Die Flusspiraten des Mississippi - Friedrich Gerstäcker - E-Book

Die Flusspiraten des Mississippi E-Book

Friedrich Gerstäcker

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Die Schifffahrt auf dem Mississippi in der Zeit des Wilden Westens ist gefährlich. Raubend und mordend überfällt eine Piratenbande Raddampfer und Flößer.

Coverbild: deymos / Shutterstock.com

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Friedrich Gerstäcker

Die Flusspiraten des Mississippi

Abenteuerroman

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Zum Buch

Die Schifffahrt auf dem Mississippi in der Zeit des Wilden Westens ist gefährlich. Raubend und mordend überfällt eine Piratenbande Raddampfer und Flößer.

 

 

Coverbild: deymos / Shutterstock.com

 

 

Vorwort

Schon in früheren Zeiten, als die westlichen Staaten noch als Territorium der Union galten, Dampfboote die Wasser jener mächtigen Ströme noch nicht aufwühlten und nur unbehilfliche Kiel- und Flatboote – oft auch sehr passend Archen genannt – die Handelsverbindung im Innern unterhielten, hatte sich auf einer der zahlreichen Inseln dieses Stromes, Stack oder Crowsnest Island, oder Nr. Vierundneunzig, wie sie jetzt genannt wird, eine Raubbande organisiert, die nicht allein mordete und plünderte, was in ihren Bereich kam, sondern auch in ihrem Versteck eine Falschmünzerei unterhielt, von wo aus sie mit ihren Banknoten das ganze westliche Land überschwemmte. Die Gesetze waren nicht hinreichend, die Bewohner der Union zu schützen, und die Backwoodsmen mussten sich deshalb selbst helfen. Der damalige ›Navigator‹, oder das Lotsenbuch der westlichen Ströme, sagt Folgendes über diese Bande:

»Stack Island, not long since, was famed for a band of counterfeiters, horsethieves, robbers, murderers etc. who made this part of the Mississippi a place of manufacture and deposit. From hence they would sally forth, stop boats, buy horses, flour, whisky etc. and pay for all in fine new notes of the ›first water‹. Their villanies, after many severe losses sustained by innocent good men, unsuspecting the cheat, became notorious, and after several years search and pursuit of the civil, and in some cases the club law, against this band of monsters, they have at length disappeared.«

In späteren Jahren, als die Wachsamkeit der Uferbewohner nachgelassen hatte und man der früheren Insel gar nicht mehr gedachte, sammelten sie sich aber wieder weiter oben, zwischen den Staaten Mississippi und Arkansas, und verübten hier Grausamkeiten ohne Ende.

In einem Lande, wo sich der vierte Teil der Bevölkerung stets auf Reisen befindet, ist es aber sehr schwer, ja fast unmöglich, einen Mord zu entdecken, da man, wenn nicht der Zufall dabei tätig ist, selten weitere Beweise hat, als dass der Mann eben fehlt.

Die Seinen beweinen ihn nicht einmal, denn dass er tot sein könne, ist ihr letzter Gedanke. Sie vermuten ihn auf irgendeiner Reise nach Texas oder in andere neue Staaten und hoffen, ihn mit der Zeit zurückkehren zu sehen.

Jedes Verbrechen hat aber sein Ziel; die Buben wurden durch die ungestrafte Ausübung ihrer Schandtaten nach und nach dreister, ihre Verbindung breitete sich immer mehr aus, und ihre Entdeckung musste endlich die Folge davon sein.

In Arkansas und Texas hatten sich indessen Regulatorenbündnisse gegründet, und so überfielen auch hier die nächsten Nachbarn jene Verbrecherkolonie, die Insel, und übten so fürchterliche Gerechtigkeit an den Schuldigen, dass sie alle, die sie nicht ergriffen und vernichteten, weit hinausjagten in ferne Teile Amerikas.

Ein Teil der sogenannten ›Morrelschen Bande‹ stand mit diesen Flusspiraten in Verbindung; Morrel selber wurde gefangen und saß dann, wenn ich nicht irre, im Zuchthaus von Pennsylvanien oder Mississippi; das aber, was den Backwoodsmen unter die Hände fiel, kam in kein Gefängnis. Es war ein blutiger Tag, der jenen Räubereien ein Ende machte.

Den Schauplatz habe ich nach Helena und in dessen nächste Umgebung verlegt, die wirkliche Insel befand sich aber etwas weiter unten als Einundsechzig.

1. Kapitel

Dort, wo der Wabasch die beiden Bruderstaaten Illinois und Indiana voneinander scheidet und seine klaren Fluten dem Ohio zuführt, wo er sich bald zwischen steilen Felsufern, bald zwischen blühenden Matten und blumigen Prärien oder auch unter dem ernsten Schatten und feierlichen Schweigen des dunklen Urwaldes murmelnd und plätschernd durch tausend stille Buchten drängt, mit dem Schilf und mit einzelnen schwankenden Weidenbüschen spielt und tändelt, hier bald leise und behaglich über runde Kiesel und grüne Rasen flecken dahingleitet, bald wieder plötzlich wie in tollem Mutwillen herausschießt in die Mitte des Bettes und dort, von der Gegenströmung erfasst, kleine blitzende Wellen schlägt und glitzert und funkelt: da lagen im Frühling des Jahres 184-, die Büchsen neben sich in das schwellende Gras geworfen, zwei Männer auf einer dichtbewaldeten Anhöhe.

Im Süden stemmte sich der Bergrücken dem Lauf des Stromes entgegen und zwang ihn, brausend und scheinbar unwillig über die trotzige Hemmung, wieder seitab zu fluten; musste er doch den starren Gesellen umgehen, der weder durch das leise, schmeichelnde Plätschern der Wellen, noch durch den mächtigen Andrang der zornig aufgeschwellten Wasser hatte bewogen werden können, auch nur einen Zollbreit seines behaupteten Grundgebiets preiszugeben.

Der eine der Männer war noch jung und kräftig, kaum älter als drei- oder vierundzwanzig Jahre, und seine Tracht verriet eher den Bootsmann als den Jäger. Der kleine, runde und niedere Wachstuchhut mit dem breiten, flatternden Band darum saß ihm keck und leicht auf den krausen, blonden Haaren. Die blaue Matrosenjacke umschloss ein Paar Schultern, deren sich ein Herkules nicht hätte zu schämen brauchen, und das rotwollene Hemd wurde von einem schwarzen, seidenen Halstuch, wie die weißen, segeltuchenen Beinkleider von einem schmalen, festgeschnallten Gürtel über den Hüften zusammengehalten. Dieser trug zu gleicher Zeit noch die lederne Scheide mit dem einfachen Schiffsmesser und vollendete den seemännischen Anzug des Fremden.

Dass er aber auch in den Wäldern heimisch war, bewiesen die sauber gearbeiteten Mokassins, mit denen seine Füße bekleidet waren, wie die von seiner Hand erlegte Beute, ein stattlicher junger Bär, der vor ihm ausgestreckt auf dem blutgefärbten Rasen lag. Ein großer, schwarz und grau gestreifter Schweißhund aber saß daneben und hielt die klugen Augen noch immer fest auf das glücklich erjagte Wild geheftet. Die heraushängende Zunge, das schnelle heftige Atmen des Tieres, ja sogar ein nicht unbedeutender Fleischriss an der linken Schulter, von dem die klaren Blutstropfen noch langsam niederfielen, bewiesen, wie schwer ihm die Jagd geworden war und wie teuer er den Sieg über den stärkeren Feind erkauft hatte.

Der zweite Jäger, ein Greis von einigen sechzig Jahren, wurde zwar an Körperkraft und Stärke von seinem jüngeren Begleiter übertroffen, trotzdem sah man aber keiner seiner Bewegungen das vorgerückte Alter an. Seine Augen glühten noch in fast jugendlichem Feuer, und seine Wangen färbte das blühende Rot der Gesundheit. Nach Sitte der Hinterwäldler war er in ein einfaches baumwollenes Jagdhemd, mit eben solchen Fransen besetzt, lederne Leggins und grobe Schuhe gekleidet. In seinem Gürtel stak aber statt des schmalen Matrosenmessers, das sein Gefährte trug, eine breite, schwere Klinge, ein sogenanntes Bowiemesser, und die wollene, fest zusammengerollte Decke hing ihm, mit einem breiten Streifen Bast befestigt, über der Schulter.

Beide hatten sich augenscheinlich hier, wo sie ihr Wild erlegten, nach der Anstrengung für kurze Rast ins Gras geworfen. Der Alte, der sich auf den rechten Ellbogen stützte und der eben hinter den Bäumen versinkenden Sonne nachsah, brach jetzt zuerst das Schweigen.

»Tom«, sagte er, »wir dürfen hier nicht lange liegen bleiben. Die Sonne geht unter, und wer weiß, wie weit es noch zum Fluss ist.«

»Lasst Euch das nicht kümmern, Edgeworths«, antwortete der Jüngere, während er sich dehnend streckte und zu dem blauen, durch die schattigen Zweige auf sie niederlächelnden Himmel emporblickte, »da drüben, wo Ihr die lichten Stellen erkennen könnt, fließt der Wabasch keine tausend Schritt von hier, und das Flatboot kann heute Abend mit dem besten Willen von der Welt noch nicht hier vorbeikommen. Sobald es dunkel wird, müssen sie beilegen, denn den Snags und Baumstämmen, mit denen der ganze Fluss gespickt ist, wiche selbst Gott Vater nicht im Dunkeln aus, und wenn er sich mit allen seinen himmlischen Heerscharen ans Steuer stellte. Überdies hatten sie von da, wo wir sie verließen, einen Weg von wenigstens fünfzehn Meilen zu machen, während wir die Biegung des Flusses hier kurz abschnitten.«

»Ihr scheint mit dieser Gegend sehr vertraut«, sagte der Alte.

