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Die Kunststudentin Marie scheint alles zu besitzen, was eine junge Frau sich nur wünschen kann: Sie ist vermögend, schön und intelligent. Doch ihre Umwelt erlebt sie anders. Sie ist in sich gekehrt und wirkt geheimnisvoll. Dabei ahnt keiner, was sie wirklich belastet. Denn seit sie den Unfalltod ihrer Mutter vorhersah, verrät ihr zweites Gesicht ihr nämlich immer wieder, wenn ein schreckliches Ereignis bevorsteht. Allmählich halten die Menschen ihrer Umgebung Marie sogar für eine Hexe. Als sie den faszinierenden Journalisten Paul Sanner kennenlernt, verliebt sie sich in ihn. Jetzt hofft sie, endlich glücklich werden zu können. Doch auch diesmal kommt alles anders. Wieder sieht sie Schreckliches voraus.Marie Louise Fischer wurde 1922 in Düsseldorf geboren. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Lektorin bei der Prag-Film. Da sie die Goldene Stadt nicht rechtzeitig verlassen konnte, wurde sie 1945 interniert und musste über eineinhalb Jahre Zwangsarbeit leisten. Mit dem Kriminalroman "Zerfetzte Segel" hatte sie 1951 ihren ersten großen Erfolg. Von da an entwickelte sich Marie Louise Fischer zu einer überaus erfolgreichen Unterhaltungs- und Jugendschriftstellerin. Ihre über 100 Romane und Krimis und ihre mehr als 50 Kinder- und Jugendbücher wurden in 23 Sprachen übersetzt und erreichten allein in Deutschland eine Gesamtauflage von über 70 Millionen Exemplaren. 82-jährig verstarb die beliebte Schriftstellerin am 2. April 2005 in Prien am Chiemsee.-
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Seitenzahl: 380
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Marie Louise Fischer
SAGA Egmont
Die Frau mit dem zweiten Gesicht
Die Frau mit dem zweiten Gesicht (Marie Forester, die Frau mit dem zweiten Gesicht)
Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de)
represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)
Originally published 1988 by Lübbe Verlag, Germany
Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof Forlag A/S
All rights reserved
ISBN: 9788711719053
1. Ebook-Auflage, 2017
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk– a part of Egmont www.egmont.com
Sie rannte wie gehetzt durch die engen Straßen Alt-Schwabings. Die Polizeistunde war vorbei, und nur aus wenigen Gaststätten drang noch Licht. Die Laternen schufen Inseln fahler Helligkeit. Dazwischen war es nachtdunkel.
Ein Betrunkener kam ihr schwankend und grölend entgegen. Sie beachtete ihn nicht, stürmte an ihm vorbei, hörte nicht, wie er hinter ihr herfluchte.
Ihre Turnschuhe machten kaum ein Geräusch auf dem unebenen Pflaster. In der Tasche ihres offenen Parkas steckte eine Taschenlampe. Sie hielt sie umklammert, damit das schwere Gewicht im Laufen nicht gegen ihren Schenkel schlug.
Sie überquerte den Nikolaiplatz, bog zielsicher in eine Gasse ein, die noch schmaler war als die anderen. Das hohe Brettertor, das nachts gewöhnlich geschlossen war, stand halb offen. Sie schlüpfte hinein. Die Laterne am Ende des langgestreckten Hofes brannte nicht. Ohne stehen zu bleiben, zog sie ihre Taschenlampe heraus und knipste sie an. Der Lichtkegel huschte über die Laderampe, die Hintertüren, den asphaltierten Boden.
Unter der zersplitterten Laterne fand sie ihn. Er lag zusammengekrümmt in einer Lache von Blut. Sein Gesicht war schneeweiß.
Sie kniete sich neben ihn, rief: „Günther, Günther, hörst du mich? Ich bin’s, Marie! Ich bin bei dir!“
Aber er war nicht bei Bewußtsein.
Blut drang aus seinem Bauch. Ohne zu überlegen zog sie das Baumwollnachthemd, das sie unter ihrem Parka trug, aus der langen Flanellhose, nahm die Zähne zur Hilfe und riß einen breiten Streifen ab. Sie öffnete seine Jeans, fand die klaffende Wunde, verband sie, so gut es eben ging.
Dann sprang sie auf und trommelte mit beiden Fäusten gegen das Fenster zum Hof, unter dem er lag. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sich drinnen etwas rührte. Sie war nahe daran, das Glas mit der Taschenlampe zu zerschlagen, als endlich jemand reagierte.
Eine Männerstimme meldete sich, dumpf und abweisend. „Schleich dich! Wir san geschlossen!“
„Sie müssen aufmachen“, schrie sie, „sofort! Es ist etwas passiert! Ein Mann ist schwer verletzt!“
Das Fenster wurde geöffnet, und der Kopf eines kahlen älteren Mannes zeigte sich über dem Sims.
Marie richtete den Schein der Taschenlampe auf den Verwundeten. „Sie müssen den Notdienst anrufen! Bitte! Schnell!“
„Auch das noch!“ sagte der Wirt und verzog sich.
Marie hörte ihn telefonieren. Sie kniete sich wieder, versuchte festzustellen, ob der Verletzte noch atmete, machte sich währenddessen heftige Vorwürfe, weil sie nicht als erstes jemanden in der Wirtschaft alarmiert hatte, statt sich um Günther zu kümmern. Sie hatte einmal mehr nur ihren Instinkt und nicht ihren Verstand sprechen lassen.
Der Notverband, den sie ihm angelegt hatte, war schon wieder blutdurchtränkt. Sie fragte sich, ob er überhaupt etwas genutzt hatte. Ihre Torheit schmerzte sie.
„Halte durch, Günther!“ flüsterte sie und hielt seine eiskalte Hand. „Sie kommen schon, dich zu holen. Bald ist ein Arzt bei dir. Deine Wunde wird versorgt, und du wirst in ein sauberes weißes Bett gepackt.“
Der Signalton des Martinshorns war aus der Ferne zu hören, näherte sich rasch.
Marie stand auf. Sie konnte hier nichts mehr tun. Es war besser, sie machte sich auf und davon.
In diesem Augenblick erlosch ihre Taschenlampe; die Batterie spielte nicht mehr mit. Verwirrt blieb Marie stehen. Der Hof war jetzt völlig dunkel, bis auf den schwachen rötlichen Lichtschein, der aus dem Fenster des Wirtshauses drang. Der Ausgang war nicht mehr zu erkennen. Dennoch wagte sie einen Schritt in die Richtung, in der sie ihn vermutete.
„He, Fräulein, bleiben sie stehen!“ dröhnte die Stimme des Wirtes. Er war wieder am Fenster erschienen, ohne daß Marie es bemerkt hatte, und mußte ihre Fluchtbewegung wahrgenommen haben. „Das könnte Ihnen so passen, mich mit den Bullen allein zu lassen!“
Sie begriff, daß es jetzt höchste Zeit war, sich abzusetzen. Ihre Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt, und sie spurtete auf das offene Tor zu.
Aber da flammten auch schon die Scheinwerfer des Polizeiautos vor ihr auf. Sie blieb geblendet stehen. Der Wagen versperrte den Ausgang, fuhr langsam auf sie zu.
„Einen Arzt!“ schrie sie. „Er verblutet!“
Die Scheinwerfer erfaßten jetzt den Verletzten unter der zerbrochenen Laterne. Das Auto bremste, die Türen gingen auf, links und rechts sprang ein uniformierter Mann heraus.
Der eine beugte sich über den Verwundeten. „Den hat’s schwer erwischt“, kommentierte er, ohne sonderlich beeindruckt zu sein.
