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Man nennt ihn den »Sonnenfresser« – Hadrian Marlowe, größter Held und schlimmster Verbrecher der Galaxis. Auf seiner unermüdlichen Suche nach dem Geheimnis der fremdartigen Zivilisation der Cielcin kommt Marlowe auf einen barbarischen Planeten, wo seine Rachepläne gegen die Adelskaste der Galaxis und sein Streben nach Gerechtigkeit auf eine harte Probe gestellt werden. Um zu überleben, muss er womöglich das Schlimmste tun, was er sich vorstellen kann: sich selbst und die, die er liebt, verraten …
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Seitenzahl: 1411
DASBUCH
Man nennt ihn den »Sonnenfresser« – Hadrian Marlowe, größter Held und schlimmster Verbrecher der Galaxis. Auf seiner unermüdlichen Suche nach dem Geheimnis der fremdartigen Zivilisation der Cielcin kommt Marlowe auf einen barbarischen Planeten, wo seine Rachepläne gegen die Adelskaste der Galaxis und sein Streben nach Gerechtigkeit auf eine harte Probe gestellt werden. Um zu überleben, muss er womöglich das Schlimmste tun, was er sich vorstellen kann: sich selbst und die, die er liebt, verraten …
DIESONNENFRESSER-SAGA
Erster Roman: Das Imperium der Stille
Zweiter Roman: Die Finsternis zwischen den Sternen
DERAUTOR
Christopher Ruocchio konnte lesen, bevor er zu sprechen begann. Als er feststellte, dass er kein Astronaut werden würde, beschloss er, Romanautor zu werden, und begann zu schreiben. Er ist Absolvent der North Carolina State University und arbeitet als Assistant Editor bei Baen Books. Mit »Das Imperium der Stille«, dem Auftakt der Sonnenfresser-Saga, veröffentlichte er seinen ersten Roman. Christopher Ruocchio lebt in Raleigh, North Carolina.
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CHRISTOPHER RUOCCHIO
DIE
FINSTERNIS
ZWISCHEN DEN
STERNEN
ROMAN
Aus dem Amerikanischen
von Kirsten Borchardt
Deutsche Erstausgabe
WILHELMHEYNEVERLAG
MÜNCHEN
Titel der Originalausgabe:
HOWLING DARK – SUN EATER, BOOK TWO
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Deutsche Erstausgabe 5/2021
Redaktion: Catherine Beck
Copyright © 2019 by Christopher Ruocchio
Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe
und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München,
unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com
(Amanda Carden, Elizaveta Ruzanova,
Yaroslav Vitkovskiy, Meawstory15 Production, freestyle images)
Satz: Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-20209-5V001
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1
Die Rote Kompanie
DUNKELHEIT.
Grüne Augen blickten aus der Dunkelheit wie Statuen im Nebel. Ich spürte sie in mir wie Angelhaken, die mich nach oben zogen. Alles in mir kam mir verkehrt vor. Kalt. Ein Bild schien in der Luft zu schweben, Bordelons Gesicht in dem Hologramm, einen Augenblick, bevor ich es auslöschte. Es war nicht das einzige. Da war auch noch Gilliams, die Lippen so schräg verzogen, wie es seiner verwachsenen Natur entsprach, eine fleischgewordene Grimasse. Und Uvanari. Ein Durcheinander von Geräuschen füllte mein Universum: die Schreie sterbender Menschen, die Anfeuerungsrufe des Publikums beim Kolosso, das Rauschen des Bluts in meinen Ohren.
In diesem Moment wusste ich, dass ich tot gewesen war. Diese ganze sensorische Wucht war der Preis für die Rückkehr des Bewusstseins. Der Preis dafür, am Leben zu sein. Ich lebte. Jetzt wieder.
»Lord Kommandant?« Eine vertraute Stimme mit seltsamem Akzent, der auf eine Sprache verwies, an die ich mich nicht erinnerte – wenn ich sie überhaupt einmal gekannt hatte. »Lord Kommandant?«
Ich versteckte mich in einem Keller auf Pharos, so musste es sein. Es war eine Frau bei mir, eine Frau, die ich liebte und deren Haar dunkler war als die Schatten. Wir versteckten uns vor Bordelon und den Normesen, die uns an Admiral Whent verraten hatten. Nein. Nein, das war lange her, und Emesh lag noch länger zurück, aber mein verwirrtes Gehirn trank den Geruch von ihr und von brennendem Holz, erinnerte sich an ihre Wärme und an den Geschmack der Notrationsriegel, die wir uns in der Dunkelheit geteilt hatten.
»Lord Kommandant?«
Der Nebel lichtete sich, zog sich in die Tiefe der Geschichte und der noch ungezählten Jahre zurück. Noch immer hörte ich Rufe, Schluchzer, und ich wusste, dass ich selbst sie ausstieß, dass sie Zeit und Knochen durchdrangen, damit ich die Schrecken meiner Vergangenheit fühlte und vor mir sah, denn zu leben bedeutete, um diese Dinge zu wissen. Harte Finger rissen an meiner Kleidung in jener Nacht in Borosevo, und Cats Leichnam versank in den Kanälen … So eindringlich wie eine neue Erfahrung standen meine Erinnerungen wieder auf und stiegen wie Votivlichter in den Himmel. Ich versuchte sie zu greifen und stellte fest, dass meine Arme bleischwer waren und sich nicht bewegten. Wärme breitete sich in mir aus, verjagte die meerestiefe Kälte, floss aus beiden Armen in mich hinein.
Floss hinein.
Ich lag auf einem Bett. Oder zumindest auf etwas, das einem Bett sehr ähnlich war, und jemand beugte sich über mich. Ich erkannte den alten Tor Gibson, dessen graue Augen mir im Delirium grün erschienen, so grün wie sein Gewand, während sich seine Löwenmähne und der Schnurrbart im Wind sträubten, der von Meiduas Wassern hinüberwehte.
»Tot?«, krächzte ich und war mir nicht sicher, ob ich ihn oder mich damit meinte.
Der alte Scholastiker lächelte. »Noch nicht. Vielleicht können wir das noch vermeiden.«
»Lord Kommandant, bitte bleiben Sie still liegen.« Wieder diese seltsame Stimme. Vertraut. Sie kam aus Gibsons Mund, oder zumindest wollte es mir so scheinen. »Sie sind noch immer torporblind.«
»Nein«, sagte ich und sah den Scholastiker an. »Ich kann … kann Gibson sehen.«
»Es ist niemand hier außer uns!« Die Stimme kam jetzt von einer anderen Stelle, gegenüber von dort, wo Gibson stand, dabei hatte der Scholastiker sich nicht bewegt.
Als Gibson nun wieder sprach, bewegten sich seine Lippen nicht. Der Schauspieler weiß, dass er auf einer Bühne steht. Die Bühnenfigur weiß, dass es keine Bühne gibt. Es klang nach einem seiner scholastischen Aphorismen, wenngleich ich mich speziell an diesen nicht erinnerte.
Wahrscheinlich wurde ich verrückt. Wahrscheinlich war ich in einem Keller auf Pharos – oder war das schon Jahre her? Sie war dort bei mir gewesen, und Admiral Whents Schlägertrupp war uns auf den Fersen, aber wir hatten überlebt. Und Gibson war tot. Und ich war tot gewesen – oder zumindest fast. Eingefroren.
»Wissen Sie, wo Sie sind?«
Eine Frage, die sich an die erprobtesten Erforschungs- und Orientierungsschaltkreise in den urältesten Winkeln meines Hirns wandte. Wissen Sie, wo Sie sind?
Als ob jemand den Vorhang einer Bühne zurückzöge und das Hologramm der Kulisse enthüllte, verzog sich der Nebel, und die reale Welt nahm Formen an. Weiße Wände, weißer Boden, weiße Decke. Viel zu sauber. Ich lag in der geöffneten Schale einer mobilen Torporkrippe, die jemand hierher transportiert und zwecks meiner Wiederbelebung auf diesen Untersuchungstisch genietet hatte. Als ich mich umwandte, war Gibson verschwunden. Eine Halluzination? Eine Vision, zweifelsohne heraufbeschworen von der Tatsache, dass ein Teil von mir noch immer in Gibsons Stimme dachte.
Zwölf Jahre, seit ich auf Emesh gewesen war.
Jetzt fiel mir alles wieder ein. »Wir sind auf der Pharaoh.« Das Schiff hatten wir auf Pharos erobert, gleich nach der Geschichte mit den Normesen und Admiral Whent, nachdem uns Bordelon betrogen hatte. Wir waren angeheuert worden – ebenso wie Bordelons Kompanie –, um die Freiheitskämpfer, die den Sturz des Planetendiktators Marius Whent herbeiführen wollten, mit Waffen zu beliefern. Die Aktion war Teil unserer Bemühungen, uns als Söldnertruppe zu etablieren, während wir eigentlich nach Vorgossos suchten. Aber Bordelon hatte sich am Ende gegen uns gewandt und uns gezwungen, uns aus einer sehr misslichen Lage freizukämpfen. Marius Whent hatte kapitulieren müssen. Emil Bordelon war getötet worden: Seine eigenen Truppen hatten ihn verraten, nachdem ich ihnen ein Angebot gemacht hatte, das sie nicht hatten ablehnen können.
Die Frau, die an meinem Bett stand, eine Normesin mit tintenschwarzer Haut und Haaren wie rund gewalztes Blech, nickte wohlüberlegt. »Ja. Und wissen Sie, wer ich bin?« Sie trug einen burgunderfarbenen, figurbetonten Kampfanzug. Eine Uniform. Meine Uniform mit den Taschenaufschlägen und Röhrenärmeln, die ich komplett selbst entworfen hatte.
