Die Frau, die den Himmel eroberte - Vanessa Giese - E-Book
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Die Frau, die den Himmel eroberte E-Book

Vanessa Giese

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Beschreibung

Frankfurt am Main, 1889: Als die junge Näherin Käthe erstmals dabei zusieht, wie ein Ballonfahrer in den Himmel aufsteigt, ist sie gebannt. Kurz darauf fällt ihr der Luftschiffer Hermann Lattemann buchstäblich vor die Füße. Sie nimmt ihr Schicksal in die Hand, beginnt, für ihn zu arbeiten, sie verlieben sich – und schnell genügt es ihr nicht mehr, nur seine Ballons zu flicken: Sie will selbst hinauf und die Freiheit des Himmels spüren. Gemeinsam steigen Käthe und Hermann auf – und springen mit dem Fallschirm ab. Doch bald darauf kommt Hermann ums Leben, und Käthe ist auf sich allein gestellt. Sie setzt alles daran, als Luftfahrerin Ruhm zu erlangen, und auch, einen Fallschirm zu entwickeln, der Hermanns Leben hätte retten können.

Aus der unbedeutenden Näherin wird die Luftfahrtpionierin, Erfinderin und Unternehmerin Katharina Paulus. Eine Hommage an Freiheit und Selbstbestimmung, ein fulminanter Roman über eine kühne Frau, die ihrer Zeit weit voraus war.

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Seitenzahl: 485

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Titel

Vanessa Giese

Die Frau, die den Himmel eroberte

Roman

Insel Verlag

Impressum

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eBook Insel Verlag Berlin 2023

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2021.

Erste Auflage 2023insel taschenbuch 4961© Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2021

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: Designbüro Lübbeke, Naumann, Thoben, Köln

Umschlagabbildung: Käthe Paulus, um 1890, Foto: akg-images, Berlin

eISBN 978-3-458-77059-6

www.suhrkamp.de

Die Frau, die den Himmel eroberte

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Prolog

Teil

1

Reinickendorf

Wie alles begann

Reinickendorf

Vertrautheiten

Reinickendorf

Ein erstes und ein letztes Mal

Teil

2

Reinickendorf

Ein Entschluss

Reinickendorf

Miss Polly

Reinickendorf

Berlin

Teil

3

Motorflugstunden

Reinickendorf

Krieg

Reinickendorf

Hunger

Reinickendorf

Nach dem Krieg

Reinickendorf

Nachwort

Danksagung

Informationen zum Buch

Prolog

Hier oben bin ich mir am nächsten. Was ich denke, was ich fühle, es fügt sich alles zu einem Ganzen, wenn ich in der Luft bin. Der Korb ist mir eine Heimat, mehr als jede meiner Wohnungen es je war.

Es war lange an der Zeit, die letzte Auffahrt anzutreten. Es ist eine Reise ohne Passagiere und ohne Publikum. Die Luft ist kühl in der Höhe, nicht zu vergleichen mit der Hitze Berlins. Der Ballon gleitet lautlos. Ich sehe über den Korbrand hinab, erkenne das Hallesche Tor, den Tiergarten. Häuserblöcke reihen sich aneinander und ineinander, wie Schachteln sind sie gestapelt. Die Wahrzeichen der Stadt, die herrschaftlichen Bauten, die Schlösser und Boulevards, das Tor und die Säulen hingegen sind aus der Luft kaum zu erkennen.

Das hat mich immer am meisten fasziniert: Was unten von Bedeutung ist, ist hier oben ohne Belang. Stattdessen gibt mir die Welt ihre Persönlichkeit preis, entblößen sich Städte und Landschaften und zeigen mir ihre Seele. Wer die Welt einmal von oben gesehen hat, kehrt nie wieder in dieselbe zurück. Vor dem Aufstieg denkt man, man sei ein Wissender, man steigt in den Himmel hinauf und entdeckt plötzlich die Zusammenhänge des Lebens, in denen wir schlafen und erwachen, lieben und sterben. Als Suchender kehrt man auf die Erde zurück und ist fortan immer im Verlangen nach dem vollständigen Bild, nach dem Woher und dem Wohin. Nicht nur die Welt ist nach einer Fahrt in meinem Korb eine andere, auch der Mensch.

Die Stadt ist ein gefräßiger Moloch, der Dörfer, Wälder und Seelen verschlingt. Sie breitet sich unter mir aus mit all ihrem Gestank, mit dem Geruch von Werkshallen und Hinterhöfen, Schweiß und Fäkalien, der schwer zwischen den Häusern liegt. Hier oben jedoch, im klaren Himmel, bin ich frei von den Ausdünstungen und frei von der Begrenztheit.

Bevor ich der Freiheit begegnete, dachte ich, wenn ich ihr gegenüberstünde, würde sie mich blenden und erleuchten, gleich einer Offenbarung. Tatsächlich aber schlich sie langsam in mein Leben, leise wie ein aufsteigender Ballon. Ebenso das Gefühl, die Kontrolle über das Leben zu haben. Auch das spüre ich hier oben mehr als an jedem anderen Ort. Dabei ist es paradox: Nirgendwo sonst als in der Luft bin ich ausgelieferter – dem Wetter, den Vögeln, den Strömungen. Gleichzeitig habe ich, an diesem Platz unter dem Ballon, die größte Kontrolle, die ein Mensch haben kann: Ich könnte mein Leben jederzeit freudvoll beenden. Ein schwungvolles Abstoßen vom Rand des Korbes, und ich falle hinab. Die Möglichkeit, jederzeit sterben zu können, hat mir viele Male das Leben gerettet.

Wir alle gelangen im Leben an den Punkt, an dem plötzlich nicht mehr alles möglich ist, an dem es an der Zeit ist, Abschied zu nehmen von Träumen, von Plänen und von den Taten der Vergangenheit. Dennoch ist es nicht vorbei. Es ist niemals vorbei, nicht einmal im Angesicht des Endes.

Teil1

Reinickendorf

Mein Schlafzimmer geht auf den Hof hinaus und liegt, obwohl es Juli ist und draußen der Sommer die Straßen erhitzt, ab dem späten Vormittag im Schatten. Lediglich morgens streift das Sonnenlicht mein Bett, bevor es tagsüber ums Haus wandert. Bisher hat mich das nicht gestört. Nun aber, da ich ausschließlich in diesem Raum lebe, drückt es mir aufs Gemüt. Hinzu kommen die Schmerzen, die meinen Körper bis ins Innerste beherrschen, die mal bohren, mal hämmern, mal hell in meine Knochen schneiden, anderntags dumpf meine Gedärme durchwühlen. Mein Körper löst sich auf, meine Kräfte schwinden. Ich wünschte, das Dämmerlicht des Zimmers würde mich in sich aufnehmen und forttragen in eine Welt jenseits des Verstandes. Doch stattdessen schlage ich jeden Morgen von Neuem die Augen auf, kaltschweißig und mit kurzem Atem, weil ich die Schmerzen nicht mehr wegträumen kann.

Als ich heute Morgen erwachte, sah ich klar und hell die Staubkörner im Sonnenlicht tanzen. Der Kleiderschrank, sonst nur ein Schemen, der unter meiner Pein rhythmisch pulsierte, war ein fester Korpus. Ich schnaufte tief und verspürte keinen Schmerz. Ich drehte den Kopf zum Fenster und fühlte keinen Schwindel. Für den Gesunden ist es selbstverständlich zu atmen, zu sehen, Appetit zu haben; Fähigkeiten, die nichts bedeuten, solange sie nur Beiwerk zum Dasein sind und nicht das Dasein selbst. Ich jedoch fühlte eine Welle der Euphorie, stemmte meine Ellbogen in die Matratze und setzte mich auf.

Ich besitze nichts mehr, und doch bin ich reicher als jemals zuvor. Denn niemals war ich mehr ich selbst als jetzt, während mein Leben sich dem Ende zuneigt. Viele Jahre lang bin ich über den Kontinent gereist, bin in den Himmel emporgestiegen und wieder hinabgefallen. Aber ich bin immer nur auf der Erde gelandet, nie bei mir selbst. Erst jetzt, nachdem ich seit Monaten meine Wohnung nicht verlassen habe, erreiche ich, was mir lange verwehrt blieb: Frieden und Einklang mit mir selbst.

Träumen – meine liebste Beschäftigung in diesen Tagen. Seit einigen Wochen passiert es mir immer öfter, dass Stunden mir vorkommen wie Minuten. Wer mich sieht, mag denken, ich vegetiere. Tatsächlich befinde ich mich in einer Zwischenwelt, die nicht dem Leben und nicht dem Tod gehört; ein Vorhandensein, in dem Zeit und Raum nichts bedeuten und in dem mein Träumen ein neues, altes Leben für mich erschafft. Meine Vergangenheit ist mein Hier und Jetzt.

Damals, als ich zur Welt kam, und später, als meine Mutter einen Mann heiratete, der zunächst nicht mein Vater war, es dann aber wurde, wohnten wir noch nicht in Berlin, wo ich nun auf dem Sterbebett liege. Wir lebten an unterschiedlichen Adressen in Darmstadt und Frankfurt am Main. Für mich war der Ort einerlei und auch die Umzüge machten mir wenig aus: Ich nahm die Gegebenheiten, wie sie waren, und machte das Beste daraus. Das gilt auch für die übrigen Umstände. Denn wir waren arm. Mein Vater verdingte sich als Tagelöhner, meine Mutter übte ebenfalls verschiedene Tätigkeiten aus, um etwas Geld zu verdienen. Sie nahm mich oft in den Arm, wenn wir abends im Bett lagen und wenn die Glut im Herd erloschen war, und drückte mich an sich. Wenn wir Spaziergänge machten, ritt ich auf den Schultern meines Vaters.

