Die Frauen der Villa Sommerwind. Das Glück am Horizont. - Anna Husen - E-Book
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Die Frauen der Villa Sommerwind. Das Glück am Horizont. E-Book

Anna Husen

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Beschreibung

Ein unerwartetes Erbe führt Henriette Hohnhold und ihre Familie 1903 nach Timmendorfer Strand: Die Villa Sommerwind, die nun den Hohnholds gehört, soll nach dem Willen von Vater Eberhart ein exquisites Hotel werden. Vom ersten Tag an ist Henriette die rechte Hand ihres Vaters und stürzt sich begeistert in die vielfältigen Aufgaben. Doch eines Morgens macht sie eine Beobachtung, die zu einem heftigen Streit zwischen Vater und Tochter führt. Aufgelöst läuft die junge Frau davon und findet sich schließlich in Niendorf wieder, wo sich Ole, der Sohn eines Fischers, rührend um sie kümmert. Trotz des Standesunterschieds ist es Liebe auf den ersten Blick – Henriettes Vater hat allerdings längt ihre Verlobung mit einem anderen arrangiert … Nostalgisch und lebensfroh lässt Anna Husens historische Familiensaga das Ostsee-Bad Timmendorfer Strand lebendig werden und entführt die Leser*innen zu eleganten Festen, ausgelassenen Tagen am Strand und zu einer großen Liebe, die nicht sein darf …

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Seitenzahl: 596

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Anna Husen

Die Frauen der Villa Sommerwind

Das Glück am Horizont

Roman

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Neubeginn zwischen Sommerglück und Sturmböen:Der Auftakt der großen Timmendorfer-Strand-Saga

 

Das Ostseebad Timmendorfer Strand 1903: Henriettes Familie hat in dem mondänen Kurort eine Villa geerbt, aus der der Vater ein elegantes Hotel machen will. Die begeisterte Henriette wird schnell seine rechte Hand. Eines Tages landet die junge Frau ungeplant im Fischerdorf Niendorf, wo sie Ole kennenlernt. Trotz des Standesunterschieds ist es Liebe auf den ersten Blick – doch Henriettes Vater hat längst ihre Verlobung mit dem Sohn einer angesehenen Familie arrangiert. Als dann auch noch der Schatten des Ersten Weltkriegs auf den Kurort fällt, muss Henriette alles geben, um ihre Familie zu beschützen …

Inhaltsübersicht

Widmung

Teil 1

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Teil 2

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Teil 3

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Danksagung

 

 

 

 

Für Sascha.

Weil du die Liebe meines Lebens bist.

Weil alles mit dir an meiner Seite besser ist.

Weil selbst die Dunkelheit mit dir mir keine Angst macht.

Weil du mir die Welt bedeutest.

Teil 1

Kapitel 1

Henriette
Timmendorfer Strand, April 1903

Du wirst deinen Platz in dieser Welt finden, meine kleine Henni. Auch ohne mich.

Die Worte zuckten wie ein greller Blitz durch ihre Gedanken, und ruckartig öffnete Henriette die Augen. Sie blinzelte gegen das Sonnenlicht, als die Kraftdroschke mit einem dumpfen Rumpeln zum Stehen kam.

»Sind wir schon da?«, murmelte ihr kleiner Bruder Hermann, der mit dem Kopf auf ihrem Schoß eingeschlafen war.

Sein dunkler Lockenschopf umrahmte das blasse Gesicht wie ein Kranz. Schläfrig öffnete der Junge die Augen. Er war nun schon acht Jahre alt, aber ihre frühe Abreise aus Hamburg, der Abschied von seinen Schulkameraden und die Aufregung, bald ein neues Zuhause zu haben, schienen ihn völlig geschafft zu haben. Liebevoll lächelnd strich Henriette ihm über die Stirn.

»Ja, das sind wir. Komm, steh auf.« Sie half ihm hoch, und neugierig schaute Hermann aus dem Fenster.

Henriettes Blick fiel auf ihre Schwester Sibylle, die ihr gegenübersaß – Stricknadeln und Wolle in der Hand – und den Kopf zur Seite neigte.

»Du hast nicht geschlafen«, bemerkte Henriette und streckte ihre verkrampften Glieder.

Sie war dankbar für ihr Korsett, denn immerhin hatte sie nicht völlig krumm dagesessen, sodass nur ihr Nacken sich ein wenig steif anfühlte.

Sibylle wackelte grinsend mit den Augenbrauen und schlug die Beine übereinander. »Ich habe über euch gewacht.«

Henriette unterdrückte ein Seufzen und griff nach der Hand ihrer kleinen Schwester. »Du bist ein Engel, Sibylle«, wisperte sie und erkannte in den fein geschwungenen Gesichtszügen immer mehr eine junge Frau, denn Sibylle war nun auch schon vierzehn Jahre alt. Und doch sah sie in den hellblauen Augen ihrer Schwester immer noch das Mädchen, das die Mutter viel zu früh verloren hatte.

»Einen Engel kannst du mich nennen, wenn ich hiermit fertig bin.« Sibylle hielt den Stoff direkt vor Henriettes Nase, sodass die zurückzuckte und ihre Augen zusammenkniff, um zu erkennen, was ihre Schwester gestrickt hatte.

»Ist das …« Henriette betrachtete den fliederfarbenen Stoff eingehend. »… eine Strickjacke?«

»Sehr gut kombiniert, Watson.« Sibylles Stimme troff nur so vor Ironie, und Henriette verdrehte die Augen.

Sibylle hatte einen regelrechten Narren an den Büchern des Meisterdetektivs Sherlock Holmes gefressen, die ihre Tante dem Mädchen von ihren Besuchen im Vereinigten Königreich mitgebracht hatte. Henriette verstand diese Passion nicht wirklich, aber sie freute sich, dass Sibylle eine zweite Leidenschaft neben dem Stricken gefunden hatte.

»Und diese Jacke ist für …?«

»Können wir endlich aussteigen?«, unterbrach Hermann seine Schwestern ungeduldig und tippelte von einem Bein auf das andere.

Henriette sah ihn mit einem Grinsen an. Er sah adrett aus in seinem neuen Matrosenanzug, den ihre Tante Martha ihm vor der Abreise geschenkt hatte.

»Ja«, sagte Henriette und schob ihren Bruder sanft zur Tür der Kraftdroschke, »wir steigen jetzt aus, du ungeduldiges Kind.«

Hermann verzog das Gesicht zu einer spitzbübischen Grimasse und streckte seiner Schwester die Zunge heraus, bevor er die Tür öffnete und ins Freie sprang. Henriette schüttelte den Kopf und folgte ihrem Bruder, nur um im nächsten Augenblick scharf die Luft einzuziehen und wie angewurzelt auf dem Gehweg stehen zu bleiben.

»Wie schön …«, murmelte sie voller Ehrfurcht, und ihre Augen streiften über die schneeweiße Fassade des Hotels vor ihr. Golden glänzten die Fensterläden im Licht der Sonne, und die Dachterrasse wurde rechts und links von blauen Dachschindeln umrahmt, die wie das Meer funkelten. Mehrere kleine Fenster zierten die Front des Gebäudes, wogegen im Erdgeschoss meterhohe Fenster prangten, die den Blick auf eine wunderschöne Halle freigaben. Die Simse und Bögen waren mit Schnörkeln und kleinen Figuren im nautischen Stil verziert, die Henriette jedoch eher kitschig als schön fand.

