählung von Þiðrandi und Þórhall
Isländersagas
Herausgegeben von Klaus Böldl, Andreas Vollmer und Julia Zernack
Aus dem Altisländischen von Mathias Kruse
Fischer e-books
Mit einer Einleitung von Mathias Kruse
Mit einem Vorwort der Herausgeber
Mit einer Faksimile der mittelalterlichen Handschrift
Mit einem Glossar
Die Isländersagas (Íslendingasögur) sind umfangreiche Prosaerzählungen in altisländischer Sprache, entstanden im 13. und 14. Jahrhundert. Sie gelten als der wichtigste Beitrag Islands zur Weltliteratur und sind in viele Sprachen übersetzt worden, mehrfach auch ins Deutsche. Die vorliegende Ausgabe präsentiert eine breite Auswahl dieser Sagas in neuen deutschen Übertragungen, ergänzt durch eine Reihe thematisch und stilistisch verwandter Erzählungen (þættir) aus derselben Epoche. In ihrer novellenhaften Kürze und Pointiertheit legen sie zusammen mit den Isländersagas in eindrucksvoller Weise Zeugnis ab von der im Mittelalter einzigartigen Erzählkunst Islands.
Viele Übersetzer haben zum Entstehen der neuen Ausgabe beigetragen. Wenn die Übertragungen dadurch einen je individuellen Ton bekommen haben, dann ist dies durchaus beabsichtigt. Denn die Originaltexte haben bei allen Gemeinsamkeiten doch immer eine deutlich eigene Prägung, die auch in der Übersetzung noch durchscheint. Damit die Sagas als literarische Kunstwerke für sich wirken können, sollten sie von allen erläuternden Zusätzen möglichst frei bleiben. Für das Verständnis unverzichtbare Anmerkungen der Übersetzer sowie Karten zur geographischen Orientierung finden sich in einem Anhang. Den größeren kultur- und literaturgeschichtlichen Zusammenhang erschließt der Begleitband.
April 2011
Die Herausgeber
Þiðranda þáttr ok Þórhalls
Aus dem Altisländischen und mit einer Einleitung von Mathias Kruse
Mit der S-Initiale am Anfang der linken Spalte beginnt der Text der Erzählung von Þiðrandi und Þórhall im Buch von Flatey (Flateyjarbók). Sie endet in der rechten Spalte unten vor der etwas kleineren þ-Initiale. Die Schreiber der isländischen Pergamenthandschriften verwendeten viele Abkürzungen und konnten so große Textmengen auf relativ wenig Platz unterbringen. In den gedruckten Textausgaben umfasst die Erzählung von Þiðrandi und Þórhall vier Seiten.
Den Kern der kurzen Erzählung von Þiðrandi und Þórhall bildet ein Ereignis, auf das die Saga von Brennu-Njáll (Kap. 96) anspielt, ohne es weiter auszuführen. Es ist der rätselhafte Tod des jungen Þiðrandi, eines Sohnes des Goden Hall aus Síða. Þiðrandi soll von Disen erschlagen worden sein, jenen frauengestaltigen Wesen der heidnischen Glaubenswelt, denen man dem Zeugnis der Sagas zufolge im Herbst bei einem Gelage zu opfern pflegte, um sich ihr Wohlwollen zu sichern und sich ihrem Schutz zu unterstellen.
Die Erzählung über die Hintergründe der Ermordung Þiðrandis, die unabhängig von der Saga von Brennu-Njáll erhalten geblieben ist, geht wahrscheinlich zurück auf Gunnlaug Leifsson, einen Mönch des Klosters Þingeyrar, der die Erzählung vermutlich bereits kurz nach 1200 in seine auf Lateinisch verfasste Vita des norwegischen Königs Ólaf Tryggvason integrierte. Anlass dazu boten ihm die Berichte über die Versuche des Königs, die Christianisierung Islands zu betreiben, indem er etwa Missionare ins Land schickte. Þiðrandis Tod, den der Seher Þórhall in der Erzählung explizit als Zeichen des nahenden Glaubenswechsels deutet, ist es, der dabei die Schilderung der durch Ólaf Tryggvason betriebenen Mission zugleich einläutet und in einen größeren Kontext stellt. Durch seinen Tod wird Þiðrandi nicht nur zu einem Opfer, das die Disen fordern, sondern auch zu einem Propheten, dessen Tod auf Kommendes vorausweist.