Vater lehrte mich, dass Freiheit zuallererst ein Gefühl ist; etwas, das aus einem selbst heraus erwächst. Unbeschwert machte ich mir die Welt zu eigen. Wenn ich tagsüber allein war, streunte ich durch die Straßen und Höfe und spielte mit Kameradinnen. Wir sprangen Seil oder hopsten durch Reifen und Kästchen. In meiner Fantasie war ich erst eine furchtlose Reiterin, später eine berühmte Artistin. Ich jagte durch Höfe, über Wiesen und Mauern, ich turnte auf Bäumen und spannte mir Hochseile. Einmal überraschte Mutter mich, als ich mich, barfuß und mit gerafften Röcken, auf einen Strick hinaufzog, den ich zwischen zwei Teppichstangen geknotet hatte. Ich wollte es den Tänzerinnen in ihren gerüschten Kostümen nachtun, die in Manegen und auf Jahrmärkten auftraten. Mutter packte mich am Fuß und wies mich an, sofort zurück auf den Boden zu springen – weder sei ich ein Vogel noch auf besondere Weise von Gott gesegnet. Sie sollte sich irren. Doch zunächst bekam ich eine Woche Stubenarrest.

In der Volksschule lernte ich eifrig. Das Zusammensetzen von Buchstaben und Zahlen bereitete mir Freude. Im Anschluss begann ich eine Ausbildung als Schneiderin in einer Werkstatt für feine Damenbekleidung. Das war ein neuer Lebensabschnitt, nicht nur, was den Tagesablauf anging, sondern auch, was meine Idee von der Welt betraf. Mit einem Mal war ich eine Frau, die aufrecht zu sitzen und untertänig ihren Dienst zu verrichten hatte. Es war verboten, Fragen zu stellen, die nichts mit meinen Aufgaben zu tun hatten. Warum lagerte der Lehrherr die Stoffe nicht nach Farben oder Mustern? Wieso entwarf er keine eigenen Schnitte, sondern folgte nur bestehenden, bereits Jahre alten Vorlagen? Ich wurde über Wochen täglich zurechtgewiesen, nicht so frech und vorlaut zu sein, bis ich begriff, was von mir erwartet wurde: arbeiten und still zu sein, sonst nichts.

In der Lehre gab es noch eine zweite Sache, die für mich neu war: der Umgang mit wohlhabenden Kundinnen. Denn in meinem Leben existierten Wohlhabende bisher so, wie es Bäume und Steine gab: Sie waren vorhanden, aber sie stellten eine andere Lebensform dar, etwas, das neben mir existierte, aber mit meinem Dasein nichts gemein hatte. Jetzt aber erlebte ich sie als Teil meines Lebens. Ich nähte Blusen und Röcke, Kleider, Mieder und Korsagen für Kundinnen, die sich, selbst wenn sie meine Dienste wiederkehrend in Anspruch nahmen, nur selten an meinen Namen erinnerten. Zwölf Stunden am Tag saß ich bei spärlicher Beleuchtung über Stoffe gebeugt auf einem Schemel und mühte mich ab für feine Damen, die mich keines Blickes würdigten und denen ich nichts bedeutete. Trotz allen Widerwillens und obwohl der Inhaber des Geschäfts mich fortwährend triezte und wegen Nichtigkeiten ermahnte, war ich fleißig. Bis ich eines Tages meinen Dienst bei ihm quittierte.

Die Begegnung, die mich zur Kündigung veranlasste und mein Leben in eine andere Richtung lenkte, ist der Anfang der Geschichte, die ich nun, da ich überraschend wieder zu Kräften gekommen bin, erzählen möchte. Meine liebe Freundin Hanna wird mich besuchen, und ich bin begierig, ihr meine Geschichten zu überlassen. Sie ist eine junge Fliegerin, wilder, als ich es damals war, und sie hat mich zu ihrem Idol auserkoren. Vor vier Wochen erhielt ich einen Brief von ihr:

Geschätztes Fräulein Paulus,

Ende Mai, nach meiner Reise nach Lissabon, werde ich für einen Zeitraum von rund zwei Wochen in Berlin weilen und meine einstigen Kameraden vom Flugplatz Staaken besuchen. Es wäre mir eine außerordentliche Freude, Sie zu sehen und mich mit Ihnen bei einer Tasse Kaffee über das Leben auszutauschen.

Das Schreiben ging noch weiter. Aber ich erinnere keine Einzelheiten. Mein Gedächtnis verlässt mich mittlerweile bei Kleinigkeiten des Alltags. Während ich Daten und Begebenheiten der Vergangenheit fehlerfrei wiedergeben kann, begegnen mir die Informationen der Gegenwart kurz und verschwinden dann.

»Fräulein Paulus, Sie sind ansprechbar!«, ruft Hanna nun, während sie ins Zimmer stürmt. Sie ist ein reizendes junges Ding von gerade einmal einem Meter fünfundfünfzig und doch mutig wie ein Soldat. Mit energischem Schwung legt sie einen Strauß Wildblumen auf das Fußende meines Bettes. »Man sagte mir, ich müsse Glück haben, um Sie wach anzutreffen. Aber dass es so schwierig ist!«

Ich versuche, mich aufzusetzen. Meine Arme zittern, aber mich hat der Ehrgeiz gepackt zu erzählen. Seltsam, welche Distanz das Alter zwischen die unterschiedlichen Varianten des Ichs schiebt. Es ist, als schaue ich auf die Abenteuer einer anderen. Oder ist es nicht das Leben, sondern vielmehr der Tod, der mir den notwendigen Abstand zu mir selbst gewährt?

Mit belegter Stimme frage ich Hanna: »Waren Sie in den letzten Tagen schon einmal hier?«

»Schon einmal?« Sie hat eine Vase gefunden und steckt die Blumen hinein. »Ich habe in den vergangenen Tagen viermal versucht, Sie wach anzutreffen. Aber Sie haben immer geschlafen, als ich vorbeischaute. Bald reise ich schon wieder zurück nach Darmstadt. Die Arbeit ruft.«

»Gehen Sie wieder auf eine Expedition?«

»Ich werde ein Wasserflugzeug testen. Ich bin doch jetzt als Einfliegerin am Deutschen Institut für Segelflug. Ich hatte es Ihnen geschrieben.« Sie hält inne. »Entschuldigen Sie bitte. Das sollte nicht vorwurfsvoll klingen.«

»Ich bin verwirrt. Waren Sie nicht zuletzt in Südamerika?« Soweit ich mich erinnere, hat Hanna, nachdem sie als erste Frau den Rekord im Segelfliegen aufgestellt hat, eine Expedition auf den südlichen amerikanischen Kontinent unternommen, um … ja, warum doch gleich? Ich muss bereits umnachtet sein.

»Das ist schon ein Jahr her. Seither bin ich in Griesheim. Ich erprobe Motorflugzeuge und Segelkisten. Wenn es einen Absturz gab, bin ich zur Stelle und teste, woran es gelegen hat.« Sie legt ihre Handtasche auf mein Nachtschränkchen. »Es gibt ständig Neuerungen. Die Konstruktionen werden immer komplexer. Ich wünschte, Sie könnten sich das einmal ansehen – wie ich die Flugkisten zum ersten Mal nach oben bringe und nach Fehlern in der Maschine suche. Es kann so vieles zum Absturz führen, selbst wenn die Konstruktion wohlbedacht ist! Ich taste mich schrittweise an die brenzligen Situationen heran. Es ist aufregend, und ich muss sehr konzentriert sein. Haben Sie auch die Erfahrung gemacht, dass derjenige das Fliegen am besten erlernt, der versteht, sich gut zu konzentrieren?«

Sie plappert in einem fort. Während sie spricht, gestikuliert sie ausufernd. Das Aufsteigen ihrer Flugkiste untermalt sie mit Schwüngen ihres Unterarms, und wenn sie vom Ziehen der Seilwinde spricht, ballt sie eine Faust und bewegt ruckartig die Hand. Ich erkenne mich in ihren rosigen Wangen und ihren leuchtenden Augen wieder. Ich sehe ihre Unerfahrenheit und ihre Abenteuerlust – Eigenschaften, die gut miteinander auskommen, solange der Verstand wach ist. Ist es so, dass man diejenigen Menschen am meisten mag, die einem am ähnlichsten sind? Oder meine ich nur, Ähnlichkeit zu erkennen, weil ich tief in mir den Wunsch empfinde, eine Kameradin zu haben?

»Ich bewundere Ihr Schaffen«, sagt Hanna. »Damals muss alles noch viel schwieriger gewesen sein als heutzutage.« Sie scheint ein Wirbelwind zu sein, auch mit Worten.