»Ist das unser neues Zuhause?«, fragte Hermann plötzlich neben ihr und strahlte Henriette an.

»Ja …« Sie legte eine Hand auf seine Schulter und kniete sich neben ihn. »Das ist die Villa Sommerwind.«

Ein Schauer lief über ihren Rücken, als sie diese Worte aussprach. Ihr Herz klopfte vor Aufregung beinahe schmerzhaft gegen ihre Rippen.

»Habe ich dir zu viel versprochen?«, erklang der raue Bariton ihres Vaters hinter Henriette, und sie wirbelte herum. Eberhart Hohnhold lächelte und schloss seine älteste Tochter in die Arme.

»Nein«, wisperte Henriette an seiner Brust und löste sich dann zaghaft von ihm.

Die schwarzen Haare ihres Vaters glänzten im Sonnenlicht, nur einige wenige silberne Strähnen zogen sich durch die dichte Haarpracht. Genau wie alle Mitglieder ihrer Familie hatte ihr Vater blaue Augen und dunkles Haar. Man sah ihm kaum an, dass er schon vierzig Jahre alt war, nein, der Glanz in seinen Augen und dieses sanfte Lächeln ließen ihn um Jahre jünger erscheinen.

»Du wirst begeistert sein, wie wunderschön alles im Inneren geworden ist. Die Empfangshalle ist exquisit, das Restaurant modern und stilvoll eingerichtet und auch …«

»Vater«, unterbrach Henriette seinen Redefluss und drückte seine Hand. »Ich bin sicher, dass es wunderschön ist. Und es ist unsere gemeinsame Zukunft.«

Für einen winzigen Augenblick funkelte eine Träne in seinem Auge. Seine Mundwinkel verzogen sich leicht nach unten, und die Hand, die Henriette noch hielt, zitterte etwas. Dann jedoch, als wäre diese Sekunde wie weggewischt in der Zeit, strahlte ihr Vater sie wieder an und küsste Henriette auf die Stirn.

»Das ist es. Unsere Zukunft in diesem herrlichen Kurort. Wenn du genau hinhörst, kannst du sogar von hier das Rauschen der Wellen hören.«

Henriette spitzte die Ohren und schloss die Augen, schnupperte die Luft und roch das Salz, lauschte dem Geschrei der Möwen und den rauen Wellen, die am Strand brachen. Sehnsuchtsvoll öffnete sie die Augen, am liebsten wäre sie sofort ans Wasser hinuntergelaufen, aber sie hatte noch einiges zu tun.

Ihr Blick fiel auf den Karren, auf den soeben vom Fahrer und von einem Jungen ihr letztes Gepäck gehievt wurde. Alles andere hatte ihr Vater im Laufe der letzten Wochen von Hamburg schon hierherbringen lassen. Sie drehte sich einmal um die eigene Achse und schaute die kleine Straße auf und ab. Noch geschlossene Restaurants und kleine Kaffeehäuser, die gerade ihre Türen öffneten. Prächtige Villen im ländlichen Stil mit verschnörkelten Fensterläden und einladenden Treppenaufgängen säumten den Weg. Noch herrschte Ruhe im Kurort, denn sie waren in aller Herrgottsfrühe aus Hamburg mit dem Zug nach Lübeck aufgebrochen und von dort mit der Kraftdroschke bis in den Kurort gefahren.

»Du möchtest dich bestimmt umsehen«, riss der Vater Henriette aus ihren Gedanken, und sie sah lächelnd zu ihm hin.

»Ja, aber dafür habe ich später Zeit. Ich sollte Sibylle und Hermann in ihre Zimmer bringen, mit der Gouvernante sprechen, die du eingestellt hast, mit den Zimmermädchen und Hausangestellten. Und dann möchte ich mit dir die Belegungspläne durchgehen … ach, und wir wollten noch mit Ernst Damm, dem Strandfotografen, sprechen und …«

»Henriette.«

Sie hielt abrupt inne, denn die Stimme des Vaters ließ keinen Widerspruch zu. Zaghaft fuhr er mit der Hand über ihre Wange und lächelte sie an. »Du hast so viel von deiner Mutter, mein Kind, aber bitte übernimm dich nicht. All diese Dinge haben noch Zeit.«

Wie ertappt biss Henriette sich auf die Unterlippe und schenkte ihrem Vater ein zaghaftes Lächeln. Er hatte recht. In dieser Hinsicht war sie tatsächlich wie ihre Mutter, sie übernahm gern Verantwortung und dachte wenig an sich selbst. Aber das hatte sie im Laufe der Jahre auch lernen müssen.

»In Ordnung«, murmelte Henriette, »aber bitte lass mich nachher trotzdem mit dir die Belegungspläne durchgehen, und die Zimmer möchte ich auch gleich sehen.«

Ihr Vater nickte und fuhr sich mit der Hand übers Kinn. »Dann zeige ich euch am besten gleich eure Zimmer.«

Henriette nickte und sah sich nach ihren Geschwistern um. Sibylle stand im Schatten und strickte selbst jetzt im Stehen. Und Hermann … Henriette kniff die Augen zusammen und schirmte das grelle Sonnenlicht mit der Hand ab. »Wo ist er nun schon wieder?«

Dann entdeckte sie ihren Bruder am Rand der Promenade, er lief zusammen mit zwei anderen Jungen über eine Wiese. »Dieser kleine Wirbelwind! Hermann! Komm her!«, rief Henriette und schüttelte mit einem matten Lächeln den Kopf.

Ihr Bruder drehte den Kopf zu ihr und schaute einen Augenblick in ihre Richtung. Es war, als könnte sie sein Seufzen hören, dann aber hob er die Hand und verabschiedete sich von seinen neuen Spielkameraden. Rasch lief er zu Henriette und blieb, die Hände auf die Knie gestützt, vor ihr stehen.

»Sollst du denn immer weglaufen?«

Ihr Bruder hob den Kopf, und ein Grinsen huschte über seine Lippen. Seine Wangen waren gerötet, und seine blauen Augen glänzten voller Freude. »Das sind Thomas und Siegfried! Sie sind die Söhne des Dorfschullehrers.«

Henriette konnte ihre strenge Fassade kaum noch aufrechterhalten und zauste ihrem Bruder den dunklen Haarschopf. »Es freut mich, dass du Freunde gefunden hast, Hermann. Aber nun lass uns unser neues Zuhause erkunden, was hältst du davon?«

Hermann schaute über die Schulter zurück zu den zwei Jungen. »Ich darf aber wieder mit ihnen spielen, oder?«

»Natürlich darfst du das.« Henriette legte den Arm um seine Schulter und führte ihn zum Eingang des Hotels. Ihr Vater öffnete die Glastür, und Henriette stockte der Atem, als sie eintrat.

»Wie schön«, flüsterte sie entzückt.