Gunnlaugs lateinische Worte jedoch sind in der Erzählung in der Form, in der sie erhalten geblieben ist, allerhöchstens noch als fernes Echo präsent, ist seine Vita doch nur indirekt überliefert als Grundlage einer ein knappes Jahrhundert nach seiner Zeit entstandenen Übersetzung seines Werkes, der Ólafs saga Tryggvasonar hin mesta, die sich neben Gunnlaugs Vita auch anderer Texte bediente. Sie jedoch ist in zahlreichen Abschriften erhalten geblieben, etwa in der Flateyjarbók, aber auch in einer Reihe weiterer Handschriften des 14. Jahrhunderts – darunter auch der Codex AM 61 fol., auf dem die vorliegende Übersetzung basiert.
Als König Harald Schönhaar das ganze Reich in Norwegen geeint hatte und mit Rögnvald, dem Jarl von Møre, beim Fest war, da nahm der König dort ein Bad und ließ sich die Haare waschen. Dann schnitt Jarl Rögnvald ihm die Haare. Zehn Jahre lang waren sie zuvor nicht geschnitten worden, weshalb er Harald Zottelkopf genannt wurde. Danach aber verlieh ihm der Jarl seinen Beinamen und nannte ihn Harald Schönhaar. Und jeder, der ihn sah, meinte, er trage diesen Namen völlig zu Recht, denn sein Haar war lang und prächtig.
Wenig später zog König Harald mit seinem Heer nach Westen über das Meer und eroberte sich dort viel Land. Bevor er jedoch westwärts zog, gab er Jarl Rögnvald die Herrschaft über die Orkneys und die Shetlandinseln als Wiedergutmachung für den Tod seines Sohnes. Jarl wurde dort Rögnvalds Bruder Sigurð. Jarl Rögnvald aber begleitete König Harald ostwärts nach Norwegen und herrschte über sein Reich dort. Und als Jarl Rögnvald davon hörte, dass Jarl Sigurð, sein Bruder, im Kampf gefallen war, schickte er seinen Sohn Hallað in den Westen zu den Orkneys. Der aber entsagte der Jarlsherrschaft und kehrte nach Osten zu seinem Vater zurück. Da rief Jarl Rögnvald seine Söhne zusammen und fragte, wer von ihnen die Jarlswürde auf den Orkneys nun übernehmen wolle.
Þórir bat ihn, nach Belieben zu bestimmen, ob er dort in den Westen fahren solle oder nicht.
Der Jarl antwortet: »Dein Verhalten ehrt dich. Du aber bist mein ehelicher Sohn und hast gute Aussichten auf eine Herrschaft. Du sollst hier das Reich und mein Erbe übernehmen, wenn meine Tage vorüber sind.«
Da trat Hrólf vor und bot an, er könne sich auf den Weg dorthin machen.
Der Jarl antwortet: »Was deine Tüchtigkeit und Stärke angeht, bist du durchaus dazu geeignet, doch glaube ich, in Gedanken spielst du damit, größeren Ehrgeiz zu entwickeln, und hast eher Lust auf Beutezüge, als dass du dich damit zufriedengeben würdest, geruhsam über solch ein kleines Gebiet zu herrschen.«
Dann fragte Hrollaug seinen Vater, ob er wolle, dass er zu den Inseln im Westen fahre.
Der Jarl antwortete: »Du wirst kein Jarl werden. Du hast kein kriegerisches Wesen. Ich wollte vielmehr, dass dein Weg dich nach Island führt. Dort im Land wirst du als angesehener Mann gelten und viele bedeutende Nachkommen haben. Hier liegt dein Schicksal jedoch nicht.«
Der Jarl schickte dann seinen Sohn Einar nach Westen zu den Orkneys. Hrollaug begab sich zu König Harald und hielt sich eine Zeitlang bei ihm auf und heiratete eine vornehme Frau. Danach fuhr er mit seiner Frau und seinen Söhnen nach Island. Vom Meer aus näherte er sich dem Land im Osten, bei Horn, und warf dort seine Hochsitzpfeiler von Bord, und sie trieben im Hornafjord an Land. Ihn aber trieb es vom Land fort in Richtung Westen. Seine Seereise verlief beschwerlich, und das Wasser wurde knapp an Bord. Sie kamen im Westen an Land, bei Nes in der Bucht Leiruvog. Den ersten Winter blieb er dort. Dann hörte er sich nach seinen Pfeilern um und machte sich auf in Richtung Osten. Den zweiten Winter verbrachte er unterhalb des Ingólfsfell. Anschließend zog er nach Osten in den Hornafjord und wohnte zunächst unterhalb von Skarðsbrekka im Hornafjord, später aber auf Breiðabólsstad in Fellshverfi.
