Die Weisheit des Westens - Manfred Ehmer - E-Book

Die Weisheit des Westens E-Book

Manfred Ehmer

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Beschreibung

Viele Zeitgenossen, die sich heute enttäuscht von den Werten des Abendlandes abwenden und ihr Heil vorzugsweise in der indianischen, ostasiatischen und altchinesischen Weisheit zu finden glauben, scheinen nicht zu wissen, dass es auch in Europa eine Tradition spirituellen Wissens gibt. So in den Mysterienreligionen der Kelten, Germanen und Griechen, in den römischen Sonnenkulten, in den verborgenen Nebenströmungen des Christentums, in der Artus- und Gralssage sowie in den Ideen der Gnostiker, Rosenkreuzer, Theosophen und Transzendentalisten. Das vorliegende Buch bringt diesen in der Tiefe ruhenden Schatz europäischer Esoterik wieder ans Licht - eine umfassende Kulturgeschichte des geistigen Abendlandes, von den ältesten Ursprüngen der Vorgeschichte bis in die Gegenwart unserer Weltwendezeit.

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MANFRED EHMER

DIE WEISHEIT DES WESTENS

MYSTERIEN, MAGIE UND EINWEIHUNG IN EUROPA

© Manfred Ehmer

1. Auflage 2016

2. Auflage 2018

Autorenhomepage: www.manfred-ehmer.net

Abbildung auf Umschlag und 3. Innenseite:

Frei gestaltet nach einer Graphik von William Blake

The Ancient of Days (1794). Bildquelle: Wikipedia.de

Verlag und Druck: tredition GmbH,

Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

Erschienen in der Buchreihe edition theophanie

ISBN 978-3-7469-1916-4

(Paperback)

ISBN 978-3-7469-1917-1

(Hardcover)

ISBN 978-3-7469-1918-8

(e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhaltsverzeichnis

Das Licht des Westens

Urheimat Atlantis

Die Sage vom Goldenen Zeitalter

Der Atlantis-Bericht Platons

Atlantis – geologisch betrachtet

Das Erbe der Sonnenreligionen

Was wussten die Phönizier?

Das Atlantis der Geheimlehre

Der Untergang von Atlantis

Megalithische Mysterienreligionen

Sinnbedeutung der Großen Steine

Die megalithische Magna Mater

Stonehenge – ein Sonnentempel

Die Himmelsscheibe von Nebra

Die Megalithkultur – atlantisch?

Die Urreligion Indiens

Der indogermanische Wurzelboden

Die vedische Religion Altindiens

Die Lichtbotschaft des Zarathustra

Das Druidentum

Herkunft und Identität des Keltentums

Baumkult und heilige Haine

Die Druiden – die Brahmanen Europas?

Die Hochgötter Irlands

Die Götter der Gallier

Die Vier Zweige des Mabinogion

Die bardische Lehre der 'drei Kreise'

Die Renaissance des Druidentums

Die Esoterik der Edda

Quellen der nordischen Mythologie

Der Weltenbaum Yggdrasil

Die Runen – ein Mysterienweg

Baldurs Tod und Götterdämmerung

Thule – Lichtheimat des Nordens

Die Externsteine

Eine uralte Mysterienstätte

Naturkunstwerk Externsteine

Osning – der heilige Asenwald

Geomantie der Externsteine

Eine Sonnenkult-Kraftlinie

Beschreibung der 5 Hauptfelsen

Armins Aufstand gegen Rom

Karls Kampf gegen die Sachsen

Wem gehören die Exsternsteine?

Griechische Mysterienreligionen

Ursprünge der griechischen Mysterien

Die Demeter-Mysterien von Eleusis

Die Mysterien von Samothrake

Die Orphischen Mysterien

Pythagoras – Künder ewiger Harmonie

Die Esoterik in der Philosophie Platons

Etrurien und Rom

Das Geheimnis der Etrusker

Numa – Magier und Priesterkönig

Orakelwesen und Zukunftsschau

Spätrömische Sonnenkulte

Die Mithras-Mysterien

Vom Mithras-Kult zum Christentum

Gnosis im Abendland

Erscheinungsformen der Gnosis

Kosmologie und Erlösungsweg

Eine gnostische Weltreligion

Die Mission des Bogomilentums

Die Bewegung des Katharismus

Der Kreuzzug gegen die Katharer

Der Gralsimpuls

Hintergründe der Artussage

Das Mysterium der Tafelrunde

Merlin – ein keltischer Eingeweihter

Wolfram von Eschenbachs Parcival

Das Gralsgeheimnis nach Trevrizent

Ein Exkurs über die Lohengrin-Sage

Die Quellen der Gralserzählung

Die Hermetik / Alchemie

Das Doppelgesicht der Alchemie

Die Tabula Smaragdina

Wer war Hermes Trismegistos?

Die hermetischen Schriften

Die hermetische Philosophie

Die Mystik der Kabbala

Magie der Renaissance

Agrippa von Nettesheim – der Urfaust

Das spätmittelalterliche Faustbuch

John Dee – Mathematiker und Magier

Robert Fludd – der erste Rosenkreuzer

Esoterische Freimaurerei

Preußen unter den Rosenkreuzern

Hermetische Freimaurerei

Cagliostro – ein Rätsel für seine Zeit

Saint-Germain – Magier und Adept

Die Zauberflöte – ein Mysterienspiel

Das Rosenkreuzertum

Ursprünge des Rosenkreuzertums

Die Chymische Hochzeit

Paracelsus von Hohenheim

Die Komosophie Jakob Böhmes

Goethes Rosenkreuzertum

Goethe als Esoteriker

Goethes spirituelle Naturwissenschaft

Goethes esoterisches Menschenbild

Das Göttliche und die Götter

Goethes metaphysischer Titanismus

Das spirituelle Amerika

R. W. Emerson – der Nonkonformist

H. D. Thoreau – der Verweigerer

Walt Whitman – Mystik der Grashalme

Die moderne Theosophie

Helena P. Blavatsky und ihr Werk

Grundgedanken der Geheimlehre

Die Anthroposophie Rudolf Steiners

Weltwendezeit

Das Kommen eines Neuen Äons

Paradigmenwechsel in der Physik

Integrales Bewusstsein nach Gebser

Spirituelle Evolution nach Aurobindo

Das Gottmenschentum Solowjefs

Entwicklung zum Punkt Omega

Anmerkungen und Zitate

Bildnachweis

Das Licht des Westens

Gottes ist der Orient!

Gottes ist der Okzident!

Nord- und südliches Gelände

Ruht im Frieden seiner Hände.

Johann Wolfgang Goethe1

Ex Oriente Lux – aus dem Osten kommt das Licht, nämlich das klare Licht der Gotterkenntnis: dieser Grundsatz galt nahezu uneingeschränkt für den weisheitssuchenden Abendländer, seitdem das religiöse Wissen Indiens und Tibets dem Westen zugänglich gemacht wurde. Die im 19. Jahrhundert entstandene westliche Theosophie, aus der später die Anthroposophie Rudolf Steiners hervorging, hat wesentlich dazu beigetragen, indische Weisheit in den westeuropäischen Ländern bekannt zu machen, und zwar in einer Form, die der Bewusstseinslage des modernen europäischen Menschen entspricht. Der Hinduismus, die traditionelle Hindu-Religion, musste von Aberglauben, üppig wuchernden Mythologien und unverständlichen Bräuchen gereinigt und auf wenige Grundwahrheiten zurückgeführt werden, die für jeden nach Religion Strebenden verbindlich sein müssen. Die Theosophische Gesellschaft, die im Jahre 1875 von Helena Blavatsky (1831–1891) und Henry Olcott (1832–1907) begründet wurde, steht am Beginn jener großen westöstlichen Kulturbegegnung, die man heutzutage etwas schlagwortartig als Ost-West-Synthese bezeichnet.

Die Bedeutung der morgenländisch-asiatischen Spiritualität für Europa, ja für die Menschheits-Entwicklung soll in keiner Weise geschmälert werden. Asien besitzt zweifellos eine äußerst reichhaltige Tradition spirituellen Wissens, vom indischen Brahmanismus bis zum japanischen Zen-Buddhismus, und der moderne Europäer blickt oftmals mit Neid auf die tiefe Religiosität des Ostens. So notierte etwa Hermann Hesse schon 1914 in einem seiner Briefe: »Der ganze Osten atmet Religion, wie der Westen Vernunft und Technik atmet. Primitiv und jedem Zufall preisgegeben scheint das Seelenleben des Abendländers, verglichen mit der geschirmten, gepflegten, vertrauensvollen Religiosität des Asiaten, er sei Buddhist, Mohammedaner oder was immer.«2 In Europa waren die Romantiker wohl die Ersten, die sich dem indischen Geistesleben bewusst zuwandten; schon 1823 übersetzte Friedrich von Schlegel die Bhagavad Gita, den heiligen Epos Indiens, ins Lateinische. Und der Philosoph Schopenhauer, der große Pessimist, sagte von den Upanishaden: »Es ist die belohnendste und erhebenste Lektüre, die in der Welt möglich ist. Sie ist der Trost meines Lebens gewesen und wird der meines Sterbens sein.«3

Europa und Indien, diese beiden Subkontinente der gewaltigen eurasischen Landmasse, seit urgeschichtlicher Zeit miteinander verbunden durch den Strom der indogermanischen Völkerwanderungen, stellen kulturell wie auch spirituell zwei sich ergänzende Pole dar. Von beiden Polen aus gibt es einen Weg zu Gott. Es gibt einen indischen, aber auch einen europäischen Weg der geistigen Befreiung und der Gotterkenntnis. Der anfangs zitierte bekannte Satz Ex Oriente Lux, Aus dem Osten kommt das Licht, muss daher in seiner Geltung eingeschränkt werden. Nicht aus dem Osten kommt das Licht der spirituellen Erkenntnis, sondern aus uns selbst; wir müssen Indien, das geistige Indien, die verlorene Lichtheimat in uns selbst wiederentdecken – als die terra incognita unserer Seele.

