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In dem vorliegenden Buch wird versucht, die geheime esoterische Botschaft der Märchen aufzuzeigen - vor allem in den großen Kunstmärchen des 20. Jahrhunderts, von J. R. R. Tolkien bis Michael Ende. Der Leser wird eingeladen, dem Autor auf verschlungenen Pfaden durch den labyrinthischen Irrgarten mythischer Märchenwelten zu folgen, eine Entdeckungsreise durch Raum und Zeit, durch Zauberwelten und Parallel-Universen, voller Gefahren und Überraschungen. Auf diesem Weg durchs Labyrinth wird sich das Urwissen der Esoterik als Ariadnefaden erweisen.
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Seitenzahl: 271
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Manfred Ehmer
Die esoterischeBotschaftder Märchen
Die esoterische Botschaft der Märchen
© 2. Auflage 2020 Manfred Ehmer
Titelbild: © Manfred Ehmer, unter
Verwendung gemeinfreien Materials
Verlag und Druck: tredition GmbH,
Halenreie 40–44, 22359 Hamburg
Teil 4 der Reihe edition theophanie
ISBN: 978-3-7482-8183-2 (Paperback)
ISBN: 978-3-7482-8184-9 (Hardcover)
ISBN: 978-3-7482-8185-6 (e-Book)
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Besuchen Sie den Autor auf seiner Homepage:www.manfred-ehmer.net
Inhaltsverzeichnis
Die esoterische Botschaft der Märchen
Einhörner, Drachen und Fabelwesen
Nymphen und andere Märchenwesen
Das Geheimnis der vier Elemente
Elementarwesen in den Märchen
Das Märchen als Parallel-Universum
Die Gebrüder Grimm
Jorinde und Joringel
Der Machandelboom
Irische Feenmärchen
Alice im Wunderland
Peterchens Mondfahrt
Wer ist Peter Pan?
Der Zauberer von Oz
Tolkiens Mittelerde
Der Herr der Ringe
Tolkiens Silmarillion
Conan der Kimmerier
Der Cthulhu-Mythos
Der Zauberer von Erdsee
Der Kleine Prinz
Die Möwe Jonathan
Momo gegen die Zeitdiebe
Die unendliche Geschichte
Utopien – Paradiese – Idealwelten
Literaturlisten
Zitatnachweis
Die esoterische Botschaftder Märchen
Das Märchen als Einweihungsweg
Es war einmal – dieser formelhafte Märchenbeginn, uns allen aus unserer Kinderzeit bekannt, weist nicht nur auf eine imaginäre Zeit, sondern auch auf ein räumliches Anderswo hin. Das Märchen – einerlei ob erzählt oder vorgelesen – stellt doch immer eine Zauberwelt dar, ein Parallel-Universum der Magie und des Wunderbaren, das „neben“ unserem normalen Alltags-Bewusstsein liegt, das wir jedoch kraft der uns angeborenen Fähigkeit der Imagination jederzeit betreten können. Märchen sind wie Träume vielleicht Erinnerungen an die eigentliche Heimat unseres Geistes, die im Übersinnlich-Überirdischen liegt. Was das Wesen eines Märchens ausmacht, hat der Dichter Novalis (1772–1800) einmal so ausgedrückt: „In einem echten Märchen muss alles wunderbar – geheimnisvoll und unzusammenhängend sein – alles belebt. Jedes auf eine andre Art. Die Natur muss auf eine wunderliche Art mit der ganzen Geisterwelt vermischt sein.“1
Unter einem Märchen – das Wort kommt vom mittelhochdeutschen maere, d.h. Kunde – verstehen wir eine phantasievoll ausgeschmückte kurze Erzählung, die in einer Welt spielt, in der die üblichen Naturgesetze ihre Wirkung eingebüßt haben und stattdessen das Wunder vorwaltet. Der Unterschied zu Sagen und Legenden besteht darin, dass letztere stets auf einen historischen Kern zurückgehen; die Helden des Märchens jedoch entbehren jeder historischen Identität, sie tragen meist nur Allerweltsnamen, zum Beispiel Hans, und ein „König“ ist bloß ein König, aber keine historisch bestimmbare Gestalt. Allgegenwärtig ist im Märchen die Magie; die handelnden Personen erleben wunderbare Geschehnisse und kommen mit zaubermächtigen Helfern oder Hilfsmitteln an ihr Ziel.
