Die Flucht in den Hass - Eva Reichmann - E-Book

Die Flucht in den Hass E-Book

Eva Reichmann

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Beschreibung

Eva Gabriele Reichmann arbeitete ab 1924 als kulturpolitische Referentin beim 'Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens', abgekürzt CV, einer Organisation, die sich um die Rechte deutscher Bürgern jüdischer Herkunft und Religion kümmerte, was seit den 30er Jahren immer notwendiger wurde. 1939 konnte sie nach London emigieren und promovierte dort (ein zweites Mal) mit der Arbeit Hostages of Civilisation. In diesem – von der akademischen Kritik als eine der besten wissenschaftlichen Analysen des Nationalsozialismus bezeichnetem Werk – befasst sie sich mit der ideengeschichtlichen Einordnung des deutschen Nationalismus im 19. Jahrhundert und der Frage, wie dessen Aufstieg zu erklären sei. 1951 erschien die Arbeit unter dem Titel Die Flucht in den Hass. Die Ursachen der deutschen Judenkatastrophe in der Europäischen Verlagsanstalt und erfuhr mehrere Auflagen. Nach dem Krieg engagierte sich Eva Reichmann stark für einen Neuanfang jüdischen Lebens in der Bundesrepublik. Sie erhielt 1982 den Moses-Mendelssohn-Preis und ein Jahr darauf das Große Bundesverdienstkreuz, später die Buber-Rosenzweig-Medaille. Sie starb 1998 in London im Alter von 101 Jahren. In ihrem Nachwort zur Neuausgabe vertieft und betont Kirsten Heinsohn die lebenslange Position von Eva Reichmann als Verteidigerin des Liberalismus.

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„Die Flucht in den Hass“ – von der damaligen akademischen Kritik als eine der besten wissenschaftlichen Analysen des Nationalsozialismus bezeichnet – stammt aus der Feder von Eva Gabriele Reichmann, einer in Oberschlesien 1897 geborenen, in Heidelberg promovierten Soziologin, die von 1924 bis 1938 kulturpolitische Referentin des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens war. Zusammen mit ihrem Mann, dem Rechtsanwalt Hans Reichmann, der seit 1933 das „Büro Wilhelmstraße“ leitete, eine antinazistische Zentrale, die die demokratischen Parteien mit Material versorgte, bekämpfte sie den Antisemitismus und den Nationalsozialismus in Deutschland in Wort und Schrift.

Hans Reichmann wurde im November 1938 in das Konzentrationslager Sachsenhausen verschleppt. Nach seiner Freilassung emigrierten Eva und Hans Reichmann 1939 nach London. Dort schrieb Eva Reichmann ihr Buch Hostages of Civilisation, welches 1956 unter dem Titel Die Flucht in den Hass. Die Ursachen der deutschen Judenkatastrophe erstmals in der Europäischen Verlagsanstalt erschien.

Eva Reichmann befasst sich mit einer historischen, soziologischen und psychologischen Einordnung der Frage, wie der Aufstieg des Nationalsozialismus zu erklären sei. Sie fragt zudem, ob – angesichts der von ihr attestierten tiefen „Unsicherheit im deutschen Nationalbewusstsein“ – das Projekt der Judenemanzipation nicht von Beginn an zum Scheitern verurteilt war. Ihre Antwort dazu fällt deutlich aus: Nein, der Nationalsozialismus und sein antisemitisches Programm sind kein Beweis für das Scheitern der Emanzipation der Juden. Vielmehr waren es wirtschaftliche, soziale und psychologische Krisenreaktionen, die zum Erfolg antidemokratischer und auch antisemitischer Bewegungen in Deutschland geführt haben. Eva Reichmann verteidigte das liberale und das demokratische Projekt der Emanzipation Zeit ihres Lebens. Oft war sie als Zeitzeugin und Gesprächspartnerin im christlich-jüdischen Dialog gefragt. 1982 erhielt sie für ihr Wirken den Moses-Mendelssohn-Preis und ein Jahr darauf das Große Bundesverdienstkreuz, 1970 bereits die Buber-Rosenzweig-Medaille. Sie starb 1998 in London im Alter von 101 Jahren.

In ihrem Nachwort zu der von ihr herausgegebenen Neuausgabe vertieft Kirsten Heinsohn die lebenslange Position von Eva Reichmann als Verteidigerin des demokratischen Projekts der Emanzipation.

Prof. Dr. Kirsten Heinsohn ist stellvertretende Direktorin an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg und Professorin an der Universität Hamburg. Sie hat zu Eva Reichmann geforscht und Artikel zu Werk und Person veröffentlicht, zudem zahlreiche Veröffentlichungen u. a. zur Frauen- und Geschlechtergeschichte sowie zu Jüdischer Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert.

Eva G. Reichmann

DIE FLUCHT IN DEN HASS

Die Ursachen der deutschen Judenkatastrophe

Herausgegeben und mit einem Nachwort von Kirsten Heinsohn

Die englische Ausgabe dieses Buches erschien unter dem Titel: »Hostages of Civilisation« im Verlag Victor Gollancz Ltd., London.

E-Book (ePub)

© CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2021

Alle Rechte vorbehalten.

Foto: Eva Reichmann in der Wiener Library, Juli 1952

Covergestaltung: nach Entwürfen von MetaDesign, Berlin

Signet: Dorothee Wallner nach Caspar Neher »Europa« (1945)

ePub:

ISBN 978-3-86393-563-4

Auch als gedrucktes Buch erhältlich:

Neuausgabe © CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2021

Deutsche Rechte: Europäische Verlagsanstalt GmbH, Frankfurt am Main 1956

Print: ISBN 978-3-86393-104-9

Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im Internet unter

www.europaeischeverlagsanstalt.de

Inhalt

Kirsten Heinsohn

Zur Neuausgabe von Eva Gabriele Reichmann:Flucht in den Hass

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Einleitung

ERSTER TEILANTISEMITISMUS – EIN SONDERFALL DER GRUPPENSPANNUNG

1. Emanzipation als soziales Problem

2. Die objektive oder „echte“ Judenfrage

3. Die subjektive oder „unechte“ Judenfrage

4. Die Merkmale der jüdischen Bevölkerungsgruppe

5. Widersprüche in der Erscheinung des modernen Juden

6. Psychische Wirkungen der Krise

7. Das Zusammenwirken objektiver und subjektiver Ursachen in der Geschichte des deutschen Antisemitismus

ZWEITER TEILDIE ZEIT

1. Die Konkurrenzwirtschaft als Brutstätte kollektiver Unzufriedenheit

2. Die Erschütterung religiöser und ethischer Werte

3. Nationalismus, Romantik, Interessenpolitik: Etappen einer Rückentwicklung

4. Exkurs über die Erziehungsarbeit der sozialistischen Bewegung in Deutschland

5. Bevölkerungsvermehrung – Anwachsen des Kleinbürgertums

6. Wandlung der staatlichen Repräsentation: Von den „Dichtern und Denkern“ zur Massendemokratie

7. „Leichte“ und „schwere“ politische Ideologien – Die Demokratie – eine „schwere“ Ideologie

8. Die Märzwahlen 1933, – ein Phänomen der Triebentfesselung

DRITTER TEILDER SCHAUPLATZ

1. Der Einfluß der geographischen Lage Deutschlands auf seine geistige und soziale Entwicklung

2. Deutschland und die Ideen des Westens

3. Die Wirkung der verspäteten Industrialisierung auf die Meinungsbildung der Mittelklasse – Die Wege des nichtjüdischen und jüdischen Bürgertums trennen sich

4. Das Problem Preußen

5. Unsicherheit des deutschen Nationalbewußtseins – Alldeutschtum und intellektueller Antisemitismus

VIERTER TEILDIE KATASTROPHE

1. Verstärkung der Verfallserscheinungen als Folge des ersten Weltkrieges

2. Exkurs: Die Haltung der sozialistischen Parteien in der Zwischenkriegskrise

3. Die Krise der Demokratie

4. Ist eine geistesgeschichtliche Ableitung des Nationalsozialismus zulässig?

5. Das Geheimnis des nationalsozialistischen Erfolges: Die Befreiung der Triebe – Die Funktion des jüdischen Antisymbols

6. Der Militarismus als Mittel der Triebbefreiung

7. Weitere Funktionen des Antisemitismus in der nationalsozialistischen Propaganda

8. Die Flucht in den Haß

Schlußfolgerungen

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Personenregister

Kirsten Heinsohn

Verteidiger des Liberalismus

Zur Neuausgabe von Eva Gabriele Reichmann: Flucht in den Hass

Als Eva Reichmann 1981 für die ZDF-Reihe „Zeugen des Jahrhunderts“ interviewt wurde, sprach sie ausführlich über ihr zentrales Werk, das Buch „Flucht in den Hass. Die Ursachen der deutschen Judenkatastrophe“. Schon während der Kriegszeit hatten Eva Reichmann und ihr Mann Hans, beide arbeiteten zuvor im Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV), in ihrem Londoner Exil begonnen, sich wissenschaftlich mit den Ursachen für die Vertreibung und Verfolgung der Juden in Deutschland zu beschäftigen.