»Berichten Sie mir bitte von Ihrer Flugtätigkeit«, ermuntere ich sie. »Ich möchte wissen, wie es heute ist, in der Luft zu sein – mit all der Technik.«

Ihr Blick wird weich. »Es ist wunderbar«, sagt sie. »Ich sitze in dieser fliegenden Kiste und trotzdem ist es, als gäbe es sie nicht. Als sei ich ganz allein dort oben. Verstehen Sie, was ich meine? Ich lebe ein anderes Leben, wenn ich in der Luft bin.«

»Das verstehe ich nur zu gut.«

»Ich steige in das Flugzeug, und sobald ich hinaufgezogen werde, werde ich zu einer anderen. Es scheint alles von mir abzufallen, was auf der Erde von Bedeutung ist. Ich habe das Gefühl, als sei ich Gott so nah wie nirgends sonst. Es gibt nichts Kleines mehr und nichts Kleinliches, keine Namen, keine Stellung und keinen Beruf. Nur noch Demut vor dem Leben und der Welt.« Sie blickt mich an und nimmt meine Hand. »Aber was erzähle ich Ihnen das. Sie kennen es alles. Sie waren ja selbst dort oben.«

»Ich bin nur in einem Ballon gefahren. Nicht in einer dieser modernen Flugmaschinen.«

»Sie haben auch ein Motorflugzeug geflogen, oder nicht?«

»Nur unter Anleitung.«

Sie lehnt sich in ihrem Stuhl zurück. Sie wirkt älter als die dreiundzwanzig Jahre, die sie alt ist. Nicht ihrer äußeren Erscheinung wegen – ihre Haut ist makellos, ihre Figur ist gerade erst aus der eines Mädchens herausgewachsen. Ihre Augen allerdings sind älter als ihr Gesicht, so ernst und erhaben ist ihr Blick. Habe ich auch so geschaut, als ich zwanzig war? Ich war drei Jahre jünger, als Hanna jetzt ist, als ich Hermann kennenlernte – und nur ein Jahr älter, als ich das erste Mal mit ihm in die Tiefe sprang.

»Wie lange«, frage ich, »waren Sie in der Luft? Bei Ihrem Rekordflug, meine ich.«

»Elfeinhalb Stunden.«

»Unvorstellbar.«

Natürlich war ich zu meinen besten Zeiten mehrere Stunden mit dem Ballon in der Luft. Ich habe Landschaften durchquert, habe Städte und Dörfer hinter mir gelassen und bin kilometerweit entfernt von meinem Startplatz niedergegangen. Allerdings war ich beileibe keine elf Stunden unterwegs gewesen. Zudem war das Fahren im Ballon ein Schleichen im Vergleich zum Tempo und zur Lautstärke, mit der die heutigen Motorflieger die Lüfte erobern.

»Früher war alles langsamer«, sage ich. »Und leiser.«

»Das Motorfliegen ist tatsächlich ein herrlicher Triumph über die Natur. Ein Rausch der Geschwindigkeit in einem unendlichen Raum. Doch ich mag auch weiterhin das Segelfliegen sehr gern. Es ist ein Sieg des Geistes. Wenn Sie in einer dieser Kisten sitzen und sich Meter um Meter von der Natur erkämpfen, werden Sie langsam eins mit ihr.«

»Wie halten Sie diese Segelkisten oben im Himmel?«, frage ich. »Ohne Motor. Wie ich gelesen habe, macht das die Luft selbst.«

Sie hält ihren Unterarm vor ihren Körper, die Hand schräg nach unten. »Eigentlich falle ich. Genauso wie Sie damals. Bin ich einmal mit der Kiste oben, falle ich nur noch nach unten. Der Trick ist, dass ich mich in Luftmassen bewege, die schneller aufsteigen, als ich nach unten falle.«

»Das ist faszinierend.«

»Ich mache es wie die Vögel, wenn sie am Berghang die Aufwinde suchen. Mit dem Höhenruder steuere ich das Flugzeug um die Querachse. Damit beeinflusse ich die Geschwindigkeit.« Sie hält die Hand leicht nach oben. »Mit dem Querruder sorge ich für eine Rotation um die Längsachse. Dadurch bekommt eine Tragfläche mehr Auftrieb als die andere. So lenke ich.«

Ich sage: »Hermann und ich hatten immer darauf gehofft, dass wir unsere Ballons eines Tages lenken können. Nur, weil sie mit dem Wind fahren, ohne dass man Einfluss nehmen kann, bin ich überhaupt zur Luftfahrt gekommen.«

»Hermann war ihr Mann, nicht wahr?«

»Mein Mann, mein Förderer und mein Vertrauter. Möchten Sie die Geschichte hören, wie ich ihn kennenlernte?«

Sie hält inne. »Natürlich!«, ruft sie und beugt den Oberkörper vor, als erwarte sie den Beginn eines Theaterstücks. »Ich möchte alles hören. Wie Sie ihn kennengelernt haben. Und wie Sie gemeinsam in die Luft gestiegen sind. Stimmt es, dass Ihr Geliebter in Ihrem Garten gelandet ist, als sei er ein Geschenk des Himmels gewesen?«

Ich lachte. »Lassen Sie mich erzählen. Aber unterbrechen Sie mich nicht. Ich bin in einem Alter, in dem ich dann vergesse, was ich sagen wollte.«

»Ganz gewiss nicht.« Sie legt ihr Kinn in die Hände und blickt mich voller Erwartung an.

Wie alles begann

Meine erste Begegnung mit der Luftfahrt hatte ich in Wiesbaden. 1889 begleitete ich meine Mutter zu einer Kur. Mutter litt an Melancholie, und der Magen schmerzte ihr. Zwei Jahre zuvor war mein Vater gestorben. Wir wohnten in einer Pension, die sich in einer der zahlreichen neu erbauten Villen befand. Von außen war das Haus herrschaftlich. Innen jedoch war es weniger geräumig – zumindest für einfache Gäste, wie Mutter und ich es waren. Gemeinsam bewohnten wir ein Zimmer im Parterre, gleich rechts vom Eingang neben der Abstellkammer. Der Raum war eng, dunkel und schlecht durchlüftet, denn er besaß nur ein einziges Fenster. Sonne hatten wir nie, und Durchzug war nicht möglich. Wir machten jedoch das Beste aus der Situation, hielten streng Ordnung, verstauten alles, was wir nicht unmittelbar brauchten, und verschafften uns so etwas Platz.

Das einzig Luxuriöse an unserem Quartier war der Vorgarten: Während der rückwärtige Hain mit seinem gepflegten Rasen, den Rosen und dem Teich den Hausbesitzern vorbehalten war, durften wir den Bereich vor dem Haus nach Belieben nutzen. Die Gastgeber hatten uns zwei Liegestühle, einen Tisch und einen Sonnenschirm dort platziert. Am Nachmittag kam die warme Junisonne ums Haus herum und beschien unseren Freisitz. Oft genug dösten wir ein und mussten ein unterhaltsames Bild abgegeben: die Körper erschlafft und die Münder aufgeklappt.

Der Arzt hatte Mutter ausgedehnte Gänge an der frischen Luft verordnet. Das Umhergehen sollte ihren Kreislauf anregen und ihre steifen Muskeln lockern. Schon nach wenigen Tagen hatten wir alle Örtlichkeiten, die Wiesbaden entlang der Kureinrichtungen zu bieten hat, durchschritten: den Kurpark und die Anlagen entlang des Salzbachs, die Gegend rund um das neue Staatstheater und die breite Wilhelmstraße mit ihren Geschäften. Doch das Flanieren war von Schwierigkeiten begleitet. Die innere Reinigung, der Mutter sich unterzog, sorgte für stete Unterbrechungen und führte uns auf jedem Weg unweigerlich zu einem »Cabinet der Nothwendigkeit«, das überall in der Kuranlage zu finden war. Ein übler Gestank stieg von dem Ort auf, und ich hielt mich stets fern.

Auf einem unserer Gänge fragte Mutter: »Magst du morgen Abend zum Ball ins Kurhaus gehen? Vielleicht finden wir dort eine angenehme Gesellschaft für dich.«

Wir nickten einem entgegenkommenden Ehepaar zu, dem wir heute schon zum dritten Mal begegneten. »Ich möchte morgen Abend gern in den Kurpark«, antwortete ich. »Dort steigt gegen sechs ein Aerostateur mit dem Luftballon auf.«

Mutter seufzte. »Die Hoffnung, dass du einmal eine Dame werden wirst, muss ich wohl begraben. Kein vernünftiges Mädchen schlägt einen Ball aus, um sich Schausteller anzugucken.«

»Man kann auch Dame sein, ohne sich für Balzveranstaltungen zu interessieren«, erwiderte ich knapp. Ich wusste, dass auch sie lieber an der frischen Luft war und einem Akrobaten zusah, als in stickigen Ballsälen zwischen Parfümwolken zu sitzen und Konversation zu betreiben – zumal ihr beständig Übelkeit zusetzte.

»Bitte, Mutter«, bohrte ich weiter. »Es werden jede Menge Leute auf der Straße sein. Wenn der liebe Gott möchte, dass ich jemanden kennenlerne, wird es so oder so passieren.«

»Lass uns umdrehen«, sagte sie, beschleunigte ihre Schritte und zog mich, die ich sie eigentlich stützen sollte, nun beinahe hinter sich her in Richtung der Kuranlagen.