Das Innere der Villa Sommerwind übertraf jede ihrer Vorstellungen. Ein dunkelblauer Teppich führte zum Empfang, der aus schwarzem Holz gebaut war und glänzte wie poliert. Rechts und links vom Empfang waren einige kleine Sitzecken mit Chaiselongues und Sesseln angeordnet, die mit feinsten Stoffen in verschiedenen Blautönen bezogen waren, sodass sie perfekt zur Farbe des Meeres passten.

Henriette konnte kaum glauben, was ihr Vater aus dem Haus gemacht hat. Aus dieser überraschenden Erbschaft ihres Großvaters, der in einem Anflug von jugendlichem Tatendrang dieses Gebäude in Timmendorfer Strand gekauft, aber niemals renoviert hatte. Nun würde ihre Familie die obere Etage des Hotels bewohnen und die weiteren Zimmer an Gäste vermieten.

Rechts führte eine Tür in einen großen Raum, der, wie Henriette erkannte, der Speisesaal für die Gäste sein sollte. Tische mit weißen Leinendecken standen versetzt im Raum, alle aus demselben dunklen Holz wie der Empfang gezimmert. Sie musste zugeben, dass ihr Vater wahrhaftig ein gutes Auge für die Einrichtung hatte. Er wusste, welche Farben und Materialien man kombinieren musste, um eine gemütliche, aber ebenso edle Atmosphäre zu erschaffen. Das war auch in ihren Pensionen in Hamburg so gewesen, aber die Villa Sommerwind war etwas ganz Besonderes.

»Das scheint das Personal zu sein.«

Henriette zuckte zusammen, als Sibylle plötzlich neben ihr auftauchte und mit dem Kopf zum Empfang wies, vor dem sich in Reih und Glied einige Personen versammelt hatten.

»Es scheint so.« Henriette verschränkte die Arme vor der Brust und betrachtete sie eingehend.

Zwei Männer in schwarzen Anzügen, die Haare ordentlich zurückgekämmt, und eine junge Frau in einem ebenfalls schwarzen Kleid, die gemeinsam etwas abseits des übrigen Personals standen.

»Empfangsmitarbeiter«, raunte Henriette Sibylle zu.

Sibylle neigte den Kopf zur Seite und deutete auf zwei Herren in weißer Kleidung und drei Knaben, die vor ihnen standen. »Die Köche und Küchenjungen.«

»Und das sind Kellner«, mischte Hermann sich ein, stellte sich grinsend zwischen seine Schwestern und zeigte auf drei Männer in ebenfalls schwarzen Anzügen mit weißen Schürzen.

»Sehr gut, Hermann. Du bist ein guter Beobachter geworden«, lobte Henriette ihren Bruder.

Sie hatten sich in den Pensionen schon immer ein Vergnügen daraus gemacht, zu raten, welchen Berufen ihre Gäste nachgingen oder welche Position ein neuer Mitarbeiter bekleiden würde.

Eberhart führte seine Kinder zu den Bediensteten des Hauses und stellte ihnen diese nacheinander vor. Henriette bemühte sich zwar darum, sich alle Namen zu merken, aber sie würde ohnehin viel mit diesen Menschen zusammenarbeiten und sie rasch näher kennenlernen.

»Und dies ist Elise, die euer Zimmermädchen sein wird, liebe Töchter. Einar hingegen wird sich um dich kümmern, mein Sohn.« Eberhart zeigte auf ein Mädchen mit hellbraunen Haaren und einem scheuen Lächeln auf den Lippen, das vermutlich nicht älter war als Sibylle. Sie knickste artig und senkte dann den Kopf.

Der Mann – Einar – hingegen verneigte sich höflich vor Hermann und schenkte ihm ein Lächeln. »Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, junger Herr. Sie sehen sehr elegant aus in Ihrem Matrosenanzug.«

Hermann lächelte stolz und straffte die Schultern. »Vielen Dank.« Ehrfürchtig strich er über den feinen Stoff.

»Möchtet ihr jetzt unsere Privatgemächer sehen?«, fragte Eberhart Hohnhold.

»Sehr gerne, Vater«, antwortete Sibylle an Henriettes Stelle und berührte sie sanft an der Schulter. »Dann können wir auch gleich die Gouvernante kennenlernen, und du und Henriette könnt euch mit den wichtigen Belangen des Hotels beschäftigen.«

Dankbar schenkte Henriette ihrer kleinen Schwester ein Lächeln, denn es juckte ihr in den Fingern, endlich dieses Hotel zu eröffnen und den Kurort mitsamt all seinen Bewohnern kennenzulernen.

»Das ist eine gute Idee, meine liebe Tochter.« Eberhart küsste Sibylle auf die Stirn und führte seine Kinder links vom Empfang zu seiner breiten Treppe, die ebenso mit Teppich ausgelegt war wie die Eingangshalle.

Einar und Elise folgten ihnen in einigem Abstand. Wie Schatten liefen sie hinter ihnen her. Ihre Schritte hallten im weiten Flur wider, und ein Frösteln lief plötzlich über Henriettes Rücken. Als sie in der obersten Etage angekommen waren, blieb Henriette am Treppenabsatz stehen, ließ Einar und Elise an sich vorbeigehen. Ihre Finger glitten über das Geländer, und der vertraute Geruch von frisch gewaschener Wäsche drang in ihre Nase. Kurz schloss sie die Augen, lauschte in sich hinein. Hörte ihr hämmerndes Herz, und ein flüchtiges Lächeln glitt über ihre Lippen.

Dies war der Traum ihrer Mutter gewesen. Ein eigenes Hotel zu führen und Gäste zu bewirten. Und nun … nun war es auch Henriettes Traum. Sie würde das Vermächtnis ihrer Mutter fortführen und gemeinsam mit ihrem Vater die Villa Sommerwind zu einem der exquisitesten Häuser in Timmendorfer Strand machen.

»Siehst du mich, Mama?«, flüsterte sie leise und öffnete die Augen. »Siehst du uns? Was wir erreichen können …«

»Henriette?« Die Stimme ihres Vaters schreckte sie auf. Henriette fuhr zusammen und wandte den Kopf zu ihrer Familie. »Kommst du?«

»Ja … natürlich.« Henriette raffte das Kleid und lief zu ihrer Familie, die am Ende des Flurs stehen geblieben war.

»Ganz hinten befindet sich mein Büro.« Eberhart zeigte auf eine dunkle Eichentür am Ende des Ganges und drehte sich dann wieder nach links. »Hier sind der Salon und das Speisezimmer, dies dort ist mein Zimmer, daneben deines, Hermann, und diese zwei Türen führen zu euren Zimmern, meine liebsten Töchter.«

Henriette ließ den Blick über die zwei Türen schweifen und schaute dann kurz zu Sibylle, die sich langsam auf die linke Tür zubewegte. Doch bevor sie die Klinke drückte, drehte sie sich noch einmal zu ihrem Vater. »Gibt es eine Verbindungstür?«

Eberhart legte den Kopf schräg, dann nickte er lächelnd. »Natürlich, mein Schatz.«

Erleichtert entließ Sibylle die angestaute Luft aus ihren Lungen und legte eine Hand auf die Brust. Sie sah erst noch zu Henriette, bevor sie endlich ihr Zimmer betrat.

Immer hatten sie nebeneinander liegende Zimmer bewohnt, und immer waren diese Räume auch durch eine Tür miteinander verbunden gewesen. Weil Sibylle nach dem Tod der Mutter von schrecklichen Albträumen geplagt gewesen war. Weil Henriette jede Nacht im Bett ihrer jüngeren Schwester gelegen hatte, deren Tränen getrocknet hatte und später gemeinsam mit ihr in einen tiefen, traumlosen Schlaf gefallen war.

Es war nicht etwa so, dass Sibylle immer noch Albträume hatte, aber diese Tür, das Wissen, dass Henriette immer an ihrer Seite war, gab ihr Hoffnung und Sicherheit.

»Wie schön!«, rief Sibylle entzückt.

Henriette trat ebenfalls ein und betrachtete das Zimmer aufmerksam. Es war riesig und mit viel mehr Komfort ausgestattet als ihre Räume in Hamburg. Eine weite Fensterfront gab den Blick auf die Promenade und das Meer frei. Linker Hand an der Wand stand ein prächtiges Bett mit Baldachin, eine blaue Tagesdecke und mehrere Kissen darauf drapiert. Rechts vom Bett säumten mehrere Regale mit Büchern, kleinen Andenken und Strickzeug die Wand, in einer Ecke beim Fenster stand eine Kommode und daneben noch ein Frisiertisch mit Spiegel in glänzendem Weiß. Die Wände waren in einem hellen Roséton gestrichen; die Farbe fand sich in beinahe jedem Einrichtungsgegenstand wieder. Das Zimmer war wie ein Spiegelbild von Sibylles Charakter.

»Gefällt es dir?«, fragte Eberhart seine jüngste Tochter.

Sibylle wirbelte mit einem strahlenden Lächeln zu ihm herum. »Es ist bezaubernd, Vater!«

Sibylle ergriff Henriettes Hand und zog sie mit zu der Verbindungstür, die neben dem Bett in die Wand eingelassen war. Bevor Henriette noch etwas erwidern konnte, riss Sibylle die Tür auf und stürmte in das benachbarte Zimmer.

Mit langsamen Schritten folgte Henriette. Der Raum war ein wenig schlichter eingerichtet als der von Sibylle. Die Farben gedeckter, die Wände in Beige gestrichen, und statt einer Kommode stand an der linken Seite des Zimmers ein Schreibtisch aus dunklem Eichenholz.

Überrascht schaute Henriette sich zu ihrem Vater um und musste wegen des Funkelns in seinen blauen Augen grinsen.

»Wenn du mit mir dieses Hotel leiten willst, solltest du wenigstens einen eigenen Schreibtisch haben, wo du alle wichtigen Unterlagen verstauen und Briefe und Belegungspläne schreiben kannst.«

Henriette schlang die Arme um den Hals ihres Vaters. »Ich danke dir«, wisperte sie leise in sein Ohr. »Vielen Dank, Vater.«

Sie wusste, es war nicht selbstverständlich, dass sie mit ihm dieses Hotel führen würde, auch wenn sie schon großjährig war. Dass er sie in alle Belange einbeziehen und ihr Verantwortung übertragen würde. Sie kannte die Blicke der anderen Menschen nur zu gut, wenn ihr Vater voller Stolz erzählte, dass seine Tochter eine wissbegierige junge Frau war, die sich gemeinsam mit ihm um die Pensionen in Hamburg kümmerte.

Eine Frau, die sich in der geschäftigen Welt der Männer zurechtfand, war für die meisten Menschen immer noch ein Phänomen. Ungewöhnlich und vielleicht sogar ein wenig merkwürdig.

Aber das scherte Henriette nicht. Ihre Mutter war so eine Frau gewesen, und sie selbst würde ihren Weg finden, die Dinge tun, die sie liebte. Und sie hatte gelernt, mit den Blicken der Menschen, mit den getuschelten Worten zu leben.

Sie löste sich von ihrem Vater und ließ den Blick über die restliche Einrichtung schweifen. Ihr Bett hatte ebenfalls einen Baldachin in dunklem Blau, ebenso viele Bücherregale säumten die Wände in ihrem Zimmer – nur waren sie, anders als bei Sibylle, nicht nur mit Werken der Literatur, sondern auch mit Sachbüchern gefüllt. Vorsichtig schritt Henriette zur gepolsterten Fensterbank und schaute nach draußen. Auch von ihrem Zimmer konnte sie weit über die Straße hinweg bis zur Strandpromenade sehen. Bäume säumten den Weg und spendeten angenehmen Schatten, sie erkannte einige kleine Gebäude nahe dem Strand, mutmaßlich kleine Verkaufsstände für Strandutensilien. Das strahlend blaue Meer glitzerte in der Sonne, und als Henriette das Fenster öffnete, konnte sie sogar von hier oben das Rauschen der Wellen hören, sah, wie eine Möwe im Sturzflug ins Wasser schoss und im nächsten Augenblick mit einem Fisch im Schnabel wieder auftauchte.

Sie schaute von der Promenade hinab zum Kurpark, der sich davor erstreckte. Ein großes Hotel zu ihrer Linken stand mitten im Grünen, hochherrschaftlich und mondän.

»Das ist das Denkers Kurhotel«, ertönte die Stimme des Vaters hinter ihr.

Nachdenklich drehte Henriette sich zu ihm um. »Es passt perfekt mitten ins Grüne, obwohl es beinah so hoch ist wie unser Hotel und eine eher kastenförmige Bauart aufweist … aber durch die vielen kleinen Fenster und die hell gestrichene Fassade wirkt es nicht einschüchternd, nein, es heißt seine Gäste beinahe mit Gemütlichkeit willkommen.«

Ihr Vater schüttelte lächelnd den Kopf und strich Henriette über den Arm. »Mach dir keine Gedanken, hier gibt es viele Hotels, wir werden kaum Probleme haben, Stammgäste zu gewinnen. Außerdem habe ich schon ein Abendessen mit der Inhaberfamilie des Kurhotels organisiert, denn …«

»… man muss immer eine gute Beziehung miteinander pflegen«, unterbrach Henriette ihren Vater und verdrehte lächelnd die Augen.

Das war vermutlich eine der Lehren, die sie zuallererst aufgenommen hatte: Dein ärgster Konkurrent sollte zugleich dein bester Verbündeter sein, denn wenn alle Stricke reißen, muss man sich aufeinander verlassen können.

»Sehr richtig.« Eberhart Hohnhold nickte und drehte sich zu seinen anderen beiden Kindern um. Da klopfte es an der Tür, und Elise trat ein.

»Bitte entschuldigen Sie die Störung, die Herrschaften. Ich soll ausrichten, dass Frau Nolte, die Gouvernante, gerade eingetroffen ist. Außerdem wartet unten eine junge Dame namens Mareike Baltmund. Sie ist die Tochter der Schneiderin und sagte mir, dass Sie, Herr Hohnhold, mit ihr korrespondiert hätten.«

»Sehr richtig. Seien Sie bitte so gut und führen Frau Nolte in mein Büro.« Er wandte sich zu Sibylle und Hermann um. »Ihr beide kommt bitte mit, dann könnt ihr Frau Nolte gleich kennenlernen.«

Sibylle seufzte schwer und schaute sehnsüchtig zur Verbindungstür, die in ihr Zimmer führte. Henriette konnte sich vorstellen, dass ihre kleine Schwester viel lieber in eine ihrer vielen Geschichten abgetaucht wäre, als nun die Gouvernante kennenzulernen.

»Und du, Henriette, gehst hinunter und lernst Mareike Baltmund kennen.«

»Wie bitte?«

»Ich habe mit ihrer Mutter einige Nachrichten ausgetauscht, denn wir werden in der nächsten Zeit bestimmt etliche Aufträge für sie haben, es gibt sicher vieles zu schneidern, zum Beispiel die neuen Kleider für Sibylle, die bald nicht mehr in ihren Mädchenkleidern herumlaufen kann …«

Eberhart unterbrach sich, denn aus Sibylles Mund kam ein leises Quieken, und sie starrte ihren Vater ungläubig an. »Ich bekomme mein erstes richtiges Kleid?«

Ein Kloß bildete sich plötzlich in Henriettes Kehle, denn eine Erinnerung schoss ihr durch den Kopf, die dafür sorgte, dass sich brennende Tränen in ihren Augen sammelten.

Das erste Kleid als Frau muss perfekt zu dir passen. Du zeigst damit, dass du nun kein kleines Mädchen mehr bist. Dass du nun bereit bist, in die Gesellschaft der Erwachsenen eingeführt zu werden.

Das waren die Worte ihrer Mutter gewesen, als Henriette selbst ihr erstes Damenkleid anziehen durfte. Ihre Mutter hatte es mit ihr ausgesucht, und Henriette hatte auf den Tag hingefiebert, an dem sie es tragen durfte. Doch dieser Tag war nie gekommen. Denn ihre Mutter war bei Hermanns Geburt gestorben und hatte Henriette allein gelassen an diesem einen Tag, an dem sie ihre Mutter so sehr gebraucht hätte. Sie war genauso alt wie Sibylle in diesem Augenblick gewesen, vierzehn Jahre, noch ein Kind im Herzen, das viel zu schnell hatte erwachsen werden müssen.

»Ja.« Eberhart sah Sibylle mit einem winzigen Lächeln an. Auch seine Stimme bebte. »Du bekommst dein erstes richtiges Kleid, das Kleid einer jungen Frau.«

Sibylle klatschte begeistert in die Hände und sah an sich hinunter. Sie trug ein hellblaues, beinahe noch kindliches Kleid mit Rüschen und niedlichen Applikationen. Ein Grinsen zog über ihr Gesicht. »Auf Wiedersehen, Kinderkleider!«, rief sie und fiel ihrem Vater stürmisch in die Arme. »Ich danke dir, Vater!«

Schmunzelnd betrachtete Eberhart seine Tochter, strich ihr über den dunklen Haarschopf und legte dann seine Hand unter ihr Kinn. »Sehr gerne. Aber nun sei ein gutes Mädchen, nimm deinen Bruder mit, und dann geht in mein Büro, in Ordnung?«

Sibylle nickte und nahm Hermanns Hand. Sie zog den kleinen Jungen mit hinaus, der anscheinend lieber bei seinem Vater geblieben wäre und schmollend die Unterlippe vorschob. Die Tür fiel mit einem dumpfen Knall ins Schloss, und Henriettes Vater wandte sich wieder seiner Ältesten zu.

»Nun … wir wurden unterbrochen. Die Schneiderin Frau Baltmund hat mir angeboten, dass ihre Tochter Mareike dich ein wenig im Kurort herumführt, und ich habe mir gedacht, dass es schön für dich wäre, wenn du eine andere junge Dame kennenlernst. Vielleicht könnte sie sogar deine Freundin werden.«

Nur mit Mühe schluckte Henriette den Kloß in ihrem Hals hinunter und blinzelte die Tränen weg. Sie lächelte ihren Vater liebevoll an und griff nach seiner Hand.

»Danke, Vater«, murmelte sie mit heiserer Stimme. »Danke, dass du so sehr an uns alle denkst.«

Schweigend schloss Eberhart seine Tochter in die Arme und hielt sie, als ihr Körper von einem Zittern ergriffen wurde und die Tränen sich nun doch ihren Weg über ihre Wangen bahnten. Sie schmeckte Salz auf ihren Lippen, und die Stimme ihrer Mutter hallte in ihren Gedanken wider.

Deinen Platz in dieser Welt finden …

Ja, dachte Henriette, das werde ich, Mutter.

Kapitel 2

Henriette

Der Wind pfiff eine leise Melodie und wirbelte den Stoff von Henriettes Kleid um ihre Knöchel. Sie schaute sich suchend um und entdeckte bei einem kleinen Springbrunnen eine junge Frau, die mit den Händen durchs Wasser fuhr. Sie schaute auf und sah Henriette, und schon im nächsten Augenblick lief sie winkend auf sie zu.

»Moin!«, rief die junge Frau, die Mareike Baltmund sein musste. »Sie sind bestimmt Henriette Hohnhold.«

Verdattert sah Henriette die junge Frau an und betrachtete sie neugierig. Mareike trug ein schillerndes Kleid aus dunkelrotem Stoff, der sich ab der Hüfte in mehreren Lagen aufbauschte, was wie die verschiedenen Schattierungen eines Sonnenuntergangs wirkte. Die Ärmel des Kleids lagen eng an, und um die Taille herum passte sich das Kleid perfekt an Mareikes schlanken Körper an.

»Genau, mein Name ist Henriette Hohnhold«, antwortete Henriette und konnte den Blick kaum von dieser strahlenden jungen Frau abwenden.

Mareike ergriff stürmisch ihre Hände und lächelte sie an. Ihre weizenblonden Haare waren zu einem hohen Dutt geschlungen, der von mehreren Spangen und Bändern gehalten wurde, aber trotzdem eifrig auf und ab hüpfte. Augen so grün wie eine Sommerwiese musterten Henriette aufgeregt. »Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen! Mein Name ist Mareike Baltmund«, rief sie überschwänglich.

»Die Freude ist ganz meinerseits, aber bitte, du musst nicht so förmlich sein.«

Mareike neigte den Kopf zur Seite und schaute Henriette fragend an. »Wirklich nicht? Meine Mutter hat gesagt, ihr seid feine Herrschaften aus Hamburg, vor denen man sich gut benehmen muss.«

Henriette starrte die junge Frau verblüfft an, musste dann aber grinsen, als sich Mareikes Gesicht zu einer spöttischen Grimasse verzog. Sie machte eine wegwerfende Handbewegung und lachte hell auf.

»Ich hatte schon gehofft, dass du es mit der Etikette nicht so streng nimmst«, sagte Mareike und ließ Henriettes Hände los. »Ich tue das nämlich nie, und das macht meine Mutter schier wahnsinnig!«

Henriette konnte nicht genau sagen, was es war, aber Mareike Baltmund war ihr sofort sympathisch. Diese lockere, leichte Art, das bezaubernde Lachen und ihr verschmitztes Grinsen – all das sorgte dafür, dass es Henriette sofort warm ums Herz wurde.

»Es ist schön, dass du mich willkommen heißt und mich ein wenig herumführen möchtest, denn ich gebe es nur ungern zu, aber im Moment würde ich mich hier heillos verirren.«

Mareike hakte sich bei Henriette unter und musterte sie mit hochgezogenen Augenbrauen. »Du veräppelst mich, oder? Du stammst aus Hamburg, die Stadt ist riesig, da wirst du dich doch wohl hier nicht verlaufen.«

Ein Lächeln huschte über Henriettes Gesicht. »Ich habe das Orientierungsvermögen eines verwirrten Vogels«, gab sie leise zu und schaute noch einmal zur Villa Sommerwind zurück. »In Hamburg habe ich mir alle Straßen sorgsam eingeprägt, damit ich mich bloß niemals verlaufe.«

Mareike öffnete den Mund, aber kein Laut drang über ihre Lippen, stattdessen schenkte sie Henriette ein schiefes Grinsen. »Und ich dachte, meine gute Tat wäre ganz umsonst.«

»Nein, ich bin dir dankbar, dass du mir Timmendorfer Strand und seine Sehenswürdigkeiten zeigst.«

»Ach, so toll ist es hier gar nicht. Die meiste Zeit ist es sogar ziemlich langweilig. Vor allem im Winter«, erwiderte Mareike trocken und mit so viel Ehrlichkeit, dass ihre Worte Henriette erneut zum Lachen brachten.

Denn ihre neue Freundin hatte recht. Das eigene Zuhause erschien einem unweigerlich irgendwann langweilig, man kannte jede Straße und jeden Einwohner. So war es Henriette im Herzen Hamburgs auch ergangen. Das Einzige, was ihre Langweile mindern konnte, waren die Arbeit und die unterschiedlichsten Gäste, die Geschichten aus aller Welt in ihre Pension trugen.

Sie gingen noch ein Stück schweigend nebeneinanderher, und Henriette betrachtete ihre Umgebung neugierig. Villen und kleine Häuschen säumten den Weg vom Hotel aus. Einige Dächer waren mit Reet gedeckt, meterhohe Fenster zierten die Front der Häuser, und die gemütlichen kleinen Gärten davor sahen gut gepflegt aus, der herrliche Duft von frischen Blumen kitzelte Henriettes Nase.

Als die Frauen gemeinsam am Ende der Straße um die Ecke bogen, erreichten sie einen belebten Platz, auf dem reges Treiben herrschte. Eine Kutsche, auf der mehrere Säcke und Kisten standen, fuhr rumpelnd an ihnen vorbei, eine Kraftdroschke stand vor einem prächtigen Haus, das eine Gästevilla zu sein schien, denn aus der Droschke stiegen einige Personen in feinsten Kleidern. Ein Kutscher hievte mehrere Koffer hinunter, Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn, und sein Gesicht war gerötet.

»Dies ist unser Platz an der Uhr!«

Mareikes Stimme zuckte durch ihre Gedanken, und Henriette schaute ihre neue Freundin an. »Platz an der …?« Sie verstummte, als sie die große Normaluhr vor der Villa entdeckte. »Ich verstehe.«

Mareike kicherte leise. »Der Baum dort verdeckt die Uhr im Frühling und Sommer immer ein wenig. Keine Sorge, du bist nicht die Erste, die es nicht gleich verstanden hat.«

Henriette nickte und sah sich auf dem Platz um. Mehrere Häuser säumten die Straße – alle prächtig erbaut, mit verschnörkelten Fenstersimsen und weißen Fassaden. Links von ihr jedoch war kein Gästehaus, so schien es jedenfalls.

»Was ist das für ein Gebäude?« Henriette zeigte auf das große, imposante Haus, aus dessen Eingang gerade einige Kinder lachend herausliefen.

Das Gebäude war schneeweiß gestrichen, es verfügte über drei Stockwerke, breite Fenster säumten die Fassade, links und rechts schienen sich zwei kleinen Türme in den Himmel schrauben zu wollen – zwei goldene Kugeln an deren Spitze glänzten im Licht der Sonne. Eine Flagge wehte in der Mitte des Gebäudes, und zwischen der ersten und zweiten Etage entdeckte Henriette ein Messingschild mit der Aufschrift Olgaheim.

»Das ist ein Kindererholungsheim, das vom Hamburger Paulsenstift errichtet wurde. Die Kinder, die hier ankommen, sind meistens schwächlich oder kränklich, sie haben keine guten Familienverhältnisse oder sind Waisen. Hier im Olgaheim ermöglicht man ihnen ein wenig schöne Zeit am Meer«, klärte Mareike sie auf und gab Henriette einen raschen Überblick über die Geschichte des Hauses, das durch die großzügige Spende einer reichen Witwe namens Laura Beit erbaut werden konnte.

»Herr im Himmel, du bist ein wandelndes Geschichtsbuch«, bemerkte Henriette anerkennend.

Mareike zuckte unbekümmert mit den Schultern. »In der Schule habe ich mich viel gelangweilt, also habe ich meistens unter dem Tisch Geschichtsbücher gelesen, weil ich es spannend finde, wie die Welt früher war. Außerdem bekommt man viel Inspiration für neue Schnittmuster von Kleidern, wenn man sich ansieht, was die feinen Damen der Gesellschaft früher getragen haben.«

»Du bist wirklich eine spannende Person, Mareike.«

»Findest du?« Ehrlich erfreut glänzten Mareikes Augen, und sie drückte Henriettes Arm. »Ich mag dich auch.«

Erleichtert ließ Henriette den Blick erneut über den Platz schweifen. Sie war nicht gut darin, Freundinnen zu finden. Das war immer schon so gewesen. Aber mit Mareike fühlte es sich unbeschwert an, ganz einfach über alltägliche Dinge zu reden und sie näher kennenzulernen. Ohne dass Henriette sich verstellen müsste oder jemand Fragen stellte, warum ihr Vater sie eigentlich in die Geschäfte des Hotels einbezog.

Trotz der Tatsache, dass reges Treiben auf dem Platz an der Uhr herrschte, fühlte Henriette sich geborgen. Hier war selbst die Geschäftigkeit ruhig, nicht so wie in Hamburg, wo alles hektisch zuging und man in den Straßen an der Alster aufpassen musste, dass man nicht niedergetrampelt wurde. Nein, Timmendorfer Strand fühlte sich für Henriette an wie ein beschauliches Fleckchen Erde, das zwar belebt, aber dennoch entspannt war. Balsam für ihre Seele, Ruhe für ihr aufgewühltes Herz.

»Was sollte ich noch kennenlernen?«, fragte sie Mareike.

Mareike schaute sie nachdenklich an, dann führte sie Henriette an der Villa vorbei, vor der die Uhr stand. »Dies ist die Villa Hollandia, sie ist bei Kurgästen sehr beliebt.«

Henriette verstand sofort, wieso. Die Villa im gemütlichen Stil eines Landhauses erstreckte sich über vier Etagen. Kleine Erkerzimmer und Fensterchen schmückten die helle Fassade. Vor der Villa war eine sauber gepflegte Grünfläche zu sehen, auf der gerade einige Zimmermädchen eine Decke ausbreiteten und für ein Picknick aufdeckten. Die Villa war genau am Puls der Zeit, mitten im Kern des Kurortes, und doch konnten die Gäste in ihren Zimmern Ruhe und Entspannung genießen, ohne sich gestört zu fühlen.

Henriette wandte den Blick hastig von der Villa ab und bemühte sich darum, das dumpfe Gefühl in ihrem Magen zu ignorieren. Ob sie mit der Villa Sommerwind gegen all diese Pensionen und Hotels in Timmendorfer Strand bestehen konnten? Ob die Dorfbewohner sie alle genauso freundlich willkommen heißen würden, wie Mareike es tat?

»Ich bin mir sicher, dass euer Hotel viel schöner und luxuriöser ist«, sagte Mareike neben Henriette, als hätte sie ihre Gedanken gelesen.

Sanft zog Mareike sie mit sich zur gegenüberliegenden Seite der Villa Hollandia. Dort stand ein kleines Häuschen mit breiter Fensterfront und einem leuchtend roten Dach.

»Hier wirst du bestimmt öfter hingehen«, eröffnete Mareike ihr mit einem schelmischen Grinsen. »Denn dies ist das Friseurgeschäft der Familie Sint.«

Sie blieben vor dem Fenster stehen und schauten ins Innere des Ladens. Eine elegante Dame und ein kleiner Junge saßen auf den Frisierstühlen. Der Junge baumelte mit den Beinen und bewegte immerzu den Kopf neugierig hin und her, sodass er damit die Friseurin hinter sich schier in den Wahnsinn trieb. Sie musste seinen Kopf immer wieder in eine gerade Position bringen, um sich nicht zu verschneiden. Die prächtig gekleidete Dame schüttelte den Kopf und sagte etwas zu dem Jungen, der mit einem Mal still saß und sich nicht mehr bewegte.

Mareike kicherte leise. »Nun, du wirst dich bestimmt zu benehmen wissen, wenn du dorthin gehst. Ich verspreche dir, Frau Sint wird dir eine schicke Frisur zaubern.«

Kritisch betrachtete Henriette sich im Fenster des Geschäfts und fuhr sich durch die pechschwarzen Haare, die sich wie Schatten über ihre Schultern ergossen. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich das möchte.«

»Papperlapapp! Vertrau mir, du wirst es nicht bereuen.« Mareike hakte sich erneut bei ihr unter und führte sie vom Platz weg und hin zu einem kleinen Laden, der etwas abseits des Trubels lag.

Henriette las die Buchstaben auf dem Messingschild und die Texte an der Fassade aufmerksam. »Ein Gemischtwarenladen«, stellte sie fest.

»Genau, dies ist der Gemischtwarenladen von Herrn Harms, hier bekommst du alles von Spielzeug über Tabak bis hin zu Reiseandenken.«

Henriette wollte gerade etwas erwidern, als ein Mann aus dem Laden trat. Er trug einen schwarzen Anzug mit passendem Jackett und zündete sich eine Pfeife an. Seine braunen Locken kringelten sich widerspenstig im Wind.

»Moin, Mareike!«, rief er, als er die beiden Frauen erblickte. »Wer ist denn die junge Dame an deiner Seite?«

»Moin, Herr Harms, das ist Henriette Hohnhold, ihre Familie eröffnet die Villa Sommerwind auf der Fußgängerpromenade vor dem Kurpark!«

Henriette trat vor und streckte die Hand aus. »Es freut mich, Sie kennenzulernen, Herr Harms.«

Hastig legte Herr Harms seine Pfeife zur Seite und ergriff Henriettes Hand. Sie konnte Schwielen auf seiner Haut fühlen, und der Händedruck war kräftig. Der Mann schenkte ihr ein höfliches Lächeln und lupfte seinen Hut.

»Es ist mir ebenfalls eine große Freude. Ihr Herr Vater wird die Villa leiten, nehme ich an?«

»Gemeinsam mit mir, ja.«

Irritiert ließ Herr Harms Henriettes Hand los und zog die Augenbrauen zusammen. Die Lippen hatte er zusammengepresst, und es schien, als wisse er nicht, was er sagen sollte. Doch dieses Verhalten war nicht neu für Henriette. Sie erlebte es jeden Tag. Sie hatte es in Hamburg an der Hotelfachschule erlebt, auf die ihr Vater sie für ein Jahr geschickt hatte, nachdem sie ihren Abschluss am Lyzeum, dem Gymnasium für Mädchen, gemacht hatte. Fast nur junge Männer hatten die Schule in Hamburg besucht, sie war eine von ganz wenigen Frauen gewesen, und natürlich hatte der Spott der Männer sie und ihre Freundinnen dort ereilt.

Aber in diesem Jahr hatte Henriette sich bewährt, ihr Wissen über die Führung eines Hotels erweitert und viel gelernt, was sie heute noch im Alltag begleitete. Deswegen machte der merkwürdige Blick von Herrn Harms ihr fast gar nichts mehr aus.

»Haben Sie etwa noch nicht genug Personal, das Ihren Vater unterstützen kann bei der Leitung des Hotels?« Es hatte eine kleine Ewigkeit gedauert, bis Herr Harms seine Sprache wiedergefunden hatte, und Henriette unterdrückte den Impuls, mit den Augen zu rollen.

»Wir haben bereits genug Personal, Herr Harms. Ich leite das Hotel mit meinem Vater zusammen, weil ich auf die Hotelfachschule in Hamburg gegangen bin und mit Zahlen und Belegungsplänen vertraut bin. Außerdem hat meine Mutter ebenfalls mit meinem Vater zusammen unsere Pensionen in Hamburg geleitet.«

»Aha …«, machte Herr Harms und verzog das Gesicht, als hätte er auf eine saure Zitrone gebissen.

»Ist das nicht großartig, Herr Harms?«, mischte sich nun Mareike ein. »Eine Frau, die ein Hotel leitet? Ich bin mir sicher, dass die Villa Sommerwind zu einer der besten Adressen in Timmendorfer Strand werden wird. Henriette bringt bestimmt viele neue Ideen mit für die Leitung und natürlich auch für die Inneneinrichtung, so ein Hotel muss ja auch etwas hermachen, oder nicht?«

»Ja … natürlich.« Herr Harms straffte die Schultern und lächelte Henriette an. »Ich bin mir sicher, dass dem scharfen Auge einer Frau kein Fehler in der Ausstattung der exquisiten Zimmer entgeht und dass Sie mit viel Feingefühl die Wünsche der Gäste erfüllen werden.«

Henriette seufzte leise und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Natürlich entging ihr kein Fehler, aber nicht, weil sie eine Frau war, sondern weil sie gescheit und aufmerksam war. Aber sie wollte mit dem Gemischtwarenhändler keinen Streit vom Zaun brechen, deswegen zwang sie sich zu einem höflichen Lächeln.

»Das tue ich in der Tat, und jetzt weiß ich auch, welchen Gemischtwarenladen ich meinen Gästen empfehlen kann, wenn sie etwas benötigen.«

Herr Harms nickte zufrieden und griff wieder nach seiner Pfeife. »Das freut mich, Fräulein Hohnhold. Ich wünsche Ihrem Vater und Ihrer Familie einen erfolgreichen Start mit der Villa Sommerwind!«

»Vielen Dank.«

Noch einen Augenblick blieb Henriette mit Mareike bei Herrn Harms stehen, dann verabschiedeten sie sich eilig, und Henriette war froh, als sie endlich genügend Abstand zwischen sich und den Mann gebracht hatte.

»Nimm ihm seine Worte nicht krumm …«, versuchte Mareike sie aufzumuntern, aber Henriette zuckte mit den Schultern.

»Schon in Ordnung, ich kenne es nicht anders, und meiner Mutter ist es vor Jahren bestimmt noch übler ergangen.«

»Deine Mutter ist tot, oder?«

Die Worte schnitten wie ein Messer in Henriettes Herz, und sie zuckte jäh zusammen.

»Oh, verflixt! Ich bin so ein doofes Huhn, manchmal denke ich nicht vorher über meine Worte nach. Bitte verzeih mir, Henriette, das war taktlos!«

»Bitte entschuldige dich nicht, Mareike …« Henriette presste die Lippen zusammen und seufzte leise. »Du hast recht, meine Mutter ist gestorben.«

Henriette hakte sich bei Mareike unter und führte sie ein Stück die Straße hinauf, dann setzte sie sich mit ihr auf eine Bank.

Schweigend saßen sie nebeneinander, jede schien ihren eigenen Gedanken nachzuhängen.

Henriette streckte die Beine weit von sich und sah in den strahlend blauen Himmel. Die Sonne wärmte ihre Haut, und mit jeder Sekunde erwachte der Kurort etwas mehr zum Leben. Wie ein Herz, das immer kräftiger schlug.

»Meine Mutter …«, begann Henriette nun zögerlich, denn die Worte verhakten sich schmerzhaft auf ihrer Zunge.

Sie sprach nicht gern über diesen dunklen Schatten in ihrer Familiengeschichte. Nicht mal mit den wenigen Freundinnen in Hamburg hatte sie je wirklich darüber gesprochen. Und doch wollte sie Mareike ihr Herz öffnen.

»Vor etwas mehr als acht Jahren ist meine Mutter im Kindbett bei der Geburt meines jüngeren Bruders Hermann gestorben. Die Ärzte konnten nichts mehr für sie tun …« Ihre Stimme zitterte. Betroffen sah Mareike Henriette an.

»Ich musste stark sein … für meine Geschwister. Meine Schwester Sibylle war gerade mal sechs Jahre alt, sie hat gar nicht verstanden, dass sie plötzlich keine Mutter mehr hatte. Mein ganzes bisheriges Leben lang habe ich ihnen die Mutter ersetzt, habe meinen Vater bei der Arbeit in der Pension unterstützt und versucht, irgendwie das Leben meiner Mutter weiterzuleben …«

Henriette wischte sich rasch übers Gesicht und straffte die Schultern. »Bitte verzeih, ich wollte dich nicht mit meiner traurigen Geschichte bekümmern, Mareike.«

Mareike lachte leise auf, aber es war kein glückliches Lachen.

»Mich bekümmern?«, wiederholte Mareike. »Du sprichst von Kummer, dabei bist du es, die die Mutter verloren hat und die stark für ihre Geschwister sein musste …«

Ein lautes Dröhnen unterbrach Mareike. Ein Automobil fuhr ruckelnd an ihnen vorbei und hielt am Platz der Uhr an. Staunend betrachtete Henriette das Gefährt. Natürlich hatte sie einige dieser neumodischen Fortbewegungsmittel schon in Hamburg gesehen, aber nur bei Gästen in der Pension, die über ein stattliches Vermögen verfügten. Hier in Timmendorfer Strand hatte sie ein Automobil nicht erwartet.

»Wer ist das?«, fragte Henriette und beobachtete, wie ein junger Mann in ihrem Alter und ein weitaus älterer Mann mit schütterem grauem Haar aus dem Automobil stiegen.

Mareike neigte den Kopf zur Seite und verschränkte die Arme vor der Brust. Henriette überraschte diese abweisende Haltung, denn bis jetzt war Mareike ihr wie der fröhlichste und freundlichste Mensch auf der Welt vorgekommen.

»Das ist Hubert Graff und sein Sohn Eduard.«

Henriette hob eine Augenbraue. »Ich brauche ein wenig mehr Hintergrund, Mareike.«

Mareike schnaubte undamenhaft. »Hubert Graff ist einer der angesehensten Architekten in unserem kleinen Kurort. Er ist mit den Herrschaften der Villa Gropius befreundet.« Sie verdrehte die Augen und zeigte auf Eduard Graff. »Und das ist sein arroganter Sohn.«

Henriette kam nicht umhin, Eduard Graff näher zu betrachten. Seine rotbraunen Locken wippten heftig auf seinem Kopf, seine Gesichtszüge waren markant, mit hohen Wangenknochen und einer hellen Haut wie Porzellan. Als er sich umdrehte und sein Blick bei Henriette und Mareike hängen blieb, da war es, als würde sie im Schwarz seiner Augen ertrinken. Henriette zog scharf die Luft ein, denn Eduard Graff sprach kurz mit seinem Vater und kam dann mit gemächlichen Schritten über die Straße zu ihnen herüber.

»Na großartig …«, murmelte Mareike verdrossen und schaute sichtlich genervt zur Seite, als Eduard Graff vor ihnen stehen blieb.

Henriette spürte, wie ihr Herz zu rasen begann, und erhob sich langsam von der Bank. Eduard Graff trug einen hellgrauen Anzug, der wie maßgeschneidert aussah. Der Stoff schimmerte und sah unfassbar teuer aus. Seine Statur war muskulös. Ohne Scheu ergriff er Henriettes Hand und hauchte einen Kuss darauf.

»Meine Dame«, sagte er charmant, und ein Lächeln spielte um seine vollen Lippen. »Ich habe Sie noch nie hier im Ort gesehen. Darf ich fragen, ob Sie im Urlaub sind?«

Henriette räusperte sich und schenkte dem fremden jungen Mann ein gezwungenes Lächeln. Sie hatte nicht viel Erfahrung in solchen Dingen, hatte sich lieber hinter Bilanzen und Fachbüchern versteckt, als mit einem jungen Mann über die Promenade in Hamburg zu flanieren.

»Henriette Hohnhold, es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen. Meine Familie eröffnet hier in Kürze die Villa Sommerwind.«

Einen Moment lang meinte Henriette wahrzunehmen, dass sich Eduard Graffs Gesichtsausdruck verfinsterte, doch dann kehrte dieses ungewöhnliche Strahlen in seine schwarzen Augen zurück.

»Die Villa Sommerwind nahe dem Kurpark? Wie schön, davon habe ich von meinem Vater gehört. Es ist mir eine Ehre, Ihre Bekanntschaft zu machen, Fräulein Hohnhold. Ich hoffe, Sie bald wiederzusehen.« Er küsste erneut ihre Hand und neigte den Kopf zur Seite, wobei er seinen Blick auf Mareike richtete.

»Wie schön, dass du sie herumführst. Wie immