Die Frage nach dem (Ab)Grund - Andrea Titzki - E-Book

Die Frage nach dem (Ab)Grund E-Book

Andrea Titzki

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Beschreibung

Tauchen Sie ein in einen packenden Wales-Krimi voller Spannung und unerwarteter Wendungen, der Sie bis zur letzten Seite fesseln wird! "Auf meinem Grabstein steht: `My Love Bethie Foster`. Ich sehe unseren Hund vor mir, während ich wieder und wieder in den Abgrund stürze. Dabei bin ich längst begraben. Für immer?" Zwei Jahre nach dem mysteriösen Tod seiner Frau Bethie ist Allan Foster besessen davon, die Wahrheit herauszufinden. Seine Suche führt ihn tief in die Schatten der Vergangenheit und direkt ins Herz von Cardiff. Dort stößt ein Privatdetektiv in einer unscheinbaren Buchhandlung auf eine düstere Geschichte, die eine unheimliche Parallele zu Bethies Tod aufweist. Während sich die ungeklärten Todesfälle in der Pathologie von Cardiff häufen, wächst der Verdacht, dass es eine Verbindung zu Bethie Fosters Tod in Irland gibt. Ist die gefundene Geschichte der Schlüssel zu einem tödlichen Geheimnis? Allan muss alle seine Kräfte mobilisieren, um die Wahrheit ans Licht zu bringen und einem gefährlichen Netz aus Lügen und Intrigen zu entkommen.

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Inhalt

Kapitel 1 - geliebt und gestürzt

Kapitel 2 - vermisst

Kapitel 3 - gelesen

Kapitel 4 - gesucht

Kapitel 5 - vergangen

Kapitel 6 - gelöst

Kapitel 7 - gescheitert

Kapitel 8 - zurückgekehrt

Kapitel 9 - erschossen

Kapitel 10 - aufgefunden

Kapitel 11 - erschossen 2

Kapitel 12 - entführt

Kapitel 13 - entdeckt

Kapitel 14 - geflohen

Kapitel 15 - eingesperrt

Kapitel 16 - gesucht

Kapitel 17 - untersucht

Kapitel 18 - gestorben

Kapitel 19 - kopiert

Kapitel 20 - verdächtigt

Kapitel 21 - gefunden

Kapitel 22 - verhört

Kapitel 23 - besucht

Kapitel 24 - verabredet

Kapitel 25 - verdächtigt

Kapitel 26 - verfolgt

Kapitel 27 - abgeblockt

Kapitel 28 - befragt

Kapitel 29 - verängstigt

Kapitel 30 - verbunden

Kapitel 31 - getötet

Kapitel 32 - erkannt

Kapitel 33 - geschockt

Kapitel 34 - exhumiert

Kapitel 35 - involviert

Kapitel 36 - gelogen

Kapitel 37 - begraben

Nachtrag - fortgesetzt

Personenliste

Andrea Titzki, geboren 1975 in Frankfurt (Oder), arbeitet hauptberuflich als Telekommunikationsspezialistin in der IT-Branche und gibt neben ihrer Leidenschaft für Sport auch der Schreiblust Raum. Sie schreibt erfolgreich Bühnenstücke für das Erfolgsmusical »Snowys Abenteuer« und konnte bereits mit den Buch-Veröffentlichungen »Alles beginnt mit dem Ende« und »Nie wieder Rote Bete« ihre Leser gewinnen.

Nun erscheint der erste Krimi aus der Hand der Autorin. Die Idee dazu existierte schon länger. Jetzt ist er da.

»Die Frage nach dem (Ab)Grund« entführt die Leser nach Irland und Wales und verbindet die Reiselust der Autorin mit der Fantasie, Geschichten zu kreieren.

Bei Instagram und Facebook lässt sich ihr kreativer Zeitvertreib verfolgen.

Stellen Sie sich vor, von einem Moment auf den anderen ist alles anders

Kapitel 1- geliebt und gestürzt

Nur einen Schritt von mir entfernt geht es steil abwärts. Ich sitze am Rand einer Wiese. Die Landschaft um mich herum besteht aus großen, freien, saftig grünen Rasenflächen mit nur wenig höherer Vegetation. Durchbrochen von den steilen Abhängen, die felsig und scharfkantig sind. Direkt vor mir liegt ein steinerner Vorsprung, der wie ein Balkon über den Rand hinausragt. Darunter kann ich sehen, wie die Natur eine felsige Kleckerburg geschaffen hat. Aus aufeinander getürmten Steinen, die teils mit Moosen und Gräsern überzogen sind. Sie wirken schroff und abweisend. Von meinem Platz aus kann ich in der Ferne die kleine Stadt sehen. Von dort dauert es gut eineinhalb Stunden, um hierher zu kommen. Es weht ein kräftiger Wind, der mir immer wieder ordentlich die Frisur zerzaust. Mit meinem Laptop auf dem Schoß schaue ich mehr in die beeindruckende Landschaft, als dass ich arbeite. Was ich eigentlich vorhatte. Ich möchte noch die neuen Daten sichern und hochladen, bevor ich zum Abendessen gehe.

Von links rennt dieser große braune Hund auf mich zu. Er hat ein hohes Tempo drauf. Seine Ohren hüpfen im Laufwind und seine Lefzen zieht es nach hinten, sodass die Zähne frei liegen und das Tier bedrohlich wirkt. Die muskulösen Beine und kräftigen Pfoten bringen ihn schnell voran. Und sie klopfen bei jeder Berührung auf den Boden. Ich hätte keine Chance, vor ihm davonzulaufen, er wäre definitiv deutlich schneller. Als er bei mir ankommt, schiebt er noch im Bremsvorgang seine feuchte Hundenase unter meinen Arm hindurch, um mein Gesicht zu erreichen. Sein wuchtiger Körper prallt gegen meinen und stoppt so endgültig seine Laufbewegung. Die große schlabbernde Zunge reicht mit ihrer Spitze gerade so bis zu meinem Kinn. Er bemüht sich nach Kräften, mir vollständig übers Gesicht zu lecken. Doch ich kann ihn mit meinem Arm daran hindern. Ich muss sofort laut loslachen. Verwirrt zieht er den Kopf aus der Enge und sieht mich fragend an. Das Hundehaupt zur Seite geneigt. Dazu folgt ein gurgelnder Laut, bei dem er seine Vorderpfote auf meinem Arm ablegt. Sie fühlt sich schwer an.