»Es ist also abgemacht?«

»Meinetwegen.«

So machten wir uns am nächsten Tag zum Kurpark auf, um den Luftfahrer Hermann Lattemann aufsteigen und in die Tiefe stürzen zu sehen. Mehr als einen Kilometer wollte er in den Himmel auffahren, um dann abzuspringen. Wir zwängten uns in unsere Korsetts, und ich wählte einen breitkrempigen Hut, mit dem ich, vor der Sonne geschützt, gut in den Himmel schauen konnte. Dann machten wir uns auf den Weg zum Park. Je näher wir dem Kurhaus kamen, desto dichter wurde das Gedränge auf dem schmalen Weg. Buben und Halbwüchsige wuselten zwischen uns hindurch, und auch die Erwachsenen schubsten und rempelten. Alle wollten dem Spektakel von einem guten Platz aus beiwohnen.

Als wir den Park erreichten, hatte sich schon eine gehörige Menge versammelt. Wo kamen nur all die Menschen her? Freilich war es auch tagsüber voll in Wiesbadens Straßen, nicht zuletzt wegen des Kurbetriebs. Doch so viele Leute hatte ich noch nie auf einem Haufen gesehen. Womöglich versteckte sich die Hälfte von ihnen gewöhnlich in den Cabinets und verrichtete Notwendigkeiten.

»Kannst du den Ballon sehen? Wo genau wird er aufsteigen?«, fragte mich Mutter und stellte sich auf ihre Zehenspitzen, um über die Köpfe und Hüte hinwegzuschauen.

Eine Dame, die neben uns stand und aus einer der Henkelflaschen Heilwasser trank, sagte: »Dort drüben.« Sie deutete auf die andere Seite des Teiches, wo eine bunte Hülle aus der Menge ragte. »Dort vor dem Kurhaus, wo keine Bäume stehen, wird er aufsteigen. Der Ballon wird bereits befüllt.«

Wir bedankten uns und versuchten, den Teich zu umrunden. Ich wollte unbedingt näher herankommen und nahm Mutter, die weniger enthusiastisch war, an die Hand. Überall waren Menschen, die plauderten, flanierten oder herumstanden und die Gehwege versperrten. Betuchte Herrschaften führten Bedienstete mit, die sich um das leibliche Wohl und um den Nachwuchs kümmerten. Die Hausmädchen eilten eifrig zwischen ihren Dienstherren und den Imbisswagen hin und her.

Nach ungefähr zweihundert Metern, auf denen ich zahlreiche Leute anrempelte und mehrmals rüde zurechtgewiesen wurde, blieb Mutter stehen, zog mich unwirsch zu sich und sagte: »Lass uns hierbleiben. Spätestens wenn er aufsteigt, werden wir genug von ihm sehen. Schau, hier haben wir einen guten Platz.«

Sie hatte recht. Wir standen am seitlichen Ufer des kleinen Sees. Vor uns befanden sich nur niedrige Büsche. Eine bessere Sicht hatte man nur, wenn man in einem der Ruderboote auf dem Wasser trieb.

»Hat die Uhr schon sechs geschlagen?«, fragte ich Mutter.

Ein Herr neben mir zückte seine Taschenuhr und sagte: »Bereits vor acht Minuten. Ich denke, es wird gleich losgehen. Wohnen Sie zum ersten Mal einer solchen Vorführung bei?«

Ich musterte ihn. Er war etwas älter als ich, trug ein Fernglas um den Hals und hatte einen sorgfältig mit der Brennschere gezwirbelten Schnurrbart.

»In Frankfurt habe ich zufällig einen Aufstieg aus der Ferne beobachten können«, sagte ich. »Meine Mutter und ich waren in der Nähe des Zoos, um Bekannte zu besuchen. Wir hielten uns zu weit entfernt auf, um wirklich etwas von dem Spektakel mitzubekommen. Der Luftfahrer war nur ein winziger Punkt am Himmel.«

»Dann werden Sie jetzt mehr sehen.« Er legte die Hand auf die Brust und deutete eine Verbeugung an. »Wenn ich mich vorstellen darf: Georg Hoffmann, Actionarius hier aus Wiesbaden.«

»Katharina Paulus«, sagte ich und machte einen Knicks. »Und das ist meine Mutter Maria Paulus.«

Mutter nickte. Er lächelte mich an. »Käme es Ihnen gelegen, wenn ich während der Vorstellung an Ihrer Seite bliebe? Es läuft mannigfaltig Gesindel hier herum, das das Gedränge ausnutzt, um die Leute ihrer Habseligkeiten zu entledigen.«

»Es wäre uns eine außerordentliche Freude, wenn Sie uns Gesellschaft leisten würden«, antwortete Mutter an meiner Stelle.

»Haben Sie schon etwas getrunken?«, fragte Georg. »Oder darf ich Sie auf ein Getränk einladen?«

Mutter antwortete, dass sie ausreichend getrunken habe, und ergänzte eilfertig: »Aber ich besorge euch gern eine Erfrischung. Dann müsst ihr euer Gespräch nicht unterbrechen.«

»Dann erlauben Sie mir, Sie einzuladen.« Georg holte Münzen hervor und gab sie Mutter. Eigentlich schickte es sich nicht, dass er sie die Getränke für uns holen ließ. Doch sie verschwand ebenso selbstverständlich wie eilfertig in Richtung der Verkaufsstände. Im selben Moment ging ein Raunen durch die Menge.

»Schauen Sie«, sagte Georg und deutete geradeaus in Richtung des großen, weißen Kurhauses.

Mein Blick folgte seinem ausgestreckten Arm. Vor dem Gebäude erhob sich eine bunte Stoffhülle. Eine Kapelle spielte Blasmusik. Ein Ansager sprach etwas durch ein Megafon, das ich jedoch nicht verstand.

»Man sagt, er steigt über einen Kilometer hoch in die Luft«, sagte ich.

»Das kann sehr gut sein«, entgegnete Georg. »Als ich das letzte Mal zusah, verschwand der Ballon in den Wolken. Wir dachten, Lattemann würde nicht zurückkommen. Doch einige Minuten später fiel er an seinem Schirm zurück auf die Erde. Sie können sich nicht vorstellen, wie die Menge klatschte, als er plötzlich aus dem Dunst auftauchte. Leider habe ich nicht alles im Detail beobachten können. Ich musste auf meine kleine Nichte achtgeben.«

»Haben Sie auch eigene Kinder?«, fragte ich und maßregelte mich innerlich sofort für diese Direktheit. Es schickte sich nicht, Fremde nach derartigen Privatheiten zu fragen, aber wie oft war meine Neugierde schneller als meine Manieren.

Georg war ohne Zweifel einige Jahre älter als ich. Sein Haar hatte sich bereits gelichtet. Bis zu seinem vierzigsten Geburtstag würde der obere Teil seines Kopfes kahl sein.

»Das war mir bislang nicht vergönnt«, antwortete er. »Meine Frau starb, bevor sie mir ein Kind schenken konnte. Ich bin Witwer.«

»Das tut mir leid.«

»Ich bin darüber hinweg. Ich denke noch oft an sie, allerdings nicht mehr in Trauer, sondern in Dankbarkeit. Und Sie? Sind Sie in festen Händen?«

Ich schaute mich um, in der Hoffnung, dass Mutter mit den Getränken kommen möge. Aber sie ließ sich Zeit.

»Ich bin ledig«, sagte ich knapp.

»Umso besser, dass Sie hier im Park jetzt männliche Begleitung haben.«

Wir schwiegen und sahen zu, wie der Ballon in die Luft stieg. Georg Hoffmann reichte mir sein Fernglas. Ich sah suchend hindurch und fand den Aerostateur. Er war ein schlanker Mann mit einem Backenbart. Ich erkannte Seile, die das Trapez, auf dem er stand, mit dem Ballon verbanden. Mit beiden Händen hielt sich Lattemann an ihnen fest.

Ich inspizierte die weitere Konstruktion. Der Körper des Luftschiffers steckte in einem Geschirr, das über ihm in Schnüren mündete. Die Schnüre endeten wiederum in einem langen Stück Stoff, das am Ballon befestigt war. Das musste der Fallschirm sein, der sich, wenn er sprang, lösen und über dem Luftfahrer entfalten würde. Lattemann hob eine Hand und winkte. Gemeinsam mit den anderen Zuschauern winkte ich zurück.

Georg erklärte: »Der Ballon steigt auf, weil die erwärmte Luft in ihm leichter ist als außen herum. Erst, wenn sie in der Höhe allmählich abkühlt, sinkt er wieder. Wussten Sie, dass das Militär Ballons für die Aufklärung nutzt?«

Ich antwortete nicht, denn Lattemann stieg immer weiter in die Höhe. Inzwischen konnte ich sein Gesicht auch durch das Fernglas nicht mehr erkennen. Plötzlich schaukelte er auf seinem Trapez, hob ein Bein und machte Anstalten, als wolle er für einen Sprung in die Tiefe Anlauf nehmen. Einige Damen im Publikum kreischten, und auch tiefere Stimmen raunten. Wie musste die Welt von dort oben aussehen? So hoch, wie er bereits schwebte, konnte er bestimmt über die Häuser hinwegblicken. Ob er die Stadtgrenzen sah? Konnte er bis nach Mainz schauen, vielleicht sogar bis Darmstadt?