»Das will ich meinen«, erwiderte jener sinnend, »habe hier zwei Jahre gejagt und kenne jeden Baum und Bach. Es war damals, ehe ich Dickson kennen lernte, mit dessen Schoner ich später nach Brasilien ging. Der arme Teufel hätte auch nicht gedacht, dass er dort solch ein schmähliches Ende nehmen sollte.«

»Das habt Ihr mir noch nicht erzählt.«

»Heute Abend vielleicht. – Jetzt, denke ich, schlagen wir ein Lager auf und gehen dann mit Tagesanbruch zum Fluss hinunter, wo wir warten können, bis unser Boot kommt.«

»Wie schaffen wir aber das Wild hinab? Wenn's auch nicht weit ist, werden wir doch tüchtig dran zu schleppen haben.«

»Ei, das lassen wir hier«, rief der Jüngere, während er aufsprang und seinen Gürtel fester schnallte, »wollen die Burschen Bärenfleisch essen, so mögen sie sich's auch selber holen.«

»Wenn sie aber nun vorbeifahren?«

»Denken nicht dran«, sagte Tom. »Überdies weiß Bill, der Steuermann, dass er uns hier in der Gegend erwarten muss, falls wir nicht früher eintreffen; also haben wir in der Hinsicht keineswegs zu fürchten, dass wir sitzen bleiben. Wetter noch einmal, das Boot wird doch nicht ohne seinen Kapitän abfahren wollen!«

»Auch gut«, sagte der alte Edgeworth, während er dem Beispiel seines jüngeren Gefährten folgte und sich zum Aufbruch rüstete. »Dann schlage ich aber vor, dass wir die Rippen und sonst noch ein paar gute Stücke herausschneiden, das Übrige hier aufhängen und nachher dort links hinuntergehen, wo, dem Aussehen der Bäume nach, ein Bach sein muss. Frisches Wasser möchte ich für die Nacht doch haben.«

Diese Vorsicht war nötig; die Männer gingen schnell an die Arbeit, um die kurze Tageszeit noch auszunutzen. Sie fanden auch den Quell und neben ihm eine ganz ungewöhnliche Menge von dürren Ästen und Zweigen, von denen freilich schon ein großer Teil halb verfault war. Das meiste davon ließ sich aber noch trefflich zum Lagerfeuer benutzen, und an der schnell entzündeten Glut staken bald die Rippenstücke des erlegten Bären, während die Jäger, auf ihren Decken ausgestreckt, der Ruhe pflegten und in die züngelnden Flammen starrten.

Die beiden Männer gehörten, wie auch der Leser schon aus ihrem Gespräch entnommen haben wird, zu einem Flatboot, das von Edgeworths oben am Wabasch liegender Farm mit einer Ladung von Whisky, Zwiebeln, Äpfeln, geräucherten Hirschschinken, getrockneten Pfirsichen und Mais nach New Orleans oder irgendeinem der weiter oben gelegenen Landungsplätze steuerte, wo sie hoffen konnten, ihre Waren gut und vorteilhaft zu verkaufen.

Der alte Edgeworth, ein wohlhabender Farmer aus Indiana und Eigentümer des Bootes und der Ladung, führte auch eine ziemlich große Summe baren Geldes bei sich, um in einer der südlichen Städte, vielleicht in New Orleans selbst, Waren einzukaufen und sie mit in seine dem Verkehr etwas entlegene Niederlassung zu schaffen.

Er war erst vor zwei Jahren an den Wabasch gezogen; früher hatte er im Staate Ohio, am Miami, gelebt. Dort aber fühlte er sich nicht länger wohl, da die mehr und mehr zunehmende Bevölkerung das Wild verjagte oder vertrieb und der alte Mann doch, ›dann und wann einmal‹, wie er sich ausdrückte, ›eine vernünftige Fährte im Walde sehen wollte, wenn er nicht ganz melancholisch werden sollte‹.

Tom dagegen, ein entfernter Verwandter von ihm und Waise, hatte vor einigen Jahren ebenfalls große Lust gezeigt, sich hier am Wabasch häuslich niederzulassen. Plötzlich aber und ganz unerwartet änderte er seinen Sinn, und als er zufällig den alten Dickson, einen Seemann und früheren Jugendfreund seines Vaters, traf, ging er sogar wieder zur See.

Damals schiffte er sich in Cincinnati an Bord des dort von Dickson gebauten Schoners ein, der eine Ladung nördlicher Erzeugnisse nach New Orleans führte, diese hier verkaufte, Fracht für Havanna einnahm und dann eine Zeitlang die südlichen Küsten Amerikas befuhr, bis ihn in Brasilien, wie Tom schon vorher erwähnt hatte, sein böses Geschick ereilte.

Wenn nun auch erst seit Kurzem von seinen Kreuz- und Querzügen zurückgekehrt, so schien ihm die Heimat doch wenig zu bieten, was ihn fesseln konnte. Er war wenigstens gern und gleich bereit, den alten Edgeworth wieder auf seiner Fahrt stromab zu begleiten, und bewies eine so gänzliche Gleichgültigkeit gegen alles das, was seinen künftigen Lebenszweck betraf, dass Edgeworth oft den Kopf schüttelte und meinte, es sei hohe Zeit für ihn gewesen, zurückzukommen und ein ehrbarer, ordentlicher Farmer zu werden, er wäre sonst auf der See und zwischen all den sorglos ins Leben hineintaumelnden Kameraden ganz und gar verwildert und verwahrlost.

Um nun aber die Einförmigkeit einer Flatbootfahrt wenigstens ein wenig zu beleben, waren sie hier, wo der Fluss einen bedeutenden Bogen machte, mit ihren Büchsen ans Land gesprungen und hatten auch schon, vom Glück begünstigt, ein vortreffliches Stück Wild erlegt. Das Boot, gezwungen, den Krümmungen des Flusses zu folgen, verfolgte inzwischen unter der Aufsicht von fünf kräftigen Hosiers seine langsame Bahn und trieb mit der Strömung zu Tal.

»So lass ich mir's im Wald gefallen«, sagte endlich Tom nach langer Pause, indem er sich auf sein Lager zurückwarf und zu den von der lodernden Glut beleuchteten Zweigen emporschaute. »So kann man's aushalten; Bärenrippen und trockenes Wetter; etwas Honig fehlt noch. Solch junges Fleisch schmeckt aber auch ohne Honig delikat. Blitz und Tod! Manchmal, wenn ich so auf Deck lag, wie jetzt hier unter den herrlichen Bäumen, zu denselben Sternen in die Höhe schaute und dann das Heimweh bekam, Edgeworth, ich sage Euch, das – Ihr habt wohl nie Heimweh gehabt?«

»Heimweh? Nein«, erwiderte der alte Mann seufzend, während er seine Büchse mit frischem Zündpulver versah, das Schloss mit dem Halstuch bedeckte und sie neben sich legte, »das nicht, aber anderes Weh gerade genug. – Sprechen wir nicht davon, ich will mir den Abend nicht gern verderben. Ihr wolltet mir ja erzählen, was in Brasilien mit Dickson, oder wie er sonst hieß, geschah.«

»Nun, wenn das dazu dienen soll, Euch aufzuheitern«, brummte Tom, »so habt Ihr einen wunderlichen Geschmack. Aber so ist es mit uns Menschen, wir hören lieber Trauriges von anderen als Lustiges von uns selbst. Doch meine Geschichte ist kurz genug. Wir waren in die Mündung eines kleinen Flusses, San José, eingelaufen und gedachten dort, unsere Ladung von Whisky, Mehl, Zwiebeln und Zinnwaren, mit welchen wir einen besonders guten Handel zu machen hofften, an die Eingeborenen und Pflanzer zu verkaufen. Eine bezeichnete Plantage hatten wir aber an dem Abend nicht mehr erreichen können, befestigten unser kleines Fahrzeug deshalb mit einem guten Kabeltau an einem jungen Palmbaum, der nicht weit vom Ufer stand, kochten unsere einfache Mahlzeit, spannten die Moskitonetze auf und legten uns schlafen.

Eine Wache auszustellen oder sonstige Vorsichtsmaßregeln zu treffen, fiel niemandem ein; nur hatten wir das Haltetau etwas lang gelassen, damit der Schoner neben einen im Wasser festliegenden Stamm kam und nicht das Ufer rammen konnte.

Sonst träumten wir von keiner Gefahr und hielten auch wirklich die Gegend für ganz sicher und gefahrlos.

Ich weiß nicht, wie spät es in der Nacht gewesen sein kann, als Dickson, der dicht neben mir lag, mich in die Seite stieß und fragte, ob ich nichts höre.