Dieses Betteln kenne ich nur zu gut. Er ist ein wahrer Künstler auf diesem Gebiet. Dieses sabbernde Fellknäuel ist Cernel, unser Familienhund. Ein schokoladenbrauner Labrador mit treuen, dunkelbraunen Augen und einer gut funktionierenden Hundenase, die stets an allem schnüffelt. Ein leichtes Winseln, ein bettelnder Unterton, aber freundliches Lächeln zwischen den Lefzen sind seine Markenzeichen. Verbunden mit einem unersättlichen Appetit auf Leckerlies und Hundekekse. Seiner süßen Überredungskunst kann ich mich immer nur schwer entziehen. Ich streiche ihm über den Kopf und kraule ihm mit beiden Händen hinter den Ohren. Als ein Pfiff ertönt, reißt er sich los von meiner Streicheleinheit und rennt wieder zu den Kindern hinüber.

Meine Familie und ich machen Urlaub in Irland. Hier ist es wunderbar. Die Landschaft ist einzigartig; getaucht in tausendfach kaleidoskopisch variierendes Grün. Es ist ruhig und voller kleiner Rückzugsmöglichkeiten, wo ich allein und ungestört sein kann und dennoch meinen Mann und meine Kinder sehe. Und es ist nicht allzu weit weg von zuhause, von Cardiff. Wir haben uns diesen Urlaub ausgesucht und genießen ihn zusammen.

Noch während ich so über die Landschaft blicke und über unsere Gründe nachdenke, warum wir mal Abstand von zuhause und dem Alltag brauchten, kehrt Cernel mit einem Frisbee zwischen den Zähnen zu mir zurück und lässt ihn vor meinen Füßen fallen. Dabei funkelt das Sonnenlicht in dem Anhänger an seinem Halsband in einem kristallinen Blau. An seinem Hals ist es sicher. Ich greife mir das Frisbee, stehe auf und laufe meinem Hund hinterher zu meiner spielenden Familie. Es ist ein guter Tag.

Ich höre das Lachen meiner Kinder und sehe, wie sie über die Wiese toben. Cernel mit ihnen. Mit seinen sechs Jahren ist er sehr lebendig und zuweilen immer noch so stürmisch unterwegs wie ein Welpe. So spielen wir eine ganze Stunde, bis sich langsam die Sonne hinter die Berge schiebt. Der Himmel verfärbt sich dabei in satt gemischten Farben aus Gelb und Rot entlang der Hügelspitzen, umrahmt von fliehendem Himmelblau.

»Wir sollten aufbrechen. Es wird dunkel. Und wir wollen noch kochen.« Das Frisbee in der Hand haltend, unterbricht Allan – mein Mann – abrupt das Spiel. Er zeigt dabei mit einem Finger auf die untergehende Sonne. Für einen Moment sehen mich meine Kinder traurig an, bis sie beim Wort kochen erwartungsvoll ihren Vater anschauen und vor Freude hüpfen. Heute Morgen beim Frühstück hatten wir ihren Wunsch akzeptiert, Spaghetti mit grüner Soße und Tigerschnitzel als Abendessen auf den Tisch zu bringen. Ihr Lieblingsgericht. Aber schon aufgrund der Farbgestaltung nicht meines. Die Bezeichnung Tiger in diesem besonderen fleischfreien Schnitzel kommt zu seinem Namen durch die Streifen. Sie entstehen, indem Zucchini und Paprika mit Ei und Mehl paniert und aneinandergeklebt werden. Anschließend werden sie zu einem Schnitzel geformt und gebraten. Die Kinder lieben es.

»Geht schon vor. Mein Laptop liegt noch dort drüben. Ich komme nach. Gebt mir bitte noch einen Moment.« Den Computer habe ich an der Stelle liegen gelassen, wo der Hund mich mit dem Frisbee abgeholt hat.

»Beeil dich, Mum. Sonst kommst du zu spät zum Kochen!« David, mein Sohn, kann es nicht erwarten, unsere Ferienküche auf den Kopf zu stellen. Dabei weiß ich genau, wer das alles später wieder sauber machen darf. Die Bratenspritzer, diese grüne Soße, die Panadeteller. Ich laufe zurück zu meinem Denkerplatz, bücke mich nach meinem Laptop und wandere mit meinem Blick noch einmal über die wunderschöne, einzigartige irische Landschaft. Nur wenige Schritte vor mir liegt der Abgrund, der bereits vorhin meine Aufmerksamkeit eingefordert hat. Die weite Wiese, auf der wir bis vor wenigen Minuten spielten, endet hier abrupt im Nichts. Ich sehe über den Rand und schätze, dass es etwa zwanzig Meter in die Tiefe geht. Vielleicht auch mehr. In mir spielt der Drang, zu springen und zu fliegen. Wie vermutlich fast jeder Mensch empfindet, wenn er derart in die Tiefe blickt. Nur die Vernunft in mir bremst die Versuchung aus. Denn natürlich ist mir bewusst, dass ich nicht fliegen kann.

Ich schaue noch einmal geradeaus über den Abgrund. Es wirkt, als stünde ich auf einer Wolke oder einer Leiter. Meinen Laptop halte ich in meinen Armen vor der Brust und genieße noch immer die Aussicht über die Landschaft mit ihren saftigen Grüntönen und der Stille. Sogar der Wind hat etwas nachgelassen. Vielleicht werden wir ja doch noch Freunde; der Wind und ich. Oder wir beginnen mit einem Waffenstillstand, um mich zu besänftigen, da er mir fortwährend das Haar zerzaust hat. Für ein paar Minuten möchte ich so noch verweilen, bevor ich zurück zu meiner Familie gehe, die sicher schon in unserem Ferienhaus angekommen ist.

Plötzlich ein Ruck.

Etwas wirft mich nach vorn.

Ein harter Stoß. Er trifft mich direkt und schwer in den Rücken, sodass ich zu Boden falle. Vornüber lande ich auf meinen Händen und Knien, der Laptop unter mir. Meine rechte Hand reicht über den Abgrund hinaus und greift ins Leere. Sie findet nichts, woran ich mich festhalten kann. Unfähig, mich zu bewegen oder meine Gliedmaßen zu spüren, strahlt der unerwartet auftretende Schmerz von meinem Rücken aus bis in meinen Kopf. Die Bilder vor meinen Augen verschwimmen. Ich erfasse noch das Grün der Wiese und etwas, das aussieht wie Rillen in Schwarz und Braun.

Langsam und beginnend in meinen Fingern kann ich wieder spüren, wie Leben und Beweglichkeit in Arme und Beine zurückkehren. In meinen Ohren höre ich mein Blut rauschen. Es klingt wie ein Wasserfall, der auf und ab schwingt. Ich versuche aufzustehen. Dabei stürze ich erneut zu Boden und fange den Fall mit meiner Schulter ab. Ich umklammere nun wieder den Laptop, den ich unter meinem Arm wahrnehmen konnte. Erneut durchfährt ein stechender Schmerz meinen Körper. Wieder rapple ich mich auf und kauere auf meinen Knien, da trifft mich ein zweiter Schlag direkt in die Rippen. Dann ein kräftiger Ruck, der mich vom Boden löst.

Jetzt fühlt es sich an, als würde ich fliegen.

Ich fliege tatsächlich - in den Abgrund. So unspektakulär hätte ich es mir nicht vorgestellt. Die Klippen ziehen einfach an mir vorbei, als befände ich mich in einem gläsernen Fahrstuhl. Er befördert mich tiefer in den Abgrund, wo es dunkler und dunkler wird. Mir wird schwindelig. Dann auf einmal durchfährt mich ein dumpfer Stoß, der sich anfühlt, als wenn es meinen Oberkörper sprengt. Danach ist alles schwarz. Kurze, intensive Blitze lassen noch einmal Bilder meiner Kinder vor meinen Augen aufleuchten. Ich sehe die schwarze glänzende Hundenase von Cernel ganz nah - bist du da? - bevor die Lichter in mir endgültig erlöschen.

Kapitel 2 - vermisst

Allan Foster hat in den vergangenen zwei Jahren alles darangesetzt und nichts unversucht gelassen, um den Tod seiner Frau aufzuklären. Sein Ziel ist es weiterhin, dass man die oder den Täter findet und zur Verantwortung zieht. Vor allem aber will er wissen, warum? Was war der Grund, dass ausgerechnet sie sterben musste? Und warum auf diese unvorstellbare Weise? Von wem? Wer zog einen Vorteil daraus? In den Abgrund gestoßen, wie sich bei der Obduktion herausstellte. Sie war nicht gesprungen, wie es erst hieß. Sie war nicht versehentlich in den Abgrund gestürzt, wie man ihm glauben machen wollte. Allan Foster kämpfte so lange, bis der Leichnam seiner Frau genauer untersucht wurde und sie die blauen Flecken und die Prellungen an den Rippen fanden, die ihr vor dem Aufprall zugefügt worden sind. Es war Mord; oder Totschlag. Für ihn dasselbe, denn das Ergebnis brachte ihn fast mit um. Genau würde er es erst wissen, wenn er den Täter reden hört. Er will ein Geständnis, um beinahe jeden Preis.

Der Polizeibericht endete mit umherziehende Jugendbanden und Akte geschlossen / Fall ungelöst.

»Das kommt vor«, erklärt der ermittelnde Kriminalbeamte. »Die Verantwortlichen finden sie nie. Sie ziehen umher, randalieren, verwüsten, verletzen. Und wenn es sich anbietet, stoßen sie eben auch jemanden die Klippen hinunter. Dann verschwinden sie wieder in ihren Löchern. Das gibt es hier in der Gegend eben. Auch früher schon.«

Allan Foster will sich damit keinesfalls zufriedengeben.

»Aber Sie werden doch verstehen, dass mir das nicht ausreicht. Ich will wissen, wer es war und dass man denjenigen vor Gericht bringt. Wer hat meine Frau getötet? Die Mutter meiner Kinder!« Fassungslos und ratlos redet er weiter eindringlich auf den Beamten ein, der den Ordner mit dem beendeten Fall endgültig ins Regal zurückstellen muss. Er fleht den Mann in Uniform beinahe an, der bereits seinen Rechner auf dem Schreibtisch sperrt und sich auf seinen Feierabend freut.

»Mister Foster«, seufzt der Beamte und redet dann weiter: »Wie oft haben wir diese Unterhaltung nun schon geführt? Wie oft habe ich Ihnen schon erklärt, dass wir da nichts mehr machen können? Sollte sich irgendwann ein ähnlicher Fall in der Gegend auftun und wir neue Indizien oder Beweise finden, werden wir auch Ihren Fall wieder aufgreifen. Und vielleicht finden wir ja tatsächlich noch den oder diejenigen, die für den Tod Ihrer Frau verantwortlich sind. Behalten Sie das im Hinterkopf und leben Sie Ihr Leben weiter. Mehr können Sie und ich nicht tun.«

»Mein Leben weiterleben?!« Foster ist aufgebracht und stellt sich dem Kriminalkommissar dicht vors Gesicht.

»Hören Sie überhaupt, was Sie da reden? Meine Frau wurde umgebracht. UM-GE-BRACHT. Wie soll ich einfach weiterleben? Ich stehe morgens auf und mein erster Gedanke ist, dass sie tot ist. Ich gehe abends ins Bett, warte auf den Schlaf und hoffe die ganze Zeit, dass es nur ein Traum ist.« Allan holt kurz Luft und hält sich dabei am Schreibtisch des Polizisten fest. Mit gebrochener Stimme und unter aufkommenden Tränen spricht er weiter.

»Wissen Sie, wie es mir geht? Können Sie sich vorstellen, was aus meinem Leben geworden ist? Das ist kein Leben mehr. Ich finde keinen Frieden, solange ich nicht weiß warum und dass der Schuldige bestraft wird. Ich bin so kaputt.« Der Witwer sinkt zu Boden und klammert sich an das Tischbein des Schreibtisches, seinen Kopf an das kantige Holzstück angelehnt. Seine Beine streckt er völlig erschöpft aus und weint. Kriminalkommissar Bergman gießt ihm ein Glas Wasser ein, reicht es ans Tischbein und klopft Foster auf die Schulter.

»Das wird schon wieder.« Dann verlässt er das Büro, in dem Allan nun allein am Boden kauert.

Allan Foster hat nicht nur seine Zeit und das gesamte Ersparte der Familie für die Suche aufgebraucht, er hat außerdem auf Kontakte zu Freunden und Bekannten verzichtet und seine Kinder meist nur dann wahrgenommen, wenn sie sich am unauffälligsten verhielten. Wenn sie sich selbst vollständig zurückgezogen haben und die Welt um sich herum ausblendeten. Die Familie Foster, die sie einst waren, deren Lachen und Fröhlichkeit in der Straße mit den Reihenhäusern im kleinen ruhigen Stadtteil im Osten von Cardiff so bekannt war, wird von den Nachbarn und Anwohnern vermisst. Selbst der Familienhund scheint die Lethargie der Hausbewohner übernommen zu haben. Und tollt nicht mehr wie aufgezogen über den kleinen Rasen zwischen Haustür und Fußweg an der mäßig befahrenen Straße.

Eine Nachbarin erzählte jüngst, dass sie davon hörte, dass die Kinder sogar ihr Taschengeld zur Verfügung stellen und auf das alljährliche Sommercamp verzichten, das sie in den Ferien immer besucht hatten. Sie wollen so ihrem Vater helfen, damit er weiter nach den vermeintlichen Mördern der Mutter suchen kann. Er arbeitet seit dem Schicksalsurlaub nicht mehr und hat auch keinen einzigen Ausflug mit den Kindern unternommen, noch sich selbst einen entspannenden Moment gegönnt. Nur noch selten sieht man Freunde der Kinder ins Haus kommen. Sie spielen weder vor noch hinter dem Haus und führen den Hund stumm und unaufgeregt zum Gassigehen aus. Nur durch das Viertel bis zum Waldrand und zurück. Innerhalb kurzer Zeit wurde sein Fell an einigen Stellen weiß. Vor allem rund um die Schnauze und die Augen. Die Augen selbst sind inzwischen trüber geworden. Keiner weiß, wie viel er noch sehen kann.

Das Haus der Familie ist stets ein offenes gewesen. Meistens roch es nach frisch gemahlenem Kaffee, schon wenn man den Flur betrat. Oder es wurde gekocht und geredet, und immer viel gelacht. Im Hauseingang türmten sich die Schuhberge, über die man stolperte. Und man musste gekonnt über den Hund steigen, um hineinzugelangen, der seinen Lieblingsplatz als Wachposten direkt im Durchgang zur großen Küche liegend eingenommen hatte. Eine ganz normale Familie. Einmal in der Woche kam die Hausfee. Sie nahm den berufstätigen und in ihren Bereichen sehr engagierten Eltern viel der Hausarbeit ab und hat ein ganz wunderbares Verhältnis zu den Kindern. Mrs. Dean kommt noch immer zur Familie Foster.

Nachdem Allan heute Morgen einen Brief seiner Hausbank dem Briefkasten entnimmt, liest er die emotionslosen und nicht unterschriebenen Zeilen zweimal:

»Sehr geehrter Mister Foster. Wir möchten Ihnen nahelegen, Ihre Recherchen einzustellen oder sich dafür einen Sponsor zu suchen. Sie haben bereits all Ihre finanziellen Sicherheiten aufgebraucht. Die laufenden Rechnungen übersteigen in Kürze Ihre Kreditwürdigkeit. Sie müssen ein monatliches Grundeinkommen nachweisen, damit Sie weiter zahlungsfähig bleiben. Wir bedauern diese Umstände und stehen Ihnen für Rückfragen zur Verfügung«

Wütend zerreißt Foster den Brief und will ihn in seine Hosentasche stopfen, da hört er von drinnen das Telefon läuten. Euphorisch und in Erwartung auf positive Nachrichten zu seinem Fall, lässt er die Papierreste fallen und läuft ins Haus, um ans Telefon zu gehen.

»Ja, bitte?«

»Mister Foster?«

»Ja!«

»Hier ist das Hotel Daily Breakfast. Ihre letzte Hotelrechnung ist zurückgebucht worden. Ist es möglich, dass Sie sie umgehend ausgleichen? Ich müsste Ihnen sonst eine Mahnung zuschicken. Sie können den Betrag einfach überweisen. Soll ich Ihnen unsere Zahlungshinweise durchgeben? Vielleicht lassen Sie auch besser Ihre Kreditkarte prüfen. Damit scheint etwas nicht zu stimmen.« Die Dame am Telefon hält kurz inne, als warte sie auf eine Antwort. Dann spricht sie weiter.

»Bis die Rechnung beglichen ist, müssen wir leider Ihre Buchungen stornieren. Mister Fletcher sollte sich so lange ein anderes Zimmer suchen. Vielleicht in einer Pension im Nachbarort. Da sind sie günstiger. Das verstehen Sie doch, oder? Mister Foster? Sind Sie noch da? Haben Sie verstanden, was ich Ihnen gesagt habe?« Die freundliche Dame von der Hotelrezeption in Irland spricht sehr einfühlsam. Wenngleich sie nichts daran ändern kann, dass Allan nun vollständig bankrott ist.

»In Ordnung. Danke. Ich kümmere mich darum«, erwidert Allan Foster.

»Es tut mir leid. Wenn das alles geregelt ist, heißen wir Sie gern wieder willkommen. Schönen Tag Ihnen. Auf Wiederhören.«

Allan legt auf. Enttäuscht, wieder keine neuen Informationen zu erhalten. Stattdessen gleich zwei Hinweise nacheinander, wie es um seine finanziellen Mittel bestimmt ist. Ihm steht das Wasser bis zum Hals. Mit seiner Hand noch auf dem Telefon, und seinen Blick aus dem Fenster gerichtet, bleibt er wie erstarrt stehen. Er denkt nichts. Alles ist leer. Er atmet nur noch und starrt nach draußen.

»Mister Foster? Ich habe Ihnen die Rechnung für den abgelaufenen Monat mitgebracht. Wir sehen uns dann Montag wieder.« Allan Foster antwortet nicht. Da Mrs. Dean aber eine Reaktion erwartet, fragt sie weiter:

»Mister Foster? Sind Sie anwesend? Geht es Ihnen gut?« Sie fasst ihm auf die Schulter. Foster dreht sich um und blickt auf die Rechnung, die Mrs. Dean in der anderen Hand ihm entgegenhält. Dann nimmt sie die linke von der Schulter.

»Misses Dean, ich muss Sie entlassen. Ich kann Sie nicht weiter beschäftigen. Ich kann Sie nicht mehr bezahlen. Es tut mir leid.« Mit diesen Worten nimmt Allan der älteren Dame die Rechnung aus der Hand und senkt den Kopf.

»Die Kinder werden Sie sehr vermissen.« Ohne Mrs. Dean anzusehen, streckt er ihr seine Hand zum Abschied entgegen. Die gutmütige und sorgende Haushälterin nimmt Fosters Hand zwischen ihre durch die Arbeit gezeichneten und kräftigen Hände und streicht ihm sanft über die Haut.

»Ich werde nicht gehen, Mister Foster. Ich bin nun schon so viele Jahre in Ihrer Familie. Und die letzten zwei Jahre waren die schlimmsten, die Sie und ich bei Ihnen bisher erleben mussten. Aber ich werde so lange bleiben, bis es Ihnen und den Kindern wieder besser geht. Ob Sie mich dafür bezahlen können oder nicht, ist mir ab heute egal. Ich helfe Ihnen.« Mit einem Lächeln und leichtem Druck auf die Hand Fosters unterstreicht sie ihre Worte.

»Ich kann Sie doch jetzt nicht so einfach allein lassen. Hier bricht das Chaos aus. Ich bleibe vor allem für die Kinder, Ihre Kinder. Allan, Sie sind doch im Moment nicht mal in der Lage sich um sich selbst zu kümmern.« Allan schaut sie traurig an. Er nickt leicht zur Bestätigung. Seine Schultern lässt er hängen, den Kopf entmutigt gesenkt.

»Machen Sie sich um mich bitte keine Sorgen, Mister Foster. Mein Mann bezieht eine gute Rente. Und ich fühle mich Ihrer Familie verbunden und verpflichtet. Mir würde doch zu Hause die Decke auf den Kopf fallen und ich würde mich ständig fragen, wie es Ihnen und den Kindern geht. Da kann ich auch herkommen und Ihnen helfen. Wir werden das hier schon wieder hinkriegen. Wir bringen Sie zusammen wieder auf die Beine. Mir würden doch auch die Kinder schrecklich fehlen. Einverstanden?« Foster nickt erneut. Ein zaghaftes Lächeln ziert seine Lippen. Zum ersten Mal seit langem fühlt sich Allan Foster erleichtert. Er ist nicht allein.

»Aber vermutlich werde ich mit den Kindern nach Irland ziehen. Dort kann ich besser recherchieren. Die Bank sitzt mir ohnehin im Nacken.« Mrs. Dean ist erschüttert, als sie das von ihrem Arbeitgeber erfährt.

»Soll das Ihr Ernst sein? Sind Sie denn vollkommen auf den Kopf gefallen? Überlegen Sie doch bitte, was Sie Ihren Kindern damit antun. Zurück an den Ort, dauerhaft, an dem sie all das erleben mussten! Das ist eine ganz besonders bescheidene Idee.« Ihre Körperhaltung signalisiert beinahe Angriff.

»Da müssen Sie unbedingt nochmal drüber schlafen. Für Ihre Kinder wäre das nicht das Beste. Dann werden sie noch wie Sie. Ihre Frau ist tot, daran werden Sie nichts mehr ändern können. Aber Ihren Kindern können Sie ein halbwegs normales Leben ermöglichen, wenn Sie nur endlich aufwachen und nach vorn sehen.« Sie macht eine kleine Pause und atmet einmal tief durch.

»Ich mache uns beiden jetzt einen Kaffee und dann, - ja, ich weiß auch nicht, was dann. Aber ich musste das jetzt loswerden. Tut mir leid, Mister Foster. Ich war und bin immer loyal zu Ihnen. Aber wenn Sie jetzt alles wegwerfen wollen, dann kann ich dabei nicht zusehen. Daher platzte das jetzt so aus mir heraus. Tut mir leid. Also, dass es so direkt und überfallartig aus mir herausplatzte, das tut mir leid. Aber zu meiner Aussage stehe ich. So. Ich gehe jetzt und koche Kaffee.« Mit diesen Worten dreht sich Mrs. Dean um, richtet ihre Strickjacke und geht in die Küche. Sie spricht noch leise und aufgebracht vor sich her. Cernel, der fast den ganzen Tag auf seinem großen dicken Kissen verbringt, direkt mit Blick durch die bodentiefe Fensterfront im Wohnzimmer in den Garten, hebt hellhörig den Kopf. Auch er hatte Mrs. Dean noch nie so energisch erlebt. Nachdem Mrs. Dean aus dem Blickfeld des Hundes entschwunden ist, schaut er sein Herrchen an.

»Ich muss darüber nachdenken«, spricht Allan zu seinem Hund. Dieser erklärt sich einverstanden mit der Aussage und bettet seinen Kopf zurück auf das voluminöse Hundekissen, begleitet von einem tiefen hundischen Seufzen. Als Allan Foster das bekannte Röcheln der Kaffeemaschine aus der Küche vernimmt, macht er sich auf den Weg, mit Mrs. Dean den vorgeschlagenen Versöhnungskaffee zu trinken. Ganz überzeugt ist er von ihrem Plädoyer nicht, wenngleich er in diesem Moment nicht die Energie hat, sich intensiver damit auseinanderzusetzen. So verweilen die beiden gemeinsam in der Küche, schlürfen ihren Kaffee und genießen die Ruhe und den Quasi-Waffenstillstand. Keiner von beiden redet ein Wort. Als beide Tassen im Geschirrspüler verstaut und Küche und Haushalt sauber und ordentlich sind, verabschiedet sich Mrs. Dean bei ihrem Chef mit den Informationen zu anstehenden Terminen.

»Bye, Mister Foster. Bis übermorgen. Ich bringe Kuchen mit. Und mein Mann wird sich Ihren Rasenmäher ansehen. Bitte denken Sie daran, dass der Hund zum Tierarzt muss.« Mrs. Dean verlässt das Haus und ist auch schon gleich um die Ecke verschwunden. Der Hausherr grübelt über seinen Kontoauszügen, als das Telefon klingelt.

»Foster?«, meldet er sich bei Gesprächsannahme.

»Ich bin’s, Ron.«

»Hi Ron, haben Sie etwas Neues herausgefunden? Oder erzählen Sie mir, was mir das Hotel schon mitgeteilt hat?«

»Allan, Sie werden es nicht glauben. Es war reiner Zufall.« Der Detektiv am anderen Ende der Leitung, den Allan beauftragt hat, damit er vor Ort weiter nach den Mördern seiner Frau sucht, und dem Allan vielleicht als Nächstes auch mitteilen wird, dass er das Hotelzimmer räumen und sich eine andere Bleibe suchen muss, die er ebenfalls nicht bezahlen kann, klingt aufgeregt und fast euphorisch. Da gerät die Organisation rund um das Hotel und dessen Bezahlung vorerst in den Hintergrund.

»Ich war kürzlich in einer Buchhandlung hier vor Ort. Ich habe was zum Einschlafen gesucht. Allan, ich bin Tag und Nacht an Ihrem Fall dran. Ich träume schon von Ihrer Frau, obwohl ich sie nie getroffen habe. Da war so ein Taschenbuch.« Es knackt kurz in der Leitung, dann ist da ein Rauschen, gefolgt von einem tiefen Atmen zu hören.

»Ron? Sind Sie noch da? Ron?« Ungeduldig und vor Erwartung will Allan wissen, was Ron Fletcher herausgefunden hat.

»Ron, reden Sie. Was gibt’s Neues?«

»Entschuldigung, Allan, das war mein Inhalator. Das Ganze wühlt mich so auf. Und mein Asthma wird auch nicht besser. In diesem Buch, Foster, das sind Sie! Sie und Ihre Kinder, Ihre Frau und alles. Alles von Ihrer Familie, Ihre Geschichten, Ihre Jobs. Das ist so – surreal.«

»Was meinen Sie damit, meine Familie, meine Frau. Was soll das, Ron?« Der Puls in Allan Foster beginnt zu rasen. Die Adern in seinem Kopf pulsieren wie Hammerschläge, und seine Hände zittern.

»Was reden Sie da?«, will er von dem Mann am Telefon wissen. Allan schnürt es die Kehle zu, sein Mund wird schlagartig trocken. Die Stimmbänder wie gelähmt, versucht er Ron Fletcher erneut zu fragen, ob dieser noch in der Leitung ist. Nach einem weiteren Rauschen erhält er eine Antwort.

»Mister Foster, Allan, hören Sie mir zu! Sie müssen das wissen, Sie müssen alles davon wissen. Es ist so unglaublich.«

Als Foster wieder bei Stimme ist, krächzt er wie geistesabwesend durch den Hörer ins noble irische Hotelzimmer, das Ron Fletcher seit Monaten bewohnt, finanziert von einem verzweifelten Ehemann, Witwer, am Ende seiner Kräfte:

»Unglaublich also?! Ron, ich kann Sie nicht mehr bezahlen. Weder das Hotelzimmer noch ihre Aufwände. Ich bin bankrott. Wahrscheinlich muss ich sogar mein Haus verkaufen. Ich habe Angst, dass, wenn ich mir jetzt anhöre, was Sie mir erzählen werden, es für mich noch viel schlimmer wird. Weil wir nicht weitermachen können. Weil wir aufhören müssen, zu suchen, obwohl ich nicht aufhören will. Es ist furchtbar. Es ist«, Allan hält kurz inne: »Folter.«

»Allan, mir war klar, dass das irgendwann so kommen musste. Es tut mir leid, dass ich nicht mehr für Sie tun konnte. Lassen Sie mich Ihnen das Buch zusenden. Lesen Sie es. Machen Sie sich selbst einen Reim darauf. Wenn Sie meine Hilfe brauchen, kennen Sie meine Nummer. Und meine Konditionen kennen Sie ebenfalls. Sie kriegen ja ohnehin schon Freundschaftspreise. Ich wünsche Ihnen alles Gute. Und leben Sie, Allan Foster!«

»Danke, Ron. Ich weiß das zu schätzen.« Mit belegter Stimme und einem Seufzer wartet Allan noch auf ein Good Bye von Ron Fletcher. Doch stattdessen:

»Warten Sie! Das noch: Ich habe bereits versucht, etwas über den Autor herauszufinden. Aber viel gibt’s da nicht. Ich habe noch ein paar Freunde, einflussreiche Freunde, die mir einen Gefallen schulden. Den würde ich für Sie nutzen. Sie sind ein armer Kerl, Foster. Die letzte Hotelrechnung geht auf mich. In meiner Detektiv-Karriere habe ich bisher jeden Fall lösen können, dieser wird nun wohl ein Makel in meiner Referenzliste. Wenn ich was höre, melde ich mich bei Ihnen. Wenn nicht, geben Sie es endgültig auf. Machen Sie’s gut, Allan.« Das Klacken in der Leitung als Signal, dass Fletcher die Verbindung getrennt hat, ertönt, bevor Allan ein Auf Wiederhören erwidern kann. Noch grübelt der Witwer über die Worte des Detektivs, was er mit einem Buch und einem Autor gemeint haben könnte, da treffen seine Kinder zu Hause ein.

Einer der wenigen Momente des Tages, an denen der Familienhund etwas mehr Aktivität zeigt und sich freudig von seinem Kissen erhebt. Nahezu stürmisch läuft er schwanzwedelnd auf die Kinder zu, um sie zu begrüßen. Beide Kinder umarmen gleichzeitig und voller Freude das haarige Gewusel. David amüsiert sich jedes Mal aufs Neue darüber, dass Cernel ihm das Gesicht abschleckt. Für den Vater ist es beruhigend, seine Kinder so freudig und ausgelassen zu sehen. Für diesen Moment empfinden sie Leichtigkeit unter all der Last.

»Hey Dad«, begrüßt David seinen Vater.

»Hey Daddy«, schließt sich auch Charlie an, die eigentlich Charleen heißt, aber von allen nur Charlie gerufen wird.

»Zieht bitte die Schuhe aus, bevor ihr weitergeht!« Mit einer Hand winkt er kurz, um die Begrüßung seiner Kinder zu erwidern.

»Misses Dean ist gerade erst fertig geworden. Bitte.« Aufgefordert, trennen sich die Kinder von ihren Schuhen und lassen diese kreuz und quer verteilt im Eingangsbereich liegen. Der Hund, der das Chaos wahrgenommen hat, beginnt sogleich mit seiner Schnauze jeden einzelnen Schuh in Richtung Garderobe zu schieben. Nachdem alle vier Schuhe aus dem Weg geräumt sind, springt er den Kindern hinterher in die Küche und setzt sich direkt unter die Tür des geöffneten Kühlschranks, aus dem sich David etwas zu trinken holt. In freudiger Erwartung, dass für ihn bestimmt auch ein kleiner Leckerbissen abfällt, wartet er.

David trinkt ein Glas Saft und beißt in ein Stück Tiger-Schnitzel, das vom Vortag übriggeblieben ist. Der Hund, noch immer ungeduldig auf eine Beteiligung an der Nahrungsaufnahme hoffend, starrt wie besessen in Richtung Fleisch. Charlie hingegen kann sich das Schauspiel nicht länger ansehen. Sie öffnet den Kühlschrank, reicht Cernel ihren Anteil und setzt sich zurück an den Tisch. Schmatzend und glücklich liegt der Hund unter dem Küchentisch und gibt nun Ruhe.

»Dad, du glaubst nicht, was heute passiert ist.« David wedelt aufgeregt, ob der spektakulären Nachricht, mit seinen Armen und Händen.

»Ich spiele am Wochenende in der Mannschaft. Ich werde als Zuspieler eingesetzt. Und ich muss richtig gute Pässe spielen, dann darf ich bestimmt öfter ins Team. Ist das nicht großartig?« Allan freut sich mit seinem Sohn und kann ihm immerhin ein freundliches Lächeln und Nicken entgegnen.

»Kommst du zuschauen, Dad? Bitte!«

»Moment mal. Was ist mit dem Auftritt meiner Tanzgruppe? Das war viel länger geplant. Wir haben doch den neuen Tanz einstudiert. Da musst du hinkommen!« Die Tochter fordert nun ebenfalls die Aufmerksamkeit ihres Vaters ein.

»Keine Streitereien«, versucht Allan Foster die Situation zu schlichten. »Der eine macht Sport, die andere tanzt. Ich freue mich für euch beide. Mal sehen, wie wir das koordiniert kriegen. Wann ist denn was? Und wo müsst ihr hin? Und brauchen wir dafür noch irgendetwas?« Alle drei gehen gemeinsam auf die Terrasse, während beide Kinder versuchen, den Kopf ihres Vaters mit den Notwendigkeiten für ihre Aktivitäten und den Geschehnissen des Tages zu fluten.

Kapitel 3 - gelesen

Es ist Samstagmorgen und Allan geht im Morgenmantel zum Briefkasten. Im Haus herrscht bereits wildes Treiben. Charlie hämmert wie wild gegen die Badezimmertür des oberen Stockwerkes. David hat die Tür verschlossen, sodass Charlie, obwohl sich die Kinder dieses Bad teilen, keinen Zutritt erlangt. Das geht schon ein paar Monate so und macht Charlie wahnsinnig. Mit ihren sechs Jahren ist sie, ihrer Meinung nach, groß, fast schon erwachsen. Warum also sollte sie David, neun Jahre alt, nicht ins Bad lassen, wenn er ebenfalls darin ist. Ungeheuerlich und überhaupt nicht erwachsen, beschwerte sie sich bereits bei ihrem Vater. Mrs. Dean ist heute Morgen extra hergekommen, um für die Familie Frühstück zuzubereiten. Alle drei sollen rechtzeitig und keinesfalls mit leerem Magen aus dem Haus und zu ihren Veranstaltungen gehen können.

»Charlie, mach bitte nicht so einen Lärm. Wenn du die Tür einschlägst, ist keiner von euch glücklich.« Mrs. Dean mag es gar nicht, wenn im Haus geschrien und gepoltert wird.

»Aber Dave blockiert schon wieder das Bad, Misses Dean. Ich muss mich fürs Tanzen fertig machen. Er kommt einfach nicht raus.« Charlie wirkt verzweifelt und hat bereits kleine Tränen in den Augen, die sanft im Licht des oberen Korridors funkeln.

»Dann gehe bitte ins Masterbad. Aber beeil dich, die Pfannkuchen sind gleich fertig!« Als die Kinder dann endlich am Frühstückstisch sitzen:

»Ihr müsst lernen, euch zu arrangieren. Ihr habt ein eigenes Bad. Nur für euch Kinder. Das muss genügen. Zu meiner Zeit gab es nicht mal ein Bad. Als ich Kind war, gingen wir in den Hof. Dort stand eine Pumpe, und mit der Hand und purer Muskelkraft holten wir uns das Wasser nach oben. Und das Wasser war kalt. Wir pumpten nicht nur für uns Wasser, sondern auch gleich noch für unsere Tiere. Gewaschen haben wir uns direkt daneben. Egal bei welchem Wetter. Also meine lieben Kinder, ich glaube, ihr versteht, was ich euch damit sagen will. Und hört mit diesem Lärm auf. Meine alten Ohren sind dafür nicht mehr gemacht.« Mit diesem Ausflug in die Kindheit von Mrs. Dean wandern je zwei frische, warme Pfannkuchen auf die Teller der Kinder und drei auf den Teller ihres Arbeitgebers.

»Allan? Ihr Frühstück.« Sie bittet rufend auch ihn, Platz zu nehmen und gießt daraufhin einen frischen, heißen Kaffee in seine Tasse. Allan Foster lässt den Briefkasten hinter sich und kommt mit einem kleinen hellbraunen Päckchen zurück ins Haus. Auf den paar Schritten durch die Eingangstür bis in die Küche wickelt er das Päckchen aus und entnimmt etwas, das wie ein eingeschlagenes Buch aussieht. Er betrachtet es von allen Seiten und steckt es zunächst in die Tasche seines Morgenmantels. Dann setzt er sich an den Küchentisch. Es duftet herrlich, und der Kaffee tut ihm gut. Nach wie vor schläft er kaum. Zu viele Gedanken wandern nachts durch seinen Kopf.

Die Atmosphäre am Küchentisch wirkt oberflächlich entspannt. Allan scheint anwesend, aber doch tief in Gedanken. David und Charlie vernichten die Pfannkuchen, als hätten sie seit Tagen nichts gegessen. Der Sirup rinnt ihnen zwischen den Fingern hindurch und tropft auf ihre Teller. David fährt mit seiner Handfläche über den Teller, um den Sirup aufzunehmen und anschließend mit der ganzen Zunge selbigen von seiner Hand abzulecken. Mrs. Dean muss beim Anblick schmunzeln. Foster denkt immer wieder an den Inhalt seiner Manteltasche. Warum schickt Fletcher ihm ein Buch? Für den Moment erinnert er sich nicht an das, worüber sie am Telefon gesprochen haben. Nur daran, dass er auch auf die Dienste des Detektivs ab sofort verzichten muss. Erst später fällt es ihm wieder ein.

Als das Frühstück beendet und die Küche aufgeräumt und gereinigt ist, natürlich mussten die Kinder Mrs. Dean dabei zur Hand gehen, verlassen alle vier das Haus der Fosters und begeben sich jeder auf seinen Weg. Mrs. Dean kehrt heim zu ihrem Mann in Vorfreude auf das gemeinsame Wochenende. Die drei Fosters steuern als erstes Ziel das Schultheater an, in dem Charleen ihren Tanzauftritt haben wird. Sobald die Aufführung vorbei ist, fahren sie weiter zum Volleyballspiel, wo David sich beweisen möchte. Sein Ziel – so gut sein, dass er endlich fest zum Wettkampf-Team gehört. Dann ist er automatisch dabei, wenn Punkt-Spiele anstehen. Neben den sechs in der Startaufstellung sind immer mindestens vier weitere Spieler zum Auswechseln eingeplant. Er wäre einer davon. Und so seinem großen Wunsch einen Schritt näher – Stammspieler zu sein.

Vom Eintreffen in Charlies Schule bis zum Beginn des Auftritts vergehen ungefähr 45 Minuten. Umziehen, schminken, letzte Anweisungen der Tanztrainerin nehmen nicht nur Zeit, sondern auch die Geduld und Nervenstärke der kleinen Tänzer voll in Anspruch. David sitzt im Publikum gleich neben seinem Vater in der zweiten Reihe und das, was aus seinen Kopfhörern zu seinen Ohren dringt, lässt ihn mit beiden Händen auf seinen Oberschenkeln im Takt klopfen. Allan hingegen liest. Er liest in einem Buch, das er an diesem Morgen aus seinem Briefkasten geholt hat. Zugesandt von Ron Fletcher, dem Detektiv, den er nicht mehr bezahlen kann. Wird trotzdem jemals jemand herausfinden, wer seine Frau auf dem Gewissen hat? Immer wieder geht Allan genau das durch den Kopf. Auch hier in der Schule seiner Tochter. Kurz vor der Aufführung ihres lange einstudierten Tanzes. Doch er kann sich nicht von dem Buch lösen. Er liest und liest. Fliegt über die Zeilen und blättert. Dabei müsste er sich doch eigentlich auf das Hier und Jetzt seiner Kinder konzentrieren. Er reagiert auch nicht, als sein Sohn ihn fragt, wann es denn endlich losgeht. Er nimmt nicht wahr, dass andere Eltern aus der Klasse seiner Tochter ihn begrüßen wollen. Er hört nicht, dass erste Durchsagen zu weiteren Terminen der Tanzgruppe und Benefizveranstaltungen der Schule erfolgen. Allan liest und kann nicht aufhören.

