Gaia - Portrait einer Göttin - Manfred Ehmer - E-Book

Gaia - Portrait einer Göttin E-Book

Manfred Ehmer

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Beschreibung

Die Kulte, Mythen und Mysterien unserer Mutter Erde werden in diesem Buch dargestellt, eine umfassende Kulturgeschichte der Erdverehrung, die ihren thematischen Bogen spannt von der Jungsteinzeit über Altindien, Griechenland und die keltisch-germanische Welt bis zu spirituellen Naturforschern wie Leonardo da Vinci, Kepler und Goethe. Das Buch zeigt die verschiedenen Erscheinungsformen Gaias auf und lässt erkennen, dass dem Mythos von der göttlichen Mutter Erde eine höhere esoterische Wahrheit zugrunde liegt.

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Manfred Ehmer

Gaia

Portrait einer Göttin

Inhalt

Cover

Titelblatt

Auf den Spuren der Erdgöttin

Gaia in den Kulten und Mysterien Europas

Die Erde – ein lebendiges Wesen

Magna Mater – die Urgöttin

Vedischer Hymnus an die Erde

Homer an die Allmutter Erde

Uranos und Gaia bei Hesiod

Die Erdgöttin in der Orphik

Die Demeter-Mysterien

Die altrömische Terra Mater

Die Kybele-Mysterien

Der Kult der Göttin Nerthus

Ostara – Göttin der Morgenröte

Die keltische Brighid

Mutter Erde im Kalevala-Epos

Mutter Erde in der Volksreligion

Göttin Natura im Mittelalter

Geomantie im Alten China

Geomantie in Europa

Ansätze einer spirituellen Naturwissenschaft

Leonardo da Vinci über die Erde

Die Erde in Keplers Weltharmonik

Natur und Erde bei Goethe

Jakob Lorber – der Prophet

Die Erde in der Theosophie

Die Erde nach Rudolf Steiner

Die Chakren der Erde

Die Vision der Tiefenökologie

Die Gaia-Hypothese

Das Sophia-Selbst der Erde

Glossar

Zitatnachweis

Literaturverzeichnis

Dr. Manfred Ehmer

Urheberrechte

Gaia - Portrait einer Göttin

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Auf den Spuren der Erdgöttin

Dr. Manfred Ehmer

Urheberrechte

Gaia - Portrait einer Göttin

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Auf den Spuren der Erdgöttin

Oh Mutter Erde, lass mich wohlgegründet setzen,

In Deiner Huld an Deinem Platze siedeln;

Im Einverständnis mit dem hohen Himmel

Gewähre mir, Du Weise, Glück und Wohlfahrt!

Die oben zitierten Verse stammen aus dem Atharvaveda, einem rund 4000 Jahre alten indischen Text, der neben vielen Zaubersprüchen, Opferformeln und Götterhymnen auch einen Hymnus an die Göttin Erde enthält. Der Atharvaveda gehört heute noch zu den geheiligten Schriften des Hinduismus, aber dass sich ein Hymnus an die Erdgöttin darin befindet, ist gewiss eine überraschende Entdeckung. Es gibt im Rigveda wohl einige Hymnen an Indra, Agni, Surya und Varuna, aber galt die Erde denn im Alten Indien ebenfalls als Gottheit, die man mit Hymnen, Opfergaben und Dankgebeten feierte?

Die Erde als Gottheit – unter welchem Namen verehrte man sie wohl in Altindien? War sie nicht eine Namenlose, Unbekannte? Und welche Stellung nahm sie in der Hierarchie der Götter ein? Ist sie nicht durch machtvolle männliche Göttergestalten wie vor allem Brahma, Vishnu und Shiva längst verdrängt worden? Dieser Frage galt es nachzugehen, und sie stand am Beginn einer langen Forschungsarbeit, die das Ziel verfolgte, die Spuren der unbekannten Erdgöttin in der menschlichen Kulturgeschichte sichtbar zu machen.