„Ich wollte mir Rechenschaft ablegen, wie das in dem Lande, das ich als meine Heimat gekannt und geliebt hatte und geschätzt und verehrt hatte, wie das in meinem Lande zustande kommen konnte. Darüber wollte ich mir Rechenschaft ablegen und daraus ist das Buch entstanden, und so mußte ich also vollkommen objektiv zu sein versuchen und ich glaube, das ist mir gelungen.“1

Persönliche und berufliche Erfahrungen gaben den Anstoß, nach den Ursachen für den mörderischen Antisemitismus in Deutschland zu fragen.2 Eva Reichmann antwortete jedoch nicht als Betroffene, sondern als Wissenschaftlerin, als studierte Soziologin, die 1921 ihre Promotion zum Thema „Spontaneität und Ideologie als Faktoren der modernen sozialen Bewegung“ erfolgreich in Heidelberg verteidigt hatte. „Aus dem nüchternen Gebrauch des wissenschaftlichen Geräts auf einen Mangel an persönlicher Erschütterung zu schließen, wäre irrig“, stellte sie gleich am Anfang ihres Vorwortes für die deutsche Ausgabe klar. Im Gegensatz zur englischen Originalausgabe, die 1950 unter dem Titel „Hostages of Civilisation. A Study of the Social Causes of Anti-Semitism“ im Verlag von Victor Gollancz erschienen war, meinte sie zudem, hier den deutschen Leser*innen erklären zu müssen, dass „alles verstehen“ nicht bedeute, „alles verzeihen“ zu können. Eva Reichmann hatte mit ihrem Buch eine klare Ursachenbeschreibung für den hasserfüllten Antisemitismus und seine Funktion für den Aufstieg des Nationalsozialismus vorgelegt und erwartete nun, im Jahre 1956, dass die Zeitgenoss*innen in Deutschland sich ebenfalls mit der unmittelbaren Vergangenheit auseinandersetzen würden. Ihr Buch stelle daher auch die Frage,

„ob Haß und Haßbereitschaft in Deutschland tatsächlich überwunden sind, nachdem ihre nach allen Seiten wütenden, zerstörerischen Folgen offenbar wurden. Seelische Erkrankung kann nicht durch Stillschweigen überwunden werden. Sie ins Bewußtsein zu heben, und so ihre Ursachen bannen zu helfen, ist dieses Buch geschrieben worden.“3

Ausgangspunkt ihrer Überlegungen bildet die Frage, ob die Emanzipation der Juden in Deutschland als ein gescheitertes Experiment anzusehen sei. Ihr Buch gibt darauf eine klare, nämlich ablehnende Antwort: Es handele sich gar nicht um eine Auseinandersetzung mit Inhalten und Folgen der jüdischen Emanzipation, sondern es gehe ausschließlich um die Funktion der antisemitischen Propaganda für die nationalsozialistische Bewegung. Aus einem historisch-soziologischen Blickwinkel rekonstruierte Reichmann, dass es im 19. Jahrhundert noch eine „objektive“ und eine „subjektive Judenfrage“ in den europäischen Ländern gegeben habe. Objektiv waren vor der Gleichstellung soziale und kulturelle Unterschiede zwischen Juden und NichtJuden vorhanden. Nach der Emanzipation habe jedoch in einigen europäischen Ländern die „objektive Frage“ keinen Anlass mehr für gesellschaftliche Auseinandersetzungen gegeben, so unter anderem in Deutschland oder auch in Großbritannien, in anderen dagegen schon, etwa in Polen oder Russland. In Deutschland sei im 20. Jahrhundert ausschließlich die „subjektive Judenfrage“ ausschlaggebend für den Aufstieg des Nationalsozialismus gewesen. Diese „unechte Frage“ bzw. ihre politische Funktionalisierung bilden den zentralen Punkt in Eva Reichmanns Analyse. Sie bezeichnet mit diesem Begriff gesellschaftliche Diskussionen, in denen vor allem in Krisenzeiten individuelle „Unlustgefühle“ formuliert werden. Diese Gefühle entstehen nach Freud aus der zivilisatorischen Erziehung, die den Aggressionstrieb unterdrückt. Je heftiger Unlustgefühle auftreten, desto stärker fühlt sich das Individuum in seiner eigenen Existenz und Identität bedroht. Juden als Gruppe bildeten dabei unabhängig von konkreten Personen ein besonderes Angriffsobjekt, weil ihnen sowohl Ähnlichkeit als auch Andersartigkeit zugesprochen wurde, wobei Juden von Nicht-Juden als sicher in ihrer Identität wahrgenommen werden – auch wenn diese selbst sich nicht so sehen. Eva Reichmann bezieht sich in ihrer Analyse auf Freuds Überlegungen zum Unheimlichen, bleibt jedoch nicht auf der Ebene des Individuums stehen, sondern fragt nach den gesellschaftlichen Ursachen für „Unlustgefühle“ gegen Juden. Neben ökonomischen Ungleichheiten, die in der noch vorhandenen besonderen Berufsstruktur der jüdischen Minderheit liegen, der zunehmenden Erschütterung religiöser Wertsysteme (Säkularisierung) sowie einem aggressiven Nationalismus (insbesondere in Deutschland) benennt Reichmann auch die daraus entstandene „Schwächung des Gewissens“ als eine kollektive gesellschaftliche Erscheinung in Zeiten der Krise. Der Nationalsozialismus habe schließlich erfolgreich die Möglichkeiten der Demokratie nutzen können, um für eine antirationale, aggressive und antidemokratische Politik zu werben.

Eva Reichmann benennt also zwei Verantwortliche für den Aufstieg des Nationalsozialismus: die politischen Führer der NS-Bewegung und die „Massen“, die lieber einer gefühlsorientierten Ideologie folgten, als sich vernunftgeleitet mit Krisenprozessen auseinanderzusetzen. Es ist offensichtlich, dass sich Eva Reichmann mit dem letzten Argument im Nachkriegsdeutschland nur wenige Freunde machte, denn sie ließ die einseitige These von der Verführung der Massen durch diabolische Verführer nicht gelten, sondern betonte im Gegenteil die Verantwortlichkeit der Menschen, die zur Masse wurden. Es war Zweck ihrer Tätigkeiten, auch ihres Buches, einen gesellschaftlichen Prozess des Nachdenkens anzuregen, um aus dieser Reflexion zur Verantwortung gegenüber der Vergangenheit zu gelangen. Den Erfolg des Nationalsozialismus führte sie auf die eigenartige politische, soziale und ökonomische Umbruchsituation in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg zurück, deren destruktive Potentiale aber erst durch die „Befreiung der Triebe“, also eine Flucht der sich sozial und politisch deklassiert Fühlenden in den Hass auf „den Juden“, virulent wurden. Ihr Buch ist daher viel mehr als nur ein Beitrag zur Antisemitismusforschung – es behandelt eigentlich die deutsche Gesellschaftsgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts aus soziologischer und gruppenpsychologischer Perspektive.

Ihre Analyse deckt sich in manchen Teilen mit den Untersuchungen der exilierten Frankfurter Schule um Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, vor allem mit deren Untersuchungen zur autoritären Persönlichkeit. Auch die Arbeiten von Leo Löwenthal zur Funktion von Propaganda standen im Hintergrund.4 Die Auswertungen dieser Experimente erschienen nach der englischen Version von Reichmanns Buch, sie verwies aber explizit auf diese in der deutschen Ausgabe. Wie die Vertreter der kritischen Theorie befasste sich auch Reichmann letztlich mit den Schwierigkeiten von Individuen, in modernen und sich schnell verändernden, demokratischen Gesellschaften Orientierung zu finden. Gerade deshalb sei die Auseinandersetzung mit der unmittelbaren Vergangenheit auch so wichtig, denn erst die aktive Anerkennung, einen Irrweg eingeschlagen zu haben, ermögliche Umkehr und einen Bewusstseinswandel.5

In akademischen Kreisen fand das Buch von Eva Reichmann überwiegend Anklang und Zustimmung, ebenso in Gruppen des deutschjüdischen Exils, sofern diese weiterhin dem Programm des CV folgten. Der Soziologe Kurt Sontheimer rezensierte es für die FAZ und drückte seine Hoffnung aus, es könne zur Neubelebung der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus beitragen.6 Das hat es wohl auch getan, allerdings eher indirekt und nicht auf die Art und Weise, die Eva Reichmann selbst intendierte. Die öffentliche Auseinandersetzung in der Bundesrepublik wurde in den sechziger Jahren von Gerichtsverfahren und der Berichterstattung dazu mehr beeinflusst als von wissenschaftlichen Büchern und Debatten. Die 68er-Studierendenbewegung befasst sich eher mit Adorno als mit Reichmann. Die öffentliche Debatte änderte sich dann bekanntlich erst mit der Fernsehserie „Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss“, die 1979 ausgestrahlt wurde, und den Historikerdebatten in den 1980er Jahren. Bis dahin waren Eva Reichmann und ihr Buch vor allem in den Kontexten von Akademien, christlich-jüdischen Vereinen und den Einrichtungen zur politischen Bildung bekannt. In den sechziger und siebziger Jahren wurde ihr Buch in Seminaren zum Antisemitismus und zur jüdischen Geschichte gelesen und fand auf diese Weise Eingang in sozial und politisch distinkte Diskussionsgruppen. Es ist auf diese Weise vielen Menschen bekannt geworden und sicherlich als ein Klassiker einzuordnen, wenn auch eher als ein heimlicher Klassiker.

Wer heute nach zentralen Werken zur Analyse des Aufstiegs des Nationalsozialismus fragt, wird nicht den Namen von Eva Reichmann hören – und doch lohnt es sich nach wie vor, das Buch zu lesen, gerade auch vor dem Hintergrund aktueller Debatten über populistische Bewegungen, dem Erstarken des Rechtsextremismus in ganz Europa und der polarisierten Diskussion über den Umgang mit Minderheiten. Am Beispiel der „Judenfrage“ zeigt das Buch, was passieren kann, wenn soziale und wirtschaftliche Krisen von Populist*innen genutzt werden, um antirationale, antiliberale und antidemokratische Politik zu legitimieren – und eine große Zahl Menschen bereit ist, ihnen zu folgen. Sicher, Geschichte wiederholt sich nicht, doch die aktuellen gesellschaftlichen Spaltungen und individuellen Krisenerfahrungen gleichen doch in mancher Hinsicht den unruhigen zwanziger Jahren in Deutschland. Kein Zufall also, dass wieder verstärkt über Gruppenspannungen, emotionalisierte Politik und die Funktionalisierung von Ressentiments gegen Minderheiten in der politischen Debatte diskutiert und geforscht wird.7 Eva Reichmanns Buch hat damit eine neue Aktualität gewonnen – leider, so muss man sagen.

Kirsten Heinsohn

1Transkript des Gespräches zwischen Hans Lamm und Eva Reichmann 4.- 6.2.1981 in London, ZDF Produktion Nr. 6351/0827, Archivnr. 0012521501, S. 41.

2Kirsten Heinsohn: Erfahrung und Zeitdeutung. Biographie und Werk der Soziologin Eva G. Reichmann, in: Politische Gesellschaftsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Eine Festgabe für Barbara Vogel, hrsg. v. Henning Albrecht, Gabriele Boukrif, Claudia Bruns, Kirsten Heinsohn, Hamburg 2006, S. 295-308.

3Eva Gabriele Reichmann: Vorwort zur deutschen Ausgabe, S. 11/12.

4Siehe dazu die Neuausgabe von Leo Löwenthal: Falsche Propheten. Studien zur faschistischen Agitation, unter Mitarbeit von Norbert Guterman. Aus dem Englischen von Susanne Hoppmann-Löwenthal. Mit einem Nachwort von Carolin Emcke, Berlin 2021. Das Buch erschien 1949 zuerst in den USA.

5Eva Reichmann führte diesen Zusammenhang noch deutlicher in ihrem Beitrag: Zeitgeschichte als politische und moralische Aufgabe, hrsg. v. Kuratorium für staatsbürgerliche Bildung, Hamburg 1962, aus. Gekürzt wiederabgedruckt in: Eva G. Reichmann: Größe und Verhängnis deutsch-jüdischer Existenz. Zeugnisse einer tragischen Begegnung, Heidelberg 1974, S. 90-104.