»Doktor Okoyo«, sagte ich, weniger, um ihre Frage zu beantworten, als vielmehr, um sie direkt anzusprechen. »Ich glaube nicht, dass es zu Kryobrand gekommen ist.« Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich vollkommen nackt war, und aus Reflex versuchte ich mich aufzurichten.
»Bleiben Sie liegen, Lord Marlowe.« Sie schob mich sanft, aber kraftvoll wieder zurück. »Noch habe ich nicht das ganze TX9 aus Ihnen heraus.«
Als ich mich umwandte, sah ich an dem Gestell neben mir die Blutbeutel hängen. AB Positiv. Auf der anderen Seite befand sich eine Auffangschale, in der sich das Frostschutzmittel aus meinen Adern sammelte. Es schimmerte himmelblau, im viel zu grellweißen Licht beinahe schwarz. Schließlich sagte ich: »Sie hätten mich einem Meditech überlassen können, Doktor.«
Okoyo schnaubte. »Commodore Lin würde mir die Haut abziehen, wenn ich das gewagt hätte, und ihr Imperialisten häutet Menschen ja tatsächlich.«
»Da haben Sie nicht unrecht«, räumte ich ein, »aber Sie haben ganz sicher nichts von uns zu befürchten.« Wir schwiegen eine Weile, und die Ärztin beschäftigte sich mit einem Diagnose-Terminal, während ich so tat, als sei ich entweder gar nicht nackt oder mir dieser Tatsache nicht bewusst. Ich versuchte, die Visionen einzuordnen, die ich gehabt hatte. Das Erwachen aus dem Torpor war nie leicht. Als ich damals auf Emesh ausgesetzt worden war, hatte man gerade genug Blut in mich hineingepumpt, um nicht des Mordes beschuldigt zu werden, und ich war während dieser Qual bewusstlos gewesen, aber bei allen anderen Malen hatte ich einen Dschungel aus Erinnerungen und Lärm durchquert, bis ich in die Stille der Welt zurückkehrte. Es hieß, dass das Gehirn, wenn das Bewusstsein zurückkehrte, hyperaktiv wurde. Es war, als stürbe man, dachte ich, denn im Torpor waren alle Lebensfunktionen ausgesetzt, und das war, als sei man tot. Ich war kaum etwas anderes als eine Leiche oder ein Stück Fleisch in einer Tiefkühltruhe.
Da irrte ich mich natürlich. Es ist ganz anders, wenn man stirbt. Völlig anders.
»Wie lautet das Standard-Datum?«
»Sechzehn zwo neunzehn Komma eins eins«, antwortete sie, ohne sich umzudrehen.
»November«, überlegte ich laut. Im Jahre unseres Imperiums 16219. Meine Zeit auf Emesh lag 48 Jahre zurück, von denen ich allerdings nur zwölf tatsächlich erlebt hatte. 48 Jahre, in denen wir so getan hatten, als seien wir Söldner. 48 Jahre, seit ich von Graf Mataro und seinen Plänen für mich und seine Tochter losgekommen war. 48 Jahre, in denen ich mich der Spezialtruppe der Sonnenlegionen verpflichtet hatte.
48 weitere Jahre Krieg, in einem erfolglosen, völkermordenden Kreuzzug gegen die Cielcin, jene Xenobiten, die sich eine menschliche Welt nach der anderen einverleibten und die über unser Volk herfielen wie Wölfe über eine Schafherde. 48 Jahre, in denen wir mit unseren Cielcin-Gefangenen an Bord in der vagen Hoffnung auf Verhandlungen nach Vorgossos gesucht hatten. In der vagen Hoffnung auf Frieden.
»Gibt es etwas Neues?«, fragte ich und setzte mich nun, da mich die Ärztin nicht mehr daran hindern konnte, wieder auf. Mir schwamm der Kopf, und ich stützte mich auf die harten Ränder meiner Torporkrippe. Nach kurzer Zeit stabilisierte sich mein Zustand, und ich zog ein zusammengefaltetes Gewand von dem Tisch neben dem Behälter. »Haben wir eine Spur dieses Waffenhändlers gefunden, von dem uns die Piraten auf Sanora berichteten?«
Die Ärztin wandte sich um, als sie hörte, dass ich mich bewegte, und trat hastig zu mir. Wieder wollte sie mich dazu bringen, dass ich mich hinlegte, aber ich hob die Hand. »Ich versuche nur, mich zu bedecken.«
Okoyo sah mich ungehalten an. »Sie versuchen nur, bewusstlos zu werden, Lord Marlowe.«
»Es geht schon«, murmelte ich mit plötzlich schwacher Stimme. »Es geht schon.«
Sie legte mir stützend den Arm um die Schultern, während es mir gerade eben gelang, mir das Gewand zusammengeknüllt in den Schoß fallen zu lassen – aber das genügte. Meine Atmung, schwer und feucht, nahm meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Dann beugte ich mich seitlich zu der Auffangschale und hustete etwas von der violetten Versiegelungsflüssigkeit hoch, die noch in meiner Lunge verblieben war. »Es geht überhaupt noch nicht«, sagte Okoyo. »Sie waren die letzten sechs Jahre lang ein Eiswürfel.«
»Sechs Jahre?«, fragte ich überrascht. Das hatte ich noch nicht ausgerechnet. »Wo sind wir?«
Die Ärztin schüttelte den Kopf. »Das überlassen Sie am besten dem Commodore, Mylord.«
Bassander Lin sah älter aus, als ich ihn in Erinnerung hatte, und ich fragte mich, wie viel der vergangenen Reisezeit der reizbare Captain in wachem Zustand verbracht haben mochte. Ich sage Captain, denn das war sein eigentlicher Rang. Den Commodore spielte er nur; es war eine Rolle, die er genauso angenommen hatte wie ich die des Lord Kommandanten. Die Veränderung in ihm war nur ganz leicht wahrnehmbar – keine Fältchen um Augen oder Mund, keine grauen Schläfen. Aber schließlich war auch Lin ein Patrizier, ein bronzehäutiger Mandari aus einer alten Familie, dessen Blut beinahe so erhaben war wie das meine. Die einzige wirkliche Veränderung lag in seinen schwarzen Augen. Ihr Blick war durch irgendetwas härter geworden, das schleichende Gift unserer langen Zusammenarbeit war zu Bernstein kristallisiert. Seine Räume auf der Pharaoh hatten zuvor dem normesischen Kommodore Emil Bordelon gehört, aber er hatte sich große Mühe gegeben, alle Spuren ihres früheren Bewohners gründlich zu tilgen. Die pornografische Dekoration war ebenso verschwunden wie die verschnörkelten Bilderrahmen und die üppigen Teppiche. Zwar sah man dort, wo Bordelons übergroßes Bett gestanden hatte, noch die Spuren der Befestigung am Boden, aber jetzt befand sich das schlichte Feldbett eines Soldaten an dieser Stelle. Decken gab es keine.
»Gut geschlafen?«, fragte er und nahm mich über seinen Schreibtisch hinweg gründlich in Augenschein. »Okoyo hat Ihnen einen guten Gesundheitszustand bescheinigt.« Er hatte die nervtötende Angewohnheit, seine Fragen selbst zu beantworten. Daher sagte ich nichts, sondern ließ mich auf dem Stuhl zusammensinken; ich fühlte mich unwohl in meiner karmesinroten Uniform. Bassander trug die gleiche, aber ihm schienen der hohe Kragen und die vielen Rangabzeichen nichts auszumachen. Wenigstens musste ich keine Abzeichen tragen, abgesehen von dem Emblem, das ich selbst gestaltet hatte und das mit Goldfaden auf den oberen Jackenärmel gestickt worden war. Bassander spielte mit einem schweren Henkelbecher, der auf seinem Schreibtisch stand, und sah mich nicht an. »Diese Corvo glaubt, dass sie den Mann, den wir suchen, aufgespürt hat.«
Bei dieser Nachricht richtete ich mich auf und beugte mich ein wenig über den Tisch. Lins harter Blick zuckte über mein Gesicht, dann trank er einen Schluck. »Der Bemalte Mann?« So hatten die sanoranischen Piraten den Betreffenden genannt.
Der Captain schüttelte den Kopf und erhob sich, wandte mir den Rücken zu. »Ein Dreckskerl namens Samir. Er arbeitet für den Bemalten Mann, jedenfalls hat Corvo das behauptet.« Sein Körperbau glich einem Rapier, gertenschlank und schmalschultrig, wie er so dastand, eingerahmt von einer Hologrammtafel, die eine Zusammenstellung der Aufnahmen verschiedener Sicherheitskameras aus dem Inneren der Pharaoh zeigte. »Sie hat einen ihrer Lieutenants auf den Planeten geschickt. Er hat Kontakt aufnehmen können.«
»Dann haben wir Vorgossos?«, fragte ich.
Bassander bewegte sich nicht, schob nur die Kameraeinspielungen auf der Hologrammtafel hin und her, um andere Bereiche des Schiffs zu betrachten. »Nein.« Er stemmte die Hände in die Hüften, und mir fiel das Hochmaterieschwert auf, das an seinem Gürtel hing. Es hatte Admiral Marius Whent gehört, wegen dem wir bei dem Pharos-Feldzug beinahe draufgegangen wären. »Corvos Mann ist der Meinung, Samir sei ein Bewohner des Planeten, der lediglich als Strohmann für die Extrasolarianer dient.«
»Wir sollten ein Treffen arrangieren …«
»Ja, sieht ganz so aus.« Der Captain zuckte die Achseln und fuhr sich durch das holzrauchfarbene Haar. »Was kein Problem wäre, wenn wir die 437. Legion bei uns hätten, aber … mit einer Truppe Außenseiter, wie wir es sind … da wäre das ein Witz.« So oder so hätten wir keine Verstärkung anfordern können. Jeder, der infrage gekommen wäre, befand sich Tausende von Lichtjahren und Jahrzehnten Echtzeit von hier entfernt.