Halb im Schlafe noch, mochte ich ihm wohl etwas mürrisch geantwortet haben, er solle zum Teufel gehen und andere Leute in Ruhe lassen, da fühlte ich, wie er mich bald darauf zum zweiten Mal, und zwar diesmal ziemlich derb, an der Schulter fasste und leise flüsterte: ›Munter, Tom! Munter! Es ist nicht richtig am Ufer.‹

›Hallo‹, rief ich und fuhr in die Höhe; denn jetzt kam mir zum ersten Male der Gedanke an die roten Teufel, die ja doch auch dort vielleicht eben solche Liebhabereien haben konnten wie das wilde Volk bei uns. So saßen wir denn nebeneinander, jeder unter seinem langen dünnen Fliegennetz, und lauschten, ob wir irgendetwas Verdächtiges hören konnten.

Da rief Dickson auf einmal: ›Hierher, Leute! – Da sind sie – die Schufte!‹, und sprang in die Höhe, während ich schnell nach meinem Messer griff, das verdammte Ding jedoch in aller Eile nicht finden konnte.

Dickson aber musste sich mit den Füßen in dem dünnen Gazestoff, aus dem das Netz bestand, verwickelt haben. Ich hörte einen Fall auf das Deck und sah, als ich mich schnell danach umwandte, zwei dunkle Gestalten, die wie Schatten über den Rand des Bootes glitten und sich auf ihn warfen.

In dem Augenblick trat ich auf eine Handspeiche, die wir am vorigen Abend gebraucht hatten, und das war die einzige Waffe, die hier von Nutzen sein konnte. Mit Blitzesschnelle riss ich sie in die Höhe, rief den andern zu – wir hatten noch drei Matrosen und einen Jungen an Bord –, das Tau zu kappen, und schmetterte das schwere Holz auf die Köpfe der beiden dunklen Halunken nieder, die auch im nächsten Augenblick wieder über Bord sprangen oder wahrscheinlicher stürzten; denn meine Keule saß am nächsten Morgen voll Gehirn und Blut.

Während die übrigen Männer noch halb schlaftrunken empor taumelten, hatte der Junge so viel Geistesgegenwart behalten, mit einem glücklicherweise bereitliegenden Handbeil das Tau zu kappen, sodass der Schoner im nächsten Augenblick, von der starken Ebbe mit fortgenommen, stromab trieb.

Meiers und Howitt, zwei von den anderen Matrosen, versicherten mir nachher noch, sie hätten ebenfalls fünf von den Schuften, die am Schiffsrand gehangen, auf die Schädel geklopft; ich weiß freilich nicht, ob es wahr ist. Unser armer Kapitän aber war tot; er hatte einen Lanzenstich durch die Brust und einen Keulenschlag über den Kopf bekommen und lag, als wir endlich am andern Ufer wieder etwas freier Atem schöpften, starr und leblos an Deck.«

»Und was wurde aus der Ladung?«

»Die verkaufte ich noch in derselben Woche, befrachtete dann die ›Charlotte‹, so hieß der Schoner, mit bei uns verkäuflichen Gegenständen und lief vier Monate später gesund und frisch in Charlestown, wo Dicksons Witwe lebte, ein. Die arme Frau trauerte allerdings über den Tod ihres Mannes, das Geld aber, was ich ihr brachte, tröstete sie wohl etwas. Acht Wochen später heiratete sie jedenfalls einen Pflanzer in der Nachbarschaft. Das sind Schicksale.«

»Sie wusste doch wenigstens, wo ihr Mann geblieben war«, flüsterte der alte Mann vor sich hin, »wusste, dass er tot und wie er gestorben war. Wie manche Eltern harren aber Monde, Jahre lang auf ihre Kinder, hoffen in jedem Fremden, der die Straße heraufwandert, in jedem Reisenden, der nachts an ihre Tür klopft, das geliebte Antlitz zu schauen, und – müssen sich am Ende doch selbst gestehen, dass sie tot – lange, lange tot sind und dass Haifisch oder Wolf ihre Leichen zerrissen oder ihre Gebeine benagt haben.«

»Ja, du lieber Gott«, sagte Tom, indem er, um ein etwas lebhafteres Feuer zu erhalten, einen neuen Ast auf die Kohlen warf, »das ist eine sehr alte Geschichte. Wie viele kommen nur in diesen Wäldern um, die auf den Flüssen gar nicht gerechnet, von denen die Familien selten oder nie wieder erfahren, was aus ihnen geworden ist. Wie viele Tausende gehen auf der See zu Grunde! Das lässt sich nicht ändern, und sooft ich auch in Lebensgefahr gewesen bin, daran habe ich nie gedacht.«

»Manchmal kehren sie aber auch wieder zu den Ihren zurück«, sagte der Alte mit etwas freudigerer Stimme. »Wenn diese sie schon lange auf- und verlorengegeben haben, dann klopfen sie plötzlich an das vielleicht heiß ersehnte Vaterhaus, und die Eltern schließen weinend – aber Freudentränen weinend, das liebe, böse Kind in die Arme.«

»Ja«, erwiderte Tom ziemlich gleichgültig, »aber nicht oft. Die Dampfboote fressen jetzt eine unmenschliche Anzahl Leben; bei denen geht's ordentlich schockweise. Das – aber Ihr rückt ja ganz von der Decke herunter«, unterbrach er sich, während er sein Lager wieder einnahm; »die Nacht ist zwar warm, doch auf dem feuchten Grunde zu liegen soll gerade nicht übermäßig gesund sein.«

»Ich bin's gewohnt«, erwiderte der Alte, und zwar, wie es schien, ganz in seine eigenen trüben Gedanken vertieft.

»Und wenn Ihr's auch gewohnt seid, die Decke liegt einmal da, warum sie nicht benutzen!«

»An der Stelle dort, wo ich lag, müssen Wurzeln oder Steine sein; es drückte mich an der Schulter, und ich rückte deshalb aus dem Wege.«

»Nun, danach können wir leicht sehen«, meinte Tom gutmütig. »Es wäre überhaupt besser, ein wenig dürres Laub zu einem vernünftigen Lager zusammenzuscharren, als hier auf der harten Erde zu liegen. Steht einen Augenblick auf, und in einer Viertelstunde soll alles hergerichtet sein.«

Edgeworth erhob sich und trat zu der knisternden Flamme, in die er mit dem Fuß einige der durchgebrannten und hinausgefallenen Klötze zurückschob. Tom zog indessen die Decke weg und fühlte nach den darunter verborgenen Wurzeln.

»Hol's der Henker!«, lachte er endlich. »Das glaube ich, dass Ihr da nicht liegen konntet. Eine ganze Partie Hirschknochen steckt darunter, aber keine Wurzeln. Dass wir das auch nicht gesehen haben!«

Er warf die Knochen auf die Feuerstelle und kratzte nun mit den Füßen und Händen das in der Nähe herumgestreute Laub herbei, bis er ein ziemlich weiches Lager hergestellt hatte. Dann breitete er wieder sorgfaltig die Decke darüber, trug noch einige heruntergebrochene Äste zur Flamme, um in der Nacht wieder nachlegen zu können, zog Jacke und Mokassins aus, deckte sich jene über die Schultern und lag bald darauf lang ausgestreckt auf der Decke, um ein paar Stunden zu schlafen und die Ankunft des Bootes am nächsten Morgen nicht zu versäumen.

Edgeworth dagegen hatte einen der neben ihn hingeworfenen Knochen aufgenommen und betrachtete ihn mit größerer Aufmerksamkeit, als ein so unbedeutender Gegenstand eigentlich zu verdienen schien.

»Nun – seid Ihr nicht müde?«, fragte ihn sein Gefährte endlich, der zu schlafen wünschte. »Lasst doch die Aasknochen und legt Euch nieder! Es wird Tag werden, ehe wir's uns versehen.«

»Das ist kein Hirschknochen, Tom!«, sagte der Alte, indem er sich zum Feuer niederbeugte, um das Gebein, das er in der Hand hielt, besser und genauer betrachten zu können.

»Nun, so ist's von Wolf oder Bär«, murmelte Tom, schon halb eingeschlafen, mit schwerer Zunge.

»Bär? Das wäre möglich«, erwiderte nachdenklich der Alte, »ja, ein Bär könnte es sein; ich weiß aber doch nicht, mir kommt's wie ein Menschenknochen vor –«

»Tretet doch den Hund einmal in die Rippen, dass er das verdammte Scharren lässt«, sagte der Matrose ärgerlich. »Menschenknochen – meinetwegen auch; wie sollten aber Menschenknochen –?« Er fuhr auf einmal schnell und ganz ermuntert von seinem Lager empor, während er scheu und wild zu den Bäumen hinaufschaute, die ihn umstanden.

»Was ist Euch?«, fragte Edgeworth erschrocken. »Was habt Ihr auf einmal?«

»Verdammt will ich sein«, sagte Tom sinnend und blickte immer noch ängstlich umher, »wenn ich – nicht glaube –«

»Glaube, was? Was habt Ihr?«

»Ist das wirklich ein Menschenknochen?«

»Mir kommt es so vor. Es muss das Hüftbein eines Mannes gewesen sein; denn für einen Hirsch ist es zu stark und für einen Bären zu lang. Aber was ist Euch?«

Tom war emsig beschäftigt, seine Mokassins wieder anzuziehen, und sprang jetzt auf die Füße.