Dabei zeigt sich die ganze Natur als beseelt: Tiere und Pflanzen sprechen mit Menschen und verkehren mit ihnen wie auf gleicher Ebene; auch naturgeistige Wesen wie Nymphen, Feen, Elfen, Riesen und Zwerge, Erbstücke wohl aus längst vergangenen Zeiten des Heidentums, treiben ihr Unwesen oder greifen auf heilsame Weise in das Geschehen ein. Im allgemeinen ist die Grenzlinie zwischen der Natur und der Geisterwelt recht dünn gezogen, und beide Bereiche scheinen bis zur Ununterscheidbarkeit ineinander überzugehen. Ein Beispiel für sprechende Pflanzen findet sich in dem Märchen ALICEHINTER DEN SPIEGELN: „'O du Feuerlilie', sagte Alice, denn eine solche wuchs da und schaukelte anmutig im Wind, 'wenn du doch nur reden könntest!' 'Wir können schon', sagte die Feuerlilie, 'solange jemand da ist, mit dem es sich lohnt'. Alice war so überrascht, dass es ihr die Stimme verschlug; ihr war, als sollte sie gar keine Luft mehr bekommen. Schließlich, als die Feuerlilie immer nur weiter vor sich hin schaukelte, sprach sie die Blume zaghaft aufs Neue an, fast im Flüsterton: 'Können denn alle Blumen reden?' 'So gut wie du schon lange', sagte die Feuerlilie, 'und außerdem noch sehr viel lauter.'“2
Vielleicht können wir ja tatsächlich mit Pflanzen sprechen und sie mit uns, wenn nicht in einem wörtlichen, so doch in einem übertragenen Sinne. Der Pflanzengeist ist esoterisch jedenfalls eine Realität, und auf der entsprechenden Bewusstseins-Ebene können wir mit ihm in Kontakt treten. Kindern wie Naturvölkern ist dies selbstverständlich, und deshalb sind diese auch in der Lage, die Welt „mit Märchenaugen“ zu sehen. So bemerkte schon Hermann Grimm im Vorwort zu den von den Gebrüdern Grimm gesammelten KINDER- UND HAUSMÄRCHEN: „Es liegt in den Kindern aller Zeiten und aller Völker ein gemeinsames Verhalten der Natur gegenüber: sie sehen alles als gleichmäßig belebt an. Wälder und Berge, Feuer und Sterne, Flüsse und Quellen, Regen und Wind reden und hegen guten und bösen Willen und mischen ihn in die menschlichen Schicksale. Es gab eine Zeit aber, wo nicht nur die europäische Kinderwelt, sondern die Nationen selbst so dachten. Wie die germanischen Völker in diesem Zustande der Kindheit in Glauben, Sprache und Überlieferung sich verhalten, war Jakobs Studium…“3
Im Märchen herrscht eine andere Logik als unsere gewohnte, lineare und dreidimensionale Logik. Eine ältere Schicht des menschlichen Bewusstseins scheint dem Märchen zugrunde zu liegen, vielleicht das eher träumende, vorrationale, von Magie durchwobene Bewusstsein der kleinen Kinder oder der archaischen Naturvölker. Der Tübinger Vorgeschichtsforscher Otto Huth sieht in den Volksmärchen, besonders denen der Gebrüder Grimm, „eine altertümliche, sakrale Dichtform, die eine prähistorische Kulturperiode widerspiegelt“4 – nämlich die vorgeschichtliche Megalithkultur. Als letztlich religiöses Überlieferungsgut seien sie vom Ursprung her keineswegs Kindermärchen, sondern erst später dazu geworden, da das Märchenalter des Kindes in etwa dem Bewusstseinszustand des Neolithikums – der Jungsteinzeit – entspreche.
Die Märchen entspringen den Tiefen der Volksseele, und sie wurden generationenlang mündlich weitergegeben, von Erzählern, die oft erstaunlich viele Märchen auch mit allen Einzelheiten in ihrem Gedächtnis bewahrten. In den vorindustriellen Gesellschaften erzählte man die Märchen in den wenigen Mußestunden, die der hart arbeitenden Bevölkerung blieben, an langen Winterabenden etwa, wenn die Feldarbeit ruhte und die Bewohner zu ungewohnter Muße zwang. Gewählt wurden dazu immer die Stätten der Gemeinschaft, die Küchen der Bauernkaten, die Spinnstuben, im Orient die Kaffeehäuser. Aus den Berufen der im Märchen auftretenden Personen sieht man, dass die Geschichte in einer Zeit spielt, die lange vor der Industrialisierung lag, denn Berufe wie Müller, Fischer, Schmied, Viehhirt sind ja heute fast schon ausgestorben. Auch wird in den Märchen meist eine feudale Ordnung gezeigt, mit Königen, Prinzessinnen, Rittern usw., die heute längst durch eine demokratische und egalitäre Ordnung überwunden wurde. Man mag sich fragen, ob es so etwas wie „moderne Märchen“ überhaupt geben kann; oder sollte man vielleicht die mit Technik so reich gesegneten Geschichten der Science Fiction als „moderne Märchen“ bezeichnen?
Märchen entstammen immer einer alten Zeit („Es war einmal“), und sie scheinen – wie gesagt – einer sehr urtümlichen Schicht des menschlichen Bewusstseins zu entspringen. Und vielleicht liegt gerade darin ihre Zeitlosigkeit? Das Märchen zeigt Archetypisches auf, das in seiner Überzeitlichkeit ewig aktuell bleibt und auch uns Heutige anzusprechen vermag. Ein Märchen kann noch so alt, aber niemals veraltet sein, denn seine Zauberwelt bleibt immer gegenwärtig. So erweist es sich als Träger einer überzeitlichen, esoterischen Botschaft. Nach Britta Verhagen stammen die Märchen „aus einer neolithischen Mysterienreligion. Der Mittelpunkt jeder Mysterienreligion ist ein Kult, der den Mysten durch eine Reihe von Einweihungen und 'Stufen', durch feierliches und geheimnisvolles Erleben in jene Tiefe zu führen sucht, wo die wahre 'Religio' wirksam wird und die unmittelbare Berührung zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen Mensch und Gott als erschütternde Realität erlebt wird.“5
Der Weg des Märchenhelden ist immer ein Einweihungsweg. Mag das Einweihungsgut nun der Megalithkultur entspringen, mag es seine Wurzeln im Indogermanischen, im Kelten- und Germanentum oder im Schamanismus haben, es bleibt einerlei. Es besteht auch eine seltsame Verbindung zwischen der mythischen Märchenwelt und der Gnosis, einer orientalischen Mysterienreligion der späten Antike, die auf ältere geschichtliche Wurzeln zurückgehen mag. Man könnte sie vielleicht auf eine „Ur-Gnosis“ zurückführen, die noch nicht dualistisch, sondern rein kosmisch ausgerichtet war und mit der europäischen Megalithkultur auf rätselhafte Weise in Verbindung stand. Gnostische Motive gibt es in Märchen genug: der Kampf von Gut gegen Böse, von Licht und Finsternis, das Motiv der Selbsterkenntnis und der Erlösung.