Aber wo soll man dabei denn überhaupt beginnen? Die ältesten Kunstwerke der Menschheit sind bekanntlich jene kleinen, aus Elfenbein geschnitzten Bildnisse der Magna Mater, die wie die berühmte Venus von Willendorf ein Alter von rund 20.000 Jahren aufweisen. Aber wen sollen diese altsteinzeitlichen Figurinen darstellen? Die Urmutter allen Lebens, die Fruchtbarkeitsgöttin oder die Macht des Weiblichen überhaupt? Aber sind sie auch schon Erdgöttinnen im engeren Sinne? Viel eher könnte es sein, dass die Erdgöttin in ihrer Gestalt als Magna Mater, als Große Muttergottheit, in Europa und Vorderasien bis in die Jungsteinzeit zurückgeht, die Zeit der ersten sesshaften Ackerbaukulturen. Die Polarität von „Mutter Erde“ und „Vater Himmel“ und ihre Heilige Hochzeit schien im Mittelpunkt der europäischen Jungsteinzeit zu stehen, und dieses Denkbild verwendet noch um 700 v. Chr. der griechische Mythendichter Hesiod, wenn er aus der geheiligten Ehe zwischen der Erdgöttin Gaia und dem Himmelsgott Uranos die Titanen, Kyklopen und Erynnien wie auch die olympischen Götter hervorgehen lässt.

Gab es in Griechenland einen Gaia-Kult? Alle Zeichen weisen darauf hin. Im Kult wurde Gaia besonders in Attika verehrt; in der bildenden Kunst findet man sie meist mit Füllhorn und Früchten dargestellt. Bekannt ist die Darstellung der Gaia auf dem Gigantenfries des Pergamonaltars. „Zuerst vor allen Göttern ehr ich im Gebet die Erde als die früheste Seherin“ – so beginnt Aischylos, der Schöpfer der griechischen Tragödie, sein Drama Die Eumeniden. Auch das Kultheiligtum von Delphi war ursprünglich der Erdgöttin Gaia geweiht – erst viel später wurde es dem Sonnengott Apollon zugesprochen.

Es hat sich übrigens gezeigt, dass im vorgeschichtlichen Europa die Göttin Erde mit ganz ähnlichen Hymnen angerufen wurde wie in Altindien. So gibt es einen Homerischen Hymnus An die Allmutter Erde und ein ganz ähnliches Weihelied aus dem Umkreis der Orphik, in dem die Erde als „Mutter der seligen Geister und der sterblichen Menschen“ bezeichnet wird. Die Erdgöttin trug in der Tat keine bestimmten Bezeichnungen, sondern einfach den Namen Mutter Erde – ein Ausdruck, der auch im Volksbrauchtum, in Flursegen und Fruchtbarkeitsriten immer wieder auftaucht.

Die alten Italiker kannten ursprünglich eine die Erde verkörpernde Göttin mit dem Namen Tellus Mater, die in der Frühzeit große Bedeutung genoss, später aber völlig in den Hintergrund gedrängt wurde. Der Dichter Ovid kennt noch diese Göttin: „nährende Tellus“ nennt er sie in seinen Metamorphosen, aber ihre Spuren verlieren sich im Dunkeln, da sie von den römischen Haupt- und Staatsgöttern wie Jupiter, Juno, Mars und Apollo schon früh abgedrängt wurde. Überall dieselbe Geschichte der Verdrängung, überall dieselbe Entmachtung, Verbannung der Erdgöttin – in Indien wie im antiken Europa.

Die Beschäftigung mit den Kulten und Mythen um die göttliche Mutter Erde kann uns dazu verhelfen, uns mit der Erde als einem lebendigen Organismus neu zu verbinden. Der Klimawandel, die dramatische Erderwärmung, das Waldsterben, die Bedrohung unserer Biosphäre – das sind heute die grundlegenden Probleme, denen sich eine ins 21. Jahrhundert aufbrechende Menschheit konfrontiert sieht. Liegt die tiefere geistige Ursache dieser ganzen Misere vielleicht darin, dass der Mensch die Göttlichkeit der Erde vergessen, dass er die Erdgöttin gleichsam in die Verbannung geschickt hat – und die Erde nur noch als ein vom Menschen auszubeutendes Reservoir von Rohstoffen und Bodenschätzen ansieht?