»Wenn das ein Menschenknochen ist«, rief er, »so kenne ich den, dem er gehörte. Ich habe ihn selbst mit Ästen und Zweigen zugedeckt, als wir ihn fanden. Darum lag also auch hier so viel halbverfaultes Holz auf einem Haufen. Ja, wahrhaftig, das ist der Platz und dieselbe Eiche, unter der wir ihm sein Grab machten; das Kreuz – der Auswuchs hier soll ein Kreuz sein – hieb ich damals mit meinem eigenen Tomahawk in den Stamm. Der arme Teufel –«

»Auf welche Art starb er denn, und wer war er?«

»Wer er war, weiß der liebe Gott, ich nicht; aber er starb auf eine recht niederträchtige, hundsföttische Weise. Ein Bootsmann, dessen Boot gerade da unten am Land lag, wo wir unser Schiff morgen erwarten, schlug ihn tot wie einen Wolf, und das um ein paar lumpiger Dollar willen.«

»Entsetzlich!«, sagte der Alte und lehnte sich, den Knochen neben sich legend, auf seine Decke zurück, während Tom ebenfalls seinen so schnell verlassenen Platz wieder einnahm und den Kopf in die Hand stützte.

»Wir jagten hier oben nach Bären«, fuhr Tom, vor sich niederstarrend und ganz in der Erinnerung an die alten Zeiten verloren, fort, »und Bill –«

»Der Bootsmann?«, fragte Edgeworth.

»Nein, jener Unglückliche«, sagte Tom.

»Und sein anderer Name?«

»Den nannte er nie; wir waren auch nur vier Tage zusammen, und er gehörte, so viel ich verstanden habe, nach Ohio hinüber. Bill hatte jenen Burschen ein paar Dollar sehen lassen, und der wollte ihn gern abends, als wir am Feuer gelagert waren, zum Spielen reizen. Bill spielte aber nicht, und das erbitterte schon den nichtswürdigen Buben. Ein paar Nächte darauf hatte er's denn auf irgendeine Art und Weise anzustellen gewusst, dass er den armen Jungen von uns fortbekam und die Nacht mit ihm allein lagerte.

Wir kampierten an demselben Abend in der Nähe der Schlucht, in welcher wir heute zuerst auf die Bärin schossen; denn von der kleinen Prärie aus waren wir dorthin einem Bärenkurs gefolgt. Am nächsten Tag ließ sich niemand von ihnen sehen, und als wir bei Sonnenuntergang zum Flussufer kamen, war das Boot fort.

Dicht am Ufer übernachteten wir; der alte Sykomorenstamm muss noch dort liegen, wo unser Feuer war; denn der hatte sich fest zwischen zwei Felsen gezwängt und konnte nicht fort, und als wir am nächsten Morgen die Bank erstiegen, wurden wir zuerst durch die Aasgeier aufmerksam gemacht, von denen eine große Menge nach einer Richtung hinzog.

›Gebt Acht‹, sagte mein Begleiter, ein Jäger aus Kentucky, mit dem ich damals in Kompagnie jagte, ›gebt Acht, der lumpige Flatbooter hat den Kurzfuß kalt gemacht.‹«

»Kurzfuß«, fuhr der Alte erschrocken auf, »warum nannte er ihn Kurzfuß?«

»Sein rechtes Bein war etwas kürzer als das linke, und er hinkte ein wenig, aber nicht viel. Und richtig – als wir auf den Hügel hier kamen – ich vergäße den Anblick nicht, und wenn ich tausend Jahre alt würde, da lag der Körper, und die Aasgeier – aber was ist Euch, Edgeworth, was habt Ihr? Ihr seid –«

»Hatte der – der Kurzfuß oder – Bill, wie Ihr ihn nanntet, eine Narbe über der Stirn?«

»Ja – eine große, rote Narbe; – kanntet Ihr ihn?«

Der alte Mann presste seine Hände vor die Stirn und sank in stummem Schmerz auf sein Lager zurück.

»Was ist Euch, Edgeworth? Um Gottes willen, Mann – was fehlt Euch?«, rief der Matrose, jetzt wirklich erschrocken empor springend. »Kommt zu Euch! – Wer war jener Unglückliche?«

»Mein Kind – mein Sohn!«, schluchzte der Greis und drückte seine eiskalten, leichenartigen Finger fest vor die heißen, trockenen Augenhöhlen.

»Allmächtiger Gott!«, sagte Tom erschüttert. »Das ist schrecklich! – Armer – armer – Vater!«

»Und Ihr begrubt ihn nicht!«, fragte der Alte endlich nach langer Pause, in der er versucht hatte, sich ein wenig zu sammeln.

»Doch – er bekam ein Jägergrab«, antwortete leise und mitleidig der junge Mann. »Wir hatten nichts bei uns als unsere kleinen indianischen Tomahawks, und der Boden war dürr und hart da – aber ich martere Euch mit meinen Worten –«

»Erzählt nur weiter – bitte, lasst mich alles wissen!«, bat flehend der Vater.

»Da legten wir ihn hier unter diese Eiche, trugen von allen Seiten Stangen und Äste herbei, dass kein wildes Tier, wie stark es auch gewesen, ihn erreichen konnte, denn Bären lassen die Leichen zufrieden, und ich hieb mit dem Tomahawk noch zuletzt das einfache Kreuz hier in den Stamm.«

Edgeworth starrte still und leichenblass vor sich nieder. Nach kurzer, peinlicher Pause richtete er sich aber wieder empor, schaute zitternd und traurig umher und flüsterte:

»Wir liegen hier also auf seinem Grab – in seinem Grabe, und mein armer, armer William musste auf solche Weise enden! Doch seine Gebeine dürfen nicht so umhergestreut länger dem Sturm und Wetter preisgegeben bleiben; Ihr helft sie mir begraben, nicht wahr, Tom?«

»Von Herzen gern, nur – wir haben kein Werkzeug.«

»Auf dem Boot sind zwei Spaten und mehrere Hacken – die Leute müssen helfen. Ich will meinem Sohn, und wenn auch erst nach langen Jahren, die letzte Ehre erweisen; es ist alles, was ich für ihn tun kann.«

»Sollen wir unser Lager lieber auf der anderen Seite des Feuers machen?«, fragte Tom.

»Glaubt Ihr, ich scheute mich vor der Stelle, wo mein armes Kind vermoderte?«, sagte der Greis. »Es ist ja auch ein Wiedersehen, wenngleich ein gar schmerzliches. Ich glaubte, an seinem Herzen noch einmal liegen zu können, und finde jetzt – seine Gebeine, umhergestreut in der Wildnis. – Aber gute Nacht, Tom! Ihr werdet müde sein von des Tages Anstrengungen; wir wollen ein wenig schlafen. Der anbrechende Tag finde uns erwacht und mit unserer Arbeit beschäftigt.«

Sicherlich nur um den jüngeren Gefährten zu schonen, warf sich der alte Mann auf sein Lager zurück und schloss die Augen. Kein Schlaf senkte sich aber auf seine tränenschweren Lider, und als der kühle Morgenwind durch die rauschenden Wipfel der Kiefern und Eichen säuselte, stand er auf, fachte das jetzt fast niedergebrannte Feuer zu heller, lodernder Flamme an und begann bei dessen Licht die um das Lager herum verstreuten Gebeine zu sammeln.

Tom, hierdurch ermuntert, half ihm schweigend bei seiner Arbeit und näherte sich dabei dem Platz, wo Wolf, etwa dreißig Schritt vom Feuer entfernt, zusammengekauert neben einem kleinen Ulmenbusche lag. Obgleich die beiden sonst sehr gute Bekannte waren, empfing ihn der alte Hund doch sehr unfreundlich und knurrte mürrisch und drohend.

»Wolf! Schämst du dich nicht, Alter?«, sagte der junge Mann, auf ihn zugehend. »Du träumst wohl, du faules Vieh – weist mir die Zähne?«

Der Hund beruhigte sich jedoch selbst durch die Anrede nicht und knurrte nur stärker, wedelte aber auch dabei leise mit dem Schwanze, gerade als hätte er sagen wollen: Ich kenne dich recht gut und weiß, dass du ein Freund bist, aber hierher darfst du mir trotzdem nicht.

Tom blieb stehen und sagte zu Edgeworth, der auf ihn zukam: »Seht den Hund an, er hat da etwas unter dem Laub und will mich nicht näher lassen. Was es nur sein mag?«

Edgeworth ging auf ihn zu, schob leise seinen Kopf zur Seite und fand zwischen den Pfoten des treuen Tieres – den Schädel seines Sohnes, wobei Wolf, als jener die Überreste des teueren Hauptes seufzend emporhob, an ihm hinaufsprang und winselte und bellte.

»Das kluge Tier weiß, dass es Menschenknochen sind«, sagte der Matrose.

»Ich glaube, beim ewigen Gott, er kennt die Gebeine!«, rief der Greis erschrocken. »Bill hat ihn aufgezogen und ging von dem Augenblick an, wo er laufen konnte, nie einen Schritt ohne ihn in den Wald.«

»Das ist ja nicht möglich; die Gebeine können keinen Geruch behalten haben. – Wie alt ist denn der Hund?«

»Acht Jahre; aber so klug wie je ein Tier einer Fährte folgte«, sagte der Greis. »Wolf – komm hierher!«, wandte er sich dann an den Winselnden. »Komm her, mein Hund! – Kennst du Bill noch, deinen alten, guten Herrn?«

Wolf setzte sich nieder, hob den spitzen Kopf hoch empor, sah seinem Herrn treuherzig in die Augen, warf sich mehrere Male unruhig von einem Vorderlauf auf den anderen und stieß plötzlich ein nicht lautes, aber so wehmütig klagendes Geheul aus, dass sich der alte Mann nicht länger halten konnte. Er kniete neben dem Tier nieder, umschlang seinen Hals und machte durch einen heißen, lindernden Tränenstrom seinem gepressten Herzen Luft. Wolf aber leckte ihm liebkosend die Stirn und Wange und versuchte mehrere Male, die Pfote auf seine Schulter zu legen.