Als weiteres Urmotiv kommt das Suchen und Finden, das Begehen des Weges, das Unterwegs-Sein hinzu. Dem Aufbruch aus der gewohnten Umgebung folgt ein gefahrvoller Weg mit vielen Prüfungen und Fährnissen, bis sich am Ende alles wieder zum Guten fügt. Das Auf-dem-Weg-sein gehört aber auch zu den Grundtatbeständen der Esoterik. Deshalb besteht eine Wahlverwandtschaft zwischen Märchen und Esoterik; denn in beiden geht es um den Weg, der durch das Beschreiten erst entsteht und immer schon das Ziel ist. Weg und Ziel sind im Grunde eins; und sie liegen in uns selbst. Christa M. Siegert schreibt hierzu in ihrem sehr lesenswerten Buch GEHEIME BOTSCHAFTIM MÄRCHEN: „Die Märchen sollten in den Herzen den geheimnisvollen, inneren Schöpfungsauftrag wach halten und den Befreiungsweg der Seele in schlichten Bildern widerspiegeln. Mit ihren Symbolen sollten sie die Sehnsucht der Seele nach dem Reich des Geistes beleben und sie zur Heimkehr ermutigen. Viele alte Märchen haben ein tiefes Mysterienwissen in ihren Bilderteppich wie leuchtende Perlen hineingewebt.“6
In dem vorliegenden Buch möchte ich nun versuchen, die geheime esoterische Botschaft der Märchen aufzuzeigen – weniger in den bekannten Volksmärchen, sondern eher in den großen Kunstmärchen des 20. Jahrhunderts, auch in der Fantasy-Literatur von J. R. R. Tolkien bis Michael Ende. Ich möchte den Leser einladen, mir auf verschlungenen Pfaden durch den labyrinthischen Irrgarten mythischer Märchenwelten zu folgen, eine Entdeckungsreise durch Raum und Zeit, durch Zauberwelten und Parallel-Universen, voller Gefahren und Überraschungen. Auf diesem Weg durchs Labyrinth wird sich die Esoterik, das esoterische Urwissen, als Ariadnefaden erweisen. Aber was ist denn eigentlich „Esoterik“?
Esoterik – der Weg nach Innen
Zahlreichen Märchen, Mythen, Heldenlegenden, Heiligengeschichten, Sagen sowie vielen Stoffen der Weltliteratur liegt eine Esoterik zugrunde, die meist unerkannt unter der Oberfläche schlummert; denn sie wird sozusagen „zwischen den Zeilen“ zum Ausdruck gebracht. Die Esoterik ist so alt wie die Menschheit selbst. Sie hat keinen Stifter oder Begründer; als zeitloses Geisteswissen wurde sie von den Weisen und Sehern der Urzeit geschaut, und seitdem überdauert sie alle Zeitalter als die Geheimlehre aller Religionen.
Was ist „Esoterik“? Als Esoteriker wurden früher die Träger eines geheimen Priester- oder Einweihungswissens bezeichnet; in der Mysterienschule des Pythagoras bezeichnete man die zum „Inneren Kreis“ Gehörigen als „Esoteriker“. Im Griechischen heißt esoterika wörtlich „die inneren Dinge“; dies entspricht auch dem berühmten Satz des Novalis „Nach Innen geht der geheimnisvolle Weg“. Er steht in seiner Fragmenten-Sammlung BLÜTENSTAUB, die in der von Friedrich Schlegel herausgegebenen Zeitschrift Athenäum veröffentlicht wurde. Dort heißt es: „Wir träumen von Reisen durch das Weltall: ist denn das Weltall nicht in uns? Die Tiefen unsers Geistes kennen wir nicht. – Nach Innen geht der geheimnisvolle Weg. In uns, oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und die Zukunft. Die Außenwelt ist nur die Schattenwelt, sie wirft ihren Schatten in das Lichtreich.“7
Der „Weg nach Innen“ wird also in der Esoterik beschritten. Dies bedeutet jedoch nicht Abkapselung von der Welt; denn Innen und Außen sind im Grunde genommen eins. Ein anderes Fragment von Novalis verdeutlicht diesen Gedanken: „Platos Ideen: Bewohner der Denkkraft, des innern Himmels. Jede Hineinsteigung, Blick ins Innre, ist zugleich Aufsteigung, Himmelfahrt, Blick nach dem wahrhaft Äußern.“8 Dem Satz „Wie Innen, so Außen“ muss der hermetische Satz „Wie Oben, so unten“ hinzugefügt werden; so erst ergibt sich das Koordinatensystem des esoterischen Weltbildes. Das esoterische Weltbild gibt Auskunft über Struktur und Aufbau des Universums, über Herkunft, Weg und Ziel des Menschen sowie über die Zusammensetzung des Menschen aus Körper, Geist und Seele.