Heutzutage spricht man vor allem in Kreisen der New-Age-Bewegung recht viel von der Ost-West-Synthese als einer weltweiten Konvergenz des Geistes, die auf dem Gebiet der Religion und Philosophie westliche und östliche Geistigkeit zu einer höheren Einheit verbinden soll. Eigentlich sollte man jedoch eher von einer Ost-West-Symbiose sprechen im Sinne einer wechselseitigen geistigen Befruchtung von Europa und Asien; zur Einheit verschmelzen können West und Ost jedoch nicht. Denn die westliche und die östliche Sinnesart sind, obgleich sie doch beide das Göttliche anstreben, grundverschieden. Der indische Yoga-Weg, die buddhistische Schulung, die japanische Zen-Meditation, sie alle haben ihre tiefe Bedeutung und Berechtigung, aber sie sind nicht eigens für den Westmenschen gemacht worden, und sie sollen auch nicht vom Westmenschen einfach nachgeahmt werden. Die Begegnung mit der morgenländisch-asiatischen Spiritualität kann den Westmenschen jedoch dazu anregen, seine eigene kulturelle Identität wiederzugewinnen: sich das verloren gegangene geistige Erbe des Abendlandes neu bewusst zu machen.

In diesem Sinne hat Rudolf Steiner (1861–1925), der selbst ursprünglich aus den Reihen der Theosophischen Gesellschaft kam, den Hauptunterschied zwischen östlicher und westlicher Geistigkeit wie folgt dargestellt: »Der Ostmensch sprach von der Sinnenwelt als dem Schein, in dem auf geringere Art lebt, was er in vollgesättigter Wirklichkeit in seiner Seele als Geist empfand; der Westmensch spricht von der Ideenwelt als dem Schein, in dem auf schattenhafte Art lebt, was er in vollgesättigter Wirklichkeit mit seinen Sinnen in der Natur empfindet. Was sinnliche Maja dem Ostmenschen war, ist sich selbst tragende Wirklichkeit dem Westmenschen. Was seelisch erbildete Ideologie dem Westmenschen ist, war sich selbst schaffende Wirklichkeit dem Ostmenschen. Findet der heutige Ostmensch in seiner Geist-Wirklichkeit die Kraft, um der Maja die Seinsstärke zu geben, und findet der Westmensch in seiner Natur-Wirklichkeit das Leben, um in seiner Ideologie den wirkenden Geist zu schauen: dann wird Verständigung kommen zwischen Ost und West.«4

In geistiger Hinsicht bedeutet das Indertum die Fähigkeit, das Bewusstsein zurückzuwenden in das eigene Innere, Innenschau und Kontemplation zu üben, eine Fähigkeit, die im Zyklus der Tierkreiszeichen vertreten wird durch das Zeichen Krebs. Die Weltalter-Astrologie, wie wir sie etwa bei Ernst Künkel, Das Große Jahr (1922) dargestellt finden, bringt daher auch den Anfang der urindischen Kultur mit dem Krebs-Weltzeitalter (etwa 8550 bis 6450 v. Chr.) in Verbindung. Die Inder sind ihrem Ursprung und ihrer inneren Anlage nach die Pioniere auf dem Gebiet der Innenwelt-, Seelen- und Bewusstseinsforschung. Mit dem klassischen Yoga, nach den Yoga-Sutras des Patanjali, wurde ein umfassendes System der Seelenschulung entwickelt.

Das geistige Europäertum stellt hierzu deutlich einen Gegenpol dar. Das Europäertum, das ist ja gerade der Tat-Impuls, der Weg der aktiven Weltgestaltung, der auf der Ebene der Tierkreiszeichen dem feurigen Zeichen des Widder entspricht, jenem Zeichen, unter dem vor Jahrtausenden die Indogermanen den heute als Europa bekannten Erdteil in Besitz nahmen. Geschichtlich gehen die Ursprünge der europäischen Hochkulturen in das Widder-Weltzeitalter (etwa 2250 bis 50 v. Chr.) zurück. So kann man also sagen: Der Inder orientiert sich mehr an der Innenwelt, der Europäer dagegen eher an der sinnlich erfahrbaren Außenwelt. Hieraus ergeben sich nun zwei ganz verschiedene Welthaltungen:

Der Weg des Ostens in religiöser Hinsicht bestand eigentlich schon immer darin, die Sinnenwelt als bloßen Schein zu entlarven und die jenseits des Sinnlichen liegende Gott-Wirklichkeit zu ergreifen. Der westliche Weg dagegen betrachtet die Sinnenwelt als ganz und gar real, will sie jedoch auch transparent machen für die Schau der ihr innewohnende Gott-Wirklichkeit. Während der Heilsweg des frommen Ostmenschen darin liegt, sich aus der Welt schrittweise zurückzuziehen, so sieht der spirituelle Westmensch seine Berufung gerade in der aktiven Weltgestaltung aus der Kraft göttlichen Bewusstseins. Das Göttliche soll also in der Welt Gestalt annehmen; die materielle Erdenrealität ist keineswegs bloße Maja, ein Reich der Illusion und der Täuschung, sondern vielmehr ein Ort der Bewährung; die Inkarnation des Menschen im Reich der Materie ist keine Strafe gefallener Seelen, sondern eine Aufgabe und Prüfung, die spirituelle Höherentwicklung ermöglicht.

Seiner wahren Erdenaufgabe kann der Mensch auch nicht dadurch gerecht werden, dass er in unbewusste Trance- und Traumzustände zurückfällt, sondern nur dadurch, dass er die im Westen bereits erreichte Bewusstseinswachheit steigert in Richtung eines göttlich-transzendenten Überbewusstseins. Wahre Einweihung kann nur darin liegen, den Menschen zu seinem höheren Geistes-Ich hinzuführen. Damit dies geschehen kann, musste zunächst einmal im Menschen ein Ich-Bewusstsein, ein individueller Persönlichkeits-Kern vorhanden sein. Deshalb bestand der weltgeschichtliche Auftrag des Westens darin, das Persönlichkeits-Prinzip herauszubilden, während der Heilsweg des Ostens umgekehrt auf Entpersönlichung hinzielt; das Endziel ist das Aufgehen des personalen Ichs im amorphen Schoß der Weltenseele, nenne man sie nun das Brahma, das Nirvana oder wie auch immer.

Besonders deutlich tritt die Persönlichkeits-Verneinung des Asiatentums in den Predigten Buddhas zutage5, in denen das personale Ich des Menschen geradezu als eine Illusion gekennzeichnet wird – das Ziel des Heilsweges im Buddhismus besteht nur noch darin, das Rad der Wiedergeburten aufzuhalten, sich der leidbehafteten Diesseits-Welt (samsara) zu entwinden, um schlussendlich wieder einszuwerden mit dem amorphen göttlichen Urgrund aller Dinge (nirvana). Und diese Sichtweise kommt auch nicht von ungefähr. Die morgenländisch-asiatischen Seelenschulungen sind ja immer schon mit einer Weltanschauung einhergegangen, die nur das Geistige als real anerkennt; die Materie erscheint dem Geist gegenüber als das Nicht-Seiende schlechthin, als Illusion, als Maja-Schleier.

Demgegenüber hat der Westen im Verlauf seiner Kulturentwicklung einen anderen Weg beschritten. Der Westen hat sich tief in das Reich der Materie hineinbegeben, ja noch mehr, er hat sich im Materiellen verloren, so wie der Osten sich im Geistigen verloren hatte. Auf den genialen Esoteriker Platon folgte der nüchterne Skeptiker Aristoteles; auf den geistigen Höhenflug der mittelalterlichen Mystik folgte der verstandesscharfe Aufklärer Kant, der Zertrümmerer aller Metaphysik. Im Westen hatte sich seit dem so genannten »Universalienstreit« im hohen Mittelalter, der mit dem Sieg des Nominalismus über den Universalismus endete, eine Weltanschauung durchgesetzt, die nur noch die sinnlich erfahrbaren Tatsachen als tatsächlich existierend annimmt. Das Geistige verblasst gegenüber dem allgegenwärtigen Materiellen; es tritt in den Hintergrund: nur noch schattenhaft, wie eine Schimäre, gelangt es ins Blickfeld.

So kam es denn im Lauf der Menschheits-Entwicklung dazu, dass das Indertum immer mehr in einen weltentrückten Spiritualismus, das Europäertum dagegen immer tiefer in einen (theoretischen wie auch praktischen) Materialismus absank. Europa hatte zwar den Auftrag des Weltwirkens, aber es hätte ein Weltwirken aus dem Geist sein sollen; da Europa aber mindestens seit der frühen Neuzeit keine geistigen Werte mehr besaß, konnte sein Weltwirken nur noch ein rein imperialistisches und kolonialistisches sein. Im Jahre 1492, zu Beginn der europäischen Neuzeit, gelangte Christoph Columbus nach Amerika, und wenig später entdeckte der Portugiese Vasco da Gama den Seeweg nach Indien. In der Folgezeit errichteten die seefahrenden Nationen Europas, die Spanier und Portugiesen, die Holländer, Engländer und Franzosen, gewaltige überseeische Kolonialreiche; ganze Erdteile wurden von ihnen unterjocht und ausgeplündert. Und mit dem Anwachsen des aus allen Erdteilen geräuberten Reichtums wuchs den Europäern zugleich auch die innere Armut, die spirituelle Bedürftigkeit. Denn es gibt ein Gut, das durch Geld nicht aufzuwiegen ist, nämlich wahre Religion im Sinne von religio: Rückbindung an das Geistig-Göttliche.

Nur ein geistig bankrottes, in den Materialismus abgesunkenes Europa konnte dahin gelangen, aus Mangel an eigener Spiritualität bei den Religionen des Ostens in die Schule gehen zu müssen! Der Versuch, bei fremden Kulturen Anleihen zu machen, anstatt aus dem Eigenen zu schöpfen, weist hin auf eine tiefgreifende Kulturkrise: Europa hat seine innere Mitte verloren! Ein Kennzeichen hierfür ist es auch, dass immer weitere Kreise in den westlichen Ländern irgendwelchen neo-indischen Pseudo-Gurus und Sekten-Stiftern hinterherlaufen. Was nützt uns denn die Pilgerfahrt in das geographische Land Indien, solange wir nicht das Seelenland Indien in uns selbst gefunden haben – solange wir nicht mit uns selbst identisch geworden sind? Zu solcher Identität mit sich selbst gehört auch die bewusste Verwurzelung im eigenen Kulturgrund. Wir Europäer, wir sind abendländische Seelen; wir können aber auch das geistige Indien in uns erwecken. Genau dies würde echte Ost-West-Symbiose bedeuten!