»Nur weil wir eine Vorhut darstellen, heißt das nicht, dass wir ein Witz sind, Bassander«, sagte ich, wobei ich ihn extra beim Vornamen nannte.
Er räusperte sich verächtlich und wandte sich wieder den Bildschirmen zu. »Die Normesen, die Sie aufgesammelt haben, sind uns sechs zu eins überlegen, dabei wären Ihre Kolosso-Ratten schon schlimm genug.«
Ich musste tief durchatmen, um nicht seinen Henkelbecher nach ihm zu werfen. Stattdessen verschränkte ich die Arme. »Wir brauchten Verstärkung.«
»Wir brauchten Soldaten.«
»Das sind Soldaten.«
»Das sind Foederati!« Endlich drehte Bassander sich um. »Sie halten uns so lange die Treue, wie wir sie bezahlen. Sie würden sich sofort gegen uns wenden, sobald sie ein besseres Angebot erhalten.«
»Dann müssen wir eben dafür sorgen, dass es kein besseres Angebot gibt.« Jetzt war es an mir, verächtlich zu schnauben. »Wir bezahlen ihnen eineinhalb Mal so viel, wie sie von Bordelon erhalten haben.«
»Das heißt aber nicht, dass nicht irgendwann jemand kommen könnte, der ihnen noch mehr bietet. Ich vertraue ihnen nicht. Ich vertraue auch Corvo nicht. Das funktioniert alles nur, weil das Geld regelmäßig fließt.«
»Aber wird das nicht so bleiben?«, fragte ich und stützte mein Kinn auf die Hände. Mein Kopf dröhnte, ich hatte die Medica viel zu früh verlassen. »Das Imperium. Die Legionen unterstützen uns. Das weiß Corvo doch. Die Rote Kompanie von Meidua …«
»Die Rote Kompanie von Meidua«, zischte Bassander verächtlich und schüttelte den Kopf, während er sich wieder auf Commodore Bordelons alten Stuhl fallen ließ. »Wissen Sie, was diese Kompanie ist? Für mich?«
Ich rieb mir die Augen und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. »Die Tribunin hat uns mit einer Mission betraut, nämlich die Cielcin zu finden, um dann zu versuchen …«
»Es ist eine Strafexpedition. Sie hat mir Sie und Ihre Bande Ausgestoßener aufgebürdet, die Erde mag wissen, warum.«
Meine Augen verengten sich. »Wie lange sind Sie schon wach?« Er sprach wie jemand, der zu lange allein gewesen ist, als hätte er diese Unterhaltung mit sich selbst in den nackten Korridoren der Pharaoh schon tausend Mal geführt, während wir anderen schliefen. Auf meine Andeutung ging er zwar nicht ein, schien sie aber zu verstehen. Er bedachte mich mit einem finsteren Blick, und ich nutzte die kurze Pause für die Frage: »Soll ich dann zum Planeten hinunter? Samir finden? Und diesen Bemalten Mann?«
Der Commodore, der eigentlich ein Captain war, runzelte die Stirn. »Ich will einfach nur, dass Sie Corvo an einer kurzen Leine halten. Wie gesagt: Ich traue ihr nicht.«
»Sie ist jetzt schon seit siebzehn Standardjahren bei uns«, wandte ich ein. »Ich habe ihr das Kommando der Mistral anvertraut.« Nach einem weiteren Blick Bassanders hob ich die Hände und verbesserte mich: »Wir haben ihr das Kommando der Mistral anvertraut. Sie macht gute Arbeit.«
Zuvor war Otavia Corvo Emil Bordelons dritte Offizierin an Bord der Pharaoh gewesen, und die Art, wie sie sich gegen ihren früheren Herrn gewandt hatte, ließ vermuten, dass Bordelon kein gutes Händchen für die Führung seiner Offiziere gehabt hatte. Dennoch war es nicht so, dass ich Bassanders Einwände nicht hätte nachvollziehen können. Unwillkürlich wanderten meine Augen zur Vorderfront des Schreibtischs, auf dem ein Relief prangte, das Nymphen und Satyrn in unprofessioneller Ekstase und wild miteinander verschlungen zeigte.
Bassander nahm einen großen Schluck aus seiner Tasse. »Ich möchte einfach nur … dass Sie vor Ort sind.«
Ich spürte ein Lächeln auf meinen Lippen, von dem ich wusste, dass es nicht meine Augen erreichte. »Das ist sehr nett von Ihnen.«
Lin brummte etwas. »Allerdings möchte ich nicht, dass Sie noch einmal einen Erkundungstrupp anführen. Nicht nach dem, was auf Pharos passiert ist. Beinahe hätten wir Sie und Captain Azhar verloren. Und ich habe keine Lust, mir den Zorn der Jaddi zuzuziehen, weil ich nicht auf ihre Repräsentantin aufgepasst habe.«
»Es muss aber ein hochrangiger Vertreter der Kompanie sein, der Kontakt mit diesem Extrasolarianer aufnimmt, mit diesem Bemalten Mann. Corvo kommt dafür nicht infrage, und Jinan will ich nicht schicken.« Bassander sah aus, als wollte er etwas sagen, daher sprach ich schnell weiter. »Keine von beiden vertritt das Imperium, Bassander. Weder Corvo noch Jinan, und auch Valka nicht. Es bleiben nur Sie oder ich, und Sie sind erst recht unverzichtbar. Also bleibe nur ich.« Stille breitete sich zwischen uns aus. »Aber noch wissen wir nichts … Corvos Mann organisiert aber etwas, oder?«
»Er hat durchsickern lassen, dass wir hinter Atomwaffen her sind … nach Antimateriestrahlern oder etwas in der Art.«
»Daimonen?« Die Frage entschlüpfte mir spontan.
»Was?« Bassander riss die Augen auf. »Bei Gott und Imperator, nein!«
Ich verstand die Heftigkeit seiner Reaktion. Schließlich war ich selbst ein Sohn des Imperiums und im langen Schatten der Mericanii groß geworden, deren unmenschliche Verbindung mit künstlicher Intelligenz in den Tagen vor dem Imperium beinahe die ganze Menschheit ausgelöscht hatte. Halb erwartete ich, dass der stets korrekte Bassander Lin mich tadeln und der Ketzerei beschuldigen würde, aber er knirschte nur mit den Zähnen und gab mir Gelegenheit, mit einem Achselzucken hinzuzufügen: »Ich meine nur, wenn wir uns an die Extrasolarianer wenden, dann sollten wir nicht an nur einer Kiste Plasmabrenner interessiert sein.«
»Atomwaffen, sagte ich, von Plasmabrennern war nie die Rede.« Er wandte die Augen zur Decke, als ob er darauf hoffte, dass ihm eine göttliche Kraft Geduld verleihen möge.
Das tat ich mit einer Handbewegung ab. »Wollen Sie jetzt, dass ich den Erkundungstrupp übernehme, oder nicht?«
»Das will ich nicht.« Bassander lehnte sich auf seinem riesigen Stuhl zurück. »Aber seit wir Emesh verlassen haben, Marlowe, sind fast fünfzig Jahre vergangen. Fünfzig Jahre. Wissen Sie, wie viele Kolonien die Cielcin ausgelöscht haben, seit wir zu Ihrem albernen Abenteuer aufgebrochen sind?«
»Ritter-Tribunin Smythe ist auch überzeugt davon, dass …«
»Dreizehn«, fiel mir Bassander ins Wort. »Dreizehn, Marlowe.« Dann spulte er die Namen ab: Bannatia, Lycia, Idun … »Da lasse ich mich einfrieren, und jedes Mal, wenn ich aus dem Torpor wieder aufwache, steht eine neue Welt auf der Liste. Millionen Tote. Jedes Mal. Ohne, dass ich etwas dagegen unternommen hätte.« Seine Stimme war mit jedem Wort lauter geworden, bis er beinahe schrie.
Es kostete mich Überwindung, nicht aufzuspringen. »Was glauben Sie denn, was wir hier tun?«
»Wir verschwenden Zeit!«, stieß er hervor. »Über den Telegrafen kommt aktuell schon die nächste Hiobsbotschaft, bei der Erde! Ein neuer Angriff, Marlowe – ich weiß nicht, wie schwer.«
»Wenn wir mit nur einem einzigen Cielcin-Clan Frieden schließen könnten, dann wäre das für diesen Krieg von größerer Bedeutung als jede Schlacht.« Nun stand ich doch auf und zupfte am Saum meiner kurzen Jacke, um sie glatt zu ziehen. »Ob es Ihnen gefällt oder nicht, ich muss bei diesem Erkundungstrupp dabei sein.«
Bassander nickte schließlich widerstrebend und rieb sich die Nasenwurzel. »Wahrscheinlich haben Sie recht. Die Erde möge mir vergeben.«
»Ich werde ein Shuttle hinüber zur Balmung brauchen«, sagte ich und wandte mich gedankenverloren ab. »Ist dafür Zeit?«
Der Captain in der Commodore-Uniform massierte sein Kinn, sah mich aber nicht an. Wie klein er wirkte, wie er da auf Bordelons überdimensionalem Stuhl saß, hinter diesem enormen Schreibtisch, gebeugt vom Gewicht der Jahre, die wir gemeinsam und die er allein durchlebt hatte. »Wir warten noch auf Corvos Mann. Es ist Zeit genug.« Als ich mich zum Gehen wandte, sagte er: »Marlowe.«
Ich blieb stehen. »Ja, Lin?« Bewusst nannte ich ihn nun beim Nachnamen. Ihm schien nie aufzufallen, dass ich dabei Unterschiede machte, als ob solche Details in der Anrede für ihn keine Bedeutung hatten.