Was die Esoterik – oder Hermetik – über den Menschen lehrt, kann sich als wertvolle Deutungshilfe bei der Betrachtung von Mythen und Märchen erweisen. Der Mensch, so behauptet die Esoterik, ist im Besitz eines unsterblichen Geistes und daher wahrhaft ein König; nur weiß er nicht, dass er ein König ist, da ihm die Selbsterkenntnis fehlt. Ihm fehlt das Bewusstsein seines Ursprunges und seiner wahren Menschennatur; im Besitz dieses Wissens wird der Mensch zu seiner wahren Königswürde erwachen und danach trachten, in seine geistige Urheimat wieder zurückzukehren. Demnach besteht der Seelenweg des Menschen in der Sicht der Esoterik nur aus zwei Abschnitten: Involution und Evolution – Abstieg in die materielle Welt und Aufstieg zum Geist. Dieser Aufstieg zum Geist ist ein evolutionärer Welten-Wanderungs-Weg, durch viele Seinszustände und Verkörperungen hindurch, wobei jede Existenz auf diesem Weg eine unschätzbar wertvolle Lernerfahrung darstellt.
Der Sinn des esoterischen Weges ist also Heimkehr, Rückkehr zum Ursprung. Sehr schön hat dies Christa Siegert in ihrem Buch GEHEIME BOTSCHAFT IM MÄRCHEN ausgedrückt: „Die Menschenseele lebte einst im Königreich des Geistes. Sie sank hinab aus der geistigen Dimension in die zeiträumliche Dimension der Materie. Sie verirrt sich in der Sinnenwelt mit ihren ständig wechselnden Gegenkräften und Erscheinungen, wird von den Mächten der Täuschung festgehalten und in die Irre geführt und lernt unter häufigem Wiedervergessen ihre harten Lektionen. Am Tiefpunkt ihres Abstiegs wird die Menschenseele vom Licht der göttlichen Botschaft getroffen, vom Auftrag, wieder heimzukehren ins Königreich des Geistes. Und dann macht sich die Seele auf den Heimweg, quer durch alle Anschläge und Heimsuchungen der dunklen Kräfte, beschirmt von den lichten Kräften, durch vielfache Läuterung und Prüfung, bis das Ziel der Seelenreise, die Wiederverbindung mit dem Geist, die 'königliche Hochzeit' verwirklicht ist.“9 Die Esoterik liegt als Geheimlehre und Geheimtradition spirituellen Wissens allen Religionen zugrunde, und die Mysterienschulungen früherer Zeitalter dienten dem Ziel, dem Menschen zur Selbsterkenntnis zu verhelfen und ihn für seinen Weg zurück zu seinem Ursprung auszurüsten. Dieser Weg ist ein „Weg nach Innen“; denn nirgendwo sonst als in uns wohnt jener ewige Geistfunke, der uns mit dem „Königreich des Geistes“ verbindet.
Das gnostische Perlenlied
In poetischer Form finden wir das esoterische Urwissen ausgedrückt in dem so genannten GNOSTISCHEN PERLENLIED, einer Dichtung aus der ausgehenden Antike aus manichäisch-mandäischem Umfeld, die in einer durchaus märchenhaften Form die Geschichte eines Prinzen erzählt, der in ein fremdes Land zog und dort seine wahre Heimat vergaß, bis ihn ein Sendschreiben wieder an seinen eigentlichen Auftrag erinnerte. Dieser Prinz, das ist jeder einzelne von uns, das Wesen des Menschen überhaupt. Es handelt sich bei diesem Text tatsächlich um ein Lied; es ist eine Perle gnostischer Poesie, und deshalb habe ich hier eine deutsche Übersetzung ausgewählt, die den lyrischen Charakter des in syrischer Sprache geschriebenen Originals beibehält. Der „Prinz“ erzählt:
Im Königreich des Vaters, da ruht ich lange ZeitAls ein ganz kleines Kindlein, in Reichtum, Seligkeit.
Noch konnte ich nicht sprechen, schickt man mich hinaus,
Mit prächtigen Geschenken aus meinem Vaterhaus,
Aus meinem Reich des Aufgangs, aus meinem Kinderglück, Die lieben Eltern gaben mir manches schöne Stück Von ihren reichen Schätzen, von Gold und Edelstein,
Von indischen Karfunkeln, Perlen, schimmernd rein,
Von strahlenden Demanten und kostbarem Geschmeid.
So wurde denn der Ranzen allmählich schwer und breit.
Doch mir schien er zum Wandern noch immer leicht genug. Jedoch die Prachtgewandung, die ich bis dahin trug,
Die sie für mich gefertigt in liebendem Verein,
Die mich in meiner Kindheit umstrahlt im hehrstem Schein, Die meinem Maß entsprechend bis dahin mich umhüllt,
Die taten sie zur Seite und sprachen ernst und mild:
Jetzt ziehst du in die Fremde. Ägypten heißt das Land,
Wohin von deinen Eltern du jetzo wirst entsandt.
Präg tief in deine Seele den Auftrag, der dir wird,
Dass du ihn stets bedenkend erfüllest unbeirrt.
Dort gibt es einen Brunnen, davor ein Drache wacht,
Und eine Perle ruht dort tief in dem Brunnenschacht.
Kannst du die Perle heben und kehrst mit ihr zurück,
Dann findest du zu Hause dein altes Kinderglück;
Dann findest du den Mantel, die Königsherrlichkeit, Herrschend mit deinem Bruder allhier die ganze Zeit.