Es ist bezeichnend, dass gerade im 19. und 20. Jahrhundert immer wieder große Wellen der Indien- und Asien-Begeisterung durch das europäische Geistesleben hindurchgegangen sind – in Deutschland wohl zuerst im Rahmen der Romantik (Friedrich Rückert vor allem, der meisterhafte Übersetzer morgenländischer Weisheitsliteratur), dann noch einmal in den 1920er Jahren, zuletzt in unmittelbarer Vergangenheit im Zusammenhang mit der New-Age-Bewegung. Europa, das faustisch nach den Sternen gegriffen hat, dabei aber seiner inneren Mitte verlustig ging, sucht sein Heil im »Licht des Ostens«, wenn nicht im indianischen Schamanismus oder in irgendeiner okkulten Magie. Ein Weg aus der tiefgreifenden Kulturkrise des modernen Europa wird damit jedoch nicht gewiesen. Schon im Jahr 1930 schrieb Carl Gustav Jung: »Wir müssen vielmehr lernen zu erwerben, um zu besitzen. Was der Osten uns zu geben hat, soll uns bloße Hilfe sein bei einer Arbeit, die wir noch zu tun haben. Was nützt uns die Weisheit der Upanishaden, was die Einsichten des chinesischen Yoga, wenn wir unsere eigenen Fundamente wie überlebte Irrtümer verlassen und uns wie heimatlose Seeräuber an fremden Küsten diebisch niederlassen.«6

In dem Maße also, in dem wir den Geist Indiens in uns aufnehmen, müssen wir auch das verloren gegangene esoterische Wissen Europas neu erschließen. Es gab auch in unserem Erdteil Mysterienschulen und Eingeweihte; es gab auch im Abendland eine verborgene Tradition spirituellen Wissens7, und an diese gilt es in zeitgemäßer Weise anzuknüpfen. Als Westmenschen können wir nur dann das Geistige Indien in uns erwecken, wenn wir es verstehen, uns in jenen lebendigen Strom europäischen Geistes hineinzustellen, der aus der Wesensmitte unserer Kultur fließt.

Wer sich mit den heiligen Ursprüngen der Menschheit befasst, der wird übrigens feststellen, dass die ältesten Wurzeln europäischer wie auch indischer Geistigkeit auf denselben Ursprung zurückgehen, dass sie einmünden in eine gemeinsame Urwurzel. Ost und West waren im Ursprung noch vereint; die vedische Religion Altindiens war indogermanisch, und sie kam aus Europa. Man könnte den eingangs zitierten Satz sogar umkehren und sagen: Ex Occidente Lux – Aus dem Westen kam das Licht! Erst im späteren Verlauf der Kulturentwicklung hat sich Europa, als der westliche Ausläufer Eurasiens, immer mehr in einen krassen Materialismus verrannt, während Indien als die südliche Spitze des eurasischen Riesenkontinents immer mehr in einen weltentrückten Spiritualismus absank. Angesichts einer solchen Welttrennung konnte der britische Dichter Rudyard Kipling sagen: East is East and West is West – they never will meet.

Der Materialismus hat sich als eine Sackgasse erwiesen, und der Spiritualismus bietet kein Heilmittel dagegen. Gerade heutzutage, wo sich auf vielen Gebieten des geistigen Lebens der Beginn eines neuen geisterfüllten Weltäons ankündigt, kommt es mehr denn je darauf an, »Geist« und »Materie« als zwei gleichermaßen reale Seiten derselben übergeordneten Einheit zu erkennen. Also eine ganzheitliche Weltsicht muss errungen werden; so lautet das Gebot der neuen Zeit. Es könnte in vielleicht nicht allzu ferner Zukunft zu einer echten indisch-europäischen Symbiose kommen, aus der ein neues ganzheitliches Weltbewusstsein erwachsen kann, eine nicht weltverneinende, sondern dem Kosmos verbundene Spiritualität. Eine solche Zukunfts-Symbiose würde nicht Verschmelzung, sondern wechselseitige Befruchtung von West und Ost bedeuten. Untrennbar wäre sie verbunden mit einer Rückbindung an die jeweils eigene Kultur mit ihren spirituellen Traditionen.

Ex Occidente Lux! Ich möchte in den Kapiteln dieses Buches nicht das warme, uns so vertraute, manchmal auch etwas schillernde »Licht des Ostens« aufscheinen lassen, sondern das kühle fahle Licht, das aus dem Westen kommt. Es wird uns zunächst vielleicht etwas fremdartig erscheinen, dieses Licht des Westens, doch dann wird es uns plötzlich als etwas Urvertrautes aufscheinen, wie längst Gewusstes, das wieder ins Bewusstsein eintritt…

Urheimat Atlantis

Golden war das Geschlecht der redenden Menschen, Das erstlich die unsterblichen Götter,

Des Himmels Bewohner, erschufen. Jene lebten,

Als Kronos im Himmel herrschte als König,

Und sie lebten dahin wie Götter ohne Betrübnis.

Hesiod1

Die Sage vom Goldenen Zeitalter

Atlantis, die Insel Avalon, die Gärten der Hesperiden, das Paradies, der Garten Eden, das Goldene Zeitalter – Urerinnerungen der Menschheit sprechen noch heute aus diesen mythischen Namen zu uns. Sie bezeichnen einen Urzustand des vollkommenen Glückes und Friedens, in dem der Mensch noch ganz im Einklang mit dem Göttlichen lebte. Die Menschen dieses längst verklungenen Zeitalters scheinen Halbgötter, Gottmenschen und Heroen gewesen zu sein; aber sie mussten im Laufe der Zeit einem anderen, weniger göttlichen Menschengeschlecht weichen. Der Dichter Hesiod (um 700 v.Chr.), ein Zeitgenosse Homers, stellte zuerst die Lehre von den drei Weltaltern auf, von einem Goldenen, Silbernen und Erzernen Zeitalter, wobei er das letztere mit seiner eigenen Zeit gleichsetzte. Die Aufeinanderfolge der Weltalter stellt eindeutig eine absteigende Linie dar, auf der sich der Mensch von seinem göttlichen Ursprung immer weiter entfernt.

Auch der römische Dichter Ovid (eigentlich Publius Ovidius Naso, 43 v. Chr. bis 17 / 18 n. Chr.) besingt das »Goldene Zeitalter«; er beschreibt es als ein Land, in dem die Menschen ohne Strafgesetze und Zwangsgewalt leben, wo ewiger Frühling herrscht, wo allerwärts milde Winde wehen und wo die Erde ganz von allein, ohne die Mühsal des vom Menschen betriebenen Ackerbaus, Feldfrüchte und reiche Ernte hervorbringt:

Ewig waltete Lenz, und sanft mit lauem Gesäusel

fächelten Zephirus Hauche die saatlos keimenden Blumen.

Bald gebar auch Feldfrüchte der ungeackerte Boden.2

Ganz ähnlich beschreibt viele Jahrhunderte später der Dichter Geoffrey of Monmouth in seiner Vita Merlini (um 1150) die Nebelinsel Avalon: »Die Apfelinsel wird auch die glückliche Insel genannt, weil sie alle Dinge aus sich selbst erzeugt. Die Äcker haben dort den Pflug nicht nötig, der Boden wird überhaupt nicht bebaut; es gibt nur, was die schaffende Natur aus sich selbst gebiert. Freiwillig schenkt sie dort Korn und Wein, und in den Wäldern wachsen die Apfelbäume in stets geschnittenem Grase. Aber nicht nur schlichtes Gras, sondern alles bringt der Boden in Fülle hervor, und hundert Jahre oder darüber währt dort das Leben. Neun Schwestern herrschen nach heiteren Gesetzen auf dieser Insel über alle, die aus unserem Lande dorthin gelangen.«3

Die irische Mythe von »Brans Meerfahrt« berichtet von den Zauberinseln Emain Ablach oder Ynys Affalach (Avalon), die weit draußen im Meer des Westens liegen; dort sollen paradiesische Zustände herrschen wie einst im Goldenen Zeitalter: »Es gibt eine Insel in weiter Ferne; um sie herum die prächtigen Rosse des Meeres; herrlicher Lauf gegen die schäumenden Wogen; eine Verzückung dem Auge, dehnt sich glorreich die Ebene, auf der die Heere sich regen im Spiel ... Anmutige Erde, gespannt über die Jahrhunderte der Welt, über die sich Blumen breiten ohne Zahl. Darauf steht ein alter Baum in Blüten, in seinen Wipfeln rufen die Vögel die Stunden ... Unbekannt die Klage oder der Verrat, der so bekannt ist auf der kultivierten Erde; nichts Schnödes oder Schroffes gibt es hier, stattdessen dringt sanfte Musik ans Ohr. Weder Leid, noch Trauer, weder Tod, noch Krankheit oder Siechtum, – daran erkennt man Emain, die Insel; selten wurde ein solches Wunder geschaut. Schönheit einer Erde voller Zauber, unvergleichlich sind ihre Nebel...«4

Die alten Griechen stellten sich ihr Paradies, das Elysium, wohl ähnlich vor; und sie setzten es gleich mit den fern im Westen liegenden »Inseln der Seligen«, auf denen die Hesperiden – nymphenhafte Geister des Westens – die Äpfel der Unsterblichkeit hüten. Dort befindet sich auch der Titan Atlas, der auf seinen Schultern das Himmelsgewölbe trägt, sodass man diese mythischen Inseln durchaus mit »Atlantis« in Verbindung bringen kann. Auch Hesoid spricht von »seligen Inseln«, die sich »am Rande der Welt« und »bei des Okeanos Strudeln« befinden sollen (der Okeanos ist der atlantische Ozean). Dort wohnt unter der Herrschaft des Kronos ein glückliches Geschlecht von Halbgöttern:

War ein göttlich Geschlecht von Helden,

und man benannte Halbgötter sie,

dies Vorgeschlecht auf unendlicher Erde;

Zeus, der Kronide, ließ sie hausen am Rande der Erde,

auch den Unsterblichen fern, und Kronos wurde ihr König;

und dort wohnen sie nun mit kummerentlastetem Herzen,

auf den seligen Inseln und bei des Okeanos Strudeln,

hochbeglückte Heroen; denn süße Frucht wie Honig

reift ihnen dreimal im Jahr die nahrungsspendende Erde.5

Wenn Hesiod die Bewohner der »seligen Inseln« ein »göttlich Geschlecht von Helden« nennt, dann spricht das Alte Testament der Bibel im Zusammenhang mit der Flutlegende davon, dass es vor der Sintflut »Gottessöhne« gegeben habe, welche die Frauen der Menschen ehelichten: »Zu der Zeit und auch später noch, als die Gottessöhne zu den Töchtern der Menschen eingingen und sie ihnen Kinder gebaren, wurden daraus die Riesen auf Erden. Das sind die Helden der Vorzeit, die hochberühmten« (1. Moses, 6/4). Kamen die halbgöttlichen Menschen der Vorzeit, von denen die Bibel, das Gilgamesch-Epos und die Sagen der Griechen übereinstimmend künden, aus dem Reich des Titanen Atlas, aus Atlantis? Lebt in dem Mythos vom »Goldenen Zeitalter« vielleicht eine Erinnerung an die Blütezeit der einstigen Altantis-Kultur?