6Kurt Sontheimer, FAZ 30.11.1956, S. 21.

7Vgl. etwa Marcia Pally: Kampf der Traumatisierten. Nicht der Effekt ihres Handelns, sondern die emotionale Genugtuung treibt die Anhänger Trumps an, in: taz am wochenende 23./24.1.2021, S. 11.

VORWORT ZUR DEUTSCHEN AUSGABE

Am Beginn eines Buches, das eigenes Erleben auf die Ebene akademischer Objektivität zu heben bestimmt ist, mag ein persönliches Wort erlaubt, ja sogar gefordert sein.

Möge keiner meiner Leser glauben, daß mir diese Objektivität leicht geworden wäre. Nicht weil ich den behandelten Fragen mit kühlem Abstand gegenüberstehe, habe ich das Buch schreiben und so schreiben können, sondern weil sie den Mittelpunkt meines Lebens bilden, weil ich mich der Gewalt, mit der sie eine Antwort forderten, nicht entziehen konnte. Sollte aber die Antwort durch die Art, in der sie gesucht und gegeben wurde, ihre Gültigkeit nicht selbst verneinen, so mußte sie notwendig eine wissenschaftliche Antwort sein. Die deutende Schau des schaffenden Künstlers ist mir versagt. Einer prüfenden Forschung und bedachtsam abwägenden Erklärung fühlte ich mich gewachsen. In ihnen bleibt kein Raum für den Ausdruck der Qual, der Leidenschaft und der Anklage. Aus dem nüchternen Gebrauch des wissenschaftlichen Geräts auf einen Mangel an persönlicher Erschütterung zu schließen, wäre irrig.

Noch einem anderen Mißverständnis möchte ich vorzubeugen versuchen. Wenn irgendwo „alles verstehen“ nicht bedeuten kann „alles verzeihen“, so im Zusammenhang dieses Buches. Ich habe mich bis in vielfältige Einzelheiten hinein bemüht, Ursachenketten am Werk zu zeigen, die scheinbar diese und nur diese Wirkungen hervorbringen konnten. Geschichtsschreibung, so ist gesagt worden – und man darf das Wort wohl auch auf die soziologische Betrachtung anwenden –, ist rückwärtsgerichtete Prophetie. Aber so sehr dieser Begriff einen Widerspruch in sich selbst darstellt, so wenig haben Politiker, Historiker und wer wohl sonst noch die Pflicht hatte, Warner zu sein, etwa im Jahre 1930 einen Ausgang vorauszusehen vermocht, wie er schließlich im Jahre 1945 eingetreten ist. War das nur menschlicher Beschränktheit zuzuschreiben? Auch diese Warner sahen manche drohende Zeichen, die auf eine kommende Katastrophe hindeuteten. Aber indem sie sich sträubten, als unabwendbares Schicksal hinzunehmen, was wenige Jahre später zur schreckenvollen Wirklichkeit wurde, offenbarten sie ein besseres Gefühl für die Freiheit der Menschen, andrängende Gefahren abzuwehren, als die Systeme eines philosophischen oder ökonomischen Determinismus ihnen einzuräumen bereit sind.

Daß auf dem deutschen Volk Schwierigkeiten lasteten, daß örtliche und zeitliche, politische und wirtschaftliche Faktoren zusammenwirkten, um die Katastrophe heraufzuführen, die – wohlgemerkt – nicht im verlorenen Krieg, sondern im Rückfall in die als Nationalsozialismus getarnte Barbarei bestand, wird in diesem Buche ausführlich dargelegt. Aber an etlichen Wendepunkten stand trotz aller Ungunst der äußeren Verhältnisse die Möglichkeit zu anderer Entscheidung offen. Der soziale Determinismus, selbst in dem Umfange, in dem man ihn für die Vielen anerkennen mag, findet seine natürliche Grenze an der inneren Freiheit der Wenigen. Die sichtbare, Symbole schaffende Entschlossenheit der Träger geistiger und sittlicher Verantwortung hätte genügt, um dem Geschehen eine andere Richtung zu geben. Aber die Wenigen versagten. Nur Einzelne, Vereinzelte wagten es, Widerstand zu leisten; sie konnten aus der Öffentlichkeit entfernt und zum Schweigen gebracht werden, ohne daß ihr Fehlen das Leben der Gemeinschaft so aus den Fugen geraten ließ, wie es bei dem Ausfall einer ganzen Gruppe unvermeidlich hätte geschehen müssen. Die Vielen schließlich verfielen im Widerstreit der Gefühle fast ohne Ausnahme dem Hang zum Bequemen, das das Böse nach sich zog, statt sich zum Schwierigen und Guten aufzuraffen. Wurden sie übertölpelt? Oder haben sie sich schuldig gemacht? Wie immer die Antwort ausfällt: sie wird einen erheblichen Teil des deutschen Volkes von der Verantwortung nicht freisprechen können.

Diesem umfassend grundsätzlichen Sachverhalt sei ein engerer untergeordnet. Es wird in diesem Buche festgestellt werden, daß unter den im Nationalsozialismus wirkenden Massenreizen der Antisemitismus nicht die entscheidende Rolle spielte. Im besonderen habe nur ein verschwindend kleiner Kreis derer, die dem Nationalsozialismus zum Erfolge verhalfen, ihm damit ein Mandat zur Vollstreckung der Judenvernichtung zu geben beabsichtigt. Auch für diese Auffassung, die das Ergebnis eingehender Prüfung ist, gilt die Warnung, sie nicht als Entschuldigung aufzufassen. Es ist gewiß kein Anlaß, sich entlastet zu fühlen oder gar stolz darauf zu sein, daß die 17 277 200 Deutschen, die am 5. März 1933 ihre Stimmen der Nationalsozialistischen Partei gegegeben haben, damit keineswegs ausgezogen sind, die Juden zu ermorden. Viel eher haben diese 17 Millionen und ihre Gesinnungsfreunde ausreichend Grund, sich der Blindheit und schlimmeren Versagens anzuklagen; denn durch ihre Wahl hatten sie sich mit Demagogen eingelassen, die aus ihrer Neigung zu Gewalttaten nie ein Hehl gemacht hatten, und deren Hemmungslosigkeit auf der abschüssigen Bahn des Verbrechens längst hätte erkannt sein müssen. Es sollte für niemanden ein Anlaß zur Selbstzufriedenheit sein, daß ihm zwar nicht Mordlust, wohl aber moralische Trägheit und Gleichgültigkeit gegenüber dem Bösen nachgewiesen wird. Als ob man „nationale Ideale“, wo immer diese unter der Wählerschaft ernstgenommen wurden, Händen hätte anvertrauen dürfen, die von wilder Angriffslust getrieben wurden und nicht von liebender Zucht gelenkt!

Man wollte nicht morden – damals. Man war nur träge, gleichgültig, fahrlässig. Aber dann wurde gemordet. Trägheit, Gleichgültigkeit, Fahrlässigkeit hatten das Beil in die Hand des Henkers gleiten lassen. Schmachvolle Unterdrückung war das Los derer geworden, die in der Wahl ihrer „Befreier“ so schuldhaft geirrt hatten.

1945 erfuhr die Welt mit Entsetzen, was in den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten geschehen war. Jetzt standen vor allen Deutschen die Zeugnisse eines Grauens, das viele vorher nur dumpf geahnt hatten. 1945 herrschten Hunger, Obdachlosigkeit und Massenelend; aber eines gab es wieder, das den Deutschen zwölf Jahre versagt gewesen war: das freie Wort.

Da ich mir eingangs die Freiheit ausdrücklich erbeten habe, in diesem Vorwort meine persönliche Meinung aussprechen zu dürfen, will ich ohne Rückhalt sagen: mir scheint, die Deutschen hätten die Freiheit des Wortes nicht genügend genutzt, um von dem Verbrechen an den Juden zu sprechen. Bruchstückhafte Kunde, die während des Krieges aus Deutschland zu dem angsterfüllten Beobachter im Ausland gedrungen war, hatte Besseres erhoffen lassen. Nun horchten wir erwartungsvoll. Aber der Aufschrei des Entsetzens über das grauenhafteste Verbrechen, das je das Antlitz des Menschen entstellt hat, – der Aufschrei blieb aus. Stimmen ertönten, ergreifende Stimmen der Klage und der Anklage. Keine von ihnen ist ungehört verhallt, keine wird vergessen werden.* Das Volk aber blieb stumm. Zu viele Menschen, deren Ruf auch die Lauen hätte mitreißen können, verharrten in Schweigen. Worte wären damals Taten gewesen. Trotz Wirrnis und Verlorenheit im Äußeren galt es damals, Grundsteine für ein neues Deutschland zu legen, auf denen verläßliche Mauern hätten errichtet werden können, sobald das Chaos gebannt war.

Später wurde manches Versäumte nachgeholt. Es blieb nicht nur bei Worten, von denen einige besonders starke und aufrichtende vom Staatsoberhaupt, Professor Theodor Heuss, gesprochen wurden; es wurde ein Wiedergutmachungswerk ins Leben gerufen, das den Überlebenden der Katastrophe einen Teil des materiellen Schadens ersetzen soll, der ihnen zugefügt worden ist. Die deutsche Bundesrepublik besaß jetzt eine gewählte Vertretung, die für das Volk sprechen konnte. Wirklich für das Volk? Der Zweifel daran will nicht zur Ruhe kommen.

Ich weiß um alle Gründe, die dem spontanen Aufschrei des Entsetzens entgegenstanden. (Er hätte nicht in ein Bekenntnis der „Kollektivschuld“ überzugehen brauchen, die in einem primitiven Sinne nicht vorlag, und der in einem tieferen Sinne nachzuspüren, nicht jedermanns Sache sein kann.) Ich weiß um die Zerrüttung der äußeren Lebensbedingungen jener Nachkriegsjahre, weiß auch um die psychologischen Mechanismen des Selbstschutzes, die sich hemmend einzustellen pflegen, wo bei strenger Selbstprüfung die Gefahr der Zerknirschung unabwendbar wäre. Aber wieder bleibt trotz allem Verstehen ein schmerzendes Gefühl der Enttäuschung. Sollten wirklich Gleichgültigkeit und Trägheit des Herzens – die Laster, durch die die Deutschen in Schuldverstrickung geraten sind, – auch das neue Deutschland wieder heimsuchen?