Die Göttlichkeit der Erde gilt es also wiederzuentdecken, und Bestrebungen dazu sind schon im Gange. Dazu zählt vor allem die weltweite Klimaschutz-Bewegung Fridays for Future, die als ein Symbol für das Wiedererwachen Gaias gelten mag. Und vielleicht kann auch das vorliegende Buch zu einem Umdenken in diese Richtung beitragen, da es sich ja als ein Portrait der Göttin Gaia versteht. Es beschreibt die verschiedenen Erscheinungsformen Gaias und zeigt auf, dass dem Mythos von der göttlichen Mutter Erde eine höhere esoterische Wahrheit zugrunde liegt.

Gaia in den Kulten und Mysterien Europas

Die Erde – ein lebendiges Wesen

Um das Zentralgestirn unseres Sonnensystems ziehen, wetteifernd im Sphärengesang, seit urher die Planeten ihre Bahn, die mit ihrem sichtbaren Himmelslauf zugleich auch eine höhere kosmische Bestimmung erfüllen. Jeder Planet, vom sonnennahen flinken Merkur bis zum entrückten finster-kalten Pluto, ist ein Teil der kosmischen Gesamtordnung, jeder hat seinen besonderen Platz im All; und in der Erfüllung der je eigenen Aufgabe wirken sie alle zusammen nach ewigen Harmoniegesetzen. Im Reigen der Planetengeister schwingt seit Urzeiten auch die Erde mit: ein lebendiges Wesen, von den Völkern der Frühzeit verehrt als Göttin, Allmutter und Lebensträgerin.

Bekannt sind die Namen, unter denen „Mutter Erde“ angebetet wurde: in der altgriechischen Kultur als Ge, Gäa oder Gaia, zuweilen auch als Demeter; in Rom als Terra Mater und im kleinasiatischen Raum als Kybele. Die Verehrung der Großen Muttergottheit, von der jungsteinzeitlichen Magna Mater bis hin zur ägyptischen Allgöttin Isis, war auch nichts anderes als ein Kultus der Göttin Erde.

Die Erde! Betrachten wir nur einmal ihre äußere Gestalt, so sehen wir schon, dass sie – wie der Mensch selbst! – ein großer lebendiger Organismus ist, gewirkt nach demselben Urbild, das allem Lebendigen zugrunde liegt. Zwischen Mensch und Erde, homo sapiens und Gaia, besteht tatsächlich eine weitgehende Gestaltähnlichkeit: Wie der Mensch zu 70 Prozent aus Körperflüssigkeit besteht, so bilden – äußerlich gesehen – die Ozeane den Großteil der im Planetenreigen durch das All kreisenden Erdgestalt. Die Flüsse und Bäche sind die Adern der Erde, das Felsgestein ihr Knochenmark, der weiche Humus ihr Fleisch; die Wälder sind ihre Atmungsorgane und Lungen. Ja, auch ein Nervensystem hat die Erde: ein Netz von Meridianen, durchflossen von unendlich subtiler feinstofflicher Energie, durchzieht ihren Planetenkörper. Auch der Mensch besitzt solche Körpermeridiane. Die Atmosphäre schließlich umgibt die Erde wie ein schützender Mantel: eine Schutzhülle, die sie sowohl vor übermäßiger Sonneneinstrahlung bewahrt als auch vor der Kälte des Weltraums.

Die Erde ist – wie der Mensch, ja streng genommen wie jedes lebende Wesen im Weltenraum – ein zweipoliges Wesen; sie besitzt einen Nord- und einen Südpol. Der Nordpol ist im Organismus der Erde der Öffnungspunkt gegenüber den höheren übersinnlich-geistigen Welten, der Südpol dagegen ist der Sammlungs- und Konzentrationspunkt der Vitalkräfte. Dazwischen spannt sich die Längsachse auf. Beim Menschen entspricht der Nordpol der Kopf-Scheitel-Region; der Südpol des Menschen liegt in seinem Beckenraum. Weitere Unterpole sind auf der Längsachse zwischen Süd und Nord aufgereiht. Im Nordpolbereich also befindet sich der Bewusstseinssitz der Erde!