Der Amerikaner Ignatius Donnelly vertrat jedenfalls die Ansicht, »dass Atlantis die wahre vorsintflutliche Welt war, der Garten Eden, die Gärten der Hesperiden, die Insel der Seligen, die Gärten des Alkinoos, der Olymp, das Asgard der Germanen ... und eine universelle Erinnerung an ein herrliches Land hinterließ, in dem die Menschheit im Frühstadium ihrer Geschichte lange Zeitalter hindurch in Glück und Frieden lebte«6. Das Problem liegt jedoch darin, dass diese vorsintflutliche Welt der Atlanter (wenn es sie denn je gegeben hat) keine materiell sichtbaren Spuren in der Geschichte hinterlassen hat, keine Monumente oder Bauanlagen, die man durch Grabungen wieder freilegen könnte. Das einstige Inselreich Atlantis liegt, wie es scheint, für immer begraben unter den Fluten jenes Ozeans, der noch heute nach ihm seinen Namen trägt. Keine Taucherexpedition, keine Echolotausmessung wird je diesen Schatz heben können. Deshalb wird das Thema »Atlantis« für die Archäologen, deren Forschungsarbeit auf Ausgrabungen beruht, immer ein ungelöstes Rätsel bleiben. Eine Lösung dieses Rätsels wird es erst dann geben, wenn irgendwann, und sei es in noch so ferner Zukunft, Teile von Atlantis aus dem Meer wiederauftauchen sollten. Schon der römische Dichter Seneca (gest. 65 n. Chr.) deutet in seiner Tragödie Medea an, dass eine Zeit käme, in der versunkene Kontinente aus dem Ozean wieder aufsteigen würden:

Es heißt, dass in späterer Zeit Jahrhunderte kämen,

In denen der Ozean die Bande der Dinge löst,

Da werde die ungeheure Weite der Welt offenstehen

Und das Meer neue Länder enthüllen

Und Thule nicht mehr das Ende der Welt sein.7

Und in dem großartigen Prophezeiungs-Gedicht, das unter dem Namen Völuspa oder Der Seherin Gesicht am Beginn der nordgermanischen Edda-Sammlung steht, lesen wir jenen verheißungsvollen Spruch, der gleichfalls das künftige Wiederaufauchen von Atlantis andeuten könnte:

Seh aufsteigen zum andern Male

Land aus Fluten, frisch ergrünend 8

Der Atlantis-Bericht Platons

Die Zahl der erschienenen Atlantis-Bücher geht in die Tausende, und die Bandbreite der Inhalte reicht von seriös-wissenschaftlicher Standard-Literatur wie Otto Mucks Alles über Atlantis9 über den theosophischen Klassiker Atlantis nach okkulten Quellen von W. Scott-Elliot10 bis hin zu reinen Phantasie-Romanen wie Das Licht von Atlantis von Marion Zimmer-Bradley11. Die ganze Legion der Atlantis-Literatur geht jedoch zurück auf eine einzige, nur wenige Druckseiten umfassende Schrift, die seit rund zweieinhalb Jahrtausenden die Gemüter der Ur- und Frühgeschichtsforscher bewegt hat; eine Schrift, die man ohne Zögern als den Klassiker der Atlantis-Literatur bezeichnen kann – auf den Dialog Kritias des griechischen Philosophen Platon (427–347 v. Chr.).

Platon, von Haus aus Spross einer vornehmen Athener Adelsfamilie, gründete im Jahre 387 v. Chr. seine eigene philosophische Schule. Seine zutiefst idealistische Lehre, geschöpft aus dem Quellborn alter griechischägyptischer Mysterienweisheit, pflegte er in Form von Gesprächen darzustellen, Dialoge zwischen dem von Platon als Lehrmeister verehrten Sokrates und seinen Schülern. Platon hat zahlreiche solcher Dialoge verfasst, oft Schriften von unvergleichlicher Poesie und sprachlicher Schönheit, am bekanntesten vielleicht die Schriften Symposion (Das Gastmahl) und Politeia (Der Staat) Mit dem Atlantis-Thema hat sich Platon nur ganz am Rande befasst; sein Timaios-Dialog, eigentlich naturphilosophischen Fragen gewidmet, enthält einen knappen Exkurs über dieses Thema, wogegen der unvollendet gebliebene Kritias-Dialog die Hauptquelle jeder Atlantis-Forschung darstellt. Beide Dialoge zählen zu den Altersschriften Platons.

Der Kritias-Dialog wiederholt im Grunde genommen nur den Wortlaut eines Gespräches, das der Weise Solon (640–561 v. Chr.) in Ägypten mit einem Priester der Göttin Neith geführt haben soll. Ägypten, das Land der Pyramiden und der Sphinxe, erweist sich somit als Hüterin der Atlantis-Tradition. Aufzeichnungen des Gespräches mit dem Neith-Priester sind in die Hände des Kritias gelangt, der seinen Bericht über Atlantis einleitet mit den Worten: »So vernimm denn, Sokrates, eine gar seltsame, aber durchaus in der Wahrheit begründete Sage, wie einst der Weiseste unter den Sieben, Solon, erklärte.«12

Wie eine seltsame Sage liest sich der von Platon verfasste Atlantis-Bericht in der Tat, und Generationen von Gelehrten haben schon darüber gestritten, ob es sich hierbei nur um eine von Platon erdichtete Fabel handelt oder um den authentischen Bericht über eine vor Jahrtausenden untergegangene Hochkultur. Die Überlieferungs-Kette geht jedenfalls über Platon, Kritias und Solon auf jenen unbekannten ägyptischen Neith-Priester zurück. Es sei in diesem Zusammenhang erwähnt, dass Platon nach dem Tod seines Lehrers Sokrates ausgedehnte Studienreisen unternommen hat, die ihn auch nach Ägypten führten, wo er vermutlich mit dem dortigen Priesterstand in Berührung kam. Möglicherweise hat er dort sogar die Urfassung des Atlantis-Berichtes einsehen können, jene geheimnisvollen Papyrusschriften, auf die sich der Priester der Göttin Neith im Gespräch mit Solon bezogen hat.

Noch ein späterer Schüler Platons, ein gewisser Krantor (330–275 v. Chr.), berichtet, dass er in Ägypten die Papyrusrollen eingesehen habe, die den von Platon wiedergegebenen Atlantis-Bericht im Original enthielten. Diese ägyptische Originalfassung befand sich aller Wahrscheinlichkeit nach in der Großen Bibliothek von Alexandria, dem damals weithin bekannten Zentrum antiker Gelehrsamkeit, das mit seinen rund 700.000 Buchrollen im Jahre 47 v. Chr. fast vollständig dem Raub der Flammen zum Opfer fiel. Es gab auch eine Kleine Bibliothek in Alexandria mit gut 40.000 Buchrollen, die im Jahr 272 n. Chr. vernichtet wurde. Welch einen unermesslichen Schatz an ägyptisch-antiker Weisheit hat die Feuersbrunst in Staub und Asche verwandelt!

Ob Platon mit seinem »Atlantis« vielleicht nur ein Phantasiegebilde geschildert hat, das wissen wir nicht. Eines aber ist sicher: Wenn Platons Atlantis in der beschriebenen Form tatsächlich bestanden hat, dann müsste man die Kulturgeschichte der Menschheit noch einmal neu schreiben, und zwar von Anfang an. Alle bisher gültigen Datierungen der Kupfer-, Bronze- und Eisenzeit müssten umgeworfen werden; alle Schulweisheit über die Anfänge menschlichen Kulturwerdens wäre ungültig. Denn wenn Platon recht hat, dann würde das bedeuten, dass es in Atlantis eine mit allen Raffinessen der Zivilisation vertraute Hochkultur gegeben hat, und zwar zu einer Zeit, als Europa noch im Dämmerlicht eiszeitlichen Höhlenmenschentums dahingelebt hat. Nach Platon sind die Atlanter die ersten Kolonisten, Besiedler, Pioniere und Kulturbringer Europas gewesen.

Zuletzt hätten sich die Atlanter entschlossen, die Ureinwohnerschaft Europas durch einen einzigen großen Heereszug zu unterjochen; allein der Untergang des atlantischen Inselreiches im Ozean setzte diesem ehrgeizigen Vorhaben ein rasches Ende: »Vor allem zuerst wollen wir uns erinnern, dass zusammengenommen 9000 Jahre verstrichen sind, seitdem, wie erzählt wurde, der Krieg zwischen den außerhalb der Säulen des Herakles und allen innerhalb derselben Wohnenden stattfand, von dem wir jetzt vollständig zu berichten haben. Über die einen soll unser Staat geherrscht und den ganzen Krieg durchgefochten haben, über die anderen aber die Könige der Insel Atlantis, von welcher wir behaupteten, dass sie einst größer als Asien [Kleinasien] und Libyen war, jetzt aber, nachdem sie durch Erdbeben unterging, die von hier aus die Anker nach dem jenseitigen Meere Lichtenden durch eine undurchdringliche, schlammige Untiefe fernerhin diese Fahrt zu unternehmen hindere...«13

Also zwei ganz deutliche Angaben – jenseits der Säulen des Herakles, der Meerenge von Gibraltar, die ja das Mittelmeer vom Atlantischen Ozean abtrennt; und größer als Asien und Libyen zusammengenommen. Mit Asien ist Kleinasien gemeint, die von Griechen besiedelte Westtürkei; und »Libyen« ist ein unmittelbar an Ägypten angrenzender Landstrich. Im Kritias-Dialog führt Platon aus, dass es auf der Insel Atlantis eine große, durch künstliche Bewässerungsanlagen furchtbar gemachte Ebene gegeben habe, die sich südlich der Hauptstadt weit ins Landesinnere erstreckt habe. Er nennt sie eine »von bis an das Meer herablaufenden Bergen umschlossene Fläche und gleichmäßige Ebene, durchaus mehr lang als breit, nach der einen Seite 3000 Stadien lang, vom Meere landeinwärts aber in der Mitte deren 2000 breit. Dieser Strich der ganzen Insel lief, nordwärts gegen den Nordwind geschützt, nach Süden«14. Da 1 Stadion, ein in der Antike übliches Längenmass, 192 Meter beträgt, war die »große fruchtbare Ebene« 576 km lang und 384 km breit. So gelangen wir auf Grund dieser Beschreibungen zu der Vorstellung einer Insel ungefähr von der Größe Irlands; es kann aber Irland nicht gemeint sein, denn der Bericht Platons beschreibt die Insel als dicht bewaldet, in den Niederungen sehr fruchtbar, aber auch von riesigen Gebirgen umringt. Diese Beschreibung passt auf die Landesnatur Irlands überhaupt nicht! Wir müssen daher ein tatsächlich untergegangenes Inselmassiv im zentralen Atlantik annehmen. Die meisten Atlantis-Forscher glauben seit Ignatius Donnelly dieses versunkene Eiland auf den Gipfelkämmen des Mittelatlantischen Rückens auf der Höhe der Azoreninselgruppe ansetzen zu können. Da diese Region des zentralen Atlantiks ausgesprochen vulkanreich ist, wäre ein Absinken eines größeren Landmassivs auf Grund vulkanischer Tätigkeit geologisch durchaus denkbar. Überdies befindet sich unterhalb des Mittelatlantischen Rückens die Nahtstelle zweier Kontinentalschollen, der eurasischen und der amerikanischen, die beständig auseinander driften!