Stimmen, meist lautstark und unentwegt vorgetragen, die heute schon wieder die „Endlösung der Judenfrage“ aus „nationalen“ Gründen zu verteidigen suchen oder versichern, daß „nur“ eineinhalb Millionen Juden ermordet worden seien, sprechen keine menschliche Sprache, die sie uns verständlich machen könnte. Deutlicher schon dringen jene verhaltener vorgebrachten Worte zu uns, die das Schreckliche „aufzurechnen“ sich unterfangen gegen die Leiden des eigenen Volkes. Am mißtönendsten aber gellen uns die Untertöne der Verlegenheit ins Ohr, die dort hörbar werden, wo man sich erst über das geschehene Unrecht entrüstet, um dann etwa fortzufahren: „Aber Sie müssen doch zugeben …“ Was in einem Gespräch, das diesen Verlauf nimmt, „zugegeben werden muß“, ist in der Regel der unbewältigte und unbereinigte Bodensatz der Unlustgefühle gegenüber den jüdischen Mitbürgern von einst, die damals der Nationalsozialismus so meisterhaft zusammenzuballen verstand, bis sie die Bausteine lieferten für seine Todesfabriken. Wer mit einem säuberlich auseinandergesetzten „Zwar – Aber“ mit sich selbst ins reine zu kommen versucht, billigt gewiß nicht den Mord; aber er billigt – in individueller Abstufung – die Voraussetzungen, die zum Morde geführt haben: Entrechtung, Berufsentziehung, Austreibung. Manchmal will es scheinen, als dröhne durch Deutschland heute noch – oder wieder – ein Chor gebrochener Stimmen, die sich zu rechtfertigen suchen, wo ein erschüttertes Schweigen oft lauter spräche als alle Argumente erklügelter Scheinlogik. Und doch gibt es auch das, das erschütterte Schweigen. Und es gibt die leisen Worte der Klage, die der Mensch zu sich selbst spricht und die nicht dazu bestimmt sind, Eindruck zu machen auf eine weite Öffentlichkeit. In ihnen bedarf es nicht der Verdammung der Gewalttaten; das schaudervolle Entsetzen, das sie erregten, zeigte sie doch niemals als eine mögliche Verirrung der eigenen Seele. Viel schwerer als die selbstherrliche Abwehr kapitaler Verbrechen ist die Prüfung der eigenen Schwäche, die etwa zu solchem Ergebnis führt: „Wir waren bequem und gleichgültig. Der Wille zur Freiheit lebte nicht in uns, und wir wußten nicht mehr, was Recht ist. Wir fühlten, daß unser Leben verarmt ist, weil wir unsere jüdischen Mitbürger entbehren: wir vermissen sie als Anreger im Geistigen und Wirtschaftlichen, als Menschen, die schon dadurch, daß sie wie wir und doch andersartig waren, uns eine ständige Mahnung hätten bedeuten sollen zum Fortschritt in der Gestaltung menschlicher Beziehungen, zu Rechtlichkeit und Menschlichkeit. Wir haben die Mahnung damals nicht gehört zu unserer Schande und zu unserem Schaden. Daß wir sie nicht mehr in unserer Mitte hören dürfen, beklagen wir als schmerzlichen Verlust.“

Der Tag, an dem in solchen Aussagen die Gedanken der Mehrheit aller Deutschen zutreffend wiedergegeben werden, würde die Zuversicht begründen, daß sie von der Krankheit des Hasses genesen sind. Dieses Buch, das die Frage zu beantworten sucht, wie es zu der „Flucht in den Haß“ gekommen ist, stellt gleichzeitig die Frage, ob Haß und Haßbereitschaft in Deutschland tatsächlich überwunden sind, nachdem ihre nach allen Seiten wütenden, zerstörerischen Folgen offenbar wurden. Seelische Erkrankung kann nicht durch Stillschweigen überwunden werden. Sie ins Bewußtsein zu heben, und so ihre Ursachen bannen zu helfen, ist dieses Buch geschrieben worden.

Eva Gabriele Reichmann

*Sie sind in der dafür zuständigen Abteilung der Wiener Library, 19, Manchester Square, London, W. 1, aufbewahrt.

EINLEITUNG

Es ist das traurige Vorrecht des Zeitgenossen, den wirkenden Ursachen des Geschehenen noch so nahe zu sein, daß er sich dem quälenden „Warum?“ gewachsen glaubt; es ist sein Nachteil, daß er ihnen zu nahe ist. Noch können sich für den durchschnittlichen Betrachter Tatsachen und Gefühle nicht nach objektiv haltbaren Maßstäben so geordnet haben, daß gültige Einsichten von ihnen herzuleiten sind.

Es ist eine Folge dieser unvermeidlichen Verzerrung, daß die nationalsozialistische Judenverfolgung häufig zu einer Schlußfolgerung Anlaß gibt, die wir Emanzipations-Defaitismus nennen. Er besteht in folgendem Gedankengang: Die deutschen Juden waren die jüdische Gemeinschaft, die am tiefsten in ihre Umwelt eingedrungen war, ohne dadurch den Charakter als Gemeinschaft zu verlieren; sie waren jüdischer und vor allem zahlenmäßig bedeutender als etwa die Judenheiten Italiens und Frankreichs; sie waren stärker mit ihrer Umwelt verbunden als die jüdischen Gemeinschaften des Ostens und lebten länger mit ihr als die der Vereinigten Staaten und die Mehrzahl der Juden in Großbritannien; die deutschen Juden waren vor dem Heraufkommen des Nationalsozialismus geradezu das klassische Beispiel dafür, daß Juden als integraler Bestandteil der nichtjüdischen Welt leben können; sie lebten nicht nur in, sondern weitgehend mit ihrer nichtjüdischen Umwelt: Ihr Untergang beweist, so folgert man, den Fehlschlag der Emanzipation als einer jüdischen Lebensform.

Es ist das Ziel der folgenden Darstellung, dieser Art der Beweisführung zu begegnen. Sie ist eine allzu rohe Anwendung des Schlusses: „Post hoc, ergo propter hoc“. Ereignisse folgen aufeinander, Ereignisse verursachen einander, aber nicht immer sind die Ereignisse, die am sichtbarsten aufeinander folgen, zugleich die, die einander verursachen. In Wirklichkeit ist das „hoc“, das die Austreibung und Vernichtung der deutschen Juden verursachte, ein anderes als ihre Emanzipation und Einordnung in die Umwelt. Dieses andere „hoc“ gilt es festzustellen. Gelingt es, es als einen örtlich und zeitlich mehr oder minder auf das Deutschland der Zwischenkriegszeit beschränkten Komplex zu erweisen, so ist den primitiv verallgemeinernden Schlüssen der Boden entzogen, und der Emanzipations-Defaitismus ist widerlegt. Der Irrtum der falschen Kausalverknüpfung, der zum Emanzipations- Defaitismus führt, kann in der gegenwärtigen Situation der Judenheit besonders verhängnisvoll werden. Die Juden befanden sich nach dem zweiten Weltkrieg in der furchtbarsten Situation der mehr als zweitausendjährigen Geschichte ihrer Diaspora. Nicht allein hatte sie der Sturz, dem die europäische Judenheit zum Opfer gefallen war, von einer Stufe höchster Entfaltung in die tiefste Tiefe physischer Vernichtung geschleudert, sondern rein zahlenmäßig hatte in der katastrophenreichen jüdischen Geschichte der Verlust an Menschen noch niemals ein so grauenhaftes Ausmaß erreicht.

Seither hat die Gründung des Staates Israel den Juden in aller Welt neue Hoffnungen gegeben. Sie hat jene Lösung der Judenfrage zu einer politischen Tatsache gemacht, die viele Jahrzehnte hindurch nur ein zionistischer Traum zu sein schien. Schon in den ersten Jahren seines Bestehens hat der junge Staat einem großen Teil der Überlebenden der europäischen Katastrophe eine neue Heimat gegeben.

Doch wie erfolgreich auch immer der Staat Israel sein möge, er wird die Tatsache nicht verändern können, daß weiterhin Juden unter den Völkern der Welt leben werden. Weit über zehn Millionen Juden leben in der Diaspora und von ihnen etwa sechseinhalb Millionen als gesetzlich gleichberechtigte Bürger ihrer Wohnländer.1 Selbst wenn man die jüdischen Gemeinschaften in der Sowjetunion und ihrer Einflußsphäre nicht einbezieht, weil sie unter Bedingungen emanzipiert sind, die mit denen des Westens nicht ohne weiteres vergleichbar sind, hängt erheblich mehr als die Hälfte aller lebenden Juden auch heute noch einer Lebensform an, deren gedankliche Grundlage nach der defaitistischen Auffassung durch Hitlers Zerstörungswahn angeblich für immer vernichtet worden ist. Wenn das Leben der Juden in der Diaspora sich noch einmal befreien soll von dem Gefühl dumpfer Resignation vor einem unerbittlichen Schicksal, wenn es sich noch einmal erfüllen soll mit jenem Glauben an Gerechtigkeit und Menschlichkeit, ohne den der Gedanke der Emanzipation seinen Sinn verliert, dann darf der Emanzipations-Defaitismus nicht ohne Antwort bleiben. Das jüdische Leben in der westlichen Welt bedarf erneut der Rechtfertigung.

Als nach dem Auftreten von Faschismus und Nationalsozialismus die westlichen Demokratien die Größe der Herausforderung erkannten, die von dem neuen Regierungssystem und seiner partiellen technischen Überlegenheit ausging, fanden sich zahlreiche Autoren, die sich der drohenden Gefahr stellten. Sie untersuchten die Vor- und Nachteile der beiderseitigen Systeme und scheuten sich nicht, die Schwächen der Demokratie festzustellen und zu prüfen. Aber sie ließen es nicht bei der Kritik bewenden, sondern stießen von ihr zu einer Neubegründung der Demokratie vor, um trotz ihrem offenbaren Mangel an Vollkommenheit ihre Überlegenheit über jedes andere bisher erreichte politische System aufs neue zu beweisen.2 Sie zeigten in ihrer Kritik neue Wege zur Überwindung der zutage getretenen Fehler. Die zeitgenössische Literatur über die Judenfrage hat bisher den umgekehrten Weg beschritten. Sie hat die Herausforderung der emanzipatorischen Lebensform durch den Nationalsozialismus mit Entmutigung und – zumindest theoretischer – Abkehr von ihr beantwortet.3 So verständlich diese Haltung ist als die seelische Reaktion auf das unerhörte Ausmaß der Desillusionierung, so wenig ist sie wissenschaftlich oder politisch zu rechtfertigen.

Es ist zu begrüßen, wenn angesichts der Gefährdung der jüdischen Existenz das Suchen und Fragen nach ihrer Sicherung kein Ende nimmt; es wäre jedoch ein Unglück, wenn Unklarheiten und Mißverständnisse die Blicke der Wegbereiter in die Irre lenkten.