Mellie Uyldert schreibt in ihrem Buch Mutter Erde: „Die Taille von Mutter Erde liegt am Äquator, auch wenn sie dort ihren größten Umfang hat. Die große Hitze in diesen Breiten entspricht den menschlichen Eingeweiden, in denen Wärmeprozesse der Verdauung ablaufen. Ihre Leber, wo viel verarbeitet wird, liegt unterhalb von Afrika. Gleich in der Nähe befinden sich ihr Nabel und das Sonnengeflecht, in dem viele ein- und ausgehende Verbindungen zusammenlaufen, ganz ähnlich der Nabelschnur, mit der sie einst mit ihrer Mutter Sonne verbunden war (….). So hat die Erde auch einen Oberkörper und einen Unterleib. Ihr Herz schlägt in Mitteleuropa, wo der Sonnenkult die stärksten und ältesten Wurzeln hat. Die Thymusdrüse befindet sich in Kleinasien, dem Ort des Glaubens und des Glücks. Das Gehirn der Erde arbeitet in Nordindien, China, Japan, Nord- und Mitteleuropa. Ihr Magen liegt in den subtropischen Gebieten der nördlichen Halbkugel, wo die Lebenskünstler wohnen. Die Kehle der Erde singt in Irland. Ihr Rückgrat liegt auf der westlichen Halbkugel in den Gebirgsketten der Anden und des Felsengebirges. Die Haut ihres ganzen Körpers ist mit der Flora begrünt, den Urwäldern.“1

In der nordisch-germanischen Mythologie hieß die Erde Midgard – Mittelerde, die Menschenwelt. Der Sage nach wurde Midgard aus dem Körper des Urriesen Ymir gebildet:

Aus Ymirs Fleisch

Ward die Erde geschaffen,

Aus dem Gebein das Gebirg,

Der Himmel aus dem Schädel

Des schneekalten Riesen,

Die Brandung aus dem Blut.2

In diesen Versen aus der germanischen Edda-Sammlung erscheint die Erde als ein makrokosmischer Mensch, ein Wesen mit Knochengerüst, Haut und Haaren, mit Fleisch und Blut, wobei die Landschaften der Erde den verschiedenen Körperteilen dieser gewaltigen kosmischen Wesenheit entsprechen. Die Erde ist also – wie der Mensch selbst – ein vollkommener physisch-geistiger Organismus, gewirkt aus den ätherischen Kräften des Alls, ausgestattet mit Organen und Körperfunktionen sowie mit Wachstums-, Entwicklungs- und Selbstheilungskräften. Indessen, die physische Erde ist nur das äußerlich sichtbare Abbild der geistigen Erde – wobei „Geist“ und „Materie“ allerdings als eine untrennbare Einheit zu sehen sind, gleichsam als zwei Seiten derselben Münze.

Der Geist der Erde hat sich im Laufe eines vier Milliarden Jahre dauernden Weltwerdens aus den Nebeln des Schöpfungsuranfangs über zahlreiche Entwicklungsschritte bis zu dem herangebildet, was er heute ist: Heimstätte der Menschheit im All und Quellort geistiger Höherentwicklung! Ständig kommuniziert der Geist der Erde mit anderen Planetengeistern; denn er ist ja ein Teil des Sonnensystems. Durch die Weltalter hindurch entwickelt sich der Erd-Geist höher in zunehmender Bewusstheit. Vor allem aber ist die Geistigkeit der Erde eine weibliche, nicht eine männliche!

„Fast in allen Sprachen wird die Erde weiblich und, ein Gegensatz zu dem sie umfangenden väterlichen Himmel, als tragende, gebärende, fruchtbringende Mutter aufgefasst“3 – diese Worte, mit denen Jakob Grimm seine Ausführungen über die Erdgöttin in der Deutschen Mythologie begann, haben bis heute ihre Gültigkeit bewahrt. Die Weiblichkeit der Erde ist keine bloß eingebildete, sondern eine tatsächliche. In den alten Volksüberlieferungen gibt es einen weitverbreiteten Kult um die Mutter Erde (lat. Terra Mater): zahlreiche im Brauchtum verwurzelte Fruchtbarkeitsriten, Flursegen, Saat- und Erntebräuche rufen die Erde als Mutter und Ernährerin an; auch als Schutzherrin menschlicher Geburt, Hüterin der Ehe und Heimstatt der Verstorbenen wird sie verehrt. Die Erde ist gleichsam der Mutterschoß, aus dem wir kommen, und in den wir auch wieder eingehen werden – denn auch wir sind ein Teil der Natur.

Die Mysterien der Mutter Erde sind auch die Mysterien des Ewig-Weiblichen. In der von C. G. Jung begründeten Tiefenpsychologie wird davon ausgegangen, dass die Kräfte des Männlichen und des Weiblichen – Animus und Anima – als Urtypen in den Tiefen der menschlichen Seele ruhen. Und zwar trägt auch der Mann das Weibliche in sich, wie umgekehrt die Frau das Männliche, denn Animus und Anima sind allgemein-menschliche psychische Kräfte. Das Seelenbild der Anima kann allerdings auch, je nach Entwicklungsstand, verschiedene Erscheinungsformen annehmen. Ganz allgemein unterscheidet C. G. Jung vier Erscheinungsformen der Anima, die mit den Namen Eva, Helena, Maria und Sophia bezeichnet werden.

In diesem Sinne bemerkt Marie-Louise von Franz (in: Der Individuationsprozess), dass es bei der Anima „vier Stufen ihrer Realisation gibt: die erste Stufe ist mythologisch am klarsten im Bild der Eva symbolisiert, als einem Bild rein biologischer Bezogenheit. Die zweite Stufe ist zum Beispiel in Fausts Helena veranschaulicht. Sie symbolisiert eine romantische und ästhetische Form des Eros, vermischt mit sexuellen Elementen. Die dritte Stufe wäre zum Beispiel in der Jungfrau Maria verkörpert als Symbol des vergeistigten Eros. Die vierte Stufe erscheint in der Gestalt, welche die Liebe oft als Sapientia (Weisheit) personifiziert, da Weisheit offenbar als ein Wenigeres gegenüber dem Höchsten noch weiter reicht. Ein anderes Bild für die letzte Stufe wäre auch die Sulamit des Hohenliedes – sie verkörpert eine Entwicklungsstufe, die der moderne Mann nur selten erreicht. Die Mona Lisa reicht wohl am ehesten an sie heran.“4

Die Erdgöttin als mythisches Wahrbild verkörpert alle vier Entwicklungsstufen der Anima; sie ist Eva, Helena, Maria und Sophia zugleich! Als Mutter, als Gebärende, als fruchtspendende Ernährerin wird die Erdgöttin zunächst in allen mythischen Überlieferungen bezeichnet, als Herrin über Saat und Ernte, zuweilen auch als Hüterin des Totenreichs; damit wird der Eva-Aspekt der Erde ausgedrückt. Sie ist die Üppige, die Fruchtbringende, die Gebärende. Der Helena-Aspekt der Erde zeigt sich in den Mythen, in denen die Erdgöttin die „Heilige Hochzeit“ mit dem Himmelsgott begeht; aber damit ist die geistige Bedeutung der Erde noch nicht ausgeschöpft. Denn die Göttin der Erde ist ja immer die Weissagende, und der Archetyp des Weiblichen, der in ihr zutage tritt, ist derjenige der Maria, Sophia – die Frau als Hohepriesterin! „In den Träumen der Frau“, schreibt Marie-Louise von Franz, „tritt das Selbst, wenn es sich personifiziert, als überlegene weibliche Gestalt auf, zum Beispiel als Priesterin, Zauberin, Erdmutter, Natur- oder Liebesgöttin….“5

Weibliches Priestertum und Seherkraft sind mit der planetarischen Wesenheit der Erde eng verbunden, und die weissagenden Priesterinnen Alt-Europas waren nichts anderes als Dienerinnen der Erdgöttin. Weise Frauen waren sie, und die Kultplätze dieser uralten matriarchalischen Religion wurden auf Orten konzentrierter Erdkräfte errichtet; als Beispiel hierfür sei das Orakel von Delphi genannt. Die delphische Pythia, in Wahrheit eine Hohepriesterin der Erdgöttin, bezog ihre Seherkraft aus jener tiefen Erdspalte, über der sie saß. Die von dort aufsteigenden Dämpfe ließen sie in Verzückung geraten und weissagen. Die älteste Form der Weissagung scheint überhaupt diejenige zu sein, die aus der magischen Verbindung mit dem Element Erde erwächst.