»Wir mögen ein Witz sein, aber wir befinden uns trotzdem inmitten einer militärischen Operation und betreiben keinen Chauffeur-Dienst für Ihren Harem.«
Wut schoss durch mich hindurch wie ein Elektroschock, und ich fuhr zusammen. Ich ballte die Fäuste, straffte die Schultern. Doch dann lockerte ich bewusst meine Muskeln und sagte: »Eine Frau ist wohl kaum ein Harem, Captain.« Zwar wandte ich mich nicht um, aber ich bemerkte trotzdem eine leichte Turbulenz in der Atmosphäre. Der Captain hatte unseren Commodore doch getroffen.
»Geht es dir gut?«, fragte eine vertraute Stimme, als ich aus Bassanders Quartier wieder in den Korridor mit den Rotgusswänden trat. Mein Liktor stand auf seinem Posten, gleich neben der Tür. Seine karmesinrote Uniform wirkte zerknittert, als hätte er sich gegen das gebogene Schott gelehnt. »Du siehst aus, als hätte dich jemand als Boxsack benutzt.«
»So fühle ich mich auch, Switch«, sagte ich und rieb mir die Augen. »Und Lin war heute Nachmittag ganz und gar sein charmantes Selbst.«
»So schlimm? Es ist allerdings eigentlich Morgen«, erklärte Switch und passte sich meinem Schritt an, während wir den Flur hinuntergingen und unsere Stiefelabsätze auf dem Bodenbelag klackerten.
»Tatsächlich?«, fragte ich etwas dümmlich. »Da verschlinge mich doch das Dunkel …«
Wir kamen an zwei Junior-Technikern vorüber, beide Normesen, und ich erwiderte ihren Gruß und ihr »Lord Marlowe!« mit einem Lächeln und einer knappen Geste, bekam aber schon von diesen kleinen Bewegungen Kopfschmerzen.
Am Fahrstuhl angekommen, drückte Switch ein paar Tasten, um den Lift anzufordern, und wir warteten kurz. In der Zeit, die ich im Torpor verbracht hatte, hatte er mich an Jahren überholt. Krähenfüße lagen um seine schlammgrünen Augen, und in sein rötliches Haar mischten sich Strohgelb und Silber. Das Gesicht, das ich in meinem Spiegel gesehen hatte, war seit Emesh kein bisschen gealtert oder erschlafft, während Switchs deutlich gegerbter aussah. Aber schließlich war ich in einem Schloss geboren worden, ganz nach den Wünschen meiner Eltern herangezüchtet und genetisch optimiert, mehr als nur menschlich. Switch war als Sohn eines Kontoristen zur Welt gekommen und verkauft worden, um die elterlichen Schulden zu begleichen, woraufhin er während seiner ganzen Kindheit über alle Raumstraßen geschleppt und missbraucht worden war. Sein Blut war niedrigsten Rangs, und dennoch hatten Schicksal oder Zufall dafür gesorgt, dass wir Kameraden geworden waren und nun Seite an Seite standen.
»Das Shuttle ist bereit«, sagte Switch, der sich in der schwach spiegelnden Tür musterte. Sie öffnete sich mit einem Zischen, während er sich Haar und Uniform glatt strich, und er grinste den Legionär, der in der Kabine stand, verlegen an. Der Mann drängte sich in den Flur und salutierte nicht nur, sondern verbeugte sich vor mir. »Captain Azhar hat mich sofort losgeschickt, als sie erfuhr, dass Lin Sie dekantieren ließ.«
Bei der Erwähnung Jinan Azhars richtete ich mich unwillkürlich auf. »Hervorragend. Ich kann keine Minute länger auf diesem Schiff bleiben.« Bassander war auf die Pharaoh umgezogen, kaum dass wir sie während des Pharos-Feldzugs erobert hatten, und hatte sie zum Flaggschiff unserer nun vergrößerten Flotte erklärt. Die Normesin Corvo hatte er auf die Mistral abgeschoben, einen kleinen Uhran-Abfangjäger, den wir zeitgleich mit der Pharaoh aufgebracht hatten. Unser ursprüngliches Schiff, der uralte, umgebaute jaddische Imperial-Zerstörer Balmung, hatte er dem Kommando unserer jaddischen Gesandten überlassen, Captain Jinan Azhar. Bassander vertraute ihr und den kupferhäutigen Soldaten aus dem Staatenbund. Schließlich waren sie Berufssoldaten, die sich mit ihrer Ehre verpflichtet hatten, seiner Hoheit, dem Hohen Fürsten Aldia di Otranto zu dienen, Erster unter Gleichen der Fürsten von Jadd. Azhar war wie Lin – und gleichzeitig völlig anders als er. Damit hatten ein imperialer Captain, eine Jaddi und eine normesische Söldnerin den Befehl über die Schiffe inne, und die Offiziere der niedrigeren Dienstgrade wurden so auf die drei Besatzungen aufgeteilt, dass sie sich gegenseitig im Auge behielten. Zudem bewachte Bassander sie alle ohne Unterlass.
Eben deswegen wollte ich die Pharaoh unbedingt verlassen. Es war schon schlimm genug, dass es imperiale Offiziere gab, die Bassander sofort Bericht erstatteten, sobald ich meine Kabine verließ, aber auf der Balmung konnte er mich nicht auch noch durch seine zahlreichen Kameras beobachten. Und dann gab es noch … andere Gründe. Beispielsweise waren unsere gefangenen Cielcin auf der Balmung. Die riesigen Torporkrippen, in denen wir sie untergebracht hatten, dienten ansonsten für Viehtransporte zwischen den Sonnen und waren so groß, dass sie nicht von einem Schiff zum anderen transportiert werden konnten, daher hatte Bassander sie in Jinans Obhut gelassen, als er ihr das Kommando über das alte Flaggschiff übertrug. Dort war auch Valka Onderra, die nicht bereit gewesen war, das Arbeitszimmer aufzugeben, das sie sich mit ihren vielen Unterlagen und Datenkristallen in der Hydrokultur-Station der Balmung eingerichtet hatte. Einige weitere Freunde waren ebenfalls dort, Switch zum Beispiel, aber auch Ghen und der alte Pallino, Myrmidonen, die ich aus meiner Zeit als Kämpfer im Kolosso von Borosevo kannte. Die übrigen waren auf die Pharaoh und die Mistral aufgeteilt worden. Und dann war da noch Jinan selbst, die sich zu dem sturen Bassander verhielt wie eine Blume zu Sand.
»Bist du schon lange wach?«, fragte ich, während ich meine Schläfen massierte.
Switch schob seine Hände in die Taschen. »Drei Wochen ungefähr. Jinan hat mich geweckt, als Corvo Crim zum Planeten runterschickte.«
»Crim also, ja?« Er war ein junger, normesischer Lieutenant, der eigentlich Karim Garone hieß. »Das ist gut, ich hatte schon befürchtet, Lin hätte vielleicht Soisson oder Dulia gewählt.«
Ich konnte Switchs Grinsen hören. »Nur, wenn er noch eine Feuersbrunst hätte entfachen wollen.«
Wir lachten gemeinsam, und der Fahrstuhl fiel mit seinem Zischen ein. Die Pharaoh war ein solides, auf Uhran gebautes Riesenschiff. Zwei Meilen lang, mit einem Profil wie eine Messerklinge, mehr breit als hoch und vorn spitz zulaufend; die Brücke war weit im Heck gelegen und befand sich hoch oben in einem Kommandoturm, der sich wie eine Flosse zweihundertfünfzig Meter in die Höhe reckte. In diesem Turm, nahe der Brücke, befanden sich auch Bassanders Räumlichkeiten. Der Lift brachte uns nun zum Schiff hinunter und verlief dann weiter in einer Röhre, die einige Hundert Meter weiter abwärts und zum Heck führte, bevor wir ausstiegen. Hier war die Pharaoh erheblich breiter, damit Platz für das Motorencluster war, das vom Ring ihres Warp-Antriebs umschlossen wurde, aber auch für die Dockbuchten, in denen ihre Shuttles und die zwei Dutzend Sparrowhawk-Gleiter lagen, die bei kriegerischen Auseinandersetzungen mit anderen Schiffen ausschwärmen konnten. Ich verfolgte unseren Abstieg auf dem Bildschirm im Lift, einen kleinen, roten Punkt, der sich vor einem blauen Drahtgeflecht bewegte.
Müde legte ich die Stirn gegen die Wand oberhalb des Bildschirms. »Wie geht es Etienne?«, fragte ich nach dem normesischen Soldaten, dem letzten in der langen Liste von Switchs zahlreichen Geliebten.
Switch zögerte kurz, dann sagte er: »Hat sich erledigt, aber er ist hier, und ich bin auf der Balmung, von daher ist es okay.«
»Oh, tut mir leid«, sagte ich.