ERSTER TEILANTISEMITISMUS – EIN SONDERFALL DER GRUPPENSPANNUNG

1. Emanzipation als soziales Problem

Vor der europäischen Judenkatastrophe wurde die Situation der Juden viel zu unproblematisch gesehen: daraus ist teilweise die Schockwirkung zu erklären, die alle vernünftigen Reaktionen über den Haufen warf. Man war vorher um genau den gleichen Grad zu optimistisch, um den man jetzt zu pessimistische Schlußfolgerungen ziehen möchte. Man überschätzte die rechtliche Tatsache der Emanzipation, die man heute zu unterschätzen neigt. Man übersah, daß der gesetzliche Akt der Emanzipation nur ein Beginn ist, ein Programm, das wesentlich mehr Aufgaben stellt als löst. Die Emanzipation löste die Judenfrage nicht, sondern verlegte ihr Spannungszentrum von der rechtlichen auf die gesellschaftliche Ebene. Während vor der Emanzipationsgesetzgebung die rechtliche Ungleichheit einer Gruppe von Landesbewohnern in zunehmendem Maße als ein Mißstand empfunden wurde, obwohl sie die bestehende gesellschaftliche Ungleichheit im wesentlichen adäquat ausdrückte, veränderte sich dieses Verhältnis mit der gesetzlichen Gleichberechtigung. Sie entsprach zunächst nur dem kulturellen Standard einer schmalen Oberschicht der jüdischen Gruppe; ihre breite Masse dagegen unterschied sich in fast jeder Beziehung von der nichtjüdischen Umgebung. In dem Maße nun, in dem Juden in Berufe eindrangen, die ihnen bis dahin verschlossen gewesen waren, und die noch weitgehend verschiedenartigen Bevölkerungsgruppen in engere Berührung kamen, entstand eine gesellschaftliche Spannung, die nun nicht länger in dem rechtlichen Status ihre vermeintliche Entsprechung fand. „Der Jude ist ein Mensch wie wir und hat nicht die gleichen Rechte“, so fühlte eine rechtsbewußte Elite vor der Emanzipation. „Der Jude hat gleiche Rechte und ist doch ungleich“, so begannen breitere Bevölkerungskreise in der Frühzeit der Emanzipation zu empfinden.

Dieses Empfinden ist nicht auf die Frühzeit beschränkt geblieben. Die Ungleichheit der Juden verminderte sich zwar ständig infolge ihrer fortschreitenden Assimilation an die Umwelt; aber sie hat sich in keiner der emanzipierten Judenheiten bisher so sehr verloren, daß man von einem Verlust der jüdischen Identität sprechen dürfte. Obgleich von der Peripherie fortwährend Individuen durch Taufe oder Mischheirat oder andere Umstände in die Mehrheitsvölker übergingen, haben sich die Juden überall als mehr oder minder deutlich von der Umwelt unterscheidbare Gruppen erhalten.

Bevor wir daran gehen, die Ursachen dieser Tatsachen festzustellen, möchten wir zum Verständnis unserer Gesamtdarstellung eine grundsätzliche Bemerkung machen. Wir werden uns im allgemeinen einer Wertung der von uns dargestellten Tatsachen enthalten. Die jüdische Gruppenidentität zum Beispiel interessiert uns nur in ihrer soziologischen Bedeutung. In dieser Hinsicht wird sie als eine Erschwerung der jüdisch-nichtjüdischen Beziehungen in Erscheinung treten. Wir sind uns wohl bewußt, daß vom jüdischen Standpunkt aus diese Erschwerung in hohem Maße dadurch kompensiert wird, daß die Erhaltung jüdischer Gruppenmerkmale die Voraussetzung jüdischen Eigenlebens überhaupt ist. Unsere grundsätzliche Frage betrifft aber nicht in erster Linie den Wert oder Unwert jüdischen Eigenlebens, sondern sie lautet: Ist aus der Tatsache, daß rund 43 % der deutschen Wähler im Jahre 1933 dem scharf antisemitischen Nationalsozialismus ihre Stimmen gegeben haben, zu schließen, daß sich das Zusammenleben von Juden und Nichtjuden als unmöglich erwiesen hat? Oder welche anderen Schlüsse sind gegebenenfalls aus dieser Tatsache zu ziehen? Wo wir in Abweichung von der voraussetzungslosen Analyse subjektive Werturteile abgeben, werden wir das von Fall zu Fall bemerken.

Es besteht zweifellos ein Widerspruch zwischen der Prognose, die sowohl Emanzipatoren wie Emanzipierte – obwohl manchmal uneingestandenermaßen – der Zukunft der jüdischen Gruppe am Beginn der Emanzipation stellten, und dem Ablauf, den die Entwicklung tatsächlich genommen hat. Wenn wir das Wesen der jüdischen Gemeinschaft vor der Emanzipation als national-religiös bezeichnen, womit sie zwar nicht erschöpfend, aber in ihren sichtbarsten Unterscheidungsmerkmalen gekennzeichnet ist, so besagte der Emanzipationsakt, daß die nationale Absonderung fortan aufhören und die religiöse rechtlich unerheblich werden sollte. Die erste Forderung wurde nahezu uneingeschränkt, die zweite weitgehend erfüllt. Trotz dieser Niederlegung bisher trennender Schranken jedoch und trotz der inneren Schwäche der verbleibenden religiösen Unterschiede sind die Juden als eine deutlich unterscheidbare Bevölkerungsgruppe bestehengeblieben.

Die höchst bemerkenswerte und historisch unvergleichbare Tatsache, daß das Judentum nach dem Verlust eines eigenen Territoriums zweitausend Jahre fortexistiert hat, hat ihren Deutern zu allen Zeiten ein außerordentlich schwieriges Problem gestellt. Die scheinbare Regelmäßigkeit, in der Anziehung und Abstoßung zu den verschiedensten Zeiten und in den verschiedensten Räumen wiederkehrten, der häufige freiwillige oder gewaltsame Substanzverlust, der trotzdem niemals zur Auflösung der gesamten Judenheit führte, haben verständlicherweise dazu herausgefordert, an das Walten einer inneren Gesetzmäßigkeit zu glauben, die den Juden ein ewiges Leiden als den Preis eines ewigen Lebens auferlegte. Wir sind im Rahmen dieser Untersuchung weder mit der Unterstützung noch mit der Widerlegung einer derartigen Geschichtsphilosophie befaßt. Es genügt uns daher, darauf hinzuweisen, daß die Fortexistenz der jüdischen Gruppe während der Emanzipationsepoche auch ohne eine solche Philosophie hinlänglich zu erklären ist. Wir werden uns bei unserer Beweisführung im folgenden auf den Emanzipationsprozeß in Deutschland beschränken, weil er von den Juden anderer Länder im Gelingen und im Versagen vielfach als eine Art von Idealtypus für den Ablauf einer Judenemanzipation überhaupt aufgefaßt wird.

Wie überall hatten die Juden in Deutschland – abgesehen von einer zahlenmäßig unbeträchtlichen Minderheit – bis zum Beginn der Emanzipation ihre mittelalterliche Verfassung fast ungeschmälert bewahrt. Sie lebten auf deutschem Boden, aber in religiöser, kultureller, rechtlicher, sozialer und örtlicher Abgeschlossenheit. Dem Zwang zum Ghetto hatte bis zuletzt als Kompensation eine vollgültige innere jüdische Kultur entsprochen. Die jüdische Kultur und ihre Werte wurden im Ghetto ausnahmslos festgehalten. Das Maß ihrer Strenge, die in der Außenwelt bald als Starrheit, bald als Arroganz empfunden wurde, mag dem Maße des von außen ausgeübten Druckes, der Verfolgung und Verachtung direkt entsprochen haben. Jedenfalls aber war die Verachtung gegenseitig. Als die Tore des Ghettos geöffnet wurden, war die Masse der festgefügten jüdischen Gemeinschaft nicht darauf vorbereitet. Man begriff zwar, daß ein gewaltiger Fortschritt in allen Lebensverhältnissen in Aussicht stand, und widersetzte sich ihm nur in Ausnahmefällen, aber die seelische und geistige Vorbereitung der großen Mehrzahl der Ghettoinsassen unterschied sich weitgehend von der der jüdischen Elite, welche die gesellschaftliche Emanzipation schon vor der rechtlichen vollzogen hatte. Das heißt: die deutschen Juden traten mit dem vollen Inhalt ihrer jüdischen Tradition, aber auch mit ihrem ganzen Schwergewicht den Weg in ihre Umwelt an. Mit jeder Etappe dieses Weges wurden Teile der Tradition aufgegeben, wurde die Bürde des Gesetzes erleichtert; zunächst verloren sich die nationalen Eigentümlichkeiten der Sprache, der Tracht, der Wohnviertel, des eigenen Rechtes; dann wurden die religiösen Vorschriften gemildert und angeglichen. Schließlich verblieb in gewissen jüdischen Kreisen – zumal in den Großstädten – kaum noch ein anderes subjektives Unterscheidungsmerkmal als die nominelle Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft, und selbst dieser wurde häufig genug durch Taufe oder Austritt ein Ende gemacht. Aber selbst als die vierte emanzipierte Generation heranwuchs, bildete diese äußere Form des Abfalls noch immer eine Randerscheinung innerhalb der deutschen Judenheit, und sie wurde durch den Einfluß eines weit positiveren Provinzjudentums mehr als ausgeglichen. Die jüdische Substanz, mit der die deutschen Juden in den Emanzipationsprozeß eingetreten waren, hatte ausgereicht, um ihre überwältigende Mehrheit durch 120 Jahre fortgesetzter Abschleifung hindurch als Juden zu erhalten.*

Aus dieser – gewaltsam vereinfachenden und schematisierenden – Schilderung geht zunächst zweierlei hervor: einmal, daß die Juden den natürlichen Vorgang der allmählichen Assimilation einer Minderheit an eine Mehrheit an sich geschehen ließen. Als Akteure spielten sie bald eine vorwärtstreibende, bald eine retardierende Rolle. Entscheidend jedoch war nicht ihr aktiver Einfluß, sondern ihre passive Einfügung in den Prozeß.** Ferner können wir schließen, daß der Grad der Assimilation wesentlich von der Länge der Zeit abhängt, während der eine jüdische Gemeinschaft dem Assimilationsprozeß ausgesetzt ist. So sehr man diese Tatsache von dem Standpunkt eines positiven Judentums aus bedauern mag, weil sie die Auflösung der jüdischen Gemeinschaft bei ungestörtem Fortgang des Assimilationsprozesses als unausbleiblich erscheinen läßt, so kann sie doch auch im Hinblick auf die deutsch-jüdische Entwicklung nicht geleugnet werden. Die Anziehung der nichtjüdischen Mehrheit auf die jüdische Minderheit bildete während der Epoche der jüdischen Emanzipation in Deutschland die herrschende Tendenz, die sich – gegen zahlreiche Hemmungen – durchsetzte. Wäre die Zeit nicht auf nur drei bis vier Generationen beschränkt gewesen, und wären nicht andere Faktoren hinzugetreten, die den beschriebenen Ablauf hemmten oder umkehrten, so hätte der jüdische Lebenswille nicht ausgereicht, ein Aufgehen der jüdischen Minderheit in der deutschen Mehrheit zu verhindern.