Das Orakel zu Delphi, diese alteuropäische Mysterienstätte, war ursprünglich nicht dem männlichen Lichtgott Apollon geweiht, sondern der Erdgöttin Gaia. Aber aus der Zeit des Gaia-Kultes gibt es kaum noch Überlieferungen. So schreibt auch Thassilo von Scheffer: „Apollon ist nicht der ursprüngliche Besitzer und Urgott von Delphi. Hier herrschte als ein uns zuerst erkennbarer Kult ein solcher der Gaia (Erde) und wohl auch der Themis (Göttin heiliger Satzung), die auch schon Orakel gaben, über deren Erteilung wir aber nichts Näheres wissen. Jedenfalls galten auch beide als Verkünderinnen göttlichen Willens. Aber auch die alte Herdgöttin Hestia hatte hier ihre Opferstätte, auf der ein ewiges Feuer bei dem 'Nabel der Erde' unterhalten wurde. Auch der Drache weist auf chthonische Gottheiten, die ja stets mit Schlangen verbunden sind. Dazu zeigt der vielerwähnte Erdspalt und seine die Pythia begeisternden Dämpfe, dass hier ursprünglich den späteren Himmels- und Lichtmächten solche der Tiefe gleichberechtigt und sogar älter gegenüberstanden.“6

Zu den weissagenden Dienerinnen der Erdgöttin im Alten Europa zählt man auch die trojanische Prophetin Kassandra, die – freilich ohne Gehör zu finden – den Untergang Trojas voraussagte; nach der Eroberung Trojas wurde sie von König Agamemnon gefangen genommen. Auch das klägliche Ende Agamemnons – er wurde von seiner Gattin Klytemnästra umgebracht – sagte sie voraus. In Zusammenhang mit Kassandra steht auch die (wohl aus Kleinasien stammende) Priesterinnen-Gilde der Sibyllen, die in Ekstase die Zukunft voraussagten und meist Unheil verkündeten. Ursprünglich kannte man nur eine Sibylle, als deren Vater Dardanos, der König von Troja, genannt wird. Später entwickelte sich aus diesem Personennamen ein Gattungsbegriff, und es gab in Griechenland eine ganze Reihe von Sibyllen, vor allem die erythräischen. Auf italischem Boden wirkten später die cumäischen Sybillen, die in Cumae – südlich von Neapel – ein Einweihungszentrum hatten. Es handelte sich um eine Grotte, in der Nähe des Averner Sees gelegen und der Göttin Hekate geweiht; im Altertum galt sie als Pforte zur Unterwelt.

In den Sibyllen, in den Priesterinnen von Delphi, in all diesen alteuropäischen Frauenbünden tritt der Sophia-Aspekt der Erdmutter deutlich zutage. Indessen hatte sich in Europa seit der Einwanderung der Indogermanen ein eher patriarchalisches Priestertum herausgebildet, und an die Stelle der von weisen Frauen getragenen Erdreligion trat nunmehr die Religion der (vorwiegend männlichen) Himmels-, Sternen- und Äthergötter. Die segensreiche heilbringende Polarität von Himmel und Erde – die ihren Höhepunkt erreicht in der alljährlich begangenen „Heiligen Hochzeit“ zwischen Erdmuttergöttin und Himmelsvatergott – wurde dadurch aufgelöst, und das Schwergewicht verlagerte sich nunmehr eindeutig zum Männlichen hin. Die Reihe der Vater-Religionen beginnt mit dem Zeus-Glauben der Griechen, sie wurde konsequent herausgebildet in der Jahwe-Religion der Juden, und sie endet mit dem Christentum, dessen Hauptgebet ja lautet: „Vater unser, der du bist im Himmel …. “