»… als Feldluftschiffer. Doch daraus ist nichts geworden.«

»Bitte?« Ich hatte nicht zugehört. »Entschuldigung. Was haben Sie gesagt?«

»Ich sagte, mein Bruder hat sich als Feldluftschiffer beim Heer beworben. Doch daraus ist nichts geworden. Der Arzt hat festgestellt, dass seine Sehkraft zu schlecht ist. Nun leitet er gemeinsam mit mir unser Familiengeschäft.«

Wann kam Mutter endlich wieder? Der Ballon war ohne Fernglas nur mehr fingernagelgroß im Himmel zu erkennen. Sie verpasste das meiste.

Plötzlich: ein Schrei aus vielen hundert Kehlen! Etwas Längliches fiel vom Ballon herab.

»Er ist gesprungen!«, rief Georg und entriss mir das Glas.

Mein Herz schlug heftig. Aufregung steckte in meinem Hals und löste sich mit einem leisen Kieksen. Ich hielt die Hände vor den Mund und kniff die Augen zusammen, um schärfer zu sehen. Stoff entfaltete sich über dem Aerostateur. Lattemann trudelte. Konnte er bestimmen, wohin er flog? Oder war er den Launen des Windes ausgeliefert?

»Beim letzten Mal dauerte es fast zwei Stunden, bis die Kutsche ihn eingesammelt und zurückgebracht hat«, sagte Georg Hoffmann. »Ich denke, heute wird es genauso sein. Sehen Sie nur, wie weit er abtreibt.«

Tatsächlich. Lattemann pendelte durch die Luft, sein Körper zwar gestreckt, anscheinend aber ohne Einfluss darauf, wohin der Wind ihn trug. Hier unten auf der Erde bewegte sich kaum ein Lüftchen, aber dort oben musste ein gehöriger Wind gehen. Der Aerostateur trieb über unsere Köpfe hinweg, bis er hinter den Dächern und Baumwipfeln verschwand.

»Die Kutsche wird ihn einsammeln«, sagte mein Begleiter. »Als Sie noch nicht da waren, meinte der Wetterkundler, dass Lattemann vermutlich nicht im Park landen würde. Es gebe in diesen Tagen eine Westströmung, die ihn bis über die Stadtgrenzen hinaustragen kann. Offenbar versteht der Mann etwas von seiner Kunst.«

Ich war ein wenig pikiert, dass er mir das Fernglas gerade im spannendsten Moment der Vorstellung entrissen hatte. Gern hätte ich den kühnen Luftschiffer am Schirm hängen sehen.

»Glauben Sie, Herr Actionarius, dass eine Frau ebensolche Kunststücke vollbringen kann wie dieser Hermann Lattemann?«, fragte ich.

Georg Hoffmann blinzelte verwirrt. Die Frage brachte ihn offensichtlich aus dem Konzept. »Wieso sollte sie das tun?«

»Weil sie Lust dazu hat.«

»Nun ja, es ist allgemein bekannt, dass Damen aus ihren Launen heraus zu einigem fähig sind. Ich bezweifle jedoch, dass es eine Frau gibt, die den Wagemut und die Kühnheit eines Lattemann besitzt. Selbst viele Herren können sich nicht vorstellen, sich aus einem Ballon zu stürzen. Warum sollte ausgerechnet eine Frau das wollen?«

»Sie würden also nicht hinabspringen?«, fragte ich.

»Gott bewahre. Bei allem Respekt für die Courage von Herrn Lattemann – es bedarf schon einer gewissen Narrheit, sich vom Himmel auf die Erde zu stürzen, als sei man ein Vogel.«

»Ich würde es tun.«

Er zog eine Augenbraue hoch. »Haben Sie des Öfteren solche Anwandlungen?«

»Als Kind wollte ich Akrobatin werden und habe auf einem Seil in unserem Hof geübt.«

»Eine Freundin meines Vaters ist vor einigen Wochen vom Balkon gestürzt. Jetzt liegt sie in einer Heilanstalt. Ich kann Ihnen nicht empfehlen, es ihr nachzutun. Die Dame wird verkrüppelt bleiben. Ihr Gatte überlegt, die Scheidung einzureichen.«

In diesem Moment kam Mutter mit den Getränken. »Habt ihr das gesehen? Wie er wohl wieder zurückkommt? Fährt ihm eine Kutsche hinterher?«

Sie überreichte uns die beiden Gläser mit Limonade und übergab Georg die verbliebenen Münzen.

»Das tut sie wohl«, sagte Georg. »Der Kutscher sitzt auf dem Bock, und daneben hockt ein Gehilfe, der in den Himmel schaut und ihm sagt, wo er den Gaul hinlenken soll.« Er erhob sein Glas. »Haben Sie vielen Dank für die Limonade. Auf Sie beide. Und dass wir heute hier beisammen sind.«

Er sah mir in die Augen, als wir uns zuprosteten. Ich senkte rasch den Blick.

»Warten wir, bis Herr Lattemann wieder eintrifft, oder wollen wir noch in ein Café gehen?«, fragte Mutter und gab sich sogleich selbst die Antwort, indem sie vorschlug: »Möchten Sie uns begleiten, Herr Actionarius?«

»Es wäre mir ein Vergnügen.«

Zwei Tage später saßen Mutter und ich im Vorgarten unserer Pension. Wir hatten es uns mit einer Limonade gemütlich gemacht. Mutter arbeitete an ihrem Stickrahmen. Sie bemühte sich nach Kräften, mich zu Handarbeiten und häuslichen Verrichtungen anzuregen. Aber mit Nadel und Faden beschäftigte ich mich schon mehr als genug. Ich war Näherin und arbeitete in einem Atelier für Damenkonfektion. Allerdings stellte mich die Arbeit dort nicht zufrieden. Nachts, wenn ich in unserer kleinen Wohnung auf dem Küchensofa lag, wenn es still und kalt war und ich nicht schlafen konnte, erinnerte ich mich an den Traum meiner Kindheit, berühmt zu werden. Tagsüber hingegen, im Licht meiner Pflichten, war der Gedanke wieder fort. Nur eine innere Unruhe blieb und wuchs in mir.

»Was ist los mit dir, Kätchen?«, hatte Mutter mich gefragt, kurz bevor wir zur Kur aufgebrochen waren. »Du wirkst so unausgeglichen in letzter Zeit.«

»Ich langweile mich«, antwortete ich.

»Hat Meister Weber nicht genug Aufträge?«

»Das ist es nicht. Es ist das tägliche Einerlei.«

»Das Leben ist nun einmal ein Einerlei. Was erwartest du denn?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Mehr, als zwölf Stunden am Tag immer das Gleiche zu tun.«

»Du sagst doch, die Schnitte verändern sich.«

»Schon. Aber ich mache nur nach, was es bereits gibt. Ich schaffe nichts Neues. Die Veränderungen sind minimal.«

»Möchtest du etwa Modeschöpferin werden?«

Wieder zuckte ich mit den Schultern. Ich fühlte mich leer. »Dazu fehlen mir die Ideen«, sagte ich.

Mutter seufzte. Regen schlug an die Fenster. Ich setzte mich auf das Sofa und ordnete die Falten meines Rockes. Der Stoff war rauer und gröber als der, den ich für die Kleider der Fabrikantengattinnen nutzte. Aber er war besser als jener der Arbeiterinnen und Bäuerinnen.

Nach einer Weile fragte ich: »Wer sagt eigentlich, dass Frauen immer nur Röcke tragen müssen? Beinkleider wären viel praktischer.«

Mutter hielt inne. »Hast du jemals eine Frau in einer Hose gesehen? Soll sie etwa auch breitbeinig auf einem Pferd sitzen wie ein Kerl?«

»Es könnte eine weite Hose sein. Eine, die aussieht wie ein Rock, aber dennoch zwei getrennte Beine hat.«

»Wofür soll das gut sein?«

»Man könnte darin besser laufen. Müsste nicht immer den Stoff anheben, wenn man Stufen steigt. Und im Sommer …«

»Es reicht.« Sie legte den Kopf in den Nacken und drehte ihn. Sie war ständig verspannt. Dann sah sie mich an. »Was sollen diese Flausen, Kätchen? Wir haben genug damit zu tun, unser Auskommen zu verdienen. Schau dir an, wie gut wir es hinkriegen, ohne Mann und ohne Unterstützung. Wir sollten stolz und dankbar dafür sein, dass der Herrgott uns das Geschick und den Willen gegeben hat, für uns selbst zu sorgen. Es ziemt sich nicht, nach anderem zu streben.«

Ich stand vom Sofa auf und blickte mit verschränkten Armen aus dem Fenster. Ein Rest Helligkeit hing noch in der Luft. Der Mond, eine schmale Sichel, stand hoch neben dem Kirchturm.

»Ich kann mir nicht vorstellen, noch vierzig Jahre so zu leben, wie ich jetzt lebe, tagein, tagaus«, sagte ich.