Es traten jedoch andere Faktoren hinzu, deren wichtigster die Haltung der Umwelt war. Es zeigte sich sehr bald, daß die breiteren Schichten des deutschen Volkes – aber auch Teile der führenden Elite – nicht bereit waren, es widerspruchslos hinzunehmen, daß die Juden als gleichberechtigte Glieder in den sozialen Körper eindrangen. Dieser Widerstand, seine Folgen und Nebenwirkungen bilden den wesentlichen Teil der Geschichte der Emanzipation. Diese hängt wesentlich von dem Charakter der Gesellschaft ab, die eine emanzipierte Minderheit aufzunehmen bestimmt ist. Handelt es sich um eine auf Konkurrenzwirtschaft beruhende Gesellschaft, so wird das Eindringen einer Minderheit in den meisten Fällen als Erschwerung des Konkurrenzkampfes empfunden, es sei denn, daß die von der Minderheit ausgeübten Gewerbe in der Mehrheit noch nicht vertreten sind. Selbst dann besteht die Gefahr, daß die Mehrheit sie von der Minderheit schneller übernimmt, als der Gruppencharakter der Minderheit sich verliert, und daß auf diese Weise später doch noch das Konkurrenzmotiv in die Gruppenspannung eintritt. Gerade das traf auf die jüdische Gruppe in Deutschland zu. Ihr anfängliches Monopol im Geld- und Kleinhandel wurde allmählich sowohl von ihr selbst als auch von der Mehrheit durchbrochen. Die beiderseitige wirtschaftliche Annäherung vermehrte die Konkurrenzfurcht auf seiten der Mehrheit. Doch war das Konkurrenzmotiv nicht das einzige, das dazu führte, daß dem Willen zur Einordnung der Juden nicht in gleichem Maße eine Bereitschaft zur Aufnahme auf der Seite der Deutschen entsprach. Es war eine Abwehrhaltung wirksam, auf deren Natur später ausführlicher eingegangen wird. Diese abwehrende Haltung verlor allerdings sowohl ihre tatsächlichen wie ihre vorgegebenen Gründe in dem gleichen Grade, in dem der Verschmelzungsprozeß ungeachtet aller Hemmungen fortschritt. Immerhin verzögerte sie diesen Prozeß nicht nur direkt dadurch, daß sie den integrationswilligen Mitgliedern der Minderheit die Aufnahme verweigerte; sondern sie verringerte auch indirekt die Integrationswilligkeit der Juden, da die zurückgewiesene Minderheit damit antwortete, daß sie ihre Andersartigkeit erst recht betonte. Das wiederum führte häufig zu einem verstärkten Abwehrwillen der Mehrheit. Trotz ihrer Wechselseitigkeit nimmt jedoch normalerweise die Stärke solcher Reaktionen ab wie die Bewegungsstärke eines ausschwingenden Pendels. Unter sonst gleichbleibenden Umständen verlangsamen sie den Integrationsvorgang, ohne ihn zu verhindern.*

Es sind die beiden vorstehend geschilderten Tatbestände – die Tradition, die sich nur langsam verminderte und also nur langsam ihre trennende Wirkung einbüßt auf der einen Seite, und der Widerstand gegen die Aufnahme einer fremdartigen Gruppe auf der anderen Seite –, die der sozialen Einfügung einer Minderheitsgruppe in eine Mehrheitsgesellschaft hemmend im Wege stehen. Dieselben Tatsachen sind es auf der anderen Seite, die den Zusammenhalt zwischen den Mitgliedern der Minderheit noch für eine beträchtliche Zeitdauer nach Eintritt der formalen Gleichberechtigung verbürgen. Solange sie wirksam sind, und sei es selbst in einer Verdünnung, die sie dem Individuum kaum noch fühlbar machen, bleibt der Gruppencharakter der Minderheit erhalten.

Nach dem Gesagten wird der Satz, daß die Juden überall auch nach ihrer formellen Gleichberechtigung eine Gruppe bilden, zur Selbstverständlichkeit. Denn das gleiche Element, das die Juden zu Juden macht, unterscheidet sie auch als Gruppe von ihrer Umgebung. Sie verlieren ihren Gruppencharakter erst dann, wenn sie die Restbestände ihres Judentums abgestreift haben, also aufgehört haben, Juden zu sein.* Daß diese Feststellung trotz ihrem analytischen Charakter viele naive Betrachter überraschen dürfte, zumal wenn weiter unten ihre weitreichenden Folgen sichtbar werden, ist nur ein Anzeichen dafür, wie wenig die Juden gewohnt waren, sich selbst als ein gesellschaftliches Phänomen zu sehen. Die meisten unter ihnen waren sich ihrer religiösen Sonderart bewußt und kannten im übrigen nur jüdische Individuen. Mit den Außenseitern oder Schädlingen in ihrer Gruppe leugneten sie jede wie auch immer geartete Gemeinschaft; nur wenn sich einige durch besondere Leistungen hervortaten, erwachte in den vereinzelten Juden ein sonderbar inkonsequenter Gruppenstolz. Welche verschiedene Dichte jüdische Gruppen während des Integrationsprozesses aufweisen können, wird uns klar, wenn wir die Charakteristika einiger jüdischer Landesgruppen miteinander vergleichen. Da steht etwa neben der kleinen und in schneller Auflösung befindlichen jüdischen Gruppe in Italien die noch bedeutend dichtere Gruppe der aschkenasischen Juden Englands. Von Italien sagte Ruppin anfangs der dreißiger Jahre4, daß dort die jüdische Religion kaum noch irgendeine Bedeutung habe und die Mischehen das Judentum dezimierten. In Triest besuchten am höchsten jüdischen Feiertag nicht mehr als 10 % der Juden die Synagoge; Mischehen waren häufiger als rein jüdische Ehen. Den Rest des jüdischen Gruppenbewußtseins deutete Ruppin in dem folgenden Nachsatz an: „Auf meine Frage, weshalb die Juden in Triest denn überhaupt nominell noch Juden bleiben, erwiderte mir einer der Vorsteher: es schadet ihnen nicht, und sie wollen auf dem jüdischen Friedhof begraben werden.*“ Die aschkenasische Judenheit Englands dagegen, deren größerer Teil erst seit den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zugewandert ist, weist nicht nur in ihrer Berufsund Wohnortsgliederung, sondern auch in der durchschnittlichen Traditionstreue einen viel festeren Zusammenhalt auf.

Ebenso verschiedenartig wie die Dichte der Gruppen ist auch der Bestand dessen, was sie von der jeweiligen Umwelt unterscheidet. Doch besteht zwischen beidem ein Zusammenhang. Auch die jeweilige Verschiedenheit oder die Mischung von Verschiedenheiten einer einzelnen jüdischen Gruppe ist ziemlich genau durch die Entfernung bestimmt, die sie auf ihrem Weg vom Ghetto bis zum Endstadium völliger Einfügung in die Umwelt zurückgelegt hat. Bei ihrer Entlassung aus dem Ghetto umfaßt ihr eigentümlicher Gruppencharakter gewöhnlich nahezu alle Lebensgebiete vom Religiösen bis zum Zivilisatorischen; ihre Sprache und Bildung entspricht fast ausschließlich dem jüdischen Kulturkreis. In einer zweiten Entwicklungsstufe, die etwa mit der zweiten Generation nach der formellen Emanzipation übereinstimmen dürfte, sind schon einige Bildungselemente der Umwelt in die im übrigen noch strikt von ihr abgetrennte Gruppe eingedrungen; eine Angleichung der äußeren Lebensgewohnheiten geht langsam vonstatten, und es herrscht Doppelsprachigkeit: man spricht jiddisch und die Sprache der Umwelt. Dagegen ist das religiöse Leben mit seinem traditionellen Inhalt noch nahezu intakt. Langsam wird die berufliche Basis durch Eindringen in solche Berufe erweitert, die bisher den Juden rechtlich verschlossen waren. In einer dritten Stufe ist die Sprachenfrage eindeutig zugunsten der Landessprache entschieden. Weltliche Bildung herrscht so gut wie ausschließlich. Die kulturellen Inhalte des Judentums sind fast völlig den Kultureinflüssen der Umwelt gewichen. Nur das religiöse Bekenntnis bindet die Juden dieser Stufe subjektiv noch an das Judentum; aber selbst der religiöse Kult hat viele Umweltselemente in sich aufgenommen, er ist zunehmend „europäisiert“ worden. Die Juden dieser Stufe verteilen sich auf viele berufliche Bereiche, doch folgt diese Verteilung gemäß der früheren monopolartigen Stellung im Kleinhandel und Geldgeschäft, von der sie ihren Ausgang nimmt, einer bestimmten Richtung, die die Juden wiederum vorzugsweise in einigen wenigen Berufsarten zusammenführt. Unter diesen steht der Handel, und zwar sowohl der Waren- wie der Geldhandel weiter an erster Stelle, aber auch bestimmte Zweige der Fertigwarenindustrie, einige neue erschlossene Industrien und die freien Berufe nehmen einen wichtigen Platz ein. Was uns in diesem Zusammenhang am meisten interessiert, ist die Tatsache, daß die jüdische Berufsgliederung gemäß „dem Gesetz, nach dem sie angetreten“, auch in der Stufe einer sonst weitgehenden Eingliederung in die Umwelt sich zwar erweitert und vervielfältigt, daß sie aber weiter starke Anomalien aufweist. Aus ihnen und auch aus dem Zusammenströmen der Juden in den Großstädten erklärt sich die Bewahrung und zugleich die Neuerwerbung von kulturellen Eigentümlichkeiten, welche die Juden dieser Stufe auch abgesehen von ihrer Religion noch weiter von ihrer Umgebung unterscheiden.

Zu einer noch stärkeren Auflösung der jüdischen Gruppensubstanz ist es nur in kleineren jüdischen Landesgruppen gekommen, so wie schon erwähnt in Italien, in Frankreich und in den skandinavischen Ländern. In Deutschland hat es Ansätze zu einer noch über das Stadium der dritten Stufe hinausführenden Assimilation vor allem in Berlin vor, in und unmittelbar nach dem ersten Weltkriege gegeben. Sie äußerten sich in völliger Indifferenz gegenüber der jüdischen Tradition und der jüdischen Gruppenproblematik selbst. Sie sind jedoch für das Wesen der deutsch-jüdischen Mehrheit nicht charakteristisch geworden. Die überwältigende Mehrzahl der deutschen Juden befand sich vor der Katastrophe in dem dritten Stadium.