»Mir nicht«, gab er zurück. »Es war vorauszusehen. Was ist mit dir und der Frau?«
Mir fiel Bassanders Kommentar zu meinem Harem wieder ein, und ich blickte zu Boden. »Gut. Es ist gut.« Switch blieb stumm, entweder aus Rücksicht auf meine Migräne oder weil ihm nichts weiter zu sagen einfiel, und wir traten schließlich in einen weiteren Flur, größer zwar, aber vom Design her genau wie der, den wir gerade verlassen hatten: quadratisch, mit abgerundeten Ecken und etwa alle zehn Meter von einem gerippten Stützbogen unterbrochen. Leuchtdioden, die entweder weit oben an den Wänden montiert oder in die Decke eingelassen worden waren, verbreiteten flackerfreies Licht. Ich folgte Switch nach draußen, vorbei an drei Legionären in burgunderroten Kampfanzügen. Falls sie mir salutierten, sah ich es nicht.
Die Shuttles hingen in offenen Dockbuchten unter der Pharaoh wie Schiffshalterfische an einem großen Hai und waren über Verbindungstunnel zu erreichen. Switch ging voran, so wie das Protokoll es vorsah, und prüfte, ob das Shuttle sicher war. Es war niemand an Bord außer dem Piloten, einem jungen Normeser mit olivfarbener Haut und blondem Haar. Switch nahm hinter ihm Platz, und ich ließ mich meinem Liktor gegenüber auf die Rückbank fallen. Den Gruß des jungen Piloten beantwortete ich so knapp wie möglich, dann lehnte ich mich zurück. Zum ersten Mal seit meiner Wiederbelebung konnte ich durch die Alaunglasfenster nach draußen blicken.
»Aufhebung des Gravitationsfelds«, kam die Ansage des Piloten, und einen Augenblick später verschwand die künstliche Schwerkraft, sodass mein Körper gegen die Anschnallgurte schwebte, was in meinem torporkranken und geschwächten Zustand nicht besonders angenehm war. Switch betrachtete seine Hände. Ein lautes, metallische Dröhnen ließ den Rumpf des Shuttles erzittern. »Abkopplung des Versorgungstunnels.«
Die restlichen technischen Informationen ersparte uns der Pilot, während wir unseren Gedanken nachhingen und das Shuttle aus dem Rumpf der Pharaoh in die Dunkelheit glitt. Als wir den dunklen Metallkoloss hinter uns ließen und in den offenen Weltraum traten, sah ich die von Wolkenstreifen überzogene braune Scheibe des Planeten Rustam. Vor nicht allzu langer Zeit war er eine imperiale Kolonie gewesen. Jetzt war dort gar nichts mehr. Durch das Fenster konnte ich die schwarze Narbe erkennen, die sich nahe der Tag-Nacht-Grenze über einen der Kontinente zog und die Stelle markierte, an der die Cielcin eine ganze Stadt aus dem Felsgestein gesprengt hatten.
Ich schluckte und vergaß kurz meinen schmerzenden Kopf. Selten hatte ich etwas so Entsetzliches gesehen, und daran hat sich bis heute nicht viel geändert. In dem Bewusstsein, dass Switch mich beobachtete, richtete ich den Blick auf meinen Schoß.
»Das ganze Fürstenhaus wurde ausgelöscht«, sagte er, »die gesamte Regierung, vor etwa zehn Jahren. Die neue Stadt liegt auf der anderen Seite, die man von hier nicht sieht.«
»Wie viele?«
»Tote?«, fragte Switch. »Ist nicht genau bekannt. Zwei Millionen, vermutet Lin. Ungefähr doppelt so viele haben aber wohl überlebt.«
Ich musste den Blick abwenden. Die schwarze Ruine war wie ein Schlitzauge, das zu mir hinaufsah. Durch mich hindurch. »Vielleicht hat Lin recht. Wir brauchen zu lange.«
»Du hättest das hier nicht verhindern können.«
»Nein«, sagte ich, »aber vielleicht können wir verhindern, dass so etwas jemals wieder geschieht.« Es war eine Lüge. Das wussten wir beide. Während wir sprachen, verbrannten die Cielcin in irgendeiner Ecke der Normesischen Weite schon die nächste Welt.
Ich verschloss die Augen vor dem Dunkel und fand in mir eine weitere Finsternis, die noch tiefer war.
2
Untot
KALT. DASCUBICULUMWARimmer kalt. Reif bedeckte den Boden und funkelte auf den Rändern der zweckmäßig geformten Torporkrippen, in denen unsere eingefrorenen Dämonen ruhten. Der kühle Hauch aus der Belüftungsanlage verdichtete die Luft wie Geflüster, und selbst in meiner Uniformjacke fröstelte ich. In dieser Kammer hatte ich, vor allem vor dem Feldzug auf Pharos, sehr viel Zeit verbracht. Sie erinnerte mich an unsere Nekropole unter Devil’s Rest, wo die Augen, Gehirne und Herzen meiner Vorfahren in Kanopenkrügen ruhten. Vielleicht fühlte ich mich aus diesem morbiden Grund hier wohl. Oder vielleicht lag es an der eisigen Temperatur. Nach einer Zeit auf Emesh mit seinem tropischen Klima, die mir wie eine Ewigkeit erschienen war, hatte ich die durch Mark und Bein gehende Kälte ebenso genossen wie die Stille. Es gab kein Geräusch außer dem Surren der Maschinen, dem Zischen meines eigenen Atems und dem Knirschen der Frostkristalle unter den Absätzen meiner Stiefel.
In diesen kühlen Gräbern schliefen die Cielcin, in einem Schwebezustand zwischen zwei Herzschlägen, wie Unholde, die beim nächsten Blutmond wieder auferstehen, um aufs Neue umzugehen und das Blut von Menschen zu trinken. Sie waren die einzigen Überlebenden des Raumschiffs, das über Emesh abgestürzt war. Elf an der Zahl. Die Arme gegen die Kälte verschränkt, trat ich zwischen die Behälter, während mein Atem in der Luft gefror. Auf jede Krippe hatte ich den Namen geschrieben: Etanitari, Oanatoro, Svatarom, Tanaran. Neben Tanarans Behälter blieb ich stehen und malte kleine Schmelzpunkte mit den Fingerspitzen auf die gefrorene Oberfläche. Tanaran war ihr Anführer. Eine Art Priesterwesen, jedenfalls vermutete ich das, oder vielleicht auch so etwas wie ein Adliger. Es hatte meinem Plan und damit auch dieser Behandlung zugestimmt.
»Wir sind fast da«, sagte ich und stellte mir vor, dass es mich hören konnte. Dann wandte ich mich um und fragte mich, wo Captain Azhar sein mochte. Switch hatte sie von meiner Rückkehr informieren wollen. Die Anzeigen auf den Krippen schimmerten zuversichtlich blau. Alles war in Ordnung. »Du kommst nach Hause.«
»Du bist also immer noch davon überzeugt?«
Erschrocken fuhr ich herum und sah eine Frau vor mir, aber nicht die, die ich erwartet hatte. Valka Onderra Vhad Edda stand in der Tür zum Korridor. Es versetzte mir noch immer einen Stich, wenn ich ihr begegnete, trotz all dem, was seit Emesh mit uns geschehen war … oder vielmehr gerade deswegen. Sie war wie eine weibliche Figur aus Glas: harte Augen, schlanke Statur, bleiche Haut. Damit will ich nicht sagen, dass sie zerbrechlich wirkte; es war eher so, dass man sich ihr nicht nähern konnte, ohne sich zu schneiden. Jedenfalls ging es mir so. Sie war eine Tavrosi und hatte das Blut des alten Travatskr-Volks, die in die Norde-Kolonien auf Ganymed geflüchtet waren.