Platon beschreibt genau Natur und Geschichte der Insel Atlantis – die Erlosung der Insel durch den Gott Poseidon; die Verteilung der Herrschaft an seine Söhne, das atlantische Königsgeschlecht; den überquellenden Reichtum der Insel; die Bewässerungsanlagen, die Hafenanlagen und die Hauptstadt mit ihrem weitläufigen Königspalast; auch die Natur des übrigen Landes, die Organisation des Heerwesens, die Regelung der Herrschaft, auf theokratische Weise durch 10 Könige, und die wichtigsten Gesetze.

Atlantis wird geschildert als eine jenseits der »Säulen des Herakles« liegende Insel, also jenseits der Meerenge von Gibraltar: ein mythisches Land im fernen Westen, Land des Sonnenuntergangs und damit auch Abendland im eigentlichen Sinne, Brückenkopf zwischen der Alten und der Neuen Welt, zwischen Europa und Amerika. Dieser Ort war gewissermaßen die symbolische Weltmitte, der Ort auch, wo die Weltensäule steht, die als Stützpfeiler des Sternenfirmaments Himmel und Erde miteinander verbindet. Dank ihrer strategisch einmalig günstigen Lage im Zentralatlantik konnte Atlantis ein überseeisches Handels- und Kolonialimperium gründen, das Teile sowohl Europas als auch des vorgeschichtlichen Amerika umfasste. Diesbezügliche Andeutungen finden sich auch bei Platon.

Lässt er doch den ägyptischen Neith-Priester an einer Stelle ganz deutlich sagen, dass es auch jenseits der Insel Atlantis Festland gäbe, »denn vor dem Eingange, der, wie ihr sagt, die Säulen des Herakles heißt, befand sich eine Insel, größer als Asien [Kleinasien] und Libyen zusammengenommen, von welcher den damals Reisenden der Zugang zu den übrigen Inseln, von diesen aber zu dem ganzen gegenüberliegenden, an jenem wahren Meere gelegenen Festland offenstand. Denn das innerhalb des Einganges, von dem wir sprechen, Befindliche erscheint als ein Hafen mit einer engen Einfahrt; jenes aber wäre wohl wirklich ein Meer, das es umgebende Land aber mit dem vollsten Rechte ein Festland zu nennen. Auf dieser Insel Atlantis vereinte sich auch eine große, wundervolle Macht von Königen, welcher die ganze Insel gehorchte sowie viele andere Inseln und Teile des Festlandes; außerdem herrschten sie auch innerhalb, hier in Libyen bis Ägypten, in Europa aber bis Tyrrhenien«15.

Die Kanarischen und Kapverdischen Inseln, die Antillen, Bahamas und die zahlreichen Inseln der Karibik müssen allesamt, der obigen Aussage zufolge, dem Einfluss- und Herrschaftsbereich der Atlanter angehört haben; das der Insel Atlantis »gegenüberliegende Festland« kann nur – Amerika sein! Wenn wir also Genaueres über die untergegangene Atlantis-Kultur erfahren möchten, so müssen wir die Parallelen oder Ähnlichkeiten zwischen der ägyptisch-abendländischen Kultur und den Indianer-Kulturen Alt-Amerikas ausfindig machen. Solche Ähnlichkeiten lassen eventuell eine ehemals vorhandene gemeinsame Mitte erkennen.

Als besonders deutliche Ähnlichkeit fällt nicht nur die Entsprechung gewisser Mythen bei den Bewohnern der Alten und der Neuen Welt ins Auge, sondern auch die Existenz einer Ur-Sonnenreligion, die sich unter dem Wahrzeichen der Pyramide bei den Ägyptern wie auch bei den Azteken feststellen lässt; sie lag offensichtlich auch den großen Steinbauten der nord- und westeuropäischen Megalithkultur zugrunde. Waren die Atlanter das »Volk der Sonne«, ihr ausgedehntes Handelsimperium das »Weltreich des Sonnengottes«? Charles Berlitz, ein Autor, der sich viel mit den Geheimnissen des atlantischen Ozeans beschäftigt hat (unter anderem auch mit dem Bermuda-Dreieck), schreibt: »Als ein kulturelles, zoologisches, botanisches und anthropologisches 'fehlendes Bindeglied' zwischen der Alten und der Neuen Welt liefert Atlantis (oder eine einstige atlantische Landbrücke) eine derart einleuchtende Erklärung so vieler bisher ungeklärter Fragen, dass man mit Voltaire sagen möchte: Falls Atlantis nicht existiert hätte, müsste man es erfinden.«16

Atlantis also als das missing link (das fehlende Bindeglied) zwischen Europa und Amerika, und zwar nicht nur geisteswissenschaftlich-mythologisch betrachtet, sondern auch konkret geologisch im Hinblick auf die jüngere Erdgeschichte – dieser Ansatz scheint der richtige zu sein, wenn auf die Frage nach dem Wahrheitsgehalt des Atlantis-Mythos einigermaßen zufriedenstellend geantwortet werden soll. Deshalb möchte ich zunächst einmal das geologische missing link, die einstige atlantische Landbrücke, ausfindig machen; zu diesem Zweck muss die Bodenlandkarte des atlantischen Ozeans betrachtet werden. Versuchen wir also, Atlantis geographisch zu orten; erst wenn eine solche Ortung im Koordinatensystem der Raum-Zeit-Welt erfolgte, kann über die mutmaßliche Religion, Esoterik und Spiritualität der Atlanter gesprochen werden.

Atlantis – geologisch betrachtet

Atlantis, Lemuria, Hyperborea – so lauten die Namen jener längst versunkenen Urkontinente, die als Erbe aus den urfernen Vergangenheiten des Erdaltertums noch am Beginn des Tertiär-Zeitalters in voller Ausdehnung bestanden haben. Erst im Laufe des Quartärs und seiner vier Eiszeiten mussten diese Landmassen dem Druck gewaltiger Katastrophen und Kataklysmen weichen, bis sich in etwa die heutige Kontinentalgestalt der Erde herausbildete. Die drei Urkontinente wurden teils von neuem Land überlagert, teils wurden sie von Meeresfluten überschwemmt; neue Gebirgskämme erhoben sich und alte Gipfelhöhen versanken in die Tiefen des Meeres.

Innerhalb der letzten 4 Milliarden Jahre war die äußere Erdgestalt mehrfach grundlegenden Änderungen unterworfen. Die von Alfred Wegener aufgestellte Kontinentaldrift-Theorie betrachtet die Kontinente als Abspaltungen eines einheitlichen Urkontinentes namens Pan-Gaia. Nun wissen wir nicht, wann und wie lange Pan-Gaia bestanden hat; jedenfalls bestehen schon in kambrischer Zeit (also am Beginn des Erdaltertums) mehrere, unabhängig voneinander driftende Kontinentalkomplexe, und zwar im Wesentlichen zwei: ein eurasisch-nordatlantisch-amerikanischer und ein südatlantisch-afrikanisch-pazifischer Kontinent. Zwischen beiden in etwa parallel verlaufenden Kontinentalmassen lag das Tethysmeer. Bis in das Erdmittelalter hinein, die von Sauriern beherrschte Trias-, Juraund Kreidezeit, bleibt diese Kontinentverteilung im Wesentlichen bestehen. Der tonnenschwere Dinosaurier graste in den Sümpfen Lemuriens und des Nordatlantik-Kontinents; der Ichthosaurier jagte in den Fluten des Tethysmeeres.

Mit dem Tertiär beginnt das große Zeitalter der Säugetiere. Neue Kontinentalverhältnisse bilden sich heraus; die Parallelität der Kontinente verläuft nun nicht mehr in west-östlicher Richtung, sondern in nord-südlicher. Edgar Dacque, der wohl als ein namhafter Forscher gelten darf, schreibt hierüber: »Mit dem Ende der Kreidezeit und dem Beginn des Tertiär stellen sich rascher und rascher die der heutigen Landverteilung nahe kommenden Verhältnisse her. Der große Südkontinent ist ganz zerlegt und vielfach ist in die übrig gebliebenen, heute wieder festländischen Teile (z. B. Afrika) sogar Meer eingedrungen. Ebenso sind die Nordlandmassen, wenigstens im atlantischen Gebiet, sehr stark vom Meere überflutet. Schon in der letzten Hälfte der Kreidezeit hatte sich Westafrika von dem südamerikanischen Land merklich getrennt. Es blieb zwar atlantischozeanisches Land zwischen der alten und der neuen Welt noch bestehen (Atlantis), aber auch der amerikanische Kontinent wurde immer mehr isoliert, sozusagen der europäisch-afrikanischen Welt durch den immer mehr sich ausprägenden Atlantik fernergerückt.«17

Es besteht Grund zu der Annahme, dass Kontinent-Reste des noch aus dem Paläozoikum stammenden eurasisch-nordatlantisch-amerikanischen Großkontinents im Tertiär- und Quartär-Zeitalter noch existiert haben. Gleichfalls gab es eine Landverbindung zwischen dem südatlantischen Restkontinent, dem südlichen Afrika und Indien: Lemurien, benannt nach einer Gattung von Halbaffen, die noch heute auf der Insel Madagaskar vorkommen. Atlantis und Lemurien, soweit sie in der Erdneuzeit noch bestanden, stellen die trümmerhaften Reste der beiden paläozoischen Großkontinente dar! Das einst zwischen ihnen liegende Tethysmeer ist längst entschwunden; an seine Stelle trat das Mittelmeer. Ferner gab es bis in die geologisch jüngste Zeit hinein eine Landbrücke zwischen Skandinavien, Island und Grönland, die auch die Britischen Inseln und Irland umfasste: Hyperborea, das Urland des Nordens, das allerdings während der Eiszeiten des Quartärs größtenteils von polarem Packeis bedeckt war.

Der Untergang von Atlantis wird auf eine bestimmte Zeit datiert: Platon lässt in seinem Kritias-Dialog den ägyptischen Priester sagen, »dass zusammengenommen 9000 Jahre verstrichen sind, seitdem, wie erzählt wurde, der Krieg zwischen den außerhalb der Säulen des Herakles und allen innerhalb derselben Wohnenden stattfand«. Daraus folgt, dass das fragliche Ereignis um das Jahr 9500 v. Chr. stattfand, also vor rund 11.500 Jahren. Dieser Zeitpunkt markiert das Ende der letzten, der sogenannten Würm-Eiszeit, der noch zwei andere Eiszeiten vorangegangen waren. Da die menschliche Population während der letzten Eiszeit nur aus nomadisierenden Jägern und Sammlern bestand (vorwiegend Mammut- und Rentier-Jäger), muss Atlantis mit seiner hochentwickelten Kultur der restlichen Menschheit turmhoch überlegen gewesen sein. Der Untergang von Atlantis vor rund 11.500 Jahren fällt auch in ein Äon hinein, in dem die ersten Ackerbaukulturen auftauchen (in der Archäologie die sogenannte »neolithische Revolution«).

Grundsätzlich bot die Welt der eiszeitlichen Periode hinsichtlich Kontinentverteilung, Klima, Tier- und Pflanzenwelt ein ganz anderes Bild als gegenwärtig. Da die Gletscher der polaren Packeismassen zuweilen bis zum 50. Grad nördlicher Breite herabreichten (etwa die Linie Paris-Labrador), lag der Meeresspiegel um etliche Hundert Meter niedriger als heute. Es gab Zeiten, in denen England mit dem europäischen Festland verbunden war; es gab auch eine Landverbindung zwischen Italien und Nordafrika, und man konnte trockenen Fußes von Griechenland nach Kleinasien gelangen. Es darf angenommen werden, dass zu jener Zeit auch weite Teile des Azoren-Plateaus auf dem Mittelatlantischen Rücken über Wasser lagen und ein größeres Inselmassiv bildeten, eben das legendäre Atlantis, das noch ein Athanasius Kircher auf seiner Weltkarte Mundus subterranus (1678) im Gebiet der heutigen Azoren verzeichnet.

Der Mittelatlantische Rücken, ein geologisch äußerst interessantes Phänomen, ist ein unterseeisches Hochplateau, das sich in Gestalt einer S-Kurve von Island über den Nord- und Mittelatlantik bis in den Südatlantik hinzieht. Die höchsten Gipfelerhebungen dieses Massivs ragen als Inselgruppen aus dem Meer: die Azoren-Gruppe sowie die Inseln St. Paul, Ascension, St. Helena und Tristan da Cunha. Diese gebirgige S-Kurve, reich an Vulkanen, liegt genau über jener Bruchstelle, an der die Kontinentalsockel Afrikas und Amerikas auseinanderdriften. Nördlich des Äquators beschreibt der Mittelatlantische Rücken einen großen halbkreisförmigen Bogen, der sich passgenau an den westlichen Küstenverlauf Afrikas anfügt, mit dem Azoren-Plateau als höchster Erhebung. Der höchste Berg auf den Azoren, der Pico Alto – immer noch ein tätiger Vulkan – ragt mit seinem schneebedeckten Gipfel bis zu einer Höhe von 2345 Metern auf.

Schon 1912 hat Dr. Paul Schliemann, der Enkel des Troja-Entdeckers Heinrich Schliemann, das Azoren-Plateau (auch bekannt als der Dolphin-Rücken) mit Atlantis gleichgesetzt18; dieselbe These verfocht vor ihm schon der Amerikaner Ignatius Donnelly in seinem Buch Atlantis – Myth of the Antedeluvian World (1882). Tatsächlich scheint die Azoren-Theorie die seriöseste aller Atlantis-Theorien zu sein19. Auch die scharfsinnigen Überlegungen von Otto Muck legen sie zugrunde; sie stimmen auch vollkommen überein mit den Angaben Platons. Tiefseeforschungen in dem fraglichen Gebiet konnten freilich nicht die Spuren einer untergegangenen vorsintflutlichen Zivilisation freilegen, bedecken doch undurchdringlich dichte Lava-Sedimente den ganzen Verlauf des Mittelatlantischen Rückens. Aber dass Teile der im Mittelatlantik verlaufenden Gebirgskette noch in geologisch jüngerer Zeit über Wasser lagen, darüber kann heute kein Zweifel mehr bestehen. Hier nur ein Beispiel: Im Jahr 1898 fand man in einem Gebiet mitten im Atlantik 750 km nördlich der Azoren beim Reparieren eines unterseeischen Telegraphenkabels glasige basaltartige Lava, die sich nur unter dem Druck der Atmosphäre gebildet haben kann; ihr Alter wurde auf 11.000 Jahre geschätzt. Demnach muss dieses Gebiet im zentralen Atlantik in dem fraglichen Zeitraum eindeutig noch über dem Meeresspiegel gelegen haben!

Das Erbe der Sonnenreligionen

Von allen versunkenen Kontinenten, die in früheren Entwicklungsperioden unseres Planeten der Menschheit als Wohnstätte dienten, wirkt Atlantis am unmittelbarsten in die Gegenwart der heutigen Kulturepoche hinein. Gewiss, viele Zeitgenossen halten »Atlantis« bloß für einen Mythos aus den Kindertagen der Menschheit; und die Forscher der Ur- und Frühgeschichte betrachten es bloß als eine geistreiche Erfindung Platons. Wer sich jedoch mit den Wünschelruten des Geistes ausrüstet, um die unterirdischen Quellen europäischer Spiritualität aufzuspüren, der wird früher oder später auf einen kulturellen Urquell stoßen, der vor dem Anfang jeder bekannten Kulturgeschichte der Menschheit liegt. In den Tempeln von Atlantis wurde jenes Geisteslicht einst angezündet, das nach dem Untergang des Inselreiches in den Steintempeln der europäischen Megalithkultur fortleuchtete, aber auch im keltischen Druidentum, in der germanischen Edda-Religion und in den Mysterienreligionen Altgriechenlands.

Es ist das Geisteslicht der Sonnen-Mysterien, das von Atlantis über den gesamten Mittelmeerraum einschließlich Ägyptens über Nord- und Westeuropa bis nach Vorderasien und Nordwestindien ausstrahlte. Es gab auch einen Einfluss von Atlantis auf die Kulturen des vorgeschichtlichen Amerika. Und so manche Gemeinsamkeit, die zwischen Alteuropa und Altamerika besteht, etwa gemeinsame Sprachwurzeln, ähnliche Bauten wie Pyramiden und Obelisken sowie ähnliche religiöse und astronomische Vorstellungen bis hin zu gemeinsamen Kalenderfeiertagen, lassen Atlantis als eine einstmals vorhandene gemeinsame Mitte erahnen.

In den Sonnen-Mysterien, die alle Kulturen rings um den Atlantik miteinander verbinden, geht es um die höhere Geist-Wirklichkeit der Sonne, die dem physischen Himmelskörper »Sonne« zugrunde liegt und gewissermaßen durch ihn hindurchscheint. Wenn die Eingeweihten der Sonnen-Mysterien, etwa die ägyptischen Pharaonen oder die indianischen Priesterkönige, von der »Sonne« sprachen, dann meinten sie damit nicht nur die physische Sonne, sondern auch die geistig-urbildliche Sonne. Die Verehrung der Sonne als Gestirn und Gottheit geht in älteste Zeit zurück. Der Mensch der Altsteinzeit, der vor über 30.000 Jahren in den Höhlen von Altamira und Lasceau wohnte, erlebte Sonne, Mond und Sterne als magisch-numinose Wesen, die er mit frommer Scheu verehrte. Eine Sonnenreligion im höheren Sinne, die sich aus dem Bann des Magisch-Zauberischen schon gelöst hat, finden wir in den Hochkulturen Ägyptens, Mesopotamiens und Alt-Amerikas, aber auch im vorgeschichtlichen Europa der Jungsteinzeit, wo die Sonnenwendpunkte und Äquinoktien im Jahreslauf als Kultfeste begangen wurden.

Diese Ur-Sonnenreligion, so schreibt der Religionsphilosoph Artur Schult, »war eine einheitliche, monotheistische, kosmische Lichtreligion, in der die göttliche Schöpfersonne klar unterschieden wurde von der physischen Sonne. (...) Die Träger dieser urzeitlichen Religion kamen aller Wahrscheinlichkeit nach von dem untergegangenen Erdteil Atlantis zu Schiff nach Nord- und Südamerika, nach Afrika, Europa, Nordafrika und Asien«20. Wurden in den Tempeln, Krypten, Hainen und Säulenhallen des untergegangenen Inselreiches Atlantis Einweihungen in die Sonnen-Mysterien vorgenommen? Über die angeblichen Sonnen-Mysterien der Atlanter berichtet auch Rudolf Steiner. In seinem Werk Die Geheimwissenschaft im Umriss (1910) spricht er von sieben Mysterienstätten, die außer dem Sonnengott auch anderen planetarischen Gottheiten geweiht waren.