„Er muß ins Krankenhaus!“ verlangte Marie und stieß unwillkürlich mit dem Fuß auf. „Sofort!“
Der Polizeibeamte richtete sich auf. „Der Notarztwagen kommt gleich hinter uns“, sagte er, und sein Ausdruck veränderte sich, als er Marie genauer wahrnahm.
Sein Kollege hatte ein Notizbuch aufgeschlagen. „Ihre Personalien, bitte!“
„Aber die sind doch jetzt ganz unwichtig!“ entgegnete Marie.
„Für uns nicht!“ Der Polizist zückte einen Kugelschreiber. „Also …“
„Ihr müßt zurücksetzen!“ rief ein Mann von der Straße her. „Sonst können wir nicht rein!“
„Na also“, sagte der Polizist, der Günther untersucht hatte, „da ist der Onkel Doktor schon, Fräulein.“ Zu seinem Kollegen gewandt, setzte er hinzu: „Ich fahrraus.“ Er klemmte sich auf den Fahrersitz und startete den Motor.
Als der Wagen zurücksetzte, überlegte Marie, ob sich ihr jetzt nicht eine letzte Gelegenheit bot zu verschwinden.
Aber der Polizist mit dem Notizbuch schien ihre Gedanken zu erraten. „Sie bleiben!“ sagte er barsch. „Sie heißen?“
Paul Sanner hatte auf der Heimfahrt von einer Party zum Olympiagelände den Polizeifunk eingeschaltet. Obwohl er nicht vorhatte, noch zu arbeiten, hielt er es für wichtig, stets auf dem laufenden, ja, besser noch im voraus orientiert zu sein. Er war Journalist, und das war für ihn mehr als ein Job, sondern ein Beruf, der seinen natürlichen Neigungen und, wie er überzeugt war, auch seinen Fähigkeiten entsprach. Trotzdem war es ihm noch nicht gelungen, eine feste Anstellung bei einer Zeitung oder, was ihm noch viel erstrebenswerter schien, bei einem Magazin zu erreichen. So blieb ihm nichts anderes übrig, als freiberuflich für verschiedene Agenturen und Blätter zu schreiben, wie es sich eben ergab. Aber er war überzeugt, mit seinen 25 Jahren am Beginn einer großen Karriere zu stehen.
Die Nachricht, daß ein Mann in einem Winkel Alt-Schwabings niedergestochen worden war, erreichte ihn auf der Leopoldstraße. Sie hätte ihn an sich nicht sonderlich interessiert, denn dergleichen Zwischenfälle sind in jeder Großstadt gang und gäbe. Aber daß es eine junge Frau war, die das Verbrechen gemeldet hatte, ließ ihn aufhorchen. Zudem war er weder müde noch angetrunken, und der Tatort lag nur wenige Minuten entfernt. Kurzentschlossen bog er am Platz ,Münchener Freiheit‘ nach rechts ab und fuhr mit erhöhter Geschwindigkeit – denn die glaubte er sich bei der gegebenen Situation und angesichts seines Presseausweises erlauben zu können – zu der angegebenen Adresse.
Als er in der Häberlgasse eintraf, war der grüne Einsatzwagen der Polizei gerade dabei zurückzusetzen, während das Sanitätsauto mit laufendem Motor, rotierendem Blaulicht und leuchtenden Blinkern seitwärts stand.
Paul Sanner parkte seinen klapprigen VW schräg auf dem Bürgersteig, stieg aus und rannte los, ohne sich die Zeit zu nehmen, den Zündschlüssel abzuziehen. So gelang es ihm, sich zwischen den beiden Fahrzeugen in die Sackgasse zu drängen, während der Polizeibeamte die junge Frau noch vernahm.
Der Anblick, den sie ihm im Licht der Scheinwerfer bot, verschlug ihm, was selten vorkam, für Sekunden die Sprache. Das erste, was ihm an ihr auffiel, war ihr hellblondes, mehr als schulterlanges Haar, das zerzaust und zerwühlt wirkte, als wäre sie eben erst aus dem Bett gestiegen und hätte sich nicht die Mühe genommen, sich zu frisieren. Ihr Gesicht mit der sehr glatten, sehr weißen Haut wirkte wie eine Maske aus Porzellan, von der sich der volle, ungeschminkte und dennoch sehr rote Mund scharf abzeichnete. Daß ihre Hände und die lange Hose blutverschmiert waren, ließ sich – und war – damit zu erklären, daß sie mit dem Verwundeten in Berührung gekommen war. Aber daß sie, obwohl es eine kühle Oktobernacht war, keine Strümpfe trug, sondern die nackten Füße in Turnschuhe mit achtlos gebundenen Senkeln gesteckt hatte, war schon sehr viel sonderbarer. Das Oberteil, das unter ihrem graugrünen Parka hervorlugte, sah nicht wie eine Bluse, sondern wie ein Nachthemd aus. Sie hätte für eine Pennerin gehalten werden können, aber etwas an ihrer Erscheinung – Paul Sanner konnte es nicht auf Anhieb definieren – verriet gute Herkunft und bürgerlichen Lebensstil.
Jetzt schien sie seinen entgeisterten, ungehemmt neugierigen Blick zu spüren und zog, ohne ihn zu erwidern, den Reißverschluß ihres Parkas mit einem Ruck hoch bis zum Hals.
„Fräulein Forester“, sagte der Polizeibeamte, „Sie kennen also den Mann?“
Ja.“ Ihre Stimme klang fest, wenn auch ein wenig heiser.
Paul Sanner trat nahe heran, um sich keine Einzelheit der Vernehmung entgehen zu lassen.
Der Polizist erkannte ihn. „Ah, Sie wieder mal, Sanner! Immer mit der Nase voraus, wie?“
Der Journalist grinste. „Reiner Zufall, Herr Wachtmeister.“
Zwei weißgekleidete Sanitäter und ein Arzt waren an ihnen vorbeigeeilt, damit sie sich um den Verletzten bemühen konnten.
„Name! Adresse!“ drängte der Polizist. „Lassen Sie sich doch, bitte, nicht jedes Wort aus der Nase ziehen.“
„Er heißt Günther Grabowsky und wohnt auf der Leopoldstraße. Die Hausnummer weiß ich nicht. Unten im Haus ist ein Modegeschäft. ,Lilos Boutique‘ heißt es.“
Der Polizist machte sich Notizen. „Sie sind also mit diesem Grabowsky befreundet?“
„Nein oder doch.“
„Was denn nun?“
„Er ist mein Bruder. Mein Stiefbruder.“
„Sie sind also mit Ihrem Stiefbruder heute abend ausgegangen?“
Über die Torheit dieser Frage konnte Paul Sanner sich nur wundern. Aber er äußerte sich nicht, denn er wußte aus Erfahrung, daß es klüger war, sich nicht einzumischen, wenn die Polizei das Sagen hatte.
„Nein!“ erklärte Marie Forester mit Entschiedenheit.
„Warum geben Sie es nicht zu? Es wäre doch nichts dabei.“
„Das weiß ich. Ich bin auch hin und wieder mit ihm ausgewesen, auch in einem von diesen Lokalen hier. Aber heute abend nicht.“
„Sie wollen behaupten, zu Hause gewesen zu sein?“
„Ja.“
„Und wie wollen Sie dann von dem Unfall erfahren haben? Wer hat Sie angerufen?“
„Niemand. Ich habe es auch gar nicht gewußt.“
„Dann war es reiner Zufall, daß Sie den Verwundeten gefunden haben?“
„Ja!“ behauptete sie mit Nachdruck, wobei sie den Kopf in den Nacken warf.
Die Sanitäter trugen Günther Grabowsky an ihnen vorbei. Paul Sanner konnte in dem aschfahlen Gesicht keine Ähnlichkeit mit der jungen Frau entdecken.