So sprachen sie und gaben mir zwei Geleiter mit,
Die mich behüten sollten bei jedem Schritt und Tritt.
Ich war ja noch ein Kindlein, der Weg war rau und schwer, Rings drohten viel Gefahren – da braucht ich sie gar sehr. An Maishans Hafenplätzen zog ich vorbei im Flug, Durchwanderte auch Babel, betrat die Stadt Sarbug Und kam dann nach Ägypten an den ersehnten Ort.
Die beiden Weggefährten verließen mich alldort.
Da sah ich auch dem Drachen schon in sein Angesicht Und blieb verlassen, harrend und wartend, ob mir nicht Es doch vielleicht gelänge, dem Untier, wenn es schlief,
Die Perle zu entreißen, die ruht im Brunnen tief.
So ward ich fremd und einsam in einem fremden Land,
Bis ich an dieser Stelle den Weggenossen fand.
Ein freigeborner Jüngling, voll Liebenswürdigkeit,
Ein Reis von meinem Stamme, der war mir hilfsbereit,
Der kam zu mir und wurde mein allerbester Freund.
Was ich erwarb, genoss er gar treu mit mir vereint.
Ich warnt ihn vor den fremden Ägyptern, ihrem Schmutz, Und sann dann für uns beide zu finden rechten Schutz, Dass man mich nicht verfolge, dass es nicht werde kund, Dass ich die Perle suche auf tiefen Brunnens Grund.
So tat ich um die Schultern ägyptisches Gewand,
Dass man mich nicht erkenne in diesem fremden Land. Doch währt' es nicht zu lange, so ward ich doch erkannt. Sie haben ihre Listen sie alle angewandt.
Da ich von ihrer Speise, die sie mir boten, aß,
Da war's, dass ich die Eltern und auch mein Ziel vergaß. Dass ich vergaß die Perle, um die man mich gesandt,
Dass ich sie heimwärts bringe aus dem Ägypterland.
Ich diente ihren Herrschern und lag in tiefem Bann.
Das hatte mir die Speise und ihre List getan.
Doch meine Eltern wussten sogleich was mir geschehn,Und ließen einen Aufruf durchs ganze Reich ergehn,
Es möchten alle Großen zu Hof sich finden ein,
Die Fürsten und Vasallen des lieben Vaters mein.
Sie kamen und berieten mit sorglichem Bedacht,
Wie ich zu retten wäre aus der Ägypter Macht,
Und schrieben einen Brief mir, mit Siegeln wohl versehn,Darauf die Unterschriften von allen Großen stehn:
Der Herr des Reichs, dein Vater, er aller Herrscher Zier,
Die Königin des Aufgangs, die Mutter, und nach ihr Dein Bruder, unser Zweiter: dir ins Ägyptenland Als unsrem lieben Sohne sei unser Gruß entsandt!
Erwach aus deinem Schlafe und höre unser Wort:
Gedenke deiner Herkunft, wirf alle Fesseln fort!
Sieh, welchen Herrn du frohnest im Ägyptenland;
Gedenke doch der Perle, der wir dich entsandt,
Gedenke deines Mantels, der Weltenherrscherzier,
Die du zurückgelassen in unserm Reiche hier,
Dass du sie einst besitzest, kehrst du zu uns zurück,
An deines Bruders Seite in ungetrübten Glück.
So ward der Brief versiegelt von meines Vaters Hand,
Von königlichen Zeichen beschützt an dich entsandt.
Dem König aller Vögel, dem Adler gleich im Flug,
Blieb er verschont von Babel, dem Bösen von Sarbug,
Und ließ sich zu mir nieder und ward vor mir zum Wort. Von seinem Heimatrauschen schwang aller Schlummer fort. Ich nahm ihn auf und küsste sein Siegel tief bewegt;
Denn was sie mir da schrieben, das war mir eingeprägt Seit je in meine Seele, da ich mich jetzt entsann,
Dass ich, ein Königssprössling, ein großes Werk begann, Dass ich die Perle suchte, die ruht auf tiefstem Grund,
Das hatt‘ ich ganz vergessen; jetzt war's mir wieder kund. Den Drachen, der als Hüter zischend den Born umschlang, Begann ich einzuwiegen, indem ich Lieder sang Und zauberstarke Namen, den trauten Vater rief,
Die Mutter, meinen Bruder, bis dass der Drache schlief.
Da raubte ich die Perle und floh das fremde Land.
Auch ließ ich den Ägyptern das unreine Gewand.
Der Heimat galt mein Pilgern, dem Licht des Aufgangs zu Nahm ich den Weg zum Vater. Geleiter warst mir du,
Mein Brief, mein treuer Mahner, auf dessen Seidengrund In wohlbedachten Zügen die Heimatsbotschaft stund.
Du warst mein lieber Leiter, du warst mein heller Stern,
Du mahntest mich zur Eile nach meiner Heimat fern.
So zog ich rasch des Weges, seitab vom Land Sarbug,
Und auch vorbei an Babel trug mich der Reise Flug Nach Maishans Hafenplätzen, dem großen Handelsort.
Da traf ich zwei Gesandte von meinen Eltern dort.