»Du wirst einen Mann kennenlernen. Kinder bekommen. Du wirst einen eigenen Haushalt haben. Vielleicht einen großen Haushalt, wenn dein Zukünftiger eine gute Anstellung hat. Dann könnt ihr euch eine Haushälterin leisten. Jemanden, der dir hilft. Dann hast du Zeit für Ausflüge …«

»Das meine ich nicht.«

»Aber was denn dann?« Mutters Tonfall war ungehalten. »Ich verstehe dich nicht. Was möchtest du, Käte!?«

Ich drehte mich zu ihr um. »Mehr!« Auch ich war jetzt lauter geworden. »Ich möchte etwas wagen! Nicht nur einen Haushalt führen. Keine Kleider für reiche Damen nähen.«

»Jetzt reicht es!« Sie schlug mit der Hand auf die Tischplatte. »Ich habe dich nicht aufgezogen, damit du undankbar bist! Was würde Vater bloß von dir denken! Eine Tochter, die nicht ihren Verpflichtungen nachkommen möchte!«

Mutter sah kurz an die Decke und massierte sich ihren Nacken. Wütend und zugleich traurig sah sie mich an. »Weißt du, Kätchen, diesen Traum hatte ich auch. Den hat jeder, wenn er jung ist. Doch so ist das Leben nicht. Das Leben ist Arbeit, nichts als Arbeit. Wenn du nach Glück strebst, dann suche es in einem gottgefälligen Leben.«

Ich glaubte ihr, dass ihre Ideen vom Leben einmal anders gewesen waren, dass sie viel erwartet und wenig bekommen hatte. Ich konnte sogar verstehen, dass sie den Glauben daran, noch etwas Besonderes zu erleben, aufgegeben hatte. Aber wenigstens für mich konnte sie doch Hoffnung haben. Umso glücklicher war ich nun darüber, dass ich mir in den kommenden Tagen Kurzweil verschaffen konnte. Im Kurpark sollte ein Konzert stattfinden. Mehr noch reizte mich ein Schwimmwettbewerb, der am Rhein stattfinden sollte und bei dem es sicherlich einiges zu sehen gab.

Die Sonne lugte nur noch knapp über die Baumwipfel. Es war kühl geworden an unserem Sitzplatz. Trotzdem wollte ich so lange wie möglich die Abendluft genießen, bevor wir uns in unsere stickige, kleine Kammer zurückzogen. Ich ging ins Haus, um unsere Strickjacken zu holen. Als ich gerade meinen Koffer unter dem Bett hervorzog, in dem ich die wärmere Kleidung verstaut hielt, tat es draußen einen Schlag. Er wurde begleitet von einer tiefen Stimme, die übelste Flüche ausstieß. Ich hörte, dass Mutter etwas rief, konnte jedoch nicht verstehen, was es war.

»Oje, oje!« Ich hörte ihre Schritte im Flur. Da kam sie auch schon ins Zimmer gerannt. »Kätchen! Du ahnst nicht, wer in unserem Vorgarten gelandet ist!«

»Ist der Heiland zur Erde hinabgefahren?«

»Der Lattemann!«

»Der Lattemann? Oh mein Gott! Sieht er gut aus?«

»Ich hoffe vor allem, dass er unverletzt ist! Ich traue mich nicht nachzusehen.«

Ich ließ die Kleidung, wo sie war, raffte meinen Rock und eilte mit Mutter hinaus. Dort stand der Aerostateur unter dem Apfelbaum, eingehüllt in Berge von Stoff. Mit energischen Bewegungen versuchte er, sich des Kladderadatschs zu entledigen.

»Hallo?«, fragte ich den Stoffberg. »Geht es Ihnen gut?« Ich stand in sicherer Entfernung vor ihm, um nicht von seinen fuchtelnden Armen erwischt zu werden.

»So weit, so gut«, rief Lattemann, boxte noch einmal gegen den Stoff, stieß seinen Kopf hervor und blickte mich an. Seine Augen waren groß und freundlich und bewegten sich leicht, als untersuche er mit ihnen meine Wangen, meinen Mund und meine Stirn. Sofort durchfuhr mich ein Beben, gefolgt von einer Hitze, die meinen Körper ergriff.

Ich schluckte und sagte: »Sie sind also …?«

»Lattemann. Carl Christoph Hermann Lattemann. Sehr angenehm.«

»… wohlauf?«

Wir lachten.

»Entschuldigen Sie«, antwortete er, »dass ich so forsch und unverblümt frage, aber haben Sie einen Abort? Ich war eine Weile in der Luft, die Vorbereitungen dauern immer ungemein lange und wenn ich erst einmal in der Kleidung stecke … wenn es Ihnen nichts ausmacht … vielleicht …?«

»Haben Sie zu viel Heilwasser getrunken?«

»So kann man es sagen.«

Wieder lachten wir. Mir war heiß und ich zitterte – ein Zustand, den ich nur von einem heftigen Schnupfen kannte.

Der Aerostateur entledigte sich seines Schirms, entstieg dem Stoff und löste die Gurte. Er folgte der Richtung meines ausgestreckten Arms und marschierte zur Rückseite des Hauses. Im selben Moment kam Mutter mit Limonade.

»Er ist wirklich stattlich«, sagte sie leise, während sie die Gläser auf den Tisch stellte. »Das hat man aus der Ferne gar nicht gesehen.«

Ich stand noch immer da und blickte auf die Ecke, hinter der er verschwunden war.

»Du bist angetan, nicht wahr, Kätchen?«

Angetan? Ich war wie berauscht. Nicht nur, dass der berühmte Luftschiffer Lattemann in unserem Vorgarten gelandet war: Er war auch noch ein freundlicher Mann, obwohl er sich gut Allüren hätte leisten können. Und er musste auf die Toilette – wie profan!

»Komm her, mein Kind, und setz dich. Sonst schaut es noch aus, als wolltest du beobachten, was er auf dem Lokus treibt.«

Mutter hatte recht. Ich musste mich zusammenreißen. Sonst dachte Lattemann noch, ich hätte nicht alle Tassen im Schrank. Ich setzte mich in meinen Liegestuhl und nippte an meiner Limonade. Der Luftkünstler auf unserem Abort. Welch ein Irrsinn!

Da kam er auch schon wieder um die Ecke gestiefelt, ließ sich mit größter Selbstverständlichkeit in den Stuhl fallen und deutete auf die Limonade. »Ist die für mich?«

»Lassen Sie es sich schmecken«, sagte Mutter. »Ein Familienrezept.«

Er griff nach dem Glas und stürzte den Inhalt mit großen Schlucken hinunter. »Hervorragend!«

»Sie haben wohl ziemlichen Durst!«, staunte Mutter. »Soll ich noch etwas holen?«

»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, gnädige Frau …«

Mutter ergriff das Glas und verschwand im Haus.

Lattemann lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, streckte die Arme in die Höhe und reckte sich erst zur einen, dann zur anderen Seite.

»Ein bisschen verrenkt habe ich mich schon«, sagte er. Er wand den Oberkörper, drehte ihn und ließ die Arme kreisen. »Ach, es wird sich schon richten.«

»Passiert es Ihnen öfter, dass Sie abstürzen?«

»Entschuldigen Sie, dass ich das Thema wechsle, aber: Wie heißen Sie eigentlich? Von einer Frau, die mich so charmant rettet und versorgt, würde ich gern den Namen wissen.«

Wieder stieg Hitze in mir auf. Auf den Armen hatte ich allerdings eine Gänsehaut. Seltsamerweise spürte ich eine freundliche Verbundenheit, die mich mit Wohlgefühl erfüllte.

»Katharina Paulus«, sagte ich. »Wer mich kennt, nennt mich Käte.«

»Ich bin Hermann, und ich würde mich freuen, wenn wir direkt zum Du übergingen. Ich bin kein sehr formeller Mensch, und wenn das Schicksal zwei Menschen so zusammenführt, sollten Sie sich in der Sprache nicht fern sein, oder?«

»Gewiss nicht … Hermann.« Herrgott, hilf! Mein Gesicht glühte. Ich stand völlig neben mir.

Mutter kam mit dem zweiten Glas Limonade, und Hermann leerte es direkt wieder zur Hälfte. »Ein Familienrezept, sagen Sie? Ich habe noch nie eine so hervorragende Limonade getrunken. Welche Zutaten sorgen für diesen famosen Geschmack?«

»Oh, die Zubereitung ist nicht der Rede wert«, wehrte Mutter ab, jedoch sichtlich erfreut über seine Nachfrage. »Nur Früchte, Wasser und Zucker. Und Minze. Sie gibt den besonderen Pfiff. Sie brauchen dicke Minzblätter. Die machen es aus.«

»Minze! Das ist es. Ich kam nicht drauf.«

Lattemann musste gut zehn Jahre älter sein als ich, aber er wirkte frisch und tatkräftig. Sein Gesicht hatte feine, schmale Züge. Seine Nase war vielleicht ein bisschen zu spitz. Ein üppiger Backenbart bedeckte große Teile seiner Wangen und vereinigte sich über der Oberlippe zu einem buschigen Schnauzer. Nur sein Kinn und seine Lippen waren frei. Dichte Brauen gaben seiner Mimik ein besonderes Gewicht.

»Ihr seid für einen Kuraufenthalt in Wiesbaden, nehme ich an. Woher kommt ihr?«, fragte er.

Ich erzählte von unserer Herkunft und auch, dass ich Näherin war. Er fragte nach Geschwistern und nach den Umständen, unter denen ich arbeitete. Zuerst zögerte ich, diese Informationen preiszugeben, schließlich war er ein Fremder und eigentlich ging es ihn nichts an. Doch er fragte freundlich, und es lag ehrliches Interesse in seinem Blick. Er erkundigte sich nach den Aufgaben, die ich im Atelier hatte, welche Schnitte ich gut fand und auch danach, wie wir lebten und was uns bewegte. Er ermunterte mich mit kräftigem Nicken, und ich erzählte ihm sogar von Vaters Tod und dass wir seither allein waren.