Durch einen Stoß gegen seinen Arm, mit dem ihm David signalisiert, dass die Aufführung beginnt, wird Allan aus seiner Versenkung gerissen und klappt das Buch reflexartig zu. Dann blickt er auf die Bühne und klatscht an den Stellen, an denen auch die anderen im Publikum klatschen. Er sieht Charleen, wie sie vor Stolz strahlt. Wie die kleine Tänzerin mit all ihrem Ausdruck die Bewegung grazil und erwachsen auszuformen versucht und die wenigen kleinen Wackler mit Stirnrunzeln stumm kommentiert. Doch sein Kopf steckt währenddessen noch immer in dem Buch, das er wieder in seiner Jackentasche verstaut hat. Und zu dessen Inhalt er so schnell wie möglich zurückkehren möchte. So vertraut und so unfassbar deckungsgleich bekannt erscheint ihm die Geschichte.

Schon sind die drei wieder im Auto auf dem Weg zur nächsten Etappe dieses Samstags. Es geht zu Davids Spiel. Auch hier vergeht einiges an Zeit zwischen Ankunft und Anpfiff und Allan würde nur zu gern diese Zeit zum Lesen nutzen. Doch Charleen hat weder Kopfhörer noch Smartphone dabei, mit dem sie sich ablenken könnte. Also muss Allan sich mit ihr beschäftigen. Keine Zeit zum Lesen. Stattdessen Rate mal, was du nicht siehst. Welche Farbe haben die Trikots der Gegner? Welcher Junge und welche Frisur der Spieler gefallen Charlie am besten? Und so weiter. Was es eben braucht, um eine Sechsjährige auf den Zuschauerbänken einer Schulturnhalle auf dem Sitz zu halten. Während die Cheerleader tanzen und den Zuschauern einheizen, damit sie ordentlich Stimmung machen, versucht das kleine Mädchen ihre Bewegungen im Sitzen nachzuahmen.

»Ich möchte auch mal Cheerleader werden, Daddy.«

»Warum nicht mein Schatz? Du tanzt sehr gut, wie ich finde. Und wenn du größer bist und ich mich dazu durchringen kann, dass mein kleines Mädchen bauchfreie Trikots trägt, kannst du es ausprobieren. Es wäre doch toll, wenn du deinen Bruder bei seinen Spielen begleiten könntest.« Charlie sieht ihren Vater an und strahlt. Dann schenkt sie ihm eine Umarmung.

»Ich hab’ dich lieb, Daddy.« Allan gibt ihr einen Kuss auf die Haare: »Ich dich auch, Süße« und atmet tief durch.

Das Spiel hat Davids Mannschaft gewonnen. Knapp im Tiebreak, aber gewonnen. Der Trainer hat ihn gelobt, wenngleich auch der eine oder andere Pass nicht wie gewünscht erfolgte und David vor Aufregung auch zweimal das Netz berührt hat. Sein Einsatz war gut, und der Trainer stellt ihm in Aussicht, dass er ihn zum nächsten Spiel wieder aufstellen wird. Motiviert und glücklich wird er in der nächsten Woche das Training besuchen.

Die Gespräche beim Abendessen sind geprägt von den Eindrücken des Tages. Die drei reden viel, und gerade die Kinder lassen alles noch einmal bis ins kleinste Detail Revue passieren. Nach dem Essen und nachdem die Kinder den Tisch abgeräumt haben und in ihre Zimmer verschwunden sind, kann sich Allan endlich wieder dem Buch widmen.

»Als ich Allan kennenlernte, war ich gerade 21 Jahre alt geworden. Wir trafen uns auf einer Universitätsveranstaltung. Ich war mit einer Kommilitonin da, er mit einem Freund. Anscheinend hatten wir alle vier keine Lust auf Tanzen und fanden uns an der Bar. Der Abend verlief sehr gesellig, und Allan und ich verabredeten uns für den darauffolgenden Samstag zu einem Theaterbesuch auf dem Campus.«

Allan ist überrascht. Spielt ihm sein Unterbewusstsein gerade einen Streich? Er liest den Abschnitt erneut:

»Als ich Allan kennenlernte, war ich gerade 21 Jahre alt geworden. Wir trafen uns auf einer Universitätsveranstaltung. Ich war mit einer Kommilitonin da, er mit einem Freund. Anscheinend hatten wir alle vier keine Lust auf Tanzen und fanden uns an der Bar. Der Abend verlief sehr gesellig, und Allan und ich verabredeten uns für den darauffolgenden Samstag zu einem Theaterbesuch auf dem Campus.«

Er hat den Abend genau vor Augen. Er erinnert sich an den Saal, die festliche Stimmung, die Liveband, die an diesem Abend dreimal Papa don’t preach von Madonna und Boys don’t cry von The Cure spielte. Dazu tanzten viele ihrer Mitstudenten, aber seinem Freund Peter und ihm war so gar nicht nach Tanzen. Sie entschlossen sich relativ früh schon lieber an der Bar zu verweilen und ihre Gespräche über die Weltpolitik fortzusetzen. Doch dazu kamen sie nicht wirklich, da bereits wenige Minuten später zwei Studentinnen an die Bar kamen und aufgrund des langsam agierenden Kellners auch der Gesprächsstoff zwischen den vier Nicht-Tänzern nicht lange auf sich warten ließ. Als sie die zweite Runde Getränke bestellten – Allan übernahm kurzerhand die Rechnung dafür – setzten sie sich gemeinsam an einen der freien Tische am Rand des Saales. Dort war die Musik nicht ganz so laut, sodass sie sich wunderbar miteinander unterhalten konnten. Die eine der beiden jungen Frauen gefiel ihm ganz besonders gut. Mit ihrem Lächeln und ihrer offenen Art hatte sie ihn direkt begeistert. Ihr Name war Elizabeth. Sie verabredeten sich für den folgenden Samstag zu einem Theaterbesuch auf dem Universitäts-Campus.

Allan schlägt das Buch zu und wirft es auf das Sofa neben sich. Er geht in die Küche und dreht den Hahn auf, um sich ein Glas Wasser zu füllen. Ohne abzusetzen, trinkt er das Glas leer und schaut danach hinüber zum Sofa. Das Buch liegt noch da. Seinen Blick aus dem Küchenfenster gerichtet, schaut er ins Dunkel der Nacht. Nicht einmal der Mond ist heute zu sehen. Den Weg in sein Schlafzimmer nimmt er direkt. Keinesfalls will er in die Nähe des Sofas kommen. Es ist, als verfolge ihn der