Die brachten mir den Mantel der Königsherrlichkeit Den ich zurückgelassen, das lichte Sternenkleid.10
Soweit das GNOSTISCHE PERLENLIED; es ist der Form nach ein Märchen, dem Inhalt nach reinste Gnosis. Der „Prinz“ ist die unsterbliche Geistseele des Menschen, das „Königreich des Vaters“ das Paradies in der geistigen Lichtwelt. Das Königsgewand, das er trug, soll den spirituellen Lichtkörper darstellen; diesen muss er einstweilen ablegen, wenn er nach „Ägypten“ – in die niedere, von den Archonten beherrschte Materiewelt – ausgesandt wird. Sein Auftrag: die Perle aus dem Brunnengrund zu heben, bedeutet: die verborgenen göttlichen Lichtfunken aus ihren materiellen Verschalungen zu befreien: der Mensch als Erlöser der Natur.
Der Prinz hat die Kleider der Ägypter angelegt, also einen dichteren irdischen Leib angenommen. Sobald er aber von der Speise der Ägypter gegessen hatte, vergaß er seinen Auftrag. Der Erlöser bedarf nun selbst der Erlösung. Da kommt jedoch der Brief aus der geistigen Lichtwelt, der den Prinzen an seine wahre Urheimat und seinen Auftrag erinnert. Der Brief bedeutet die geistigen Lehren der Gnosis, das Urwissen der Esoterik. Er verhilft dem Prinzen zu echter Selbsterkenntnis und ermöglicht es ihm, seinen Auftrag auszuführen. Nun kehrt er in sein Königreich zurück und bekommt wieder sein „Sternenkleid“, seinen göttlichen Lichtleib.
Einhörner, Drachenund Fabelwesen
Das Einhorn
Eines der populärsten Märchenwesen, das uns zugleich eine höhere Welt des Geistes erahnen lässt, ist jenes mythische Fabeltier, das wir seit der ausgehenden Antike unter dem Namen „Einhorn“ kennen. Überall begegnet uns das scheue Einhorn, auf Gemälden und Wandteppichen, auf mittelalterlichen Paradies-Darstellungen, in Märchen, Filmen und Gedichten, bis in die Gegenwart hinein. Es begegnet uns, in wandelnden Gestalten, aber doch immer mit denselben Charakteristika, im Alten China, in Indien, Persien, in der Bibel, vor allem im Buch Hiob und den Psalmen Davids, in der berühmten Pariser Gobelin-Serie Die Dame und das Einhorn (La Dame à la Licorne), ausgestellt im Cluny-Museum, auf Fresken in der Engelsburg in Rom, auf Bildern von Hans Holbein und Lucas Cranach, auf Wappen und Apothekenschildern. Dichter haben es besungen, vor allem Rainer Maria Rilke, der es wie ein Wahrbild vor unserem Auge auferstehen lässt:
Der Beine elfenbeinernes Gestell
bewegte sich in leichten Gleichgewichten,
ein weißer Glanz glitt selig durch das Fell,
und auf der Tierstirn, auf der stillen, lichten,
stand, wie ein Turm im Mond, das Horn so hell,
und jeder Schritt geschah, es aufzurichten.
Das Maul mit seinem rosa-grauen Flaum
war leicht gerafft, sodass ein wenig Weiß
– weißer als alles – von den Zähnen glänzte;
die Nüstern nahmen auf und lechzten leis.
Doch seine Blicke, die kein Ding begrenzte,
warfen sich Bilder in den Raum
und schlossen einen blauen Sagenkreis.11
Selbst noch im 20. Jahrhundert feiert das Einhorn seine Auferstehung und Wiederkunft. Der Märchenroman von Peter S. Beagle DAS LETZTE EINHORN (THE LAST UNICORN, 1968) wurde zu einem Kultbuch. Es erzählt, wie der Titel schon sagt, die Geschichte von dem „letzten Einhorn“ in einer entzauberten Welt. In einer poetischen Sprache, die Urmärchenhaftes wieder heraufdämmern lässt, wird es folgendermaßen beschrieben: „Es hatte keine Ähnlichkeit mit einem gehörnten Pferd, wie Einhörner gewöhnlich dargestellt werden; es war kleiner und hatte gespaltete Hufe und besaß jene ungezähmte, uralte Anmut, die sich bei Rehen nur in schüchtern-scheuer Nachahmung findet und bei Ziegen in tanzendem Possenspiel. Sein Hals war lang und schlank, wodurch sein Kopf kleiner aussah, als er in Wirklichkeit war, und die Mähne, die fast bis zur Mitte seines Rückens floss, war so weich wie Löwenzahnflaum und so fein wie Federwolken. Das Einhorn hatte spitze Ohren und dünne Beine und an den Fesseln Gefieder aus weißem Haar. Das lange Horn über seinen Augen leuchtete selbst in tiefster Mitternacht muschelfarben und milchig. Es hatte Drachen mit diesem Horn getötet und einen König geheilt, dessen vergiftete Wunde sich nicht schließen wollte, und für Bärenjunge reife Kastanien heruntergeschüttelt.“12
Das Einhorn steht als ein Sinnbild für einsames Umherschweifen. Aber diese Einsamkeit bedeutet nicht etwa Isolierung, Verlassenheit, sondern viel eher Freiheit, Unabhängigkeit, Souveränität, die alles überschauende Einsamkeit des Adlers, der sich hoch in die Lüfte schwingt, die Einsamkeit wahrer Verbundenheit mit der Natur. Eine solche, zutiefst schöpferische Einsamkeit hat in Indien auch ein so großer Erleuchteter wie Buddha für sich in Anspruch genommen, der sich in einer von dem schwedischen Tierschriftsteller Bengt Berg übersetzten „Buddha-Hymne“ selbst mit dem Einhorn vergleicht, wie es in der immer wiederkehren Schlusszeile deutlich ausgedrückt wird:
Einem Löwen gleich, ohne Furcht vor Geschrei,
Einem Winde gleich, nie in Netzen gefangen,
Einer Lotosblume gleich, nie vom Wasser besprengt,
Lass' mich einsam wie ein Einhorn wandern.13
Das alttestamentliche BUCH HIOB nimmt ebenfalls auf die Freiheit und Unbezähmbarkeit des Einhorns Bezug: „Meinst du, das Einhorn werde dir dienen und bleiben an deiner Krippe? Kannst du ihm dein Joch aufknüpfen, die Furchen zumachen, dass es hinter dir brache in Gründen? Magst du dich darauf verlassen, dass es so stark ist? Und wirst du es dir lassen arbeiten? Magst du ihm trauen, dass es deinen Samen dir wiederbringe und in deine Scheune sammle?“ (Hiob 39/9). Es sind alles rhetorische Fragen: das Einhorn ist frei, wild, unzähmbar, darin liegt der Sinn der hier zitierten Sätze.