Hrollaug war ein mächtiger Mann und hielt seine gute Freundschaft mit König Harald aufrecht, auch wenn er Island nie wieder verließ. König Harald sandte Hrollaug ein wertvolles Schwert, ein Trinkhorn und einen Armring aus Gold, der fünf Unzen schwer war. Das Schwert besaß später Kol, der Sohn von Hall aus Síða. Kolskegg der Weise aber hat das Horn einmal zu Gesicht bekommen.
Hrollaug halten die Leute für den vornehmsten aller Landnehmer im Viertel der Ostfjorde, was seine Herkunft und seine Nachkommenschaft betrifft. Er war der Vater von Össur Keilisel, der mit Gróa verheiratet war, der Tochter von Þórð Illugason. Deren Tochter war Þórdís, die Mutter von Hall aus Síða. Hall aus Síða hatte Jóreið Þiðrandadóttir zur Frau. Deren Sohn war Þorsteinn, der Vater von Magnús, dem Vater Einars, der der Vater von Bischof Magnús war. Ein weiterer Sohn von Hall aus Síða war Egill, der Vater Þorgerðs, der Mutter des Heiligen Bischofs Jón. Þorvarð Hallsson war der Vater von Þórdís, der Mutter Jórunns, der Mutter von Hall dem Priester, dem Vater Gissurs, des Vaters von Bischof Magnús. Yngvild, die Tochter von Hall aus Síða, war die Mutter von Þórey, der Mutter des Priesters Sæmund des Weisen. Þorsteinn, ein Sohn Halls, war der Vater von Guðríð, der Mutter von Jóreið, der Mutter des Priesters Ari des Weisen. Þorgerð Hallsdóttir war die Mutter Yngvilds, der Mutter Ljóts, des Vaters von Járngerð, der Mutter Valgerðs, der Mutter Böðvars, des Vaters von Guðný, der Mutter der Söhne Sturlas.
Þórhall hieß ein Mann aus Norwegen. Er kam nach Island in den Tagen von Jarl Hákon Sigurðarson. Er nahm Land am Sýrlækjarós und wohnte auf dem Hof Hörgsland. Þórhall war ein weiser Mann und sah oft Dinge voraus, und er wurde Þórhall der Seher genannt. Þórhall der Seher wohnte zu der Zeit auf Hörgsland, als Hall aus Síða auf Hof im Álftafjord lebte, und zwischen ihnen bestand eine enge Freundschaft. Jeden Sommer, wenn er zum Thing ritt, kehrte Hall auf Hörgsland ein. Þórhall seinerseits kam auch oft in den Osten zu Besuch und blieb lange bei ihm.
Der älteste Sohn Halls hieß Þiðrandi. Von allen Männern war er am vielversprechendsten und begabtesten. Von seinen Söhnen liebte Hall ihn am meisten. Sobald er alt genug dazu war, ging Þiðrandi auf Reisen und zog von Land zu Land. Er war überall sehr beliebt, wohin er auch kam, da er ein überaus geschickter und tüchtiger Bursche war, stets bescheiden und freundlich zu jedermann.
Eines Sommers kam es, dass Hall seinen Freund Þórhall zu sich in den Osten einlud, als er vom Thing nach Hause ritt. Þórhall machte sich ein wenig später als Hall auf den Weg dorthin, und Hall empfing ihn wie immer in größter Freundschaft. Þórhall blieb den Sommer über dort, und Hall meinte, er solle nicht eher wieder nach Hause zurückkehren, als bis das Gastmahl gefeiert worden sei, das es im Herbst gab. In jenem Sommer kam Þiðrandi aus dem Ausland zurück in den Berufjord. Damals war er achtzehn Winter alt. Er kehrte heim zu seinem Vater. Wieder einmal bewunderten die Leute ihn sehr, wie schon so oft, und lobten seine Tüchtigkeit. Nur Þórhall der Seher schwieg stets, wenn die Leute Þiðrandi in den höchsten Tönen lobten. Da fragte Hall, was das zu bedeuten habe, »denn deine Worte, Þórhall, haben für mich besonderes Gewicht«, sagt er.
Þórhall antwortete: »Der Grund für mein Verhalten ist nicht etwa, dass mir etwas an ihm oder an dir missfiele oder dass für mich weniger offensichtlich wäre als für andere, was für ein bemerkenswerter Kerl er ist. Es ist vielmehr so, dass es viele gibt, die ihn loben – und dazu gibt er auch allen Anlass, auch wenn er selbst sich nicht so hoch einschätzt. Es ist möglich, dass man nicht allzu lange etwas von ihm hat, und du wirst ihm, der so ein tüchtiger Bursche geworden ist, noch genug hinterhertrauern, auch wenn dir gegenüber nicht jeder seine Fähigkeiten lobt.«