Mit einer überraschenden Geste zupfte Marie Forester den Arzt, der der Trage folgte, am Ärmel seines Kittels. „Kann ich mitfahren?“ fragte sie. „Ich bin seine Schwester.“
„Mit Ihnen bin ich noch nicht fertig“, wandte der Wachtmeister ein.
„Tut mir leid“, sagte der Arzt achselzuckend, „Sie sehen, es geht nicht.“
„Ich kann Sie bringen“, erbot sich Paul Sanner.
Jetzt, zum erstenmal, sah sie ihn an. Ihre blaugrauen Augen wirkten verschleiert. „Danke“, sagte sie kurz. Dann wandte sie sich dem Polizeibeamten zu. „Ich weiß wirklich nicht, was Sie von mir wissen wollen. Ich konnte nicht schlafen, und da habe ich mich entschlossen, noch ein bißchen spazierenzugehen.“
„Durch das nächtliche Schwabing?“
„Warum denn nicht? Man kann hier so gut wie anderswo laufen.“
„Und ganz zufällig sind Sie in diese Sackgasse hineingestolpert?“ Er sah sich um, als würde er erst gerade jetzt die Umgebung wahrnehmen. „Die ist ja eigentlich mehr ein Hinterhof.“
„Gestolpert bin ich nicht“, widersprach Marie Forester.
„Also, ich muß Ihnen schon sagen, Ihre Erklärung überzeugt mich nicht“, sagte der Wachtmeister.
„Tut mir leid“, gab sie zurück.
„Sie sagen besser die Wahrheit. Wir bekommen sie bestimmt heraus.“
Marie Forester schwieg.
„So kommen Sie jedenfalls nicht davon. Sie melden sich morgen früh um neun Uhr auf der Polizeiinspektion in der Maria-Josepha-Straße drei.“
„Um neun Uhr muß ich im Institut sein.“
„Dann kommen Sie eben um acht. Bis dahin werden Sie sich hoffentlich überlegt haben, daß es besser ist, mit der vollen Wahrheit herauszurücken.“ Der Wachtmeister steckte Notizbuch und Kugelschreiber ein und wandte sich zum Gehen.
„Wohin hat man den Grabowsky gebracht?“ fragte Paul Sanner rasch.
„Krankenhaus ,Rechts der Isar‘“, antwortete der Polizist barsch.
„Danke für die Auskunft!“ rief der Journalist ihm munter nach.
Kurz darauf hörten sie das Polizeiauto abfahren.
Paul Sanner lächelte dem sonderbaren Mädchen ermutigend zu. „So, jetzt bringe ich Sie in die Klinik, Fräulein Forester!“
Sie zögerte und sagte dann überraschend: „Danke. Das wird nicht mehr nötig sein.“
„Aber wieso denn nicht?“
Sie schauderte. Jetzt kann ich ihm doch nicht mehr helfen, nicht wahr?“
„Aber Sie werden doch wissen wollen …“ Paul Sanner brach ab. Er hatte sagen wollen: ,Ob er überlebt oder nicht‘, war sich aber während des Sprechens klargeworden, daß diese Formulierung allzu brutal gewesen wäre.
„Ich verstehe schon“, erklärte Marie Forester.
„Es interessiert Sie nicht?“ fragte Paul Sanner erstaunt.
Ihr voller Mund verzog sich zu einem schwachen Lächeln. „Ich denke, mein Bruder wird es überstehen.“
„Woher wollen Sie es wissen?“
„Ich weiß es nicht.“ Sie zuckte die Achseln. „Ich habe nur so ein Gefühl. Daß alles gut werden wird.“ Grußlos schritt sie davon.
„He, warten Sie!“ rief er und lief ihr nach.
„Ich bin jetzt müde.“
„Na klar sind sie müde. Wie könnte es anders sein! Deshalb möchte ich Sie nach Hause fahren.“
„Ich kann sehr gut zu Fuß gehen.“
„Natürlich können Sie das.“ Er trabte weiter eifrig neben ihr her. „Aber meinen Sie nicht auch, daß Sie für diese Nacht genug erlebt haben?“
„Es wird nichts mehr geschehen.“
„Tun Sie mir den Gefallen, und fahren Sie mit mir, Fräulein Forester! Ich habe auch so meine Gefühle, wissen Sie. Es ist mir verdammt unbehaglich bei dem Gedanken, Sie jetzt einfach allein zu lassen.“
Im Licht einer Laterne blieb sie stehen und sah an sich herunter. „Ich würde Ihren Wagen schmutzig machen.“
„Ach was!. Das Blut ist doch längst getrocknet. Außerdem hat mein altes Vehikel schon ganz andere Strapazen überstanden. Also kommen Sie schon. Mir zuliebe.“ Behutsam faßte er sie beim Arm und führte sie zu seinem VW zurück. Er öffnete ihr die Tür zum Beifahrersitz, wartete, bis sie es sich bequem gemacht hatte, schloß die Tür hinter ihr und stieg erst dann auf der anderen Seite ein.
„Lassen Sie immer die Zündschlüssel stecken?“ fragte sie.
Er freute sich über diese natürliche Bemerkung und grinste sie an. „Nur wenn ich es sehr eilig habe. Und vorhin hat es ja wirklich sehr pressiert. Wenn ich nicht so rasch zur Stelle gewesen wäre, hätte ich Sie womöglich gar nicht kennengelernt.“
Er hoffte, daß sie den Ball auffangen und auf seinen Flirtversuch eingehen würde. Aber sie tat es nicht. Sie sagte nichts, sah ihn nicht einmal an, saß einfach da, die langen Beine von sich gestreckt, die Hände in den Taschen vergraben, leicht zusammengesunken.
Er ließ den Motor an, brachte das Auto auf die Fahrbahn und wendete. „Wohin also?“
„Zur Herzogstraße.“
„Zu Fuß ist das aber noch eine ganze Ecke.“ Er fragte sich, warum sie, wenn sie schon in der Nacht spazierengehen mußte, nicht im modernen Teil Schwabings jenseits der Leopoldstraße geblieben war.
Sie äußerte sich nicht zu seiner Bemerkung.
Er unternahm einen neuen Versuch, sie zum Sprechen zu bringen. „Ich fürchte, ich habe mich nicht einmal vorgestellt.“
Diesmal reagierte sie. „Sie heißen Sanner, wenn ich den Polizisten richtig verstanden habe“, sagte sie in einem Ton, der deutlich machte, daß sie nicht im entferntesten daran interessiert war.
Er ließ sich nicht entmutigen. „Stimmt. Paul Sanner. Ich bin Journalist, Fräulein Forester.“ Gleichzeitig wurde ihm bewußt, daß diese Erklärung überflüssig war, denn wenn die Forester nicht ganz dumm war – und so schätzte er sie nicht ein –, hatte sie sich das schon selber zusammenreimen können. So war er diesmal auch nicht enttäuscht, daß sie nicht darauf einging. „Das hatten Sie sich schon gedacht, wie?“ fügte er hinzu.
„Ja, Herr Sanner“, sagte sie, wie es ihm schien, nur um nicht unhöflich zu sein.
„Darf ich fragen, was Sie studieren?“
Jetzt wurde sie etwas lebhafter. „Aber ich studiere gar nicht, nicht wirklich, meine ich. Das habe ich nie behauptet.“
„Nein, das haben Sie nicht, Fräulein Forester. Aber Sie erzählten dem Wachtmeister etwas von einem Institut, in das Sie müßten. Daraus habe ich geschlossen, Sie wären Studentin.“
Wieder zog sie sich in sich selber zurück.