»Unsinn!«, sagte Tom, dem bei dem sonderbaren Betragen des Hundes ordentlich unheimlich zumute wurde. »Das Tier wittert menschliche Überreste, und da geht's ihm gerade wie mit Menschenblut. Lasst das die Hunde plötzlich spüren, so heulen sie ebenfalls, als ob ihnen das Herz brechen wollte.«

»Lasst mir den Glauben, Tom!«, bat der Alte und richtete sich endlich wehmütig wieder auf. »Es tut mir wohl, selbst in dem Tier das Gedächtnis für einen Freund bewahrt zu sehen, und wir haben ja des Schmerzlichen genug; warum den schwachen Trost noch mutwillig mit eigener Hand zerstören?«

Ein Schuss aus der Richtung, in welcher der Fluss liegen musste, unterbrach seine Rede.

»Verdammt!« rief Tom. »Ob die Burschen schon mit dem Boot da sind? Die Seehunde müssen nachts gefahren sein; es ist ja kaum Tag.«

»Tut mir den Gefallen und ruft sie her!«, bat Edgeworth.

»Mir wär's lieber, wenn Ihr mitgingt«, sagte der junge Mann zögernd. »Ihr quält Euch hier und ...«

»Ich bin gefasst, wenn Ihr kommt, Tom. Tut mir die Liebe und ruft sie.«

Im nächsten Augenblick hatte der junge Mann seine Büchse geschultert und schritt dem Flussufer zu.

Edgeworth kniete an dem Fuße der Eiche nieder, die jahrelang ihre Arme schützend über die Überreste seines Kindes ausgebreitet hatte, und lag ernst und still im brünstigen Gebet, bis er die Schritte der Bootsleute hörte. Dann sprang er auf und schritt ihnen fest und ruhig entgegen.

Tom hatte die Männer schon unten am Flusse mit dem Vorgegangenen schnell bekannt gemacht, und ernst und schweigend begannen sie, an der engen Gruft zu arbeiten, die des unglücklichen Mannes Gebeine aufnehmen sollte. Dann legten sie sorgsam die gesammelten Überreste hinein, warfen das Grab zu, wölbten den kleinen Hügel darüber und trugen nachher ebenso still und lautlos die Jagdbeute, die ihnen Tom bezeichnete, auf ihren Schultern zum Boot hinunter.

»Hallo!«, rief ihnen hier der an Bord gebliebene Steuermann, eine wilde, drohende Gestalt, das Gesicht ganz von Pockennarben zerrissen, die schwarzen langen Haare wild um die Schläfe hängend entgegen. »Bärenfleisch! Bei den sieben Todsünden! – Verdamme meine Augen, wenn das nicht der vernünftigste Streich ist, den unser alter Kapitän in langer Zeit ausgeführt hat. – Macht aber schnell, Burschen, dass wir von hier fortkommen! Wir versäumen die schöne Zeit; das Wasser fällt mit jeder Sekunde.«

»Wir gehen noch einmal hinauf«, sagte der eine von ihnen.

»Was zum Henker ist nun noch oben?«

»Oben ist nichts mehr, wir wollen nur die Backsteine aus unserer Küche hinauftragen und, so gut es geht, einen Grabstein daraus machen.«

»Narren seid ihr«, zürnte der Steuermann, »wie sollen wir nachher kochen?«

»In Vincennes können wir neue bekommen«, sagte Tom.

»Schaden würd's Euch auch nicht, wenn Ihr eine Ladung mit hinauftrügt.«

»Ich bin zum Steuern gemietet und nicht zum Steineschleppen«, brummte der Lange, indem er sich ruhig aufs Verdeck streckte. »Unsinn genug, dass ihr die alten Knochen da oben noch einmal aufrührt; die wären auch ohne euch verfault.«

Die Männer antworteten ihm nicht, luden ihre Last auf und stiegen damit die steile Uferbank empor. An dem Grabe errichteten sie das einfache Denkmal für den ermordeten Jäger, frischten das Kreuz in der Eiche wieder auf und wollten dann langsam den Platz verlassen, auf dem Edgeworth noch immer in Schmerz und Gram vertieft stand. Da fuhr der Alte aus seinen Träumen auf, drückte den Bootsleuten allen freundlich die Hand, schulterte seine Büchse, rief nach dem Hund und ging mit festen, sicheren Schritten voran, dem Boot zu.

Eine halbe Stunde später knarrten und kreischten die schweren Ruder des unbehilflichen Fahrzeugs, mit denen es in die eigentliche Strömung hinausgeschoben wurde. Dann aber drängte es schwerfällig gegen die Mitte des Flusses zu und trieb langsam hinunter seine stille, einförmige Bahn.

Wie es aber nur erst einmal in Gang und richtig in der Strömung war, hoben die Bootsleute ihre ›Finnen‹, wie die langen Ruder solcher Boote genannt werden, an Deck und streckten sich selbst nachlässig und behaglich auf den Brettern aus, um die ersten Strahlen der freundlichen Morgensonne zu genießen, die jetzt eben in all ihrer schimmernden Pracht und Herrlichkeit über dem grünen Blättermeer emportauchte.

Edgeworth aber saß, mit dem Hund zwischen seinen Knien, am hintern Rande des Fahrzeugs und schaute still und traurig nach den mehr und mehr in weiter Ferne verschwindenden Bäumen zurück, die das Grab seines Kindes überschatteten.

2. Kapitel

In Helena herrschte ein ungewöhnlich reges Leben und Treiben, und aus der ganzen Umgegend musste hier die Bevölkerung zusammengekommen sein. Überall standen Gruppen eifrig unterhaltender Männer, teils in die bunt befransten Jagdhemden der Hinterwäldler, teils in die blauen Jeansfracks der etwas mehr zivilisierten Städter gekleidet, deren heftige Reden und lebhafte Gesten verrieten, dass sie keineswegs alltägliche Gespräche führten.

Vor dem Union-Hotel, dem besten Gasthause der Stadt, schien sich der größte Teil dieser Menschenmasse versammelt zu haben, und der Wirt, eine lange, hagere Gestalt mit blonden Haaren, scharfen Backenknochen, etwas spitzer, vorstehender Nase, aber blauen, gutmütigen Augen, kurz, jeder Zoll ein Yankee, hatte schon eine geraume Zeit dem Drängen und Treiben vor seiner Schwelle mit augenscheinlichem Wohlbehagen zugesehen.

Im Innern des Hauses fehlte es allerdings keineswegs an Arbeit, und die tätige Hausfrau hatte, von ihrem Dienstboten und einem Neger unterstützt, alle Hände voll zu tun, die Gäste zu befriedigen und Schlafstellen für die herzurichten, die zu weit entfernt von Helena wohnten. Trotzdem aber verharrte der Wirt in seiner ruhigen Stellung und kümmerte sich nicht im Geringsten um das innere Hauswesen.

Da sich die Menschen von dem Hause durch den Wortwechsel und vielleicht auch durch geistige Getränke erhitzt hatten, artete ihre bisher ruhige und friedliche Unterhaltung mehr und mehr aus. Einzelne heftige Flüche und Drohungen überschallten zuerst für Augenblicke das übrige Wortchaos, und plötzlich verkündeten ein scharfer Schrei und ein wildes Drängen, dass es endlich, was der lächelnde Wirt schon lange ersehnt haben mochte, zu Tätlichkeiten gekommen sei.

Mit halb vorgebeugtem Oberkörper, die Hände tief in den Beinkleidertaschen und die rechte Schulter an den Pfosten seiner Tür gelehnt, stand er da, und man sah es ihm ordentlich an, welch Vergnügen ihm ein Kampf machte, dessen Ergebnis so ganz seinen Wünschen entsprochen haben musste.

Der nämlich, der den ersten Schlag gegeben hatte, war ein kleiner, untersetzter Ire mit brennend roten Haaren und womöglich noch röterem Barte, dazu in Hemdsärmeln, mit offenem Kragen und etwas kurzen, eng anschließenden Nankingbeinkleidern, was seiner Figur einen eigentümlich komischen Anstrich gab.

Davon abgesehen war aber Patrick O'Toole nichts weniger als komisch oder auch nur spaßig, sobald er ein paar Tropfen Whisky im Kopfe und irgend Ursache zu einem vernünftigen oder ›räsonablen‹ Streit hatte, wie er es nannte. Wenn auch nicht zänkisch, so war er doch der Letzte, der einen Platz verlassen hätte, wo noch die mindeste Aussicht zu einer anständigen Prügelei zu erwarten gewesen wäre.

Sosehr aber Patrick oder Pat, wie er gewöhnlich im Städtchen hieß, diesmal im Recht sein mochte, sosehr fand er sich bald im Nachteil; denn kaum lag sein Gegner vor ihm im Staube, als der größte Teil derer, die bis jetzt wenig oder gar keinen Anteil an dem Zank genommen hatten, auf ihn eindrangen und den Gefallenen rächen wollten.

»Zurück mit euch! – Weg da, ihr Blackguards, ihr – Söhne einer Wölfin!«, schrie der Ire und teilte dabei ohne Unterschied der Person nach links und rechts so gewaltige und gut gezielte Stöße aus, dass er die Angreifer blitzschnell in sichere Entfernung zurückscheuchte.

»Ehrlich Spiel hier!«, schrie er dabei und streifte sich schnell den immer wieder niederrutschenden Ärmel auf. »Ehrlich Spiel, ihr Spitzbuben; einer gegen einen, oder auch zwei und drei, aber nicht acht und neun; die Pest über euch! – Ich klopfe euch die Schädel so breiweich wie euer Hirn, ihr hohlköpfigen Halunken ihr!«

»Ehrlich Spiel!«, riefen auch einige aus der Menge und suchten die übrigen Kampflustigen zurückzudrängen. Der zu Boden Geschlagene hatte sich aber in diesem Moment ebenfalls wieder aufgerafft, und das eine blau unterlaufene Auge mit der linken Hand bedeckend, riss er mit der rechten ein bis dahin verborgen gehaltenes Messer unter der Weste vor und warf sich mit einem Schrei voll wildem, unbezähmbarem Ingrimm auf den ruhig wartenden Iren.

Dieser jedoch fing, ohne weiter seine Stellung zu verändern, den drohend gegen ihn gerichteten und sicherlich gut gezielten Stoß auf, indem er den Angreifer am Handgelenk packte, zum zweiten Male niederschlug und nun in dem Rechtlichkeitssinn der ihn Umgebenden hinlängliche Bürgschaft zu finden glaubte, dass sie einen andern ähnlichen Überfall verhindern würden. Die Volksmenge schien ihm aber keineswegs geneigt; man entzog zuerst den Besiegten seinen Händen, und dann brach der Sturm in plötzlicher, aber desto verheerender Gewalt über ihn los.

»Zu Boden mit dem irischen Hund! Nieder mit ihm!«, tobten sie. »Er hat Hand an einen Bürger der Vereinigten Staaten gelegt! – Was will der Ausländer hier, der übers Wasser Gekommene?«

»Ins Wasser denn mit ihm!«, schrie ein breitschultriger, bleicher Geselle, dem sich eine tiefe, noch kaum geheilte Narbe vom linken Mundwinkel bis hinter das Ohr zog, was seinem Gesicht etwas unbeschreiblich Wildes und Unheimliches verlieh. »Ins Wasser mit ihm! Die irischen und deutschen Halunken verderben armen, ehrlichen Arbeitern ohnedies die Preise. In den Mississippi mit der dünnbeinigen Kanaille, da kann sie mit den Seespinnen Hornpipes tanzen!«

Mit diesen Worten und einem nicht sehr lauten, aber ganz eigentümlichen Pfiff warf er sich so plötzlich gegen den überraschten Iren, dass er diesen für den Augenblick zum Wanken brachte. Den geübten Boxer würde er jedoch trotz alledem nicht übermannt haben, wären nicht die ihm zunächst Stehenden und mehrere andere, die sich schnell herzudrängten, rasch zu seiner Hilfe herbeigeeilt. So sah sich O'Toole gleich darauf von mehreren Seiten erfasst und zu Boden geworfen.

»In den Mississippi mit dem Schuft!«, tobte der Haufen. »Bindet ihm die Hände auf den Rücken und lasst ihn schwimmen!«

»Fort nach Irland mit ihm – er kann sich unterwegs ein Schiff bestellen«, schrie ein anderer.

Ein paar friedlicher Gesinnte, die keineswegs wollten, dass ein bloßer Streit ein solch tragisches Ende nehmen sollte, und den Überwältigten zu retten suchten, wurden leicht zurückgehalten, und mit Gebrüll schleppten die Rasenden ihr Opfer dem Flussrande zu.

O'Tooles Lage war höchst misslich, und er selbst wusste nur zu gut, wie feindlich ein großer Teil der Bewohner von St. Helena gegen ihn gesinnt war, um das Schlimmste zu fürchten. Schwerlich würden ihm aber seine verzweifelten Anstrengungen, mit denen er versuchte, den Mördern Trotz zu bieten, etwas genützt haben. Die Übermacht war zu groß, und die Nähe des Flusses ließ ihnen auch keine Zeit zum Überlegen, sondern schien ihr Vorhaben eher noch zu begünstigen.

Da war es ein Einzelner, der sich plötzlich mitten zwischen die Wütenden warf und, den Arm des Iren ergreifend, jeden weiteren Fortschritt hemmte; dieser Einzelne aber war niemand anders als unser freundlicher Wirt Jonathan Smart, der hier mit einer Autorität sein »Halt – das ist genug!«, aussprach, als ob er von dem Haufen selber zum Friedens- und Schiedsrichter bestellt gewesen wäre.

Die Menge zeigte indessen nicht die mindeste Lust, das so unerwartete und ungebetene Einschreiten geduldig zu ertragen.

»Zurück, Smart! – Lasst den Mann los und geht zum Teufel!«

Ähnliche und gleich freundliche Anreden schallten ihm aus fast jedem Munde entgegen. Smart aber behauptete nichtsdestoweniger seinen Platz und rief nur mit fester Stimme dagegen: »Ich will verdammt sein, wenn ihr ihm ein Haar krümmt!«

»So sei es denn!«, schrie der eine seiner Gegner, zog eine kleine Taschenpistole, richtete sie auf den Yankee und drückte ab. Nun versagte zwar zum großen Glück des menschenfreundlichen Retters die Waffe; Jonathan Smart war aber nicht der Mann, der ruhig auf sich zielen ließ. Mit schnellem Griff riss er ein unter seinem Rock verborgenes, wenigstens zwölf Zoll langes Bowiemesser heraus und führte damit schon in der nächsten Sekunde einen so kräftigen, wohlgemeinten Hieb nach dem entsetzt Zurückfahrenden, dass er ihm, wenn jener Stich saß, den Schädel unfehlbar mit dem schweren Stahl gespalten haben müsste.

Der aber, dem die jetzt zornfunkelnden Augen des Gereizten nur zu deutlich verrieten, was ihn erwartete, sprang mit lautem Aufschrei zur Seite, und nur die Spitze des Messers traf ihn vorn an der Schulter und riss ihm den Rock bis hinab an den Saum mit einem Hieb auf.

Der Schlag war zu tüchtig geführt gewesen, um an dem vollen Ernst des Mannes nur einen Augenblick zu zweifeln Sein Auge flog auch jetzt mit so dunkelglühendem und herausforderndem Trotz über die anderen hin, dass sie scheu und fast unwillkürlich den Iren losließen.

Der aber fühlte seine Glieder kaum wieder frei, als er auch schon rasch empor sprang und nicht übel Lust zu haben schien, den für ihn fast so verderblich gewordenen Kampf an Ort und Stelle zu erneuern.

Smart jedoch hielt seinen rechten Arm wie mit eisernem Griff umspannt, und ehe noch die für den Augenblick wie vor den Kopf gestoßenen Männer einen neuen Entschluss fassen oder es über sich gewinnen konnten, dem so herausfordernd gezeigten Stahl zu trotzen, zog der Wirt den kleinen Iren mit sich fort und verschwand gleich darauf im Innern seines Hauses.

»Verdamme meine Augen!«, schrie da plötzlich der schon früher erwähnte bleiche Geselle mit der Narbe. »Sollen wir uns das gefallen lassen? Wer ist denn der langbeinige Schuft von einem Yankee, der hier nach Arkansas kommt und einem ganzen Haufen ordentlicher Kerle vorschreiben will, was er zu tun und zu lassen hat? Ei, so steckt doch dem Halunken das Haus über dem Kopfe an!«

»Bei Gott, das wollen wir! – Kommt, Boys, holt das Feuer aus seiner eigenen Küche!«, tobte und wütete die Schar. »Nieder mit der Kneipe; die Bestie will sowieso nichts pumpen!«

Die Masse wandte sich rasch zur Untat entschlossen gegen das bedrohte Haus, und wer weiß, wie weit sie in ihrem augenblicklich und heftig entflammten Grimm gegangen wäre, hätte sich ihr nicht jetzt mit der freundlichsten Gebärde ein Mann entgegengestellt, der sie mit hocherhobenen Armen und lauter Stimme bat, ihm einen Augenblick Gehör zu schenken. Er war hoch und schlank gewachsen, mit offener freier Stirn, dunklen Augen und Haaren und feinen, fast weiblich schön geschnittenen Lippen. Auch in seiner ganzen Haltung lag etwas Gebieterisches und doch wieder Geschmeidiges, und seine Kleidung, die aus feinem schwarzen Tuch und schneeweißer Wäsche bestand, verriet ebenfalls, dass er entweder diesen Kreisen fremd war oder doch eine Stellung bekleidete, die ihn über seine Umgebung erhob. Er war zu gleicher Zeit Advokat und Arzt und seit einem Jahr erst aus den nördlichen Staaten hier eingetroffen, wo er sich seiner Kenntnisse und seines einnehmenden Betragens wegen in kurzer Zeit nicht allein eine bedeutende Praxis erworben hatte, sondern auch in Stadt und County zum Friedensrichter ernannt worden war.

»Gentlemen!«, redete der Advokat jetzt die wunderbarerweise rasch Besänftigten an. »Gentlemen, bedenken Sie, was Sie tun wollen. Wir befinden uns unter dem Gesetze der Vereinigten Staaten, und die Gerichte sind wohl bereit, Sie gegen den Angriff anderer wie auch andere gegen Ihren Angriff zu schützen. Mr. Smart hat Sie aber nicht einmal beleidigt, er hat Ihnen im Gegenteil einen Gefallen getan, indem er Sie vor einer Gewalttat bewahrte, die wohl böse Folgen für manche von Ihnen gehabt haben könnte. Sie sollten ihm eher dankbar sein. Mr. Smart ist auch sonst in jeder Hinsicht ein Ehrenmann.«

»Hol ihn der Teufel!«, rief der Kerl, nach dem der Wirt mit seinem Messer gehauen hatte. »Dankbar sein? Ehrenmann? Ein Schuft ist er und hätte mich beinahe gespalten wie eine Apfelsine. In die Hölle mit ihm! Feuer in sein Nest, das ist mein Rat!«

»Gentlemen! Hat Sie Mr. Smart beleidigt«, nahm hier der Richter aufs Neue das Wort, »so bin ich auch überzeugt, dass er alles versuchen wird, seinen begangenen Fehler wiedergutzumachen. Kommen Sie, wir wollen ruhig zu ihm hinaufgehen, und er mag dann mit freundlichem Wort und einer kleinen freiwilligen Spende an Whisky, die wir ihm auferlegen werden, das Geschehene ausgleichen. – Sind Sie damit zufrieden?«

»Ei, hol's der Henker – ja!« sagte der mit der Narbe. – »Er soll uns traktieren. – Tritt er mir aber wieder einmal in den Weg, so will ich verdammt sein, wenn ich ihm nicht neun Zoll kalten Stahl zu kosten gebe.«

»Hätte nur mein verdammtes Terzerol nicht versagt!«, zischte der andere. – »Die Pest über den Krämer, der – so erbärmliche Waren führt.«

»Kommt, Boys, ins Hotel! – Smart mag etwas herausrücken und wenn er's nicht tut, so soll ihm der Böse das Licht halten«, sagte der Narbige.

»Ins Hotel! Ins Hotel!«, brüllte die Schar. »Er muss uns freihalten, sonst schlagen wir ihm den ganzen Kram in tausend Stücke!«

In grölendem Chor wälzte sich der zügellose Haufe dem Gasthaus zu, und wer weiß, ob des Advokaten freundlich gemeinte Beilegung des Streites nicht hier zu noch viel ernsthafteren Auftritten geführt hätte.

Smart kannte aber seine Leute zu gut und wusste, dass er, sobald er den Schwarm wirklich in sein Haus ließ, gänzlich in den Händen der schon halb Betrunkenen wäre und dann auch jedem ihrer Wünsche willfahren müsse, wollte er sich nicht der größten Gefahr an Leben und Eigentum aussetzen.

Als sich daher die Rädelsführer seiner Tür näherten, trat er plötzlich mit gespannter und im Anschlag liegender Büchse ruhig auf die oberste Schwelle und erklärte fest, er werde den Ersten niederschießen, der die Stufen seiner Treppe betreten sollte. Smart war als ausgezeichneter Schütze bekannt, und sicherer Tod lag in der ihnen drohend entgegengehaltenen Mündung.

Der Advokat trat aber auch hier wieder vermittelnd zwischen den Parteien auf, bedeutete dem Yankee, dass die Männer hier keine Feindseligkeiten weiter gegen ihn nährten, und bat ihn, die Büchse fortzustellen, damit auch das Letzte entfernt sei, was auf Streit und Kampf hindeuten könne.

»Gebt den guten Leuten ein paar Quart Whisky«, schloss er dann seine Rede. »Und sie werden auf Eure Gesundheit trinken. Es ist ja doch besser, mit denen, die unsere Nachbarn in Stadt und Haus sind, friedlich und freundlich zu sein, als in immerwährendem Streit und Hader zu leben.«

Der Yankee hatte bei den ruhigen Worten des Advokaten, den er selbst schon seit längerer Zeit als einen ordentlichen und, wenn es galt, auch entschlossenen Mann kannte, den Büchsenkolben gesenkt, ohne jedoch die rechte Hand vom Schloss zu entfernen, und erwiderte jetzt freundlich:

»Es ist recht hübsch von Ihnen, Mr. Dayton, dass Sie nach besten Kräften Streit und Blutvergießen verhindert haben. Mancher Ihrer Herren Kollegen hätte das nicht getan. Damit Sie denn auch sehen, dass ich keineswegs geneigt bin, mit den guten Leuten, gegen die ich ja sonst nicht das Mindeste habe, wieder auf freundschaftlichen Fuß zu kommen, so bin ich gern erbötig, eine volle Gallone zum Besten zu geben; aber ich will sie hinausschicken. Ich habe Ladies hier im Hause, und die Gentlemen draußen werden gewiss selbst damit einverstanden sein, ihren Brandy im Freien zu trinken und sich nicht dabei durch die Gegenwart von Damen gestört zu wissen.«

»Hallo – Brandy?«, rief der mit der Narbe. »Wollt Ihr uns wirklich eine Gallone Brandy geben und dabei erklären, dass Euch das Geschehene leid sei?«

»Allerdings will ich das!«, erwiderte Jonathan Smart, während ein leicht spöttisches Zucken um seine Mundwinkel spielte. »Und zwar vom vortrefflichsten Pfirsich-Brandy, den ich im Hause habe. – Sind die Herren damit einverstanden?«

»Ei – Bootshaken und Enterbeile – ja!«, nahm der Bleiche das Wort. »Heraus mit dem Brandy, wenn Unterröcke drin sitzen, wird's einem ordentlichen Kerl doch nicht so recht behaglich zumute; aber schnell, Smart, Ihr trefft uns heute in verdammt guter Laune und könnt Euch gratulieren; lasst uns deshalb also auch nicht so lange warten.«

Fünf Minuten später erschien ein starker, breitschultriger Neger mit echtem Wollkopf und fast ungewöhnlich streng ausgeprägten äthiopischen Gesichtszügen in der offenen Tür und trug, während er die Versammlung misstrauisch bald links, bald rechts zu betrachten schien, in dem linken Arm eine große breitbäuchige Steinkruke, in dem andern ein halbes Dutzend Blechbecher.

Die Schar empfing ihn aber jubelnd, untersuchte vor allen Dingen das Getränk, ob es auch wirklich der gute, ihnen versprochene Stoff sei, und zog dann jauchzend dem Flusse zu, wo sie an Bord eines dort liegenden Flatbootes gingen und bis in die späte Nacht hinein zechten und tobten.

Dayton dagegen blieb noch eine Weile stehen und blickte den Davontobenden still und anscheinend ernst sinnend nach. Smart aber störte ihn bald aus seinem Nachdenken auf; er lehnte die Büchse oben an einen Pfosten der Veranda und stieg herunter zu dem Richter, der ihm so freundlich zu Hilfe gekommen war.

»Danke Euch, Sir«, sagte er hier, während er ihm freundlich die Hand entgegenstreckte. »Danke Euch für Euer rechtzeitig eingelegtes Wort! – Ihr hättet zu keiner gelegeneren Zeit dazwischentreten können.«

»Nicht mehr als Bürgerpflicht«, lächelte der Richter. »Die Menge lässt sich gern von einem entschlossenen Mann leiten, und wenn man den richtigen Zeitpunkt trifft, so vermag ein ernstes Wort oft Gewaltiges.«

»Nun, ich weiß nicht«, meinte Smart kopfschüttelnd, während er einen nichts weniger als freundlichen Seitenblick zum Flusse hinabwarf. »Dergleichen Volk lässt sich sonst nicht leicht zurückschrecken, weder von freundlicher Rede noch feindlicher Waffe. Es sind meistens Leute, die nichts weiter auf der Welt zu verlieren haben als ihr Leben und, da sie das keinen Pfifferling achten, der Gefahr deshalb trotzig entgegengehen. Ich bin übrigens doch froh, so wohlfeilen Kaufes losgekommen zu sein; denn – Blut zu vergießen ist immer eine hässliche Geschichte. Aber so tretet doch einen Augenblick ins Gastzimmer! Ich komme gleich nach, muss nur erst einmal nach meiner Alten in der Küche sehen und alles Nötige bestellen.«

»Ich danke Euch«, sagte der Richter. »Ich muss nach Hause gehen. Es sind heute mit dem letzten Dampfboot Briefe angekommen, und vom Flusse herunter habe ich auch mehrerer Geschäftssachen wegen eines Besuchs zu erwarten. Wollt Ihr mir aber einen Gefallen tun, so kommt Ihr nachher ein bisschen zu mir herüber. Bringt auch Eure alte Lady mit – ich habe noch manches mit Euch zu besprechen.«

»Meine Alte wird wohl daheim bleiben müssen«, sagte der Yankee lächelnd. »Wir haben das Haus voll Leute; aber ich selbst – ei nun, ich bin überdies recht lange nicht bei Mrs. Dayton gewesen. Die Burschen werden doch nicht noch einmal kommen?«

»Habt keine Angst«, beruhigte ihn der Richter. »Das Volk ist wild und hitzköpfig, auch wohl ein wenig roh; aber bewusster Schlechtigkeit halte ich sie nicht für fähig. Sie hätten Euch vielleicht im ersten wilden Zorn das Haus über dem Kopfe angesteckt; wenn der aber erst einmal verraucht ist, so wird keiner mehr daran denken, Euch zu belästigen.«

»Desto besser«, sagte Jonathan Smart. »Angst hätte ich übrigens auch nicht. Mein Scipio hält, wenn ich fort bin, Wacht, und der Hornruf aus dem Fenster kann mich überall in Helena erreichen. – Also auf Wiedersehen! In einem halben Stündchen komme ich hinüber.«

Er trat, während der Richter seiner eigenen Wohnung zuschritt, ins Haus zurück und stand gleich darauf vor seiner ›besseren Hälfte‹, wie sie sich selbst zu nennen pflegte, die er übrigens teils durch die übermäßige Arbeit, teils durch die vorangegangene Szene, in der übelsten Laune von der Welt fand.