»Das muss ein harter Einschnitt für dich gewesen sein, den Vater zu verlieren.«

»Er war ein sehr besonderer Mensch«, sagte ich. »Er hat viel gearbeitet und war immer um uns besorgt. Jedem, den er kannte, hat er geholfen.«

»Dann muss er wirklich ein guter Mensch gewesen sein.«

»Nur die Besten holt der Herrgott früh zu sich«, sagte Mutter. »Wie ist das denn mit Ihnen? Haben Sie keine Angst, dass Sie bei der Ausübung Ihrer Kunst das Zeitliche segnen könnten? Was Sie tun, ist schließlich nicht ungefährlich.«

»Das werde ich oft gefragt und natürlich habe ich Angst. Wenn ein Mann sagt, er sei furchtlos, so ist das immer gelogen.«

Das beeindruckte mich. Ich war mir zwar ziemlich sicher, dass ein Mensch, der sich aus dem Himmel auf die Erde stürzte, Angst haben musste. Ich hatte jedoch nicht damit gerechnet, dass jemand wie Lattemann es zugeben würde, vor allem nicht gegenüber zwei Damen, die ihn wie Schafe anhimmelten.

»Ich halte es für fatal«, fuhr er fort, »wenn ein Mann sich seinen Ängsten nicht stellt. Indem ich mir meine Bedenken vergegenwärtige, bleibe ich wachsam und überschätze mich nicht. Falsch verstandenes Heldentum hat schon viele Männer das Leben gekostet.«

»Wie außerordentlich besonders Sie doch sind!«, entfuhr es Mutter. Das war die größte Intimität gegenüber einem fremden Mann, die ich jemals aus ihrem Mund gehört hatte.

»Glauben Sie –«, setzte ich an, doch der Aerostateur unterbrach mich.

»Du«, sagte er. »Wir waren beim Du.«

Wieder spürte ich Hitze in meinem Gesicht aufsteigen. »Glaubst du, dass Frauen das Gleiche tun könnten wie du? Aufsteigen und herunterspringen?«

»Möchtest du mit mir in die Luft gehen?«

»Sofort! Sogar abspringen tät ich!«, entfuhr es mir, und meine Stimme überschlug sich. Ich hielt verschämt die Hand vor den Mund.

Er lachte. »Dann schauen wir mal. Anfang August starte ich in Frankfurt. Da sollte es möglich sein, dass wir uns sehen. Ich würde mich freuen, dich und deine Mutter im Zoo zu treffen. Dort steige ich auf.«

»Das wird kein Problem sein! Da wohnen wir.«

»Ihr wohnt im Zoo?«

Ich lachte. »Zwei Straßen daneben. Wir werden zugegen sein, wenn du in die Luft gehst. Ganz sicher.«

Zurück in Frankfurt holte uns bald der Alltag ein. Ich ging jeden Tag zur Arbeit ins Schneideratelier, um rasch wieder Geld zu verdienen. Meister Weber hatte mir für die Zeit der Kur frei gegeben, aber ein Gehalt hatte ich während meiner Abwesenheit nicht bekommen. Vielmehr hatten wir in Wiesbaden von unserem Ersparten gelebt, weshalb es nun dringlich war, die Reserven wieder aufzufüllen.

Ob der Luftschiffer Lattemann sich daran erinnern würde, was er uns zugesagt hatte? Würden Mutter und ich im Frankfurter Zoo auf der Gästeliste stehen? Einerseits war ich mir sicher, dass er unsere Begegnung nicht vergessen haben konnte. Andererseits traf er in seinem Beruf bestimmt viele Menschen. Vielleicht war die Landung in unserem Vorgarten in Wiesbaden nur eine von zahlreichen Landungen auf fremden Grundstücken gewesen, und er revanchierte sich jedes Mal mit dem Angebot eines kostenlosen Vorstellungsbesuchs. Eine Nachbarin hatte mir zugetragen, dass er vor zwei Wochen in der Pfalz aufgetreten war, wo sie ihren Bruder und ihre Schwägerin besucht und einige Tage Urlaub gemacht hatte. Er sei hinaufgestiegen, bis niemand ihn mehr habe sehen können – und sei dann durch aufziehende Wolken wieder herabgefallen.

»Ein Verrückter«, meinte sie. »Irgendwann wird er wie eine Porzellanschüssel auf der Erde zerschellen.«

Ich trug mich mit dem Gedanken, ihm einen Brief zu schreiben. Seine Adresse hatte ich herausgefunden: Er hatte nicht weit von unserem Zuhause eine Halle gemietet, wahrscheinlich zur Lagerung seiner Ballons und für die Fässer, die er zur Herstellung von Wasserstoff benötigte. Ich wollte ihm schreiben, wie sehr ich mich auf den Besuch seiner Vorstellung freute – und ihm meine Arbeitskraft anbieten. Sowohl die Hüllen seiner Ballons als auch seine Fallschirme bestanden aus Stoffen, die jemand zuschneiden, verarbeiten und nach seinen Auftritten ausbessern musste. Nach der Landung im Garten hatte der Schirm nicht gut ausgesehen. Ob Lattemann Schneiderinnen und Schneider angestellt hatte? Oder gab er die Arbeiten in Auftrag? Ich hatte mich ein bisschen umgehört, doch nichts herausfinden können. In meinen Tagträumen brachte ich den Brief vorbei, während Hermann gerade in seiner Werkstatt arbeitete. Er blickte auf, sah mich in der Tür stehen und kam lächelnd auf mich zu. »Katharina! Welch eine Freude, dich hier zu sehen!« Er nahm mich in den Arm. »Ich hatte gehofft, dass du irgendwann in der Tür stehen würdest.« Ich übergab ihm den Brief, er studierte ihn und sagte: »Es wäre großartig, wenn du mich unterstützen könntest. Gleich morgen kannst du anfangen. Dann bereitest du die Stoffe vor, mit denen ich im Zoo aufsteige.« Es waren naive, hanebüchene Gedanken. Dennoch hielt mich das Wissen darüber, dass es nie so kommen würde, nicht davon ab, mich an der Idee zu ergötzen.

Das Klingeln der Türglocke, gefolgt von dem Ruf nach meinem Namen, holte mich zurück in die Wirklichkeit. Für einen Moment hoffte ich, Hermann im Laden zu sehen. Doch dort stand nur die spitznasige Dame, die ich gestern vermessen hatte.

»Guten Tag, Frau Kommerzienrat«, begrüßte ich sie. »Wie kann ich Ihnen zu Diensten sein?«

»Ich habe es mir anders überlegt. Ich möchte doch keinen Mantel. Ich möchte ein Kleid.«

Ich dachte an den Stoff, der auf dem großen Tisch im Atelier lag. »Ich habe bereits begonnen, den Stoff zuzuschneiden«, erwiderte ich.

»Ich bin mir sicher, dass Sie eine andere Verwendung für das Material finden. Vermessen Sie mich bitte für ein Kleid.«

Ich wünschte, Meister Weber wäre hier, um ihr klarzumachen, dass sie den Stoff würde bezahlen müssen. Sie hatte den Mantel mit Unterschrift in Auftrag gegeben. Doch ich sah mich nicht imstande, ihr den Sachverhalt in passenden Worten zu erklären.

»Worauf warten Sie, Fräulein? Holen Sie Ihr Maßband!«, herrschte sie mich an.

Ich war mir sicher, dass sie den Laden mit Absicht zu einer Tageszeit aufsuchte, zu der Meister Weber nicht zugegen war. Ich war wütend über ihre Berechnung und ärgerte mich über meine eigene Sprachlosigkeit.

»Ich werde mit dem Meister Rücksprache halten müssen«, sagte ich vorsichtig.

Aber die Spitznasige reagierte nicht auf meine Worte. Stattdessen sagte sie ausdruckslos: »Legen Sie los. Ich habe wenig Zeit.«

Zwei Tage später – es war Abend und im Herd brannte ein Feuer – saßen Mutter und ich beisammen, als es klopfte. Wir sahen uns an. Wer mochte das sein? Draußen war es bereits dunkel.

»Ich mache auf«, sagte ich und wollte mich erheben. Doch Mutter hielt mich am Arm fest.

»Zu viele Leute wissen, dass hier nur zwei Frauen wohnen. Lass uns die Tür verschlossen halten. Wer etwas von uns will, wird wiederkommen.«

Es klopfte erneut. Die Haare auf meinen Armen richteten sich auf, und Unbehagen stieg in mir auf. Oder war es Aufregung?

»Ich öffne«, sagte ich. »Es ist sicherlich nur eine Nachbarin, die Hilfe braucht.«

Ich ging zur Tür, öffnete sie einen Spalt und stellte meinen Fuß so auf, dass ein Besucher die Tür nicht ohne Weiteres aufstoßen und eindringen konnte.

»Hallo?«, fragte ich ins Dunkel.

Die Gestalt, die draußen stand, war größer als ich. Sie beugte sich herab, und ich sah ihr Gesicht. Reflexhaft hielt ich die Hand vor den Mund. Erstaunen ergriff mich – und Freude.