„Nun seien Sie doch nicht so geheimnisvoll! Ich verstehe ja: Sie sind jetzt müde, vielleicht sogar erschöpft. Aber ein bißchen könnten Sie sich doch mit mir unterhalten. Schließlich sind die paar Fragen, die ich Ihnen stelle, ja nicht taktlos.“
„Wollen Sie über mich in Ihrer Zeitung schreiben?“ fragte sie überraschend.
„Ich muß Sie enttäuschen. Ich habe keine Zeitung, ich meine, ich habe keine feste Anstellung.“
„Aber Sie schreiben doch für irgendwelche Blätter?“
Das mußte er, wenn auch mit Unbehagen, zugeben.
„Ich will nicht in die Zeitung kommen.“
„Verstehe. Aber Sie können es bestimmt nicht verhindern, indem Sie die Geheimnisvolle spielen.“
„Ich spiele nicht.“
„Sehen Sie, ich könnte Ihnen jetzt hoch und heilig schwören, keine Zeile über Sie zu schreiben. Ich könnte mich sogar aus reiner Sympathie an diesen Schwur halten. In der Sache würde es gar nichts nutzen. Ich bin ja nicht der einzige Schreiberling in München, und viele Reporter haben gute Beziehungen zur Polizei.“
Dazu wußte sie keine Antwort oder wollte sie nichts sagen.
„Es wird schon nicht so schlimm werden“, tröstete er sie und zerbrach sich den Kopf, wie er sie zum Reden bringen könnte. Er hatte das Gefühl, es ganz falsch angefangen zu haben.
Nach einigem Überlegen entschloß er sich, von sich selber zu erzählen. „Ich stamme übrigens nicht aus München, sondern bin in Kassel geboren. Meine Eltern leben immer noch dort. Vor ein paar Jahren bin ich zum Studium hierhergekommen. Philologie. Dann hat es mir so gut gefallen, daß ich geblieben bin. Ob für immer oder vorläufig, das kann ich noch nicht sagen. In meinem Beruf muß man mobil sein. Ich wohne in der Keferloher Straße, ganz nahe am Olympiagelände. Da gibt es jede Möglichkeit, Sport zu treiben, und nachts ist es besonders eindrucksvoll, wenn Licht aus allen Fenstern der Hochhäuser fällt. Waren Sie schon einmal dort?“
Sie nickte.
„Interessieren Sie sich für Fußball?“
„Wir sind gleich da“, sagte sie statt einer Antwort.
Obwohl er absichtlich langsam gefahren war – auf den nächtlichen Straßen war kaum noch Verkehr – hatten sie die Herzogstraße schon erreicht.
„Halten Sie da vorne! Da! Vor dem großen Tor.“
Er bremste, wo sie es ihm angegeben hatte.
„Danke fürs Mitnehmen“, sagte sie und wollte rasch aussteigen.
Aber er war schneller als sie, lief um den VW herum und öffnete ihr die Tür.
„Danke“, wiederholte sie.
„Soll ich Sie nicht nach oben bringen?“ erbot er sich. „Ich habe nicht die Absicht, Sie zu belästigen. Ich möchte nur ganz sicher sein, daß Sie heil nach Hause kommen.“
„Aber das bin ich ja schon.“ Sie zog den Reißverschluß ihres Parkas ein Stück nach unten und holte aus der Innentasche einen Schlüsselbund hervor.
Links neben dem Tor, vor dem sie standen, war ein Blumenladen, rechts eine Musikalienhandlung; die Schaufenster waren nur matt beleuchtet.
Paul Sanner blickte zu dem düsteren Gebäude hoch. „Sieht aus wie ein Bürohaus.“
„Ist es auch“, bestätigte sie.
„Sie wohnen hier ganz allein?“
„Im Hinterhaus“, sagte sie und steckte einen ihrer Schlüssel in das Schloß des Tores.
„Aber dann müssen Sie ja noch über den Hof!“
„Macht nichts. Ich bin es gewohnt.“
„Bitte, lassen Sie mich Sie begleiten!“
„Ausgeschlossen!“ Sie schenkte ihm ein schwaches Lächeln. „Irn wahrsten Sinne des Wortes, verstehen Sie? Ich muß hinter mir abschließen. Das Tor darf nachts nicht offen sein.“ Sie zog den schweren Flügel einen Spalt auf. „Gute Nacht, Herr Sanner.“
„Sehen wir uns wieder?“
„Wer weiß!“ gab sie ausweichend zur Antwort, und schon war sie verschwunden.
Er hörte, wie sie von innen abschloß.
Paul Sanner wunderte sich über sich selbst. Er hätte über ihr Verhalten verärgert sein sollen, aber er war es nicht. Gerade ihre ablehnende Haltung reizte ihn, das Spiel nicht aufzugeben. Noch nachträglich beglückwünschte er sich, zum Tatort gefahren zu sein. Die Meldung über den Vorfall war nicht mehr als drei Zeilen wert. Aber er war sicher, daß mehr, viel mehr dahinterstecken mußte.
Der Hof war stockdunkel; die kleine Lampe über der Tür des Hinterhauses genügte nicht, ihn zu erhellen, sondern verstärkte noch den Eindruck pechschwarzer Finsternis. Aber Marie Forester empfand keine Spur von Furcht. Sie war sicher, daß ihr hier keine Gefahr drohte.
Ohne ihn wahrzunehmen, wich sie dem Lieferwagen der Computerfirma aus, die das Hinterhaus gemietet hatte. Es war stets die gleiche Stelle, an der er nachts geparkt wurde. Tagsüber ging es hier lebhaft zu. Es war ein ständiges Anfahren und Abfahren, Ausladen und Aufladen, Kommen und Gehen. Aber nach Geschäftsschluß lagen Haus und Hof völlig verlassen. Marie Forester hatte die einzige Privatwohnung, ein Atelier im fünften Stock unter dem Dach. Es machte ihr nichts aus, ja, es gefiel ihr sogar, und nicht nur deshalb, weil sie ihre Stereoanlage so laut aufdrehen konnte, wie sie wollte, ohne daß sie fürchten mußte, jemanden dadurch zu stören.
Ohne Angst schloß sie das leere Haus auf, trat ein, knipste die Beleuchtung an und schloß hinter sich ab. Mit dem Lift fuhr sie in den vierten Stock hinauf.
Dabei schoß es ihr durch den Kopf, daß ihr Bruder sie oft davor gewarnt hatte.
„Paß nur auf“, sagte er immer wieder, „früher oder später wird er einmal steckenbleiben, und du wirst die ganze Nacht darin verbringen müssen.“
„Und wenn schon!“ lautete ihre stereotype Antwort. „Für eine Person ist Platz und Luft genug drin.“
Heute, gestand sie sich allerdings, wäre ihr ein solcher Zwischenfall höchst unwillkommen gewesen. Sie sehnte sich nach ihrem Bett und war froh, als sie aussteigen konnte. Die letzte Treppe mußte sie zu Fuß erklimmen, denn der Lift fuhr nicht bis zum fünften Stock.
Sie schloß ihr Atelier auf – das Deckenlicht hatte sie brennen lassen –, schlüpfte aus ihrem Parka und hängte ihn auf den runden Kleiderständer. Sie streifte sich die Turnschuhe von den Füßen, lief ins Bad, riß sich Hemd und Hose vom Körper, warf sie achtlos in eine Ecke, stieg in die Badewanne und duschte sich ab. Danach hüllte sie sich in ein großes Frotteetuch, löschte alle Lichter und schlüpfte in das Bettzeug der schon für die Nacht gerichteten Couch.
Kaum daß sie den Wecker gestellt hatte, war sie auch schon eingeschlafen.
Hauptwachtmeister Werner, der Marie Forester am nächsten Morgen empfing und sie in ein kleines, kahles Vernehmungszimmer führte, war ein ruhiger, erfahrener Beamter. Er bat sie, Platz zu nehmen, fragte sie sogar, ob sie einen Kaffee haben oder rauchen wollte, was sie beides ablehnte.
„Ist es Ihnen recht, wenn ich ein Tonband laufen lasse?“ fragte er. „Dann kann einer meiner Leute es gleich anschließend abschreiben. Das ist angenehmer, als wenn ich selber tippe.“
Marie war einverstanden.
Mit einem Klick schaltete sich das Tonband ein und lief dann geräuschlos weiter.
Oberkommissar Werner zündete sich eine Zigarette an und zog einen schweren Porzellanaschenbecher mit der Reklame einer Autofirma näher an sich heran. Er schlug einen grasgrünen Ordner auf.
„Ihre Personalien haben wir also!“ stellte er fest. „Sie heißen Marie Forester, sind zwanzig Jahre alt, in Bayreuth geboren und leben seit zwei Jahren in München. Ist das richtig?“
„Ja.“ Sie merkte, daß sie die Hände verkrampft hatte, löste sie und versuchte, sich zu entspannen.
„Daß Sie nicht vorbestraft sind, haben wir inzwischen festgestellt. Aber hatten Sie jemals etwas mit der Polizei zu tun?“
„Nein.“
„Denken Sie genau nach!“
Angestrengt überlegte Marie die Antwort auf diese Frage. Dann gab sie zu: „Einmal. Ich war noch ein halbes Kind. Vierzehn Jahre alt. Da ist in der Nacht ein Feuer ausgebrochen. Im Bastelraum, der war in einem Nebengebäude. Damals besuchte ich ein Internat. Ich geriet in Verdacht, das Feuer gelegt zu haben. Aber ich hatte nichts damit zu tun.“ Sie blickte ihn an, und die leicht verschleierte blaugrüne Iris verwandelte sich in ein intensives Blau. „Wirklich nicht.“
„Ist man grob mit Ihnen umgesprungen?“
„Nein. Der Polizist war eher nett. Ich hatte das Gefühl, daß er von Anfang an den Verdacht, den die anderen gegen mich hatten, nicht teilte.“ Die Erinnerung an jene entsetzlichen Tage, in denen die Lehrer sie schikaniert und ihre Freundinnen sich von ihr distanziert hatten, überfiel sie mit Macht.
„Ist Ihnen nicht gut?“ fragte der Kommissar besorgt.
Marie schüttelte den Kopf.
„Möchten Sie vielleicht ein Glas Wasser?“
„Nein, danke. Es geht schon.“
„Sie haben also keinerlei Ressentiments gegenüber der Polizei? Keine Abneigung gegen die ,Bullen‘, wie man heutzutage so schön sagt?“
„Nein. Bestimmt nicht.“
„Freut mich zu hören. Dann werden Sie uns also helfen, und das ist gut so. Gestern nacht standen Sie unter einem Schock. Verständlich.“ Er schlug den Ordner zu. „Ich mache Ihnen einen Vorschlag: wir vergessen Ihre erste Aussage und fangen von vorne an.“
„Was ich Ihrem Kollegen gesagt habe, war die Wahrheit.“
„Fräulein Forester, ich fürchte, Sie machen sich nicht klar, um was es geht. Ihr Bruder ist niedergestochen worden. Ein Verbrechen, das wir aufdecken wollen. Es kann doch nicht in Ihrem Sinne sein, daß der Täter entkommt?“
„Warum fragen Sie nicht meinen Bruder?“
„Das werden wir tun.“ Hauptwachtmeister Werner drückte mit einer fast brutalen Geste seine Zigarette aus. „Falls er überlebt.“
„Das wird er!“ sagte Marie heftig. „Er darf nicht sterben!“
„Sein Tod würde die Situation für Sie ändern?“
„Nein! Natürlich doch. Es würde einen schweren Einschnitt in mein Leben … in unser Familienleben bedeuten. Aber eine andere Aussage machen könnte ich trotzdem nicht.“
„Versuchen Sie es bitte noch einmal. Ganz von vorne. Vielleicht kommen wir dann der Wahrheit auf die Spur. Versuchen Sie es!“
„Es fing damit an, daß ich nicht einschlafen konnte. Das passiert mir nicht oft, aber manchmal. Plötzlich hatte ich es satt, mich hin und her zu werfen und mir dumme Gedanken zu machen. Wenn man nachts nicht schlafen kann, tut man das ja. Ich entschloß mich, noch ein bißchen herumzulaufen, um müde zu werden.“
„Sie haben nicht etwa einen Anruf bekommen?“
„Nein.“
„Denken Sie genau nach!“
„Nein. Es war ja auch schon sehr spät. Um diese Zeit ruft niemand mehr an.“
„Haben Sie auf die Uhr gesehen?“
Ja, auf meinen Wecker. Es war fünf Minuten nach eins, als ich aufstand.“
„Also weit nach Mitternacht. Pflegen Sie öfter um diese Zeit durch die Stadt zu laufen?“
„Manchmal. Wenn ich nicht schlafen kann, wie gesagt.“
„Haben Sie denn keine Angst?“
„Nein.“
„Sie wissen nicht, daß solche Streifzüge für eine junge Frau gefährlich enden können?“
„Das schon. Aber nicht für mich. Ich habe einfach so das Gefühl, daß mir nichts passieren kann.“
„Wenn Sie meine Frau oder meine Tochter wären, würde ich es Ihnen verbieten.“
Marie reckte das Kinn. „Ich bin erwachsen – und unabhängig.“
Hauptwachtmeister Werner beugte sich zum Mikrophon. „Diese Zwischenbemerkung können Sie weglassen!“ sagte er in amtlichem Ton. Dann wandte er sich wieder Marie zu: „Sie hatten es plötzlich so eilig, aus dem Haus zu kommen, daß Sie sich nicht einmal die Zeit nahmen, sich ordentlich anzukleiden?“
Sie blickte ihm fest in die Augen. „Stimmt. Mich überfiel eine Art … ich weiß nicht, wie ich das nennen soll … eine Art Budenangst. Ich hatte das Gefühl, die Decke würde mir auf den Kopf fallen. So ähnlich. Deshalb streifte ich mir nur eine lange Hose über mein Nachthemd, Turnschuhe über die Füße und zog meinen Parka an.“
„Finden Sie das nicht selber, jetzt im nachhinein, einigermaßen sonderbar?“
„Nein, wieso denn? Ich wußte doch, daß ich um diese Zeit niemandem mehr begegnen würde.“ Sie machte eine kleine Pause. „Natürlich nahm ich meine Schlüssel und meine Taschenlampe mit.“
„Wieso ist das natürlich? Nachts in der Stadt eine Taschenlampe dabeizuhaben, meine ich.“
„Für mich schon. Ich wohne in einem Hinterhaus, und der Hof ist nicht beleuchtet. Außerdem“, fügte sie trotzig hinzu, „kann so eine schwere Lampe auch eine ganz gute Waffe sein – für den Fall, daß mich jemand anpöbeln wollte.“
„So ausgerüstet, rannten Sie also geradewegs nach Alt-Schwabing hinüber. Wieso das?“
„Auf den Weg habe ich gar nicht geachtet.“
Hauptwachtmeister Werner schlug den Ordner wieder auf. „Der Anruf des Wirtes erreichte den Notruf Punkt zwanzig nach eins. Wenn Sie um fünf nach eins aufgestanden sind, müssen Sie ja einen Affenzahn draufgehabt haben.“
Marie dachte nach. „Wahrscheinlich habe ich mich in diesem Punkt geirrt. Ich gebe zu, was die Uhrzeit betrifft, bin ich mir jetzt nicht mehr sicher. Wahrscheinlich war es vor und nicht nach eins, als ich aufgestanden bin.“
„Eben haben Sie noch mit Bestimmtheit behauptet …“
Sie fiel ihm ins Wort: „Ja, da habe ich es auch noch geglaubt. Aber wenn Sie sagen, der Notruf kam schon um zwanzig nach – das muß ja registriert worden sein muß ich mich eben vertan haben. Ich habe ja auch nicht sofort Alarm geschlagen, sondern mich erst über meinen verletzten Bruder gebeugt und versucht, ihm zu helfen. In so kurzer Zeit kann das einfach nicht alles passiert sein.“
„Jetzt erzählen Sie mir doch mal genau, wie Sie ihn gefunden haben.“
„Es fiel mir auf, daß das Tor zu der Sackgasse offenstand. Es ist sonst abends immer geschlossen. Auch die Laterne im hintersten Winkel brannte nicht, ja, vielleicht ist mir das sogar zuerst aufgefallen. Gewöhnlich kann man sie von der Straße aus sehen.“
„Sie scheinen sich erstaunlich gut dort auszukennen.“
„Erstaunlich würde ich nicht sagen. Ich gehe oft in Schwabing spazieren, dort, wo es noch einen gewissen dörflichen Charakter hat. Ich finde es malerisch und interessant. Außerdem übe ich mich darin, mir Einzelheiten einzuprägen.“
„Klingt überaus plausibel!“ bemerkte der Hauptwachtmeister nicht ohne Ironie. „Wenn Sie mir jetzt noch erklären können, was Sie zum Teufel bewogen hat, in diese doch wahrscheinlich stockdunkle Sackgasse einzudringen.“
„So dunkel war es nicht. Es fiel ja Licht aus den rückwärtigen Fenstern, und ich hatte meine Taschenlampe.“
„Das erklärt gar nichts.“
Marie schwieg.
„Ihre Darstellung des Hergangs entbehrt jeder Logik. Soll ich Ihnen jetzt mal erzählen, was sich wirklich abgespielt hat?“
„Ich habe es Ihnen ja gerade geschildert.“
„Nein, das haben Sie nicht. Günther Grabowsky ist von jemandem niedergestochen worden, sei es nun Mann oder Frau, wahrscheinlich können wir aber davon ausgehen, daß es sich um einen Mann handelt, der ihm persönlich bekannt war. Nach der Tat hat er dann das große Nervenflattern bekommen und Sie angerufen, worauf Sie losgestürzt sind, um Ihren Stiefbruder zu suchen.“
„Nein!“
Der Hauptwachtmeister tat ihren Widerspruch mit einer Handbewegung ab. „Natürlich wäre es richtiger gewesen, wenn Sie den Notruf gewählt hätten. Dann wäre Ihr Bruder zwanzig Minuten früher gefunden worden. Aber das haben Sie nicht gewagt, weil Sie fürchteten, dann den Namen des Informanten preisgeben zu müssen.“
„Nein!“
„Ich gebe zu, daß es nicht unbedingt der Täter gewesen sein muß, der Sie alarmiert hat. Es kann auch ein Zeuge gewesen sein. Aber auch durch dessen Aussage hätten wir den Täter eruiert.“
„Sie sollten mir keine Unlogik vorwerfen, Herr Hauptwachtmeister“, sagte Marie und warf den Kopf zurück. „Unterstellen wir mal, ich wäre angerufen worden – was ich allerdings nach wie vor mit Nachdruck bestreite –, dann hätte der Täter oder Zeuge nicht nur meinen Bruder kennen, sondern auch meine Telefonnummer haben müssen. Das wäre doch äußerst unwahrscheinlich.“
„Kann ich nicht finden.“
„Außerdem hätte ich sehr wohl den Notarzt alarmieren können. Nach Ihrer Darstellung hätte ich ja genau angeben können, wo der Verletzte zu finden war. Das hätte doch genügt. Meinen Namen hätte ich ja gar nicht zu nennen brauchen. Oder ich hätte einen falschen angeben können. Warum denn nicht?“
„Das fällt Ihnen erst jetzt ein. In der Nacht haben Sie nicht daran gedacht. Sie waren äußerst bestürzt, in echte Panik geraten.“
„Sie machen sich ein völlig falsches Bild von mir, Herr Hauptwachtmeister. Ich würde niemals wie eine kopflose Henne reagieren.“
„Ich glaube Ihnen kein. Wort.“
„Das werden Sie schon noch. Spätestens, wenn Sie mit meinem Bruder gesprochen haben.“
„Falls es dazu kommt.“
„Ich finde es nicht anständig, daß Sie mir dauernd Angst einjagen wollen. Ich habe heute früh in der Klinik angerufen. Er hat die Nacht überlebt und ist so gut wie außer Gefahr.“
„Da bin ich gar nicht so sicher.“
„Aber ich!“
Ohne Marie anzusehen, zündete der Polizeibeamte sich eine neue Zigarette an. „Wechseln wir mal das Thema, ja? Sie kennen die Kreise, in denen er verkehrt.“
„Nicht sehr gut.“
„Wirklich nicht? Sie leben beide in derselben Stadt, fern von zu Hause, sind beide jung …“
Marie fiel ihm ins Wort. „Günther ist fünf Jahre älter als ich.“
„Was macht das schon für einen Unterschied?“
„Einen gewaltigen. Außerdem haben wir nicht die gleichen Interessen.“
„Sie wissen also nicht, ob er mit Drogen zu tun hat?“
„Drogen?“ wiederholte Marie verblüfft.
„Noch nie von so etwas gehört, wie?“
„Gehört schon und auch gelesen. Aber ich verstehe nicht, wie Sie darauf kommen, daß ausgerechnet mein Bruder …
Er ließ sie nicht aussprechen. „Weil es gerade in der Drogenszene häufig zu Schlägereien und Messerstechereien kommt, zum Beispiel, wenn ein Dealer einem Kunden den Stoff verweigert. Etwas Derartiges könnte hinter der Tat stecken. Der verschwiegene Winkel, in den sich die Streitenden zurückgezogen haben, spricht dafür.“
„Hören Sie, Herr Hauptwachtmeister! Ich kann zwar nicht beschwören, daß Günther nicht schon mal Hasch oder Marihuana genommen hat, obwohl ich das niemals mitgekriegt habe – aber ein Dealer ist er mit Gewißheit nicht!“
„Daß er sich Rauschgift besorgen wollte, halten Sie also für möglich?“
„Jetzt versuchen Sie, mir das Wort im Mund zu verdrehen!“ rief Marie empört. „Was ich nicht ausschließen wollte, war ja nur, daß er es mal versucht haben könnte, wenn man es ihm auf einer Party angeboten hat oder so. Und Sie unterstellen sofort, daß er süchtig ist.“
„Unterstellen tue ich gar nichts. Ich versuche nur, der Wahrheit auf den Grund zu kommen. Aber Sie machen es mir verdammt schwer.“
„Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß. Jetzt wird es Zeit, daß ich zum Unterricht komme.“
„Sie besuchen das ,Privatinstitut Geissler‘?“
„Ja.“
„Wozu?“
„Komische Frage. Ich will malen lernen, besonders zeichnen. Die Aufnahmebedingungen für die Kunstakademie sind sehr schwer.“
„Malen wollen Sie also? Ist das nicht in der heutigen Zeit eine ziemlich brotlose Kunst?“
„Über meine Zukunft und meine Finanzen brauchen Sie sich aber nun wirklich keine Gedanken zu machen!“ Marie griff nach ihrem Köfferchen, das ihre Zeichenutensilien enthielt, und stand auf.
Hauptwachtmeister Werner hielt sie zurück. „Nicht so hastig! Wir müssen noch das Protokoll aufsetzen.“
„Ich wette, das können Sie auch allein. Ich habe alles gesagt, was zu sagen war.“
„Eine letzte Frage …“
„Ja?“ Marie blieb abwartend stehen.
„Betätigt Ihr Bruder sich politisch?“
„Nein.“ Vorsichtig setzte sie hinzu: „Soviel ich weiß.“
„Wie ist seine politische Einstellung?“
Marie verbiß sich die Frage, was dies denn mit dem Fall zu tun habe, denn sie hatte es jetzt sehr eilig fortzukommen. „Eher konservativ“, erklärte sie.
„Na dann!“ sagte Hauptkommissar Werner ausdruckslos und stellte das Tonbandgerät ab. „Laufen Sie also los! Aber machen Sie nicht den Fehler, Ihren Bruder zu besuchen, bevor wir ihn vernommen haben!“
„Das können Sie mir nicht verbieten!“
„Das will ich gar nicht, und ich setze ihm auch keinen Wachtposten vor die Tür. Dafür ist der Fall nicht wichtig genug. Ich rate es Ihnen nur im Guten.“
„Warum?“
„Damit Sie nicht in den Verdacht der Absprache geraten. Sie können sich doch nichts Besseres wünschen, als daß er unbeeinflußt Ihre Darstellung bestätigt.“
„Ach so. Ja, natürlich.“
„Und vergessen Sie nicht, daß wir noch Ihre Unterschrift brauchen.“
„Ich könnte in der Mittagspause kommen.“
„Sehr schön. Vielleicht war bis dahin schon einer meiner Kollegen in der Klinik.“
„Hoffentlich!“ erwiderte Marie und beeilte sich fortzukommen.
Paul Sanner hatte Marie noch vor der Vernehmung abfangen wollen, um sie wiederzusehen und ihr Mut zuzusprechen. Aber er war zu spät gekommen. Jetzt stand er im Empfangsraum des Polizeireviers vor der hölzernen Barriere und wartete auf sie. Dabei spitzte er gewohnheitsmäßig die Ohren, um möglichst viel von den Klagen und Anschuldigungen einer angeblich bestohlenen alten Frau und den Ausreden eines jungen Mannes, den man mit Kokain erwischt hatte, mitzubekommen. Es mochten sich ein paar Zeilen dabei herausschinden lassen. Er war damit so beschäftigt, daß er Marie, die aus einer rückwärtigen Tür des großen Raumes kam und sich zwischen den Schreibtischen durchschlängelte, die von uniformierten Beamten besetzt waren, gar nicht bemerkte. Erst als ein junger Polizist ihr die Barriere öffnete und sie fast unmittelbar vor ihm stand, erkannte er sie.
„Fräulein Forester!“ rief er erfreut. „Da sind sie ja endlich!“
„Tut mir leid“, entgegnete sie kurz angebunden, „ich habe jetzt überhaupt keine Zeit.“ Sie ging an ihm vorbei auf den Ausgang zu.
Er blieb an ihrer Seite. „Wenn Sie es eilig haben – ich bringe Sie gerne, wohin immer Sie wollen.“
Jetzt schenkte sie ihm ein Lächeln. „Zum Pündterplatz. Das wäre wirklich sehr nett von Ihnen.“
„Für Sie tue ich doch alles!“ behauptete er überschwenglich.
Ihr Lächeln vertiefte sich. Jetzt übertreiben Sie nur nicht.“
Er blickte sie bewundernd an. Sie war, was er schon in der Nacht zuvor geahnt hatte, ein wirklich schönes Mädchen. Das aschblonde, jetzt gründlich durchgebürstete Haar, umwogte ein schmales Gesicht, dem die stark ausgeprägten Jochbogen einen leicht slawischen Charakter gaben. Ihre Haut hatte immer noch jenes Porzellanweiß, das ihm schon in der Nacht aufgefallen war, aber jetzt waren ihre Wangen leicht gerötet, ob vor Erregung oder mit Hilfe eines kosmetischen Kunstgriffs vermochte er nicht zu beurteilen. Jedenfalls hatte sie das natürlich leuchtende Rot ihrer Lippen mit einem hellen Stift gedämpft, die Augenbrauen mit einem grauen Stift nachgezogen und die Wimpern getuscht. In ihrem Hosenanzug aus Waschleder wirkte sie sehr elegant, gerade weil er schon etwas abgewetzt war. Ihr Profil, das er jetzt beobachtete, während er neben ihr hereilte, zeigte eine gerade Nase und ein rundes Kinn, beides zu kräftig, als daß man sie in landläufigem Sinn als hübsch hätte bezeichnen können. Aber eine Schönheit war sie, das stand für ihn ganz außer Frage.
„Hat man Ihnen schwer zugesetzt?“ fragte er, während er ihr die Tür seines klapprigen VW’s aufriß; diesmal hatte er den Zündschlüssel zwar abgezogen, es aber nicht der Mühe wert gefunden, das Auto abzuschließen.
„Das kann man wohl sagen.“ Als er sich neben sie gesetzt hatte und den Motor anließ, fügte sie hinzu: „Ich finde es komisch, daß man gleich wie ein Verbrecher angesehen wird, bloß weil man Opfer geworden ist.“
„Tatsächlich? Hat man das?“
„Nicht direkt. Aber dieser Hauptwachtmeister hat mir doch tatsächlich erklärt, mein Bruder könnte zur Drogenszene gehören. Ausgerechnet Günther! Und wenn ich nicht betont hätte, daß er politisch rechts steht, hätte er ihn womöglich dem Terrorismus zugeordnet, zumindestens dem Umfeld.“
„Regen Sie sich nicht auf, Fräulein Forester! Da das alles nicht stimmt, kann Ihrem Bruder ja nichts passieren. Ich habe mich übrigens im Krankenhaus nach ihm erkundigt …“
„Danke. Ich auch. Ich bin sicher, er wird es überleben.“
„Das ist doch die Hauptsache, nicht wahr?“
„Natürlich. Aber die Art, wie die Polizei mit einem umgeht, ärgert mich doch. Mir hat dieser Hauptwachtmeister kein Wort geglaubt.“
„Und Sie haben auch nichts zugegeben“, sagte er und bereute es sofort.
„Zugegeben?“ wiederholte sie und blickte ihn an, wobei das leicht verschleierte Blaugrün ihrer Iris sich in ein intensives Blau verwandelte, ein Vorgang, der sich so schnell vollzog, daß Paul Sanner gleich darauf glaubte, es geträumt zu haben. „Was hätte ich zugeben sollen?“ fragte sie.
„Ach, vergessen Sie’s!“ sagte er rasch. „Es war nur so ein dummer Spruch. Als Studenten sagten wir immer: Man soll nie was zugeben, was einem die Polizei nicht beweisen kann.“ Er bog an der Münchener Freiheit in die breite, sehr belebte Herzogstraße ein und fuhr in Richtung Pündterplatz. „Überhaupt sollte es für uns doch andere Themen geben als diese scheußliche Geschichte. Unterhalten wir uns doch mal in Ruhe miteinander. Gehen wir morgen abend zusammen essen, ja?“
Ein wenig überrascht sah sie ihn an und nahm ihn jetzt zum ersten Mal wirklich wahr. Bis zu diesem Augenblick war er für sie nichts als eine Art Marionette gewesen, der wie der Wirt, die Polizisten, der Arzt und die Sanitäter nur ihre Rolle in einem vorprogrammierten Stück gespielt hat. Er war ein charmanter junger Mann mit hellbraunem, weichem Haar und blauen Augen, die durch dunkle, auffallend dichte Wimpern besonders strahlend wirkten. Sie empfand, daß er ihr sympathisch war, zögerte aber dennoch, seine Einladung anzunehmen. Es war nicht ihre Art, rasch Bekanntschaften zu machen oder gar Freundschaften zu schließen.