Einige der bisher geschilderten Züge – vor allem die allmähliche Desintegration einer mit einer Mehrheit in Kontakt tretenden Minderheit, sowie der Widerstand der Mehrheit gegen die Minderheit in einer Konkurrenzwirtschaft – haben für den Kontakt zwischen einer Minderheits- und einer Mehrheitsgruppe ziemlich allgemeine Geltung; doch kommt bei dem durch die Emanzipation der Juden geschaffenen Kontakt ein besonderer Faktor hinzu, der höchst charakteristisch ist. Es ist der Faktor der jüdischen Wanderungen.

Die jüdische Geschichte ist eine Geschichte fortgesetzter Wanderungen. Diese Tatsache ist eine der vielen Eigentümlichkeiten der jüdischen Existenz; sie ist aufs engste verwoben mit dem großen Rätsel der jüdischen Erhaltung. Nicht umsonst trägt die legendäre Figur des Ahasver zugleich die Züge des Wanderns und des ewigen Lebens. Nachdem bis etwa zur Mitte des 17. Jahrhunderts eine west-östliche Richtung in der jüdischen Wanderung vorgeherrscht hatte, kehrte sich diese Richtung mit dem Jahr 1648 und entschiedener mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts5 um. Am Ende des 18. Jahrhunderts lebten in Osteuropa, im ehemaligen Königreich Polen und seinen Nachbarländern, 1½ Millionen von den damals lebenden insgesamt etwa 2½ Millionen Juden, also 60 %.6 Als im Jahre 1850 die Zahl der Juden auf 4¾ Millionen gestiegen war, betrug der Anteil der osteuropäischen Juden mit 3,4 Millionen sogar 72,1 %, und noch im Jahre 1925 lebten 7,6 Millionen Juden bei einer Gesamtzahl von 14,8 Millionen, also 51,2 % in den entsprechenden Gebieten.7 So stark also hatte sich selbst in dieser letzterwähnten Periode der osteuropäische Anteil an der jüdischen Gesamtbevölkerung behauptet, obgleich zwischen 1880 und 1925 fast 4 Millionen Juden von der ost-westlichen Wanderung ergriffen worden waren.

Die osteuropäischen Juden unterschieden sich während der ganzen Periode ihrer Westwanderung von den jüdischen Gemeinschaften, zu denen sie hinströmten, durch einen niedrigeren Lebensstandard. Dieser Unterschied war in der Tat das hauptsächliche Motiv, das – zeitweise neben Verfolgungen – den Wanderungsprozeß in Gang setzte. Die osteuropäischen Juden waren noch nicht emanzipiert und lebten im wesentlichen in rein jüdischen Siedlungen in völliger Isolierung. Ihr kultureller Status entsprach demnach noch der „ersten Entwicklungsstufe“. Die Berührung der osteuropäischen Juden mit den in den Einwanderungsländern bestehenden Gemeinden wirkte überall verzögernd auf den Assimilationsprozeß. Obgleich die alteingesessenen Gruppen sich den Neueinwanderern gegenüber mehr oder minder ablehnend verhielten, weil sie fürchteten, von ihren nichtjüdischen Mitbürgern mit diesen identifiziert zu werden, konnten und wollten sie doch einen Kontakt nicht völlig vermeiden. Mochte dieser Kontakt zunächst auch nur auf karitativem Gebiete liegen und nur vereinzelt darüber hinausgehen, so war doch schon die Tatsache eines neu entstehenden jüdischen Gemeinde- und Vereinslebens, neuer jüdischer Siedlungen in bestimmten Städten oder Stadtvierteln, ja schon die Vergrößerung der jüdischen Gruppe selbst für die eingesessenen Juden nicht bedeutungslos. Derartige sichtbare Anzeichen einer lebendigen jüdischen Gemeinschaft brachten in der Tat die nichtjüdische Umwelt in vielen Fällen erst wieder zum Bewußtsein einer „Judenfrage“, die in einer gefürchteten aber unvermeidlichen Identifizierung auch die einheimischen Juden wieder als Juden erscheinen ließ. Aber das war nicht die einzige Folge, durch die die Zuwanderung von unassimilierten Juden den Normalisierungsprozeß verzögerte. Eine weitere Folge war, daß die im Einwanderungsland bereits stark verdünnte jüdische Substanz durch sie eine erhebliche Anreicherung erfuhr.8 Blieb diese im Frühstadium der Zuwanderung auf die einwandernde Gruppe beschränkt, so fand doch in der nächsten Generation bereits ein gewisser gesellschaftlicher Kontakt mit wirtschaftlich aufsteigenden Familien statt. Er bewirkte trotz der auch unter den Einwanderern bereits einsetzenden Abschleifung eine ständige Erinnerung an frühere Stadien der Assimilation und bereitete gegen eine durch die Zuwanderung ausgelöste verstärkte Abstoßung der Umwelt sozusagen eine zweite Verteidigungslinie vor, eine Linie, in der das aufgefrischte jüdische Bewußtsein den enttäuschten jüdischen Assimilanten für seine partiellen Mißerfolge entschädigte.9

Drei Faktoren haben wir demnach festgestellt, denen die Erhaltung jüdischer Gruppen auch bei rechtlicher Emanzipation zugeschrieben werden muß: die zeitliche Begrenzung aller bisher historisch gewordenen Emanzipationsprozesse, die Haltung der Umwelt und die jüdische Wanderung.

2. Die objektive oder „echte“ Judenfrage

Wenn wir oben davon sprachen, daß vor dem Eintritt der deutschen Judenkatastrophe die allgemeine Situation der Juden vielfach zu unproblematisch und optimistisch gesehen wurde, so meinten wir damit im wesentlichen, daß man diesen Gruppencharakter übersah. Wir kommen nun zu den Folgen des Gruppencharakters und damit zur Problematik des Antisemitismus selbst.

Die üblichen Formen der gegenseitigen Reaktion von Gruppen sind in ihrer Bedeutung für den Antisemitismus wiederholt entwickelt worden10. Gewöhnlich führte die Unterstellung des Antisemitismus unter den Oberbegriff der Gruppenfeindlichkeit zu der apologetischen Sicht, daß die Juden an der Entstehung des Antisemitismus völlig unschuldig seien.* Weniger zuversichtlich mußte demnach allerdings die Prognose für die Zukunft des Antisemitismus lauten, da schlechthin geleugnet wurde, daß er von seiten der Juden beeinflußt werden könne, es sei denn durch eine radikale Liquidation der Diaspora.

So fruchtbar es auch ist, den Antisemitismus unter der Kategorie der Gruppenfeindschaft zu betrachten – wir werden diese Betrachtungsweise noch sehr eingehend anzuwenden haben –, so enthält sie doch die Tendenz, einige wichtige Fragen zu vernachlässigen. Indem man in der Gruppeneigenschaft gewissermaßen ein Instrument zur Äußerung von Feindschaftsgefühlen sieht, die anderweitig nicht abzureagieren sind, und in der jeweiligen antisemitischen Ideologie einen reinen Vorwand, der in objektiven Tatsachen keine Stütze findet11, übersieht man den Umstand, daß in dem Zusammenstößen heterogener Gruppen sehr wohl ein objektives gesellschaftliches Problem liegen kann. Schon daß man hier ein Phänomen wie den Antisemitismus ohne Berücksichtigung seiner historischen Erscheinungsformen auf einen einzigen allgemeinen Nenner bringt, kennzeichnet die Schwäche der Theorie. Wer zu leugnen versucht, daß die Existenz der kulturell noch weitgehend fremdartigen jüdischen Gruppe zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Deutschland oder die Existenz fortwährend frisch ergänzter fremdnationaler Einwanderungsgruppen in den Vereinigten Staaten von Amerika echte gesellschaftliche Probleme darstellen, verstellt sich selbst den Einblick in die Zusammenhänge, die er zu durchleuchten versucht. Gruppenberührungen und Gruppenspannungen mögen ideale Entladungsmöglichkeiten für Haßgefühle bieten, die aus völlig anderen Quellen sich speisen, – ihre Bedeutung erschöpft sich jedoch nicht in dieser Eigenschaft.

Das Verhältnis einer Menschengruppe zu einer anderen dient nicht nur zur Entladung von Haßinstinkten fremden Ursprungs, es ist selbst die Ursache der Entstehung von Feindseligkeit. Sigmund Freud12spricht davon als von einer Elementar-Tatsache: „Von zwei benachbarten Städten wird jede zur mißgünstigen Konkurrentin der anderen; jedes Kantönli sieht geringschätzig auf das andere herab. Nächstverwandte Völkerstämme stoßen einander ab, der Süddeutsche mag den Norddeutschen nicht leiden, der Engländer sagt dem Schotten alles Böse nach, der Spanier verachtet den Portugiesen. Daß bei größeren Differenzen sich eine schwer zu überwindende Abneigung ergibt, des Galliers gegen den Germanen, des Ariers gegen den Semiten, des Weißen gegen den Farbigen, hat aufgehört uns zu verwundern … In den unverhüllt hervortretenden Abneigungen und Abstoßungen gegen nahestehende Fremde können wir den Ausdruck einer Selbstliebe, eines Narzißmus, erkennen, der seine Selbstbehauptung anstrebt und sich so benimmt, als ob das Vorkommen einer Abweichung von seinen individuellen Ausbildungen eine Kritik derselben und eine Aufforderung, sie umzugestalten, mit sich brächte. Warum sich eine so große Empfindlichkeit gerade auf diese Einzelheiten der Differenzierung geworfen haben sollte, wissen wir nicht; es ist aber unverkennbar, daß sich in diesem ganzen Verhalten der Menschen eine Haßbereitschaft, eine Aggressivität kundgibt, deren Herkunft unbekannt ist, und der man einen elementaren Charakter zusprechen möchte.“ In ähnlicher Weise sieht Trotter13 in der Ablehnung jeder Andersartigkeit die natürliche Auswirkung des von ihm angenommenen menschlichen Herdeninstinktes.* Das Glück der Identität des Individuums mit seiner Gruppe sei eine so wichtige gesellschaftliche Tatsache, daß in seiner Vollkommenheit und Unanfechtbarkeit geradezu die Kennzeichen des sagenhaften Goldenen Zeitalters gesehen werden müßten14. Selbstverständlich führe sie zu einem Ausschluß Fremder15.