»Guten Abend, Käte«, sagte Hermann. »Es tut mir sehr leid, dass ich so spät störe. Aber nachdem ich endlich herausgefunden habe, wo ihr wohnt, wollte ich so schnell wie möglich zu euch.«

Ich brauchte einen Moment, um zu verstehen, was mir geschah. Vor meiner Tür stand Carl Hermann Lattemann, der Luftakrobat. Weil er mich gesucht hatte. Mich!

Hermann nahm den Hut ab und beugte den Oberkörper leicht vor, um einzutreten. Ich sollte etwas sagen, aber ich glotzte ihn nur an wie eine Kuh und hielt ihm die Tür auf.

»Ich weiß, dass es nicht schicklich ist, zwei Damen in der Dunkelheit zu Hause aufzusuchen«, sagte er, während er in unsere Küche trat. »Aber ihr habt vielleicht schon gemerkt, dass ich mich nicht sehr um Konventionen schere. Also dachte ich, dass ich einfach vorbeischaue.«

Mutter hatte sich auf ihrem Platz auf der Küchenbank aufgerichtet. »Setzen Sie sich nur. Leider kann ich Ihnen heute keine Limonade anbieten.«

»Wir haben noch etwas Bier«, sagte ich.

»Keine Umstände.« Hermann setzte sich. »Ich freue mich einfach, hier zu sein. Ich bin sehr froh, dass ihr noch wach seid.«

Ich setzte mich zu Mutter auf die Bank. »Sie … du hast uns gesucht?«, fragte ich.

»Nachdem du gesagt hattest, dass du Schneiderin seist und in der Nähe des Zoos wohnst, bin ich durch die Gassen gestreift, in der Hoffnung, eine von euch zufällig zu treffen. Außerdem habe ich in dem ein oder anderen Laden nach euch gefragt.«

»Dass Sie dafür Zeit haben!«, entfuhr es Mutter.

»Man ist immer nur vielbeschäftigt mit dem, was einem wichtig ist. Und es war mir außerordentlich wichtig, euch wiederzusehen. Vor allem, nachdem ich von einem der Bäckersleute erfahren habe, welch gute Arbeit Käte leistet.«

Das konnte doch alles nicht wahr sein! So etwas passierte nicht im richtigen Leben. Ich biss mir in die Wange, um herauszufinden, ob ich wach war oder träumte.

»Es wirkt vielleicht etwas seltsam auf dich, Käte«, fuhr er fort. »Dieser Auftritt hier am Abend, fast schon in der Nacht. Als wollte ich dir nachstellen. Ich möchte es nicht schönreden: Ein bisschen ist es auch so. Aber du hast mich nachhaltig beeindruckt. Es gibt nicht viele Frauen, die so offenherzig sind, wie du mir erscheinst. Deshalb würde ich dich gern für mich gewinnen. Also für meine Unternehmung.«

Ich spürte, wie Mutter neben mir alle Muskeln anspannte. Sie hob an, etwas zu sagen.

»Natürlich«, sagte Hermann und wandte sich an Mutter, »wird deine Tochter weder etwas Gefährliches noch etwas Unschickliches tun. Ich wünsche lediglich, dass sie mich als Schneiderin bei der Herstellung meiner Ballons unterstützt.«

»Ballons?«, wiederholte Mutter, und ihre Stimme entglitt ihr leicht.

»Der Schneider, der seit vielen Jahren für mich arbeitet, ist ein alter Mann. Alle Männer, die sich mir als sein möglicher Nachfolger vorstellten und die ich bei mir arbeiten ließ, waren zwar tüchtig, doch es fehlte ihnen an Neugierde und Vorstellungskraft. Sie konnten nichts Neues schaffen. Ich habe das Gefühl, bei Käte ist es anders. Gutes Personal ist schwer zu finden. Gerade in meinem außergewöhnlichen Metier.«

»Meine Tochter hat bereits eine Anstellung.«

»Die ich jederzeit kündigen kann«, warf ich ein.

»Um dich in die Schaustellerei zu stürzen?«

Lattemann hob die Hand. »Meine Damen!« Er wandte sich Mutter zu. »Ich kann versichern, dass ich über gute Einkünfte verfüge. Frage ruhig herum, und du wirst hören, dass es in meiner Werkstatt ordentlich zugeht und die Leute gern für mich arbeiten. Ich zahle zuverlässig.«

»Falls Sie den nächsten Auftritt überleben.« Mutter verschränkte die Arme vor der Brust. Ihre Brauen hatte sie zur Nasenwurzel zusammengezogen.

»Daran«, sagte Hermann zögerlich, »habe ich großes Interesse.«

»Gesetzt den Fall«, sagte ich, »ich wollte es machen: Wann darf ich anfangen?«

»Wenn du magst, zeige ich dir morgen die Werkstatt und wir beginnen mit der Einarbeitung.«

»Nichts da!«, rief Mutter und schlug mit der Hand auf den Tisch. Eine Geste, die ich bislang nur von Vater kannte. »Du gehst morgen zu Meister Weber. Wie jeden Tag. Die Werkstatt von Herrn Lattemann schaust du dir höchstens nach der Arbeit an. Du kannst nicht ohne Sinn und Verstand deine Anstellung kündigen. Wir brauchen dein Einkommen.«

Sie hatte recht. Wir waren auf mein Gehalt angewiesen, und wenn Hermann direkt beim nächsten Auftritt wieder in einem Baum landete, diesmal aber mit dem Kopf voran gegen den Stamm, standen wir mit nichts da. Außerdem war die Frage, ob ich überhaupt konnte, was Lattemann von mir verlangte. Ich hatte bislang nur Kleidung genäht. Die Ansprüche, die aeronautische Konstruktionen an das Schneiderhandwerk stellten, waren sicher ganz andere. Doch ich war wie elektrisiert. Ich könnte dem stickigen Schneideratelier und den spitznasigen Damen entkommen!

Hermann sagte: »Ich verstehe eure Bedenken und möchte ihnen Rechnung tragen.« Er wandte sich mir zu: »Wenn es recht ist, hole ich dich morgen nach der Arbeit an der Schneiderei Weber ab. Keine Sorge, ich werde nicht hereinkommen. Du wirst mich sehen, wenn du aus der Tür trittst.« Er sah zu Mutter, dann wieder zu mir. »Ich mache dich auch mit meinen Angestellten bekannt. Es werden ausreichend andere Menschen in meiner Werkstatt sein. Wir arbeiten immer lange. Du wirst sehen: Ich bin ein redlicher Unternehmer, der sich nur ab und zu mal vom Himmel fallen lässt.«

»Wie soll ich der Dame das jetzt noch in Rechnung stellen?« Schneider Weber stand mir gegenüber am Zuschneidetisch und hielt einen Fetzen Stoff in die Höhe. »Bei einer Auftragsänderung muss dem Kunden die Forderung unverzüglich vorgetragen werden. Nicht erst nach vierundzwanzig Stunden. Ich werde nachsehen, was der Stoff gekostet hat, und das von Ihrem Lohn abziehen. Damit Sie lernen, unternehmerisch zu handeln. Ich fürchte allerdings, dass das von einer dummen Gans wie Ihnen zu viel verlangt ist.«

Schweren Schrittes verließ er die Nähstube.

Ich spürte eine wilde Wut in mir aufsteigen. Was hätte ich tun sollen? Hätte ich eigenständig gehandelt und der Dame eine Forderung übergeben, hätte mich der Meister für die Überschreitung meiner Kompetenzen gemaßregelt – und die Kundin wäre womöglich künftig dem Laden ferngeblieben. Nun musste ich für den Schaden aufkommen, den ich nicht hatte abwenden können. Wie ich diese Situationen hasste, in denen ich nur verlieren konnte! Nichts brachte mich mehr auf als diese unverschuldete Hilflosigkeit, die ich fühlte. Ein Kloß aus Zorn und Tränen steckte in meinem Hals.

Ich räumte den zerschnittenen Stoff beiseite und verstaute ihn in einer Holzkiste. Wir würden ihn zum Ausstopfen verwenden, für Kissen und kleine Figuren, mit denen wir Kindern eine Freude machten.

Noch eine Sache machte mich wütend: Obwohl ich wusste, dass Meister Weber mich zu Unrecht anging, nährten seine Sätze meine Zweifel. Hatte er vielleicht doch recht, und ich war zu nichts anderem gut, als Knöpfe anzunähen und Säume zu kürzen? Vielleicht war ich gar keine Frau, die Flugballons schneidern und sich in einer Welt behaupten konnte, die fernab der Begrenztheit lag, die mir so sehr auf die Seele drückte.

Den Rest des Tages verbrachte ich schweigend und betriebsam. Ich dachte an die Mädchen, mit denen ich gemeinsam die Volksschule besucht hatte. Gisela war verheiratet und hatte drei Kinder. Auch Frieda hatte einen Mann geehelicht und war nun Mutter von zweien. Martha hatte sich gegen die Ehe entschieden und war Lehrerin geworden. Johanna war im vergangenen Jahr an einer Lungenentzündung gestorben, Minna im Kindbett. Edith, Klara und Auguste waren als Haushälterinnen in die Häuser von Herrschaften gegangen. Mit keiner der Klassenkameradinnen hätte ich tauschen wollen.