„Kommen Sie, kommen Sie!“ drängte er. „Was haben Sie schon zu verlieren? Da Sie offensichtlich sonst nichts Vorhaben …“
Sie war nahe daran, eine Ausrede zu erfinden, entschied dann aber, daß eine Lüge in diesem Fall absolut nicht dafür stand. „Na schön. Wo treffen wir uns?“
„Ich hole Sie ab.“
„Und wann?“
„Gegen acht.“
„Sie müssen schon pünktlich sein, denn ich werde auf der Straße auf Sie warten. Ich glaube, ich habe es Ihnen schon mal erklärt: nach sieben Uhr wird das Tor verschlossen.“
„Kann man denn nicht bei Ihnen klingeln?“ fragte er erstaunt.
„Nicht von der Straße aus, nur von der Haustür.“
„Mein Gott, wie umständlich! Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, mir macht das nichts aus. Aber wie können Sie dann überhaupt abends Freunde empfangen?“
„Das tue ich auch nicht“, bekannte sie.
„Nie?“
Er fragte das so verblüfft, daß sie es für richtiger hielt, ihr Geständnis abzumildern.
„Wer mich abends erreichen will, ruft mich vorher an!“ behauptete sie. „Und ich glaube, so sollten wir es auch morgen machen. Telefonieren Sie, wenn Sie genau wissen, wann Sie dasein werden, und ich komme hinunter.“
Sie hatten den Platz inzwischen erreicht, und Paul Sanner hatte gebremst, war aber, da er keinen Parkplatz fand, auf der Fahrbahn stehengeblieben. Noch während sie sprach, hatte sie schon die Tür geöffnet und ihr Köfferchen genommen, das sie neben ihren Beinen abgestellt hatte. Jetzt sprang sie heraus.
„Bis morgen abend!“ rief er hinter ihr her, war aber nicht sicher, ob sie ihn noch gehört hatte. Er hätte ihr noch nachsehen mögen, wie sie auf ihren langen Beinen mit großen Schritten davonging. Aber um den Verkehr nicht zu behindern, riß er sich von ihrem Anblick los und fuhr weiter.
Ein seltsames Mädchen, dachte er.
Das ,Privatinstitut Geissler‘ war in einem schönen alten Haus mit prächtig verziertem Mauerwerk untergebracht, das einst eine private Villa gewesen war.
Marie eilte, nachdem der Pförtner ihr geöffnet hatte, durch die große, etwas düstere Halle, riß sich in der Garderobe die Jacke herunter, hing sie in ihren Spind und zog sich einen weißen Kittel über. Die summende Stille, die sie empfing, verriet ihr, daß der Unterricht schon begonnen hatte. Obwohl sie sich nicht durch eigene Schuld verspätet hatte, war es ihr doch sehr peinlich, zumal sie die erste Stunde, anatomisches Zeichnen, bei Professor Reisinger hatte, einer wirklichen Kapazität, von den Schülern bewundert, umschwärmt und auch gefürchtet.
Bernhard Reisinger hatte sich schon in jungen Jahren, er war erst zweiunddreißig, einen Namen als Kunstmaler gemacht, galt nicht nur als genial, sondern auch als Gesellschaftslöwe, so daß er über Mangel an Aufträgen, seien sie staatlich, städtisch oder privat, nicht zu klagen brauchte. Es hieß, daß er am Institut nur aus Freundschaft zu dessen Besitzerin und Direktorin Frau Henriette Geissler unterrichtete, die ihn am Beginn seiner Karriere nachhaltig gefördert hatte. Ihm verdankte die Kunstschule ihre Attraktivität.
Marie flog die breite Treppe hinauf und hoffte inständig, daß ihre Verspätung nicht auffallen würde. Wenn Professor Reisinger angeblich auch nur aus Gefälligkeit unterrichtete, pflegte er sich doch sehr auf die Arbeiten der einzelnen Schüler zu konzentrieren. Lautlos öffnete sie die Tür zu dem hellen hohen Raum, nur einen Spalt breit, durch den sie sich hineinzwängte, schloß sie genauso geräuschlos wieder hinter sich.
Aber Professor Reisinger, der sich über das Zeichenbrett Gregor Krykowkys gebeugt hatte, richtete sich sofort auf und blickte ihr entgegen. „Sie sind spät dran, Marie!“ stellte er fest. „Gibt es jetzt etwas in Ihrem Leben, das Ihnen wichtiger ist als die Kunst? Oder haben Sie einfach verschlafen?“
Die anderen Schülerinnen kicherten über diesen Kommentar, aber Marie ärgerte sich. Dennoch hielt sie dem Blick seiner grünen, goldgesprenkelten Augen stand. „Verzeihen Sie, Herr Professor!“
„Bei mir brauchen Sie sich nicht zu entschuldigen, Marie! Sie lernen ja auch nicht mir zuliebe.“
„Nein, bestimmt nicht!“ gab Marie zurück. Im selben Augenblick wurde ihr bewußt, daß diese Erwiderung kindisch gewirkt haben mußte.
„Dann also los! An die Arbeit! Verlieren Sie nicht noch mehr Zeit!“
Marie öffnete ihr schwarzes Köfferchen, holte ein rotes Seidentuch heraus, mit dem sie ihr langes Haar im Nacken zusammenband, und spannte ein grobkörniges Blatt auf ihren Zeichentisch. Dann fixierte sie das Modell, das im hellen Licht, das aus den großen Fenstern vom Garten her fiel, nackt auf einem Podest saß. Es war eine alte Frau mit Hängebrüsten, einem ausgeleierten Bauch, die entspannt, mit übergeschlagenen Beinen auf einem Schemel hockte. Auch das noch! dachte Marie. Ich werde nie begreifen, warum man so etwas skizzieren soll.
Aber natürlich wußte sie, daß es sein mußte. Sonst hätte Professor Reisinger, der selbst längst über die gegenständliche Malerei hinaus war, es nicht von seinen Schülern verlangt. Er war genau darüber orientiert, was für die Aufnahme in die Staatliche Kunstakademie von den Anwärtern verlangt wurde. Sie nahm einen Kohlestift und machte sich an die Arbeit.
„Hübsch, nicht?“ flüsterte Anita Lehnertz, ihre Nachbarin zur Linken, ihr zu. „Wenn ich mir vorstelle, daß ich später auch mal so aussehen werde!“ Anita war bildhübsch mit ihrer wohlproportionierten Figur, blondgelocktem Haar, das noch durch geschickt verteilte Strähnchen und himmelblaue Augen aufgehellt wurde.
„Du nicht!“ gab Marie zurück.
„Wie kannst du da so sicher sein?“
„Die hat mindestens drei Kinder gehabt und sich außerdem sträflich gehenlassen.“
Anita, die sich ihr Studium als Fotomodell verdiente, lächelte. „Klar erkannt“, flüsterte sie.
Professor Reisinger näherte sich ihr von hinten. „Na, kleines Plauderstündchen?“ fragte er.
„Wir haben nur über das Modell gesprochen“, verteidigte sich Anita.
„Gefällt Ihnen wohl nicht, Fräulein Lehnertz?“
Anita schauderte übertrieben. „Schlechte Aussichten für die Zukunft!“
„Das ist der Weg alles Irdischen.“ Er beugte sich über ihr Zeichenbrett. „Schon recht ordentlich.“
Anita bedachte ihn mit einem hingebungsvollen Augenaufschlag. „Wirklich, Herr Professor?“