»Das Mysterienwesen der alten Atlantis«, schreibt F. W. Zeylmans van Emmichhoven, die Erkenntnisse Rudolf Steiners zusammenfassend, »war siebenfältig. Es gab sieben Mysterien-Orakelstätten, die den Mächten geweiht waren, die man, mit einer späteren Terminologie, als Mond, Merkur, Venus, Sonne, Mars, Jupiter und Saturn bezeichnen kann. (...) Im Mittelpunkt dieser atlantischen Mysterien stand das Mysterium der Sonne. In ihm erlebte man die Verbindung mit der göttlichen Macht, die als die zentrale und leitende innerhalb der Menschheitsentwicklung betrachtet wurde. Was von der äußeren Sonne als das strahlende Himmelslicht, als Wärme erlebt wurde, das alles war die nach außen gerichtete Offenbarung, die von der Gottheit ausströmende Wirkung, die Erde und Mensch dankbar empfingen. Das eigentliche Wesen der Sonne war viel umfassender, war das Wesen der Gottheit selbst.«21

Auch in den indogermanischen Hochreligionen, vom keltischen Druidentum über die Religion der Nordgermanen bis hin zum altindischen Brahmanismus, gibt es Lichtverehrung, heilige Feuerkulte und die Gestalt des durch das Jahr wandernden Sonnengottes. Wenn in späteren Traditionen abendländischer Spiritualität vom Licht als dem Sinnbild des Göttlichen und Guten gesprochen wird, dann stehen auch solche Traditionen im Bannkreis einer uralten Sonnenweisheit. Diese kann man getrost als die Urreligion nicht nur Europas, sondern auch anderer Weltteile bezeichnen, vielleicht gar als die Menschheits-Urreligion. Die eingeweihten Priester der Ägypter, Chaldäer und der Indianer Alt-Amerikas konnten in der Sonne noch unendlich viel mehr sehen als jenen leuchtenden Glutball, den wir mit dem physischen Auge wahrnehmen. Ihrer höheren Wahrnehmungs-Ebene offenbarte sich die Sonne auch in ihrer feinstofflichen, astralen und geistig-göttlichen Qualität. Ein solches Erleben kann der moderne Mensch, der nur das rein Materielle sieht, freilich nicht mehr nachvollziehen. In diesem Sinne bemerkte auch der englische Schriftsteller D. H. Lawrence:

»Wollt nur nicht, dass wir uns einbilden, wir sähen die Sonne so, wie die alten Kulturen sie sahen. All das, was wir sehen, ist ein kleiner wissenschaftlicher Leuchtkörper, zusammengeballt zu einer Kugel von glühendem Gas. In den Jahrhunderten vor Esekiel und Johannes war die Sonne noch eine großartige Wirklichkeit, man schöpfte Kraft und Glanz aus ihr und gab dafür Verehrung und Lichtopfer und Dank zurück. In uns jedoch ist die Verbindung gebrochen, die entsprechenden Zentren sind tot. Unsere Sonne ist etwas ganz anderes als die kosmische Sonne der Alten, sie ist so viel mehr gewöhnlich. Wir mögen noch sehen, was wir Sonne nennen, aber wir haben Helios für immer verloren, und die große Scheibe der Chaldäer noch mehr. Wir haben den Kosmos verloren, indem wir aus der entsprechenden Verbindung mit ihm herausgetreten sind, und dies ist unsere größte Tragödie.«22

Wer in die Sinnmitte und Sinntiefe dieser atlantischen (ägyptischamerikanischen) Sonnen-Urreligion eindringen will, der muss die ursprüngliche Kosmosverbundenheit dieser alten Völker in sich selbst wiederherstellen, der muss in der Lage sein, durch erlebendes Nachvollziehen auch die folgenden Worte des unbekannten Dichters des Ägyptischen Totenbuches zu verstehen, mit denen er den allmorgentlichen Sonnenaufgang als das sich stets wiederholende Wunder der Gottesgeburt feiert:

Jeden Tag erhebt sich strahlend am Morgen Re,

der Götterkönig. Die beiden Göttinnen

der Gerechtigkeit versprengen vor ihm den Tau,

die Neunheit verneigt sich vor ihm.

Sein Vater Nun und seine Mutter Nut freuen sich,

wenn er in der Tagesbarke erscheint.

Die Mannschaft in seinem Boote jubelt,

und Heliopolis, seine Stadt, jauchzt.

In Glück und Hoffnung befährt er seine Himmelsbahn,

während seine Feinde vor ihm weichen müssen.

Die Menschen sind froh und glücklich,

wenn sich an jedem Tage

das Wunder seiner Geburt wiederholt.23

Am Anfang der ägyptischen Religion stand die Verehrung von Lokalgottheiten; erst mit der Reichsgründung begann die Zeit, da man sich um die Herausbildung einer national einheitlichen Theologie bemühte. Drei religiöse Hauptzentren stritten um Vorherrschaft, jedes mit einer eigenen Kosmogonie und Götterlehre: Heliopolis, Memphis und Hermopolis. Den größten Einfluss gewann jedoch in altägyptischer Zeit die Theologie von Heliopolis. Im Mittelpunkt dieser Lehre stand die »heilige Neunheit«, die auch einen kosmo- und theogonischen Prozess darstellt: Am Anfang steht der Schöpfergott Atum, der aus sich heraus den Luftgott Schu und die Wolkengöttin Tefnut hervorbringt; aus deren Verbindung entstehen der Erdgott Geb und die Himmelsgöttin Nut, die wiederum als die Eltern der vier Gottheiten Osiris, Isis, Seth und Nephthys gelten.

Im Alten Reich (2686–2181 v. Chr.) entwickelte sich von Heliopolis aus ein machtvoller Sonnenkult, der auch von den Königen gefördert wurde, wodurch er bald die Gestalt einer solaren Theokratie annahm. Dieser Sonnenkult hatte durchaus esoterischen Charakter. Denn die Ägypter wussten schon früh zwischen »Erscheinung« und »Wesen« zu unterscheiden. Die Sonne galt ihnen als das hellstrahlende Auge des Gottes Re, als seine äußere Erscheinung, seine Manifestation in der Sinnenwelt. Auf seinem Sonnenboot fährt dieser strahlende Lichtgott über den Himmel, den er täglich von Ost nach West durchmisst. Aber seinem eigentlichen Wesen nach ist Re der schöpferische All-Geist, der darum auch mit dem einstigen Schöpfergott Atum gleichgesetzt wurde. Re trat damit an die Spitze der Heiligen Neunheit, er wurde »Götterkönig«, und »die Neunheit verneigt sich vor ihm«. So wurde der Sonnengott mit dem Schöpfergott überhaupt gleichgesetzt.

Unter den eingeweihten Sonnenpriestern Ägyptens gab es einen, der allen anderen gegenüber den Vorrang innehatte: der Pharao. Seit der 5. Dynastie nennt sich der Pharao Sohn des Re; er galt also als der menschgewordene Sonnengott, als die Inkarnation des göttlichen All-Geistes auf Erden. Seit der 4. Dynastie (2550–2450 v. Chr.) wurde der Pharao in einer Pyramide bestattet, und wir kennen noch die Namen der großen Pyramiden-Erbauer: Djoser, Snofru, Cheops, Chefren – nicht Herrscher im üblichen Sinne, sondern große Priesterkönige und Sonnen-Eingeweihte. Und es war der Glaube der Re-Religion, dass der Pharao nach seinem physischen Tod in die Sonnengottheit eingehe, um mit ihr wieder einszuwerden; in diesem Sinne wäre die Pyramide nicht als Grabmal, sondern eher als Auferstehungsmal des Pharao zu deuten!

Eine so anspruchsvolle hochgeistige Sonnen-Esoterik wie die altägyptische Re-Religion konnte sich selbstverständlich nicht auf Dauer halten. Im Neuen Reich (1552–1069 v.Chr.) wurde sie von dem volkstümlicheren Osiriskult verdrängt. Osiris galt im Glauben der Volksreligion als Seelenführer ins Totenreich und als Totenrichter. So nahm die ägyptische Religion allmählich die Gestalt eines reinen Jenseitsglaubens an. Da tritt jedoch König Amenophis IV. auf, genannt Echnaton (1370–1352 v. Chr.), der am Ende der 18. Dynastie den letzten Endes erfolglosen Versuch unternimmt, die zutiefst diesseits- und lebensbejahende Sonnenreligion AltÄgyptens noch einmal zu restaurieren. Hier einige Worte aus seinem großartigen, glanzvollen Sonnenhymnus:

Du erstrahlst so schön im Lichtberg des Himmels,

Du lebendige Sonne, die zuerst zu leben anfing.

Du leuchtest auf im östlichen Horizont

Und erfüllst alle Lande mit deiner Schönheit.

Du einziger Gott, außer dem es keinen andern gibt,

Du hast die Erde geschaffen nach deinem Sinn,

Du einzig und allein, mit Menschen, Herden

Und allem Getier.24

Und doch: Ein zum Göttlichen hinführender Einweihungsweg lässt sich in dem so gefühlvoll gedichteten Sonnenhymnus des Echnaton nicht erkennen. Denn im Mittelpunkt der Verehrung steht ja nicht Re, diese mächtige überkosmische Schöpfergottheit, sondern Aton, die äußerlich sichtbare Sonnenscheibe. Diese bedeutet bei Echnaton nicht ein Symbol der Gottheit, sondern vielmehr die Gottheit selbst. So wurde der von ihm restaurierte Sonnenkult ganz ins Naturalistische und Materialistische gewendet. Kein Wunder, dass dieser Versuch einer religiösen Reformation scheitern musste! Der Sohn Echnatons, der früh verstorbene Tutenchamon, kehrte wieder zur traditionellen Priesterreligion zurück.

Es scheint, dass die Pharaonen des Alten Reiches, die großen Pyramidenerbauer der 4. und 5. Dynastie, dem Urquell atlantischen Sonnen-Wissens noch näher standen als die Könige der Spätzeit. Dennoch klafft zwischen dem von Platon angegeben Datum des Untergangs von Atlantis – vor rund 11.500 Jahren – und dem Bau selbst der ältesten Pyramiden unter König Djoser (2600–2550 v. Chr.) eine Lücke von rund 7000 Jahren, sodass eine direkte Beeinflussung Ägyptens durch Atlantis wohl ausgeschlossen werden muss. Gleiches gilt für die indianischen Kulturen Alt-Amerikas, die geschichtlich in weitaus jüngere Zeit zurückgehen als Ägypten. Und doch liegt den Indianer-Kulturen Amerikas eine Religion und Spiritualität zugrunde, die in der sichtbaren Sonne Abbild und Symbol einer höchsten transzendenten Schöpfergottheit erblickt.

Der Einfluss der Sonnenreligion kommt am deutlichsten in den Sakralbauten der Indianer zum Ausdruck, etwa in den Pyramiden von Teotihuacan, die heute noch im Zentralhochland von Mexiko – etwa 30 km nördlich von Mexiko City – zu sehen sind. Auf der Halbinsel von Yucatan stehen, halb von Urwald überwuchert, die Pyramiden der Mayas, die den ägyptischen überraschend ähnlich sehen. Auf dem Boden der südamerikanischen Inka-Kultur (etwa 1200 bis 1532 n. Chr.) konnte sich schließlich ein voll ausgebildetes Sonnenkönigtum entwickeln, das sein geschichtliches Ebenbild einzig in der solarkultischen Theokratie der altägyptischen Sakralherrscher finden kann. Wie sich der Pharao einst »Sohn des Re« nannte und als solcher auch verehrt wurde, so galt der oberste Herrscher der Inkas als die menschliche Inkarnation des Sonnengottes Inti, mit dem er sich im physischen Tod wieder neu vereinte. Dennoch – die Hochkulturen Mittel- und Südamerikas sind geschichtlich verhältnismäßig jung, wie der folgende Überblick zeigt:

ab 2000 v. Chr.