Die Knochensäger, die für ihre genetische Zusammensetzung verantwortlich gewesen waren, hatten sie entfernt nach dem Bild Pallas Athenes geschaffen. Sie war groß und schön und ernst. Ihr Haar war beinahe ebenso schwarz wie meines, so schwarz, dass es beinahe rot wirkte und Leuchteffekte wie tiefes Feuer zeigte, die im Kontrast zu ihrer bleichen Haut standen. Sie lächelte, jedoch nicht mit ihren goldenen Augen, und sagte: »Ich bin da nicht so sicher.«
Ich rieb mir die Arme, um sie zu wärmen, und ging ein paar zögerliche Schritte auf sie zu. »Nicht auch noch du …«
Sie hob die geschwungenen Augenbrauen. »Was meinst du?«
»Genau so hat sich Lin auch gerade geäußert. Er denkt noch immer, dass wir unsere Zeit verschwenden.«
»Ah.« Valka schien die Kälte nicht zu spüren, obwohl sie nur eine Hose und ein langes Hemd trug, dessen Muster aus Totenschädeln und einer Schrift auf Tavrosi bestand, die ich nicht lesen konnte. Sie schob sich einen Vorhang dunklen Haars hinters Ohr und sagte: »Ich bin mir nicht so sicher, ob er falsch liegt, Hadrian.« Mit zusammengepressten Lippen ging ich an ihr vorbei und trat in den Korridor. Die Balmung war in ihrer Ausstattung dunkler gehalten als die Pharaoh und geprägt von glänzendem Schwarz, Messing und polierten Winkeln, ganz im Imperial-Stil. Früher war das Schiff ein Zerstörer der Legion gewesen, und in gewisser Hinsicht war es das immer noch. Es war zudem das bei Weitem älteste Fahrzeug in den Diensten der Roten Kompanie. Valka folgte mir und sprach dabei weiter: »Ich muss an meine eigene Forschung denken, verstehst du? Lin will mich nicht einmal eines dieser Cielcin dekantieren lassen, damit ich mit ihm reden könnte.«
»Ich weiß«, sagte ich. »Tut mir leid.«
»Kein einziges Fitzelchen neuer Informationen, und das seit Jahren, ich …«
»Ich weiß, Valka.« Wieso fing sie jetzt davon an? Kaum, dass ich aus dem Torpor erwacht war? Ich presste mir die Handflächen auf die Augen und wandte ihr den Rücken zu. »Ich bin eben erst aufgewacht. Können wir … können wir später darüber sprechen?«
Ihre Augen brannten wie Richtlaser auf meinem Hinterkopf. Beinahe fühlte ich, wie sich meine Haare kräuselten. »Später? Das geht seit Jahren so.«
»Das weiß ich auch.« Jetzt drehte ich mich wieder zu ihr um. Es waren gute Jahre gewesen, überwiegend jedenfalls. Valka hatte weniger Zeit davon bei Bewusstsein verbracht als ich und sich öfter in Torpor versetzen lassen. Wir hatten uns zu einer respektablen Söldnertruppe gemausert. Aber der Weg nach Vorgossos war lang, und letztlich wussten wir nicht einmal sicher, ob es diesen Ort überhaupt gab. Aus heutiger Sicht kann ich Valka weder ihre Zweifel noch ihre Frustration verübeln, das konnte ich schon damals nicht. Ich nahm sie beiseite und zog sie in eine Nische, die vom Flur abging und eine matt leuchtende Monitoranlage beherbergte. »Wir haben etwas.« Sie wollte mir widersprechen, aber ich ließ sie nicht zu Wort kommen. »Bassander hat mich selbst geweckt. Er sagt, Otavia hätte Crim auf den Planeten hinabgeschickt, weil er jemanden aufgetan hat, der uns zu den Extrasolarianern bringen kann.«
Valkas Gesichtsausdruck änderte sich beinahe sofort, und ein ganz leises Lächeln zog über ihre Lippen. »Ist’s dein Ernst?«
»Wieso sonst würde ich jetzt wieder wach sein? Lin will mich beim Erkundungsteam dabeihaben.« Sie grinste spöttisch. »Na ja, Lin weiß, dass er mich braucht.«
»Das klingt näher an der Wahrheit.« Jetzt lächelte sie richtig. Das war schon mal etwas. Es war nie leicht, sich durch die Untiefen von Valkas Gegenwart zu navigieren, und die Zuneigung, die ich für sie empfand und die sich wie eine Schlange um meine Eingeweide wand, machte es noch schwerer. »Hast du gut geschlafen?«
Tatsächlich kamen wir mit unserem Gespräch nun in ruhigeres Fahrwasser. »Das Eingefrorensein an sich ist es ja nicht, was es so anstrengend macht.« Ich wusste, was sie meinte, und schüttelte den Kopf. »Sondern die Albträume. Wenn man aufwacht.« Das sei normal, hatte Doktor Okoyo gesagt; viele Menschen hätten Visionen, wenn sie aus dem Torpor wieder zu sich kämen. Es hatte wohl etwas damit zu tun, wie die subkortikalen Strukturen des Gehirns ihre Funktion wieder aufnahmen, bevor der ganze schwere Bewusstseinsapparat wieder in Gang kam. Amygdala. Hypothalamus. Die Maschinerie von Erinnerung und Motivation. Und Angst. »Ich habe Bordelon wieder gesehen. Ihn wieder sterben sehen. Gilliam. Uvanari.« Die beiden Letzteren waren von meiner Hand gefallen: Gilliam auf einem Feld aus Knochengras in Borosevo, Uvanari in einer dunklen Zelle in der Bastille der Kantorei. Mit Bordelon war es anders gewesen. Ich hatte die Kontrolle über die Pharaoh übernommen. Und dann hatte ich sein Schiff vom Himmel gesprengt. Wie die holografische Übertragung erst weiß wurde, dann ganz abbrach … wochenlang war dieses Bild immer wieder in mir auferstanden.
Valka neigte den Kopf und spitzte die Lippen, als empfände sie … war es Mitleid? Sie legte mir eine Hand auf den Oberarm, drückte ihn. Besorgnis. Es war Besorgnis, kein Mitleid. »Das Auftauen treibt alte Erinnerungen an die Oberfläche. Datenmüll. Das geht vorüber.«
»Geht es dir auch so?«
»Meine Erinnerungen lagern nicht in meinem Gehirn, Anaryan«, sagte sie und tippte sich mit wissender Miene an die Stirn.
Ich schluckte. Valka stammte nicht aus dem Imperium. Sie brachte Maschinen nicht so viel Ekel und Entsetzen entgegen wie ich. In den Augen der Heiligen Terranen Kantorei war sie eine Dämonikerin, die es zugelassen hatte, dass Maschinen Einfluss auf ihren Körper und Geist nahmen. Bei ihr zu Hause, in Tavros, war das üblich. Hier erschien sie mir wie eine Hexenmeisterin aus den Opern, die meine Mutter früher verfasst hatte. Dennoch hatte ich keine Angst vor Valka. Ihr Interesse an verbotenen Apparaten und ihr technisches Wissen hatten sich in der Vergangenheit als unschätzbar wertvoll erwiesen: zuerst auf Emesh, dann auch auf Ardistama und Pharos. Das würde in Zukunft sicher wieder so sein.
»Ich komme schon zurecht«, erklärte ich; ich wollte nicht länger über die Dinge sprechen, die ich getan hatte. Valka war eine Tavrosi, und die Tavrosi lehnten Gewalt ab. In ihrer Heimat hatte man eine andere Art der Kriegsführung entwickelt: Abschreckung. Eine alte Form des Kriegs, völlig irrsinnig. Alle Tavrosi-Clans verfügten über ein Waffenarsenal, mit denen sie alle anderen hätten vernichten können, sodass jede Form von Gewalt ihre gesamte Konföderation aufs Spiel gesetzt hätte. Und dann hieß es immer, wir seien die Verrückten … »Pass auf, wenn an Crims Spur etwas dran ist, werde ich noch einmal mit Lin reden und sehen, ob ich ihn nicht doch dazu bringen kann, dass er mich einen der Bleichlinge auftauen lässt.«
»Den Anführer«, sagte Valka und tippte mir auf die Brust.
»Ich werde es versuchen.«
Als sie mich anlächelte, konnte ich die Anspannung dahinter wahrnehmen. Sie war müde. Bei den Göttern in der Hölle, wir waren alle müde. Trotz des Torpors waren 48 Jahre eine lange Zeit, und zwölf davon hatte ich in wachem Zustand erlebt. Als ich mich auf der Landebahn des Sternenhafens von Borosevo von Sir Olorin Milta verabschiedet hatte, war ich davon ausgegangen, dass wir unsere Mission im Laufe weniger wach verbrachter Monate abschließen würden. Damals war mir kaum wirklich klar gewesen, was Reisen durch den Weltraum bedeuteten. »Es war ein langer Weg, Hadrian.« Valka trat zurück und lehnte sich gegen die Wand. »Ich bin Akademikerin, keine … Soldatin. Das hier ist Soldatenarbeit.« Ihr Lächeln war traurig.
»Es wird nicht immer so bleiben«, versicherte ich. »Wenn wir auf die Cielcin stoßen, wirst du jede Menge zu tun bekommen.« Seit wir von Emesh aufgebrochen waren, hatte ich Valka viel von der fremden Sprache der Xenobiten beigebracht. Sie hatte sich als eine mehr als begabte Schülerin erwiesen, die sich die Zeiten und Deklinationen sowie das komplexe System grammatischer Geschlechter mit einer Geschwindigkeit angeeignet hatte, die mich überrascht und geradezu irritiert hatte. Vermutlich, so dachte ich, war der Maschinendaimon dafür verantwortlich, der mit ihrer Schädelbasis verbunden war.
Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Weiß ich doch, Hadrian.«
Ich versuchte die Stimmung aufzulockern. »Sieh mal, du wirst dich schon bald besser mit ihnen unterhalten können als ich. Schließlich hatte ich seit Jahren keine Übung mehr.«
Das funktionierte; sie zeigte ihre weißen Zähne und lachte leise in sich hinein, bevor sie neckend antwortete: »Ich bin jetzt schon besser als du. Aber vielleicht wäre es gut, wenn wir uns demnächst wieder etwas Zeit dafür nähmen.«
Dem stimmte ich zu, und wir traten wieder aus der Nische und schritten durch das schimmernde Dunkel des Korridors. Das grelle, weiße Licht, das von oben kam, zeichnete verzerrte Spiegelbilder unserer Körper auf Wände und Boden.
»Switch hat dich hierhergebracht, nicht wahr?«, fragte Valka, als wir in einen niedrigen Zwischengang traten, der dem Pfeilspitzen-Design der Balmung folgte. Fensterschlitze, die gerade so breit waren wie meine Brust, durchbrachen die Außenwand, schweres Alaunglas, das einen Blick in den Weltraum gestattete. In einigen Meilen Entfernung konnte ich den dunklen Umriss der Pharaoh erkennen, wie ein Dolch mit übergroßem Griff und einer leicht geneigten Parierstange, die von der Brücke und dem Kommandoturm gebildet wurde. »Ich bin ihm im Gang begegnet.«
Ich blieb stehen und sah durch die Schwärze zum anderen Schiff. »Ja, das hat er.« Fast drückte ich mein Gesicht gegen das Glas. »Wo ist die Mistral?«
»Weiter unten im Orbit«, antwortete Valka. »Ich hatte bereits gehört, dass Corvo ein Team nach Arslan gesandt hatte, aber das war die letzte Information, die ich erhielt.« Sie sah mit scharfem Blick zu mir auf und hob eine Augenbraue. »Ich bin mir nicht so sicher, dass Jinan mir vertraut.« Arslan, so erfuhr ich später, lautete der Name der neuen Stadt, die von den überlebenden Kolonialisten nach der Invasion der Cielcin auf dem Planeten errichtet worden war.