Talmudische Texte berichten von wilden Kämpfen des Einhorns mit dem Löwen, und so wurde das Einhorn im Judentum zu einem Symbol für göttliche Macht und unbesiegbare Kraft, die Gott besonders seinem „auserwählten Volk“ zeigte: „Gott hat sie aus Ägypten geführt, seine Freudigkeit ist wie eines Einhorns.“ (4. Mose 23/22). „Seine Herrlichkeit ist wie eines erstgeborenen Stiers, und seine Hörner sind wie Einhornhörner; mit denselben wird er stoßen die Völker zu Haufen, bis an des Landes Enden.“ (5. Mose 33/17) Und interessanterweise wird in der jüdisch-christlichen und mittelalterlichen Tradition die Stärke des Einhorns, dieses wunderbaren Zauberwesens, zunehmend als etwas Unheimliches, Bedrohliches empfunden, sodass zuletzt ein Martin Luther aufstöhnen konnte: „Hilf mir aus dem Rachen des Löwen und errette mich von den Einhörnern!“ (Psalm 22/20-22)
Aber trotz seiner unbändigen, zuweilen furchteinflößenden Kraft bleibt das Einhorn doch ein überirdisches himmlisches Wesen, Wohngenosse und Gefährte von Adam und Eva im Paradies, wie die Legende zu berichten weiß: „Gott forderte Adam auf, die Tiere zu benennen. (….) Das erste Tier, dem er einen Namen gab, war das Einhorn. Als Gott den Namen hörte, kam er hernieder und berührte die Spitze des einzigen Hornes, das diesem Tier auf der Stirne wuchs. Von da an war das Einhorn erhöht über die anderen Tiere. Adam und Eva konnten auf seinem Rücken reiten. Alle Tiere und das Menschenpaar lebten in Frieden miteinander, bis zu dem Tage, als Adam und Eva von der verbotenen Frucht aßen. Sie probierten die Früchte der Erkenntnis, fingen an, sich zu schämen und mit dem Laub der Blätter zu bekleiden. Gott war erzürnt über ihre Tat und vertrieb sie aus dem Garten Eden. Zwei Cherubim mit flammenden Schwertern bewachten fortan den Eingang. Gott gab dem Einhorn die Wahl, im Paradiese zu bleiben oder Adam und Eva zu begleiten. In die Welt hinaus zu begleiten, dorthin, wo Pest und Kriege herrschen, die Kinder unter Schmerzen geboren werden und alles Leben sterblich ist. Das Einhorn folgte Adam und Eva. Für sein Mitleid wurde das Einhorn mit besonderen Gaben gesegnet. Wählte es doch aus Liebe den schweren Weg der Menschen und blieb nicht an jenem Ort der Schönheit und Freude.“14
Esoterisch gesehen symbolisiert das Einhorn unser höheres Selbst, die Monade, denn auch dieses Geistselbst entstammt dem „Paradies“, der göttlichen Lichtwelt. Nur aus Mitleid hat es sich zum Herabstieg in die niedere Materiewelt entschlossen. Dies war ein echtes Opfer, eine Tat der Selbstaufopferung, und daher wurde schon im Mittelalter das Einhorn mit Christus gleichgesetzt. Auch Christus ging freiwillig in die Materie hinein. Das Einhorn steht esoterisch als ein Symbol für den inneren göttlichen Funken, für den Wesensanteil des Menschen, der sich trotz irdischer Verkörperung himmlisch, überirdisch, spirituell rein erhalten hat und sich nicht durch Materielles korrumpieren lässt. Der Innere Funke, die Monade, das höhere Selbst – wie immer wir es nennen wollen – folgt dem Menschen stets als unsichtbarer Lebensbegleiter auf dem Weg durch die irdische Materie, geradeso wie in der Legende das Einhorn einst das Paradies verließ, um Adam und Eva zu folgen.