Es bedarf nicht des Hilfsbegriffes „Herdeninstinkt“, um zu der in unserem Zusammenhang allein wesentlichen Feststellung zu kommen, daß der Kontakt zwischen einer in bestimmten Grundzügen einheitlichen Gruppe mit einer von ihr abweichenden zu psychischen Reaktionen führt, die der Störung einer vorher bestehenden absoluten oder relativen Ruhelage entsprechen. Es wird ein Prozeß ausgelöst, der durch Wiederanpassung an die neu geschaffene Situation zu einer Wiederherstellung des gestörten Gleichgewichts hinstrebt. Der neue Gleichgewichtszustand wird eine je nach dem Ausmaß der Störung größere oder geringere Verschiedenheit von dem vorher bestehenden aufweisen.

Der so bezeichnete Tatbestand ist der objektive gesellschaftliche Kern dessen, was wir die Judenfrage zu nennen gewohnt sind. Er ist nicht auf sie beschränkt, sondern tritt überall in Erscheinung, wo verschiedenartige Gruppen miteinander in dauernde lebensmäßige Berührung treten. Daß er auch der Judenfrage zugrundeliegt, ist ein Umstand, den die jüdische Apologetik manchmal zu übersehen geneigt war. Selbst Professor Hugo Valentin in seiner umfassenden Studie des Antisemitismus glaubt dem Problem Genüge zu tun, wenn er es wie folgt darstellt16: „Es ist nicht so, daß eine Gruppe nach objektiver Prüfung zu dem Ergebnis kommt, daß eine andere Gruppe schädlich oder minderwertig sei. Das Primäre ist der Haß. Die vom Verstand gefundenen Argumente sind sekundär.“ Das ist weitgehend, aber nicht vollkommen richtig. Ein gesellschaftlicher Konflikt hört nicht deshalb auf zu bestehen, weil er nicht durch „objektive Prüfung“ ins Bewußtsein tritt, sondern weil durch spontanen Haß auf ihn reagiert wird. Die Haßreaktion, die übrigens in ruhigen Zeiten sehr häufig durch gemäßigtere Unlustgefühle ersetzt wird, schließt nicht nur nicht aus, daß ein echter gesellschaftlicher Konflikt vorhanden ist, sondern sie kann sehr wohl ein Zeichen für ihn sein, gleichgültig, wie stark sekundäre Rationalisierungen den Konflikt nachträglich entstellen.

Es gibt ein Streben nach Homogenität der eigenen Gruppe, das als eine Elementar-Tatsache menschlicher Vergesellschaftung anerkannt werden muß; ihm gegenüber wird jede sichtbar in Erscheinung tretende Existenz einer andersartigen Gruppe als eine Herausforderung empfunden17. Dabei ist das Prinzip, das die Homogenität bestimmt, keineswegs immer mit dem ursprünglichen Organisationsprinzip der Gruppe identisch. So wurde etwa für größere politische Herrschaftsgebilde, die ihre Entstehung vielleicht dynastischen oder militärischen Ursprüngen verdanken, in Zeiten, die vorwiegend religiös bestimmt waren, die religiöse Homogenität als unerläßlich betrachtet; nach der Französischen Revolution verschob sich die Forderung der Homogenität auf das nationale Gebiet.18 In der Sowjetunion wurde zum ersten Male das Prinzip der Klassen-Homogenität proklamiert, und es ist sicher nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß auf den Anspruch nationaler Homogenität verzichtet werden konnte. Soweit es sich in neuerer Zeit um Staaten handelt, bei denen Staat und Nation auch nicht annähernd identisch sind, wie in der Schweiz, in den Vereinigten Staaten, aber auch in den deutschen Bundesstaaten vor der Reichsgründung, tritt eine staatliche Homogenität an die Stelle der nationalen. Es handelt sich dabei um von den Staatsangehörigen sozusagen freiwillig zu erfüllende Bedingungen, die über die Beobachtung der objektiven Rechtssetzungen hinausgehen und gerade auf diese Weise ein homogenes Staatsbewußtsein schaffen. Richard Thoma19 versteht es als eine „unbedingte, nicht nur durch rationale Berechnungen vermittelte Staatsbejahung“, ohne die auf die Dauer kein Staat zu existieren vermöge.

Gegenüber dem politisch und rechtlich fest umrissenen Gebilde Staat, das im Laufe der Geschichte bald dieses, bald jenes Homogenitätsprinzip in den Vordergrund stellte, ist die moderne Gesellschaft ein diffuses Gebilde, das nur als Staatsgesellschaft einen Abglanz der Staatshomogenität empfängt. Ihre Entwicklung geht nach Herbert Spencer als ein Prozeß ständiger Differenzierung und Integrierung vor sich. Doch hat mit der tatsächlichen Integrierung der differenzierten Einheiten das Bewußtsein der Integration nicht durchweg Schritt gehalten. Obgleich Arbeitnehmer mit Arbeitgebern im Arbeitsprozeß, am Arbeitsmarkt, beim Abschluß von Tarifverträgen und so weiter in ständigen Beziehungen miteinander stehen, erscheinen sie doch dem Bewußtsein als so streng voneinander getrennte Gruppen, daß sogar ihre politische Integration in Staat und Nation in Zeiten wirtschaftlichen Druckes und politischer Labilität fragwürdig werden kann. Ebenso wie sie stehen sich in der modernen Gesellschaft ungezählte Gruppen und Grüppchen gegenüber, die einander bekämpfen, obwohl sie aufeinander angewiesen sind. Dieser Mangel an Einheitlichkeit in der hochdifferenzierten modernen Gesellschaft kommt grundsätzlich der Eingliederung der jüdischen Gruppe zugute. Denn wo von einer kulturellen Einheit in einem alle Lebenssphären umfassenden Sinn nicht mehr gesprochen werden kann, vermindern sich die Forderungen, die an die kulturelle Angleichung einer neu hinzutretenden Gruppe legitimerweise gestellt werden können20. Aber in zweierlei Beziehung kann die Afuteilung der Gesellschaft die Einfügung der jüdischen Gruppe auch erschweren: sie kann einerseits ein Unbehagen erzeugen, das einen auf weitere Differenzierungsgefahren besonders empfindlich reagieren läßt; man wird dann geneigt sein, der Gefahr durch übertriebene Betonung der noch vorhandenen Homogenität vorzubeugen. Man wird sich also bei dem Andrängen einer wirtschaftlich ungleichartigen, nämlich auf mehrere Gruppen verteilten, ihrem ethnischkulturell-religiösen Ursprung nach aber gleichartigen Gruppe gern auf seine eigene ethnischkulturell-religiöse Gleichartigkeit mit anderen, sonst antagonistischen wirtschaftlichen Gruppen besinnen. Die Zerklüftung bedeutet anderseits, daß der jüdisch-nichtjüdische Gruppengegensatz auf den verschiedensten Schauplätzen ausgetragen werden muß: nicht nur in der nationalen, in der staatlichen, in der religiösen Ebene, sondern zwischen jüdischen und nichtjüdischen Schneidern, jüdischen und nichtjüdischen Studenten, jüdischen und nichtjüdischen Ärzten, Turnern, Freimaurern und so weiter. Wenn also auch eine Homogenität der modernen Gesellschaft nur noch in sehr eingeschränktem Sinne vorhanden ist, so sorgen doch das Streben nach der verlorenen Homogenität einerseits und die Homogenität der einzelnen Differenzierungsprodukte anderseits dafür, daß der nach Einfügung verlangende Jude wiederum in allen Sphären als der Andersartige, der Eindringling, der Feind empfunden wird.

Es kommt hinzu, daß von der jüdischen Gruppe her Einzelmitglieder ständig sich auf die Umweltgruppe zu und in sie hinein bewegen. Während es Gruppenverhältnisse gibt, in denen eine gewisse Stabilität herrscht, die den aus dem Zusammenleben herrührenden Reiz vermindert – man denke etwa an das Verhältnis einer Staatskirche zu bereits längere Zeit existierenden Sekten oder mehrerer gleichrangiger Sportvereine zueinander –, während es ferner Gruppen gibt, die von anderen begehrt werden, aber aus eigenem Willen exklusiv sind – hierbei ist an sozial privilegierte Gruppen, wie etwa den Adel zu denken –, so befindet sich das Verhältnis der emanzipierten jüdischen Gruppe zu der Umwelt in dauerndem Fluß. Dadurch, daß ihre Mitglieder einige Gruppenmerkmale aufgeben – das rechtliche, das sprachliche –, andere entschieden beibehalten – das religiöse – und noch andere in bestimmten von ihren Absichten weitgehend unabhängigen Linien fortentwickeln – das wirtschaftliche –, ergeben sich ständig neue Anpassungsprobleme. Sie sind die Begleiterscheinungen des Integrationsprozesses, der schon oben als das Zentrum der eigentlichen Judenfrage bezeichnet wurde.

In West- und Mitteleuropa entsprachen die voremanzipatorischen Ghettos einem Entwicklungsstadium, das im Vergleich zur Umwelt zurückgeblieben war, und zwar sowohl wirtschaftlich und sozial als auch in dem Befreiungsprozeß aus den geistigen und kulturellen Bindungen des Mittelalters. Mit der Öffnung der Ghettotore mußte man also bestrebt sein, die künstlich zurückgehaltene Entwicklung nachzuholen und den Standard der Umwelt zu erreichen. In der gleichen Richtung wirkten der Assimilationswille der Emanzipatoren und die Korporationsfeindlichkeit der zeitgenössischen Umwelt.21 Anfängliche Widerstände gegen die Emanzipation in jüdischen Gemeinschaften, die eine Auflösung der jüdischen Gruppe vorhersahen und fürchteten22, wurden allmählich überwunden, die gewährten Rechte und die mit ihnen verbundenen wirtschaftlichen Möglichkeiten wurden ergriffen, und der allmähliche, aber stetige Eingliederungsprozeß der Juden in ihre nichtjüdische Umwelt setzte ein.

Diese Bewegungsrichtung wird in gewissen Grundzügen überall wiederkehren, wo Juden als Minderheiten unter nichtjüdischen Mehrheiten leben. Es ist dabei gleichgültig, ob der anfängliche Kontakt einem Einwanderungsprozeß oder der Emanzipation entspringt, die ja sozusagen eine vertikale Einwanderung ist und fast alle charakteristischen Züge mit der horizontalen Einwanderung teilt. Da es sich überall um unterprivilegierte, wenn auch nicht durchweg um rückständige Minderheiten handelt, ganz gleichgültig, ob die Minderberechtigung gesetzlich oder bei gesetzlicher Gleichberechtigung die Folge eben des Minderheitenstatus ist23