»Wieso glaubst du das?«, fragte ich und wandte mich vom Fenster ab. Dabei wusste ich genau, dass Valka ihr Gefühl nicht trog. Jinan war eine Jaddi und stand dem Einsatz von Maschinen so misstrauisch gegenüber wie jeder fromme Bürger des Imperiums. Aber ich vermutete, dass mehr dahintersteckte. Etwas Tieferes, Älteres. Schließlich waren sie beide Frauen.
»Ohne bestimmten Grund«, erwiderte Valka mit einem aussagekräftigen Achselzucken. »Es ist nur …«
»Da ist er ja!«, ertönte eine kraftvolle Männerstimme. »Seine Strahlende Herrlichkeit! Du hast dir doch hoffentlich keinen Frostbrand eingefangen?«
Zwei Männer waren um die Ecke gebogen, beide in den burgunderroten Uniformen der Roten Kompanie und mit den drei Streifen in Gold auf dem linken Ärmel ihrer Tuniken, die sie als Zenturionen auswiesen. Der ältere der beiden war Pallino, ein ergrauter, vierzigjähriger Veteran des imperialen Militärs, der einen abgestoßenen Lederflicken über einem Auge trug. Ghen war jünger, größer, gebaut wie ein Landungs-Shuttle, dunkelhäutig, segelohrig und mit einem subkutanen Dauer-Bartschatten. Seine Stimme – die, die wir gerade gehört hatten –, klang stets so, als würden mächtige Steine zermahlen.
Valka verstummte sofort und wandte sich gleichzeitig mit mir um. Ich lief auf den großen Kerl zu und umarmte ihn. »Selbst wenn – ich würde immer noch sehr viel besser aussehen als du, Ghen.«
Ghen grinste und machte ein gespielt zorniges Gesicht. »Wenn du dich nicht für den Imperator des bekannten Universums halten würdest, würde ich dir für den Spruch eins reinhauen.«
»Das könntest du ja mal versuchen!«
Alle lachten, selbst Valka. »Ich dachte, Switch wäre vielleicht bei euch«, sagte ich dann. »Ich hatte ihn zu Jinan geschickt, bevor ich nach unserer … Ladung gesehen habe.«
Nachdem Ghen endlich etwas Platz gemacht hatte, griff Pallino nach meiner Hand und sah mich mit seinem einen Blauauge fest an. »Captain Azhar hat dich ins Ventral-Observatorium bestellt, und da haben unser Bulle hier und ich gedacht, wir holen dich ab.« Erst jetzt bemerkte er Valka, die auf der Seite stand, auf der ihm das Auge fehlte, und er nickte ihr zu: »Frau Doktor, Madame.« Sie erwiderte seinen Gruß auf gleiche Weise. »Hatte Sie dort nicht gesehen.« Dann wandte er sich wieder mir zu.
»Wie geht’s dem Mandari-Drecksack?«
»Lin?« Ich machte eine wegwerfende Handbewegung. »Wie immer. Meint, wir sollten umkehren und uns wieder der Flotte anschließen. Seiner Meinung nach ist die ganze Sache sinnlos.«
Pallino fuhr sich mit der Zunge durch den Mund, bevor er sagte: »Diese Typen kenne ich. Männer, die ihre Prinzipien über ihre Pflicht stellen. Ist nicht das Schlimmste auf der Welt, aber kann dazu führen, dass Leute umkommen.«
»Heute allerdings nicht«, warf Ghen ein. »Es wird niemand auf den Planeten runtergehen, bevor wir etwas von Crim gehört haben.«
Valka sah ihn irritiert an und verschränkte die Arme. »Du wusstest davon?«
Ghen zuckte die Achseln. »Ich war auf der Brücke, als Corvo sich meldete, und ich dachte nicht, dass es sich um ein großes Geheimnis handelt. Deswegen sind wir doch hier, oder?«
Ich hob beide Hände, um mir Aufmerksamkeit zu verschaffen. »Ihr sagtet, Captain Azhar sei im Ventral-Observatorium?«
Ghen schien etwas beleidigt zu sein, weil er unterbrochen worden war, aber dann breitete er die Hände aus. »Jawohl, Sir. Sie prüft einige Berichte.«
»Dann werde ich mich sofort auf den Weg machen«, erklärte ich und ging zum Korridor.
»Wir kommen mit!«, sagte Ghen. Da Switch nicht in der Nähe war, ging er wohl davon aus, dass ich einen Leibwächter brauchte, aber die Balmung – die Rote Kompanie von Meidua – war mein Zuhause. Ich war zu Hause.
Lachend wandte ich mich um und sagte den dreien: »Nein, danke. Ich kenne den Weg.«
Bei dem Ventral-Observatorium handelte es sich um einen kleinen Raum ziemlich weit im Heck der Balmung, der sich in einer Glasblase befand. Sie ragte aus der Außenhaut des Schiffs und war von Panzerplatten umgeben, die sich öffnen ließen, um dann den Blick in den tiefen, leuchtenden Weltraum freizugeben. Er war eigentlich für Konferenzen gedacht, im Augenblick aber so gut wie leer. Captain Jinan Azhar von der Roten Kompanie, Captain Jinan Azhar von der jaddischen Armee – und vor allem mein Captain – saß allein am runden Konferenztisch, den Rücken mir zugewandt.
Unter uns konnte ich durch die gläserne Geodäte unter der Observationsplattform das dunkelbraune Auge des Planeten sehen. Rustam lag in vollem Tageslicht da: ockerfarbene Felder, braune, teils eisbedeckte Berge, gelbe Meere, hier und da von einem Fleckchen Grün unterbrochen. Nicht die schönste aller Welten, aber dennoch auf eine Art faszinierend, wie es nur Planeten sein können. Unsterblich, unveränderlich, unbeeindruckt von allem – nichts sonst kam der Verkörperung eines Gotts derart gleich. Und doch täuschte dieser Eindruck, denn da war schließlich die Narbe, der fünfzig Meilen breite Riss, der über die Oberfläche verlief, als habe dort jemand ein Brandeisen angesetzt. Kurz versuchte ich mir die Kräfte vorzustellen, die es brauchte, um eine derartige Wunde zu reißen: die Plasmakanonen, die Brennstäbe. Das gewaltige, unheilige Feuer der Zerstörung.
Als ich einen Schritt auf sie zuging, fuhr Jinan zusammen. »Versuchst du etwa, dich an mich anzuschleichen?« Ihre Schultern wirkten schmal unter ihren Epauletten.
Tatsächlich hatte ich genau das vorgehabt. Wieso sie mich trotzdem gehört hatte, war mir ein Rätsel. »Natürlich nicht!«, log ich und legte mir in gespielter Empörung die Hand auf die Brust. »Das würde ich nicht wagen.« Von wegen. Ich hatte es gerade gewagt.
Sie ordnete einen Stapel Papierberichte, schob einen Hologrammprojektor beiseite, dann stand sie auf.
»Weißt du«, sagte ich, »der Captain eines Raumschiffs sollte nicht so mit dem Rücken zur Tür dasitzen …«
Sie wandte sich um, und ihr Lächeln nahm mir das letzte bisschen Scharfsinn und all die Worte, die mir noch geblieben waren. Meine Migräne schien beinahe sofort nachzulassen, und ein dümmliches Grinsen zog über mein Gesicht.
Während meines Schlafs hatte sie sich überhaupt nicht verändert. Kein winziges Ångström. Jinan war größer als ich – daran zeigte sich ihre hochrangige Abstammung –, und hatte die kupferfarbene Haut und den dunkleren Teint, wie sie den höheren Kasten der jaddischen Gesellschaft eigen waren. Wäre ich ein Dichter, würde ich sie vielleicht als Tänzerin beschreiben, schlank und kompakt. Es wäre eine Lüge gewesen, wie so vieles in der Dichtung. Schlank war sie, mit nur angedeuteten Kurven und einem weichen, ovalen Gesicht, und es waren die großen schwarzen Augen und das azurblaue Band, das in ihr Schattenhaar geflochten war, die diese Lüge in ihre Wahrheit webten.
Jinan war Soldatin, und das schon seit mehr als dreißig Jahren. Sie führte den Befehl über die jaddischen Truppen, die uns die Satrap-Gouverneurin Kalima di Sayyiph zur Verfügung gestellt hatte. Zwar war sie Bassander insofern unterstellt, als er der Commodore unserer kleinen Flotte war, aber rein vom Rang her waren beide auf Augenhöhe. Für mich war sie jedoch noch mehr als das.
Es gab Narben an Stellen, die niemand außer uns beiden je zu sehen bekam: eine alte Messerwunde an ihren Rippen, eine dünne Plasma-Brandspur an ihrer linken Seite, eine alte Schussverletzung oben – sehr weit oben – an der Innenseite eines Schenkels. »Was ist denn?«
Jetzt erst merkte ich, dass ich vielleicht zehn Sekunden lang geschwiegen hatte. Da ich noch immer keine Worte fand, nahm ich sie stattdessen in meine Arme. Es war, als umarmte man eine in Samt gekleidete Stahlskulptur. Eine Weile standen wir so da, keiner von uns sprach. Vielleicht hätte ich sogar mit dem Atmen aufgehört, wäre da nicht der Jasmingeruch gewesen, der von ihrem Haar ausging.
»Ich habe dich vermisst, mia qal.«
»Und ich dich auch, mein Captain.« Kurz hielt ich sie auf Armeslänge von mir und sah zu ihr auf. »Wie lange bist du schon wieder aufgetaut?«
Jinan blickte zur Seite und biss sich auf die Lippe. »Zwei Monate, glaube ich? Alessandro hat mich geweckt, als wir aus dem Warp gekommen sind.« Sie fasste mit der Hand um meinen Nacken und legte ihre Stirn gegen meine. Ihre Stimme klang wie ein weicher Hauch, aber beinahe rauchig in meinen Ohren, als sie sagte: »Ich wollte dich früher wecken, aber Lin wollte nichts davon hören.«
»Jetzt bin ich ja da.«
Das war ihr offenbar schon aufgefallen, und sie brachte mich zum Schweigen, indem sie mich ganz unprofessionell lange küsste und ihre Finger in meinem Haar vergrub. Meine eigenen Hände wanderten zu vertrauten Stellen, und ich hielt sie meinerseits eng an mich gepresst. Gemeinsam verbannten wir das unruhige Dunkel und die harte Realität unserer Mission und die verwundete Welt zu unseren Füßen aus unserem Bewusstsein, wenn auch nur für diesen endlosen Augenblick. Wusstet ihr, dass der jaddische Gott ein Gott des Feuers ist? Es stimmt jedenfalls, und ein Funke dieses geheimen Feuers war in ihr, wie in allen Frauen jenes seltsamen Landes. Dafür liebte ich sie, ganz gleich, was sonst in den Geschichten, die ihr gehört haben mögt, über sie erzählt worden ist … und unabhängig davon, wie es dann später mit uns weiterging.
Die Mandari haben ein Sprichwort: Ein Geliebter, den man selten sieht, ist wie viele. Ich habe vergessen, welchem Dichter es zugeschrieben wird, aber wie an allen Dichterworten ist auch daran etwas Wahres.
Nach einer Weile – wie lange sie währte, kann ich nicht sagen – lösten Jinan und ich uns wieder voneinander. Sie hatte sich gegen das Geländer am Rand der Plattform gelehnt, und hinter und unter ihr erstreckte sich der Planet Rustam. Ich war unaussprechlich froh darüber, nicht auf der Pharaoh zu sein; ich hätte mir nicht ausmalen wollen, was Bassander dazu gesagt hätte, wenn er uns hätte sehen können.
»Du hast geübt!«, sagte Jinan vorwurfsvoll und spielte mit den Quasten am Ende des blauen, in ihren Zopf geflochtenen Bands. »Udhreha! Wer ist sie?« Aber sie lächelte, und ihre Augen glitten von meinen davon.
»Du würdest sie nicht kennen«, erklärte ich neckend und setzte mich nun auf den Stuhl neben ihrem Platz. »Sie ist eine Fremde.«
Jinan schnaubte, setzte sich nun auch wieder und zog ihren Stuhl zu mir heran. Dann legte sie mir den Kopf auf die Schulter. Ich lehnte mich an sie, und so saßen wir eine lange Weile da. Meine torporbedingte Migräne, die ich kurzzeitig vergessen hatte, kehrte mit Übelkeit erregender Wucht zurück. Ich schloss die Augen. »Ich glaube, Okoyo hatte recht, ich hätte länger auf dem Behandlungstisch liegen bleiben sollen. Mein Kopf bringt mich um.«
Mein Captain kraulte mich sanft hinter den Ohren. Das half. »Du bist immer und in allem zu schnell unterwegs. Die Cielcin werden doch nicht verschwinden.« Sie beherrschte die Standardsprache gut, allerdings auf eine etwas gestelzte Art, die ihrem schweren Akzent entgegenkam.
»Das ist wohl wahr.« Mein Blick wanderte über den Tisch, registrierte die Astrogationskarten des Rustam-Systems, die der Projektor sanft rotieren ließ, sowie die Berichte, die Einzelheiten der Cielcin-Invasion enthielten und von einer lokalen Datensphäre stammten. »Ist das unser Mann?«, fragte ich und zog ein Dossier hervor, das unter einem Plan der Stadt Arslan gelegen hatte. Es zeigte einen rundgesichtigen, völlig haarlosen kleinen Mann mit bohrendem Blick und einem feuchten Lächeln. Das Bild war verwackelt und schlecht belichtet, als sei es aus großer Entfernung aufgenommen worden. Ich fragte mich, ob unser Agent Crim es geschossen hatte, oder ob wir diese Informationen aus den Überresten der Daten der örtlichen Justizbehörden extrahiert hatten.
Jinan reckte den Hals. »Das ist Samir, ja. Er sieht wie ein Homunculus aus.«
»Kann sein«, überlegte ich. »Wir sind jetzt weit draußen im Schleier, Jinan. Ich bin mir nicht sicher, ob man hier immer mit Sicherheit sagen kann, was genau man vor sich hat.« Ich schüttelte den Kopf, bereute das aber sofort. »Ein hässlicher Dreckskerl jedenfalls. Und Crim ist sich sicher, dass er derjenige ist, den wir suchen?«
»Karim«, sagte sie und benutzte bewusst Crims richtigen Namen, »ist ziemlich überzeugt davon, dass Samir weiß, wo wir unseren Extrasolarianer finden können. Er hat sich inzwischen schon einige Male mit ihm getroffen. Der Dreckskerl ist … wie sagt ihr das? Furchtsam, aber … wie eine Maus?«
»Schreckhaft? Äh … immer auf der Hut?« Ich schob das Dossier beiseite. »Er ist ein Krimineller, da kann man wahrscheinlich davon ausgehen, dass er sich bei der kleinsten Bedrohung verbirgt.«
»Das stimmt wohl.« Sie setzte sich wieder gerade hin und ordnete die Unterlagen auf dem Tisch neu. »Crim wird das schon alles richten.«
Da Jinan mich nicht mehr stützte, ließ ich mich vornüber auf die Tischplatte sinken und legte die Stirn auf das kalte, schwarze Glas. Jinan stand auf und ging um den Tisch herum, schob Ordner und Datenträger näher zu uns heran. Ich verharrte eine Weile in meiner Haltung und bewegte mich nicht, während Jinan ihre Arbeit sortierte. Dann endlich sagte ich: »Bassander und Valka glauben beide, die ganze unglückliche Unternehmung sei nichts als Zeitverschwendung.«
»Das denkst du doch auch«, konstatierte sie und blickte zu mir herab, »wenn du von einer unglücklichen Unternehmung sprichst.« Ihre Augen ruhten schwer auf meinem Hinterkopf.
Mit einem tiefen Atemzug richtete ich mich wieder auf und rieb mir das Gesicht. »Liegen sie falsch, Jinan?«
Die Jaddi antwortete nicht sofort, und mein Blick wanderte von ihrem Gesicht zu dem ausgemergelten Spiegelbild meiner eigenen Züge im fleckigen Glas des Tischs. Trotz meiner Erschöpfung und der Tatsache, dass ich vor noch wenigen Stunden kaum als lebendig zu bezeichnen gewesen war, hätte ich schlimmer aussehen können. Den schlaksigen Jungen, der ich einst auf Delos gewesen war, gab es nicht mehr; er war ausgebrannt worden von dem zerlumpten Gossenkind, in das ich mich danach verwandelt hatte, von dem Myrmidon, den ich aus mir gemacht hatte, von dem gefangenen Höfling, dem Cielcin-Übersetzer und schließlich dem Lord Kommandanten der Roten Kompanie von Meidua. Meine Züge, die früher eine gewisse raubvogelartige Schärfe besessen hatten, bildeten jetzt ein königliches Profil mit markanter Nase und dichtem schwarzen Haar, das in kurzen Wellen beinahe bis zu meinem Kinn herabhing. Es musste dringend geschnitten werden.
»Sag mir, dass ich falsch liege.« Ich sah meinem Mund dabei zu, wie er die Worte formte, und mir schien, als kämen sie aus einem anderen Teil meines Ichs. Nicht vom Kommandanten der Roten Kompanie oder vom Lord von Devil’s Rest, sondern aus dem Teil, der diese Masken aufgesetzt hatte. Aus meiner Seele, aus Hadrian. Das Kinn in eine Hand gestützt, hob ich den Kopf.
Jinan presste ihren Aktenstapel gegen die ausgestellte Hüfte und hatte die Mundwinkel leicht gesenkt. Sie sah aus, als müsste sie einem kranken Verwandten schonend beibringen, dass sie beim Gespräch mit dem Arzt leider keine guten Nachrichten erfahren hatte, aber dann legte sie ihre Akten erst einmal wieder auf den Tisch und setzte sich. Ihre Hand fand meine. Wieder gab es in mir einen nicht weiter bezeichneten Teil meines Körpers, der augenblicklich heilte, aber alles andere trauerte leise, als sie sagte: »Ich kann schon nachvollziehen, wieso sie zu diesem Schluss gekommen sind.«
Ich schloss die Augen und wandte den Kopf halb ab. »Ich verstehe.«
Sie drückte meine Hand. »Mach dir keine Gedanken über Lin und die Tavrosi.« Darüber hätte ich beinahe gelacht, wenn mir danach zumute gewesen wäre. Jinan nannte Valka nie beim Namen. Mein Captain war keine Närrin, und ich war ehrlich mit ihr gewesen, was meine Vergangenheit und meine komplizierten Gefühle für Valka Onderra betraf. »Wir haben auf dem Weg hierher ins Dunkel einen langen Weg zurückgelegt. Unsere Aufgabe ist nicht leicht, und es ist kein Ende in Sicht.« Sie lächelte und schob sich den kurzen Zopf wieder über die Schulter. »Davon abgesehen habe ich nicht die Absicht aufzugeben, mia qal.«