Dorfkulturen in Mexiko

1000 – 600 v. Chr.

Kultur der Olmeken

200 v. Chr. – 600 n. Chr.

Kultur von Teotihuacan

400 – 700 n. Chr.

Kultur der Mayas

750 – 1000 n. Chr.

Kultur der Tolteken

1325 – 1521 n. Chr.

Kultur der Azteken

Auf Grund dieser Datierungen muss »Atlantis« als Impulsgeber der Indianer-Kulturen Amerikas wohl ausscheiden. Es bleibt jedoch ein ungelüftetes Geheimnis, welche Verbindungswege zwischen dem vorgeschichtlichen Amerika und dem Europa der Jungsteinzeit bestanden haben mögen. Ob die Wikinger unter Leif Eriksen tatsächlich die ersten Europäer waren, die amerikanischen Boden betraten, bleibt ungewiss. Inwieweit haben westliche Einwanderer, die aus dem Europa der Megalithkultur kamen, das Gesicht der Ur-Kultur Amerikas geprägt?25 Die urzeitliche Begegnung mit einer hellhäutigen weißen europiden Rasse (Atlanter?) hat jedenfalls im kollektiven Gedächtnis der indianischen Völker tiefe Spuren hinterlassen. Diese Urerinnerung kristallisiert sich in der Gestalt des rätselhaften Quetzalcoatl, den die Tolteken und Azteken als Gott verehrten. Bei den Mayas trug er den Namen Kukulcan, bei den Inkas hieß er Viracocha.

Eigentlich handelt es sich bei diesem Quetzalcoatl nicht um einen Gott, sondern eher um einen halbgöttlichen Vorzeit-Helden, der später zum Mythos verklärt wurde: als Herr des Zauberwissens und der Dichtkunst, auch als Kulturstifter, Staatengründer und erster König der Indianer. Spätere Könige der Tolteken und Azteken nahmen seinen Namen als Ehrentitel an. Quetzalcoatl wird als europid, hellhäutig, blauäugig und vollbärtig beschrieben; er sei aus einem »Land im Osten« gekommen und dorthin zurückgekehrt. War dieses Land im Osten Atlantis, der Brückenkopf zwischen Ost und West?

Was wussten die Phönizier?

Was wussten die Phönizier über das versunkene Atlantis? Kannten sie auch die geheimen Verbindungswege nach Mittel- und Südamerika, die nach dem Untergang von Atlantis von den prähistorischen Völkern Europas befahren wurden? Ist es also möglich, dass die Phönizier – lange vor Kolumbus – von der Existenz Amerikas wussten? Dies sind Fragen, deren Beantwortung ein neues Licht auf unsere Herkunft, auf das Werden unserer Kultur werfen könnte. Der Schlüssel zu diesem Geheimnis liegt in einer alten Vase aus Troja, die von Heinrich Schliemann, dem Entdecker Trojas, aufgefunden wurde.

In einem Manuskript, das erst im Jahre 1906 seinem Enkel, Dr. Paul Schliemann, zugänglich wurde, schreibt er: »Im Jahre 1873, während meiner Grabungsarbeiten in den Ruinen von Troja bei Hissarlik, als ich in der zweiten Schicht den berühmten Schatz des Priamos freilegte, entdeckte ich bei diesem Schatz eine Bronzevase von ungewöhnlicher Form. Diese Vase enthielt einige Tonscherben, verschiedene kleine Gegenstände aus Metall, Münzen und versteinerte Gegenstände aus Knochen. Mehrere dieser Gegenstände und auch die Bronzevase trugen folgende Inschrift in phönizischen Hieroglyphen: VOM KÖNIG KRONOS VON ATLANTIS.«26

Die Phönizier, dieses uralte Kulturvolk aus dem Vorderen Orient, zu ihrer Zeit die wagemutigsten Seefahrer auf der Welt, standen offenbar mit anderen frühen Hochkulturen, insbesondere den Ägyptern, Trojanern und Etruskern, in enger Verbindung, und sie hüteten ein altes atlantisches Erbe, das sie an ihre Zeitgenossen, aber auch an die Griechen und Römer weitergaben. Der Name Phönizier leitet sich her von dem Wundervogel Phönix, diesem Symbol der Auferstehung und Neugeburt, dessen Mysterien im ganzen Vorderen Orient gefeiert wurden. Nach dem griechischen Mythos war eine Person namens Phönix der Sohn des phönizischen Königs Agenor und zugleich der Vater der Europa, die von Zeus nach Kreta entführt wurde. Diese Abstammungsgeschichte birgt auch einen symbolischen Sinn: Die europäische Kultur ist eine Tochter der phönizischen. Insbesondere das phönizische Alphabet wurde von den Griechen übernommen, und es bildet die Grundlage aller modernen europäischen Schriftarten.

Es ist nun eine wundersame Tatsache, dass auch einige Geschenke des Königs Kronos von Atlantis an die Herrscher von Troja Inschriften in phönizischen Glyphen tragen. Gab es eine Dreiecksverbindung zwischen Atlantis, Troja und dem Land der Phönizier, der fruchtbaren Westküste des Libanon mit seinen blühenden Städten Byblos, Tyrus und Sidon? Aber offensichtlich müssen die Phönizier einige Geheimnisse des atlantischen Ozeans gekannt haben. Schon Platon wusste, dass auch jenseits von Atlantis, weit westlich davon, ein großes Festland existierte. Er sprach von einem »gegenüberliegenden, an jenem wahren Meere gelegenen Festland«27, womit nur Amerika gemeint sein kann!

Und immerhin hat Platon bereits im 5.–4. Jahrhundert v. Chr. über dieses Wissen verfügt. Wir müssen aber davon ausgehen, dass dieses Wissen viel älter war. Während schon um 4000 v. Chr. die Träger der Megalithkultur, das älteste Kulturvolk Europas, höchstwahrscheinlich nach Amerika reisten, waren es später Iberokelten, gälische Kelten, Seefahrer aus Libyen und Ägypten, Karthager und Phönizier, die ihren Spuren folgten und teilweise schon feste Handelsniederlassungen in Amerika gründeten. Es scheint, dass die Seefahrer, indem sie zunehmend mutiger wurden, ab 1000 v. Chr. gezielte und regelmäßige Atlantiküberquerungen unternahmen. Außerdem besteht die Wahrscheinlichkeit, dass nordische und baskische Seefahrer den Sankt-Lorenz-Strom erreichten und Spuren in der Sprache der nördlichen Algonkins hinterließen. Dass dann, viele Jahrhunderte später, die Wikinger über Grönland Amerika erreichten, bezeugen die zahlreichen über Nordamerika verstreuten Runensteine.

Daneben gibt es in Amerika auch Steine mit Inschriften in keltischer, phönizischer, karthagischer und griechischer Sprache. Im Jahre 1836 hatte man am Felsen von Gavea in Südamerika riesige fremdartige Schriftzeichen entdeckt. Die Enträtselung lässt es als sehr wahrscheinlich gelten, dass es sich dabei um phönizische Buchstaben handelt, und die Übersetzung lautet: »Badezir aus dem phönikischen Tyros der erste Sohn des Jeth-Baal«28. Man weiß heute von Badezir nur, dass er im Jahre 856 v. Chr. seinem Vater auf dem Königsthron von Tyros nachfolgte. Wäre es denkbar, dass die Phönizier im 9. Jahrhundert v. Chr. bereits Kolonien in Amerika unterhielten? Dies klingt gar nicht so unwahrscheinlich, wenn man bedenkt, zu welch außerordentlichen seefahrerischen Leistungen die Phönizier fähig waren. Ihre Handelsschiffe hatten eine Länge von durchschnittlich 15 bis 18 Metern und konnten mit einer Besatzung von etwa 20 Mann bis zu 100 Tonnen Ladung transportieren. Sie galten als die schnellsten Schiffe des Mittelmeers.

Bekanntlich haben die Phönizier die im Südwesten Spaniens gelegene, auch in der Bibel erwähnte29 Handelsstadt Tartessos gegründet, von der aus noch weitere Überseereisen unternommen wurden. Dem Bericht Herodots zufolge soll um 600 v. Chr. der Pharao Necho II. von Tartessos aus eine Flotte ausgesandt haben, um die Küste Afrikas zu erforschen. Mit Zwischenaufenthalten benötigten die Seeleute fast drei Jahre, um den Kontinent zu umsegeln. Dabei hatten sie nicht weniger als 24.000 Kilometer zurückgelegt. Der aus Karthago stammende Abenteurer Hanno begann um 480 v. Chr., südlich von Gibraltar die afrikanische Küste zu erkunden. Nach zeitgenössischen Berichten soll er bis ins heutige Liberia gekommen sein und fast 10.000 Kilometer zurückgelegt haben. Bei Reisen solchen Umfangs nimmt sich die Fahrt des Kolumbus eher bescheiden aus – von den Azoren über die Karibik bis an die Ostküste Amerikas.

Im Gebiet der Azoren lag einst das sagenumwobene Atlantis, der versunkene Kontinent, der später die Phantasie so vieler Forscher anregte. Nach Platons Bericht ging dieses jenseits der »Säulen des Herakles« gelegene Reich vor 9000 Jahren infolge von Vulkanausbrüchen und Überschwemmungen unter, also vor rund 11.500 Jahren. Von Otto Muck wird dieses Ereignis auf das Jahr 8489 v. Chr. datiert, übrigens auch dem Beginn des Maya-Kalenders. Wie ist es dann möglich, dass der König von Atlantis – wohl mithilfe der Phönizier – Geschenke an den Herrscher von Troja überbringt, die phönizische Inschriften tragen? Sind die Phönizier doch frühestens ab 2000 v. Chr. an der Ostküste des Mittelmeers nachweisbar. Aber vielleicht ist Atlantis gar nicht vor 11.500 Jahren untergegangen? Denkbar wäre es immerhin, dass nach der von Platon geschilderten Katastrophe ein kleines Rest-Atlantis bis in die späte Bronzezeit existierte – und die Phönizier waren die einzigen, die den Weg dorthin kannten. Im Geheimen hielten sie die Verbindung zwischen Atlantis und den frühen Hochkulturen der Mittelmeerwelt aufrecht. Darin bestand wohl ihr eigentliches Geheimnis.

Das Atlantis der Geheimlehre