In Peter S. Beagles Märchenroman steht der Satz: „Einhörner sind unsterblich“15. In seiner Unschuld weiß das Einhorn nichts von der Tragik des Sterbenmüssens, von Schuld und Verstrickung; es erfreut sich des ewigen Lebens und einer paradiesischen Zeitlosigkeit, wie sie dem ursprünglichen Schöpfungsplan entspricht. Obgleich es Adam und Eva in die Welt folgte, blieb das Einhorn immer ein Paradieswesen; mit ihm kam ein Stück Himmel auf die Erde herab, und so kündet es wie ein Lichtbote von einer höheren Welt. Daher auch die sprichwörtliche Scheue des Einhorns: es hat sich den Gesetzen dieser Welt nie angepasst, und es entzieht sich dem Zugriff des Irdischen, Welthaften, Materiellen, weil es einer anderen Welt entstammt. Nur mit den „Augen des Geistes“ kann das Einhorn geschaut werden; es ist Gegenstand einer Vision, aber kein wissenschaftliches Studienobjekt. Scheu und zurückgezogen lebt es in seinem hortus conclusus, dem „geschlossenen Garten“, einem Zaubergarten, in dem nicht mehr die Gesetze der Welt, sondern spirituelle Gesetze gelten. Kein Zweifel, dieser mystische Einhorngarten befindet sich nicht in der äußeren Raumzeitwelt, sondern im Innersten unserer Seele.
Wenn man in Indien Buddha, im Westen Christus mit dem Einhorn gleichgesetzt hat, so kann es ja nur ein Symbol des höheren Selbst – der Monade – sein. Auch die Monade, ihrem Wesen nach scheu und zurückgezogen, entzieht sich jeder Kategorisierung, Einordnung, Vereinnahmung. Anstatt sich dem eisenharten Zugriff dieser Welt zu beugen, will sie lieber – wie das Einhorn – frei, wild und ungezähmt bleiben, will im Umherschweifen ihre Souveränität erfahren. Niemand wird das Einhorn einfangen, zähmen, bändigen können, niemand ihm Fesseln anlegen, denn der Geist bleibt frei und lässt sich nicht von der Materie an die Kette legen. So bedeutet das Einhorn im Grunde etwas rein Geistiges. Es ist der stets frei umherschweifende Geistesfunke, der seine Göttlichkeit in sich trägt und seines Ursprunges in der höheren geistigen Welt immer eingedenk bleibt. Im Einhorn als Sinnbild verkörpert sich das Höchste, Reinste, Spirituellste, das sich denken lässt, der Innere Funke Gottes.
Die spirituelle Natur des Einhorns zeigt sich auch in seiner Androgynität und in seinem Bezug zur Jungfräulichkeit. Das Androgyne kommt beim Einhorn schon im äußerlichen Anblick zum Ausdruck: die üppige, wallende Haarmähne und die runden weichen Formen bekräftigen das Weibliche, das spitze Horn und die ungestüme Kraft eher das Männliche. So zeigen sich Männliches und Weibliches vollkommen integriert, ohne dass das eine sich auf Kosten des anderen verwirklicht. Androgynen Charakter besitzt aber auch das höhere göttliche Selbst. Und wir wissen aus den Traditionen der Esoterik, dass die ursprüngliche Menschheit, als sie noch auf den höheren geistigen Ebenen weilte, zweigeschlechtlich war. Erst im Laufe einer späteren Evolutionsperiode, im Zuge stärkerer physischer Verstofflichung, trat die Geschlechtertrennung ein. Und in einem künftigen vergeistigten Zustand wird die Menschheit ihre ursprüngliche Androgynität wiederhergestellt haben.
Eine christliche Legende erzählt, wie das Einhorn, das von niemandem gefangen genommen werden kann, zutraulich seinen Kopf in den Schoß einer keuschen Jungfrau legt. In einer aus Syrien stammenden Version der Geschichte, die mehr das Erotische daran betont, lesen wir: „Es gibt ein Tier mit dem Namen 'dajja'. Das ist so sanft wie es auch stark ist, und kein Jäger vermag es zu fangen. Mitten auf der Stirn trägt es ein einzelnes Horn. Nur mit List kann man seiner habhaft werden. Dorthin, wo es des öfteren gesehen wird, führt man eine reine und keusche Jungfrau. Sobald das Tier diese bemerkt, kommt es näher und wirft sich in ihren Schoß. Die Jungfrau bietet dem Einhorn ihre Brüste dar. Das Tier beginnt zu saugen, wird vertraut mit ihr und immer zutraulicher. Sobald das Mädchen das Horn auf der Stirn berührt, lähmt es jeden Widerstand des Einhorns. Die Jäger können es jetzt ergreifen und zum König bringen. So wie das Einhorn brachte auch Christus sich zum Opfer dar und pflanzte das Horn der Erlösung für uns, vermittelt durch die Gottesmutter, die unbefleckte und reine Jungfrau Maria.“16
So steht das Einhorn auch in Bezug zur Großen Muttergöttin, die einen Archetyp spiritueller Weiblichkeit bildet und in der Jungfrau Maria nur eine ihrer zahlreichen Ausdrucksformen findet. Im Mittelalter galt die mystische Einhornjagd als ein Symbol für spirituelle Suche, ähnlich der Suche nach dem Heiligen Gral oder dem alchemistischen Stein der Weisen. Bei so vieler und tiefgründiger Symbolik steht die Frage, ob es denn Einhörner jemals „wirklich“ gegeben habe, als unbedeutend im Hintergrund. Bei einem esoterischen Symbol zählt nie die historische Realität. Zwar gibt es seit der späten Antike immer wieder Berichte von Augenzeugen, die Einhörner „gesehen“ haben wollen, etwa der von dem Griechen Megasthenes, der im 3. Jh. v. Chr. im Auftrag von Seleukos nach Indien – dem klassischen Land aller Wunder und Fabeln – gereist sein soll, wo er das meist mit „Einhorn“ übersetzte Tier Kartazoon