Mrs. Smart war auch keineswegs die Frau, die irgendeinen Groll lange und heimlich mit sich herumgetragen hätte. Was ihr auf dem Herzen lag, musste heraus, mochte es sein, was es wollte. So schob sie sich denn, als sie ihren Herrn und Gemahl nahen hörte, den Sonnenbonnet, den sie der Kaminglut wegen auch in der Küche trug, zurück, stemmte beide Arme, in der Rechten noch immer den langen hölzernen Kochlöffel haltend, fest in die Seite und empfing den langsam herbeischlendernden Gatten mit einem scharfen:

»So, was hat der Herr denn heute wieder einmal für ganz absonderlich gescheite Streiche angerichtet? Man darf den Rücken nicht mehr wenden, schon ist irgendein Unglück im Anmarsch, und kein Kuchen kann im ganzen Neste gebacken werden, ohne dass Mr. Smart nicht seinen Finger und seine Nase hineinstecken müsste.«

»Mrs. Smart«, sagte Jonathan, der gerade jetzt viel zu guter Laune war, um sie sich durch den Unwillen seiner Gattin verderben zu lassen, »ich habe heute ein Menschenleben gerettet, und das, sollte ich denken –«

»Ach, was da, Menschenleben«, unterbrach ihn in allem Eifer Mrs. Smart. »Menschenleben hin, Menschenleben her; was geht dich das Leben anderer Leute an? An deine Frau sollst du denken, aber die mag sich schinden und quälen, die mag sich mühen und plagen, das ist diesem Herrn der Schöpfung ganz einerlei. Er wirft auch die Gallonen guten Pfirsich-Brandy gerade so auf die Straße hinaus, als ob er sie da draußen gefunden hätte, während ich hier im Schweiße meines Angesichts arbeiten und unser aller Brot verdienen muss.«

»– wäre mit der gehabten Mühe keineswegs zu teuer erkauft gewesen«, fuhr Smart ruhig fort, ohne die Unterbrechung seines Weibes auch nur im Mindesten zu beachten.

»Ich sage dir aber, es wäre zu beachten gewesen«, eiferte die hierdurch nur noch mehr erzürnte Frau, »es wäre zu beachten gewesen, wenn du nur so viel Gefühl für dein eigen Fleisch und Blut hättest. Aber Philippchen kann heranwachsen und groß werden, das kümmert dich nicht. Nach deiner Wirtschaft geht alles zugrunde und muss alles zugrunde gehen, und wenn der arme Junge einmal das Alter hat, so wird er wohl nicht einmal eine Stelle haben, wohin er sein Haupt legt. Du Rabenvater.«

»Der Rabenvater hatte auch keine Stelle, wo er sein Haupt hinlegen konnte, als er heranwuchs«, lächelte Mr. Smart gutmütig und rieb sich dabei die Hände. »Mr. Smart senior gab ihm aber allerlei gute Lehren, und die haben denn auch so gute Früchte getragen, dass sich Smart junior nach mehrmaliger Ernte das schönste Gasthaus in ganz Helena bauen konnte. Smart senior ist nun tot, und Smart junior ist Smart senior geworden; wenn also in natürlicher Folge Smart junior jetzt –«

»Nun höre einmal auf mit all dem Unsinn von senior und junior! Gehe an dein Geschäft, besorge die Pferde, die draußen im Stalle stehen, schick mir den Neger her und lass ihn Bohnen von dem Feld bringen! Zum Kaufmann muss er auch hinübergehen, um das Fass Zucker zu holen. – Mann, du wirst mich mit deinem Leichtsinn noch in die Grube bringen.«

»– dem Rate des Smart senior so folgt, wie Smart senior damals dem seines Vaters folgte«, fuhr der unverwüstliche Yankee ruhig und unbekümmert fort, »so ist alle Hoffnung vorhanden, dass auch ohne unser Zutun Smart junior schon seinen Lebensunterhalt auf anständige Weise gewinnen wird.«

»Scipio soll herkommen«, schrie jetzt Mrs. Smart, wirklich zur äußersten Wut getrieben, während sie mit dem Fuß stampfte und den Stiel des Löffels auf den einzigen kleinen Tisch niederstieß. »Hörst du, Jonathan? Scipio soll herkommen, und nun fort mit dir, Mensch, der du meinen Tod willst, oder ich gebrauche, so wahr mich unser lieber Herr Gott erhören soll, mein Küchenrecht.« Und mit raschem Griff erfasste sie den langstieligen, kupfernen Schöpfer und fuhr damit in den Kessel voll siedenden Wassers, der über dem Feuer zischte und sprudelte.

Nun wusste Mr. Smart allerdings, dass es zwischen ihnen, trotz des von Seiten Madams oft hitzig geführten Zungenkampfes, nie zu Tätlichkeiten kam, denn Madame kannte zu gut den ernsten und festen Sinn ihres Mannes, um so etwas je zu wagen.

Um aber auch jedem Wortwechsel ein Ende zu machen und die erzürnte Ehehälfte, die ihm sonst eine brave und treue Gattin war, freundlicher zu stimmen, zog er sich ruhig zur Tür zurück und fragte nur hier, die Klinke in der Hand, »ob Mrs. Smart sonst noch etwas zu bestellen habe, da er ein paar Geschäftswege machen müsse.«

Diesen Rückzug nahm Madame übrigens als ein stillschweigendes Zeichen der Anerkennung ihrer Autorität, und bedeutend milder gestimmt goss sie das kochende Wasser wieder zurück in sein Gefäß, wischte sich mit der Schürze den Schweiß von der geröteten Stirn und sagte in noch halb ärgerlichem, aber doch nicht mehr heftigem Tone:

»Nein, Mr. Smart, wenn Sie Ihre Geschäfte außer dem Hause haben, so brauchen Sie sich auch nicht um die meinigen zu kümmern. – So viel sage ich Ihnen aber, die Pferde –«

»Sind sämtlich gefüttert und besorgt«, bemerkte Smart.

»Und das Fass Zucker –«

»Steht in der Bar.«

»Aber die Bohnen –«

»Sind von Scipio schon vor einer halben Stunde gepflückt worden.«

»Und die beiden Zimmer, die noch für die letztgekommenen Gäste geräumt werden sollten –«

»Können jeden Augenblick bezogen werden«, lächelte Jonathan. »Mr. Smart und Scipio haben das alles besorgt. Sonst noch etwas?«

Madame wurde jetzt wirklich ärgerlich, dass weiter gar nichts zu bemerken war, und arbeitete mit immer größerem Eifer und röter werdendem Gesicht in den Kohlen herum. Schon zweimal hatte sie sich vergebens bemüht, den schweren eisernen Kessel aufs Feuer zu heben.

Jonathan, dies bemerkend, sprang rasch hinzu, ergriff die Haken und schwang das mächtige Gefäß mit leichter Mühe auf seinen Ort, wandte sich dann lächelnd nach seiner kaum noch schmollenden Ehehälfte um, drückte ihr einen raschen, aber nichtsdestoweniger derbgemeinten Kuss in das rote, gutmütige Gesicht und schritt im nächsten Augenblick, die Hände tief in den Beinkleidertaschen und aus Leibeskräften den Yankee-doodle pfeifend, rasch zur Tür hinaus ins Freie.

3. Kapitel

Leser, hast Du schon je ein amerikanisches Wirtszimmer gesehen? Nein? Das ist schade; es würde mir die Beschreibung ersparen. Wie die Bahnhöfe auf unseren Eisenbahnen, so haben die Wirtszimmer in der Union eine Familienähnlichkeit, die sich in keinem Staate, weder im Norden noch Süden, verleugnen lässt und in den kostbarsten Austernsalons der östlichen Städte wie in den gewöhnlichen grogshops der Backwoods sichtbar und erkennbar bleibt.

Der Schenktisch, mag er nun mit Marmorplatten belegt oder von einem schmutzigen hölzernen Gitter beschützt sein, trägt seine kleinen Fläschchen mit Pfefferminz und Staunton Bitters, damit sich jeder Gast sein Getränk mit einer der beiden scharfen Spirituosen würzen kann, und die dahinter angebrachten Karaffen blitzen und funkeln und laden mit ihrem farbigen Inhalt den Gast ein, sie zu kosten.

Apfelsinen und Zitronen füllen die leeren Zwischenräume aus, und bleibehalste Champagnerflaschen sowie süße, mit buntfarbigen Etiketten versehene Liköre prangen in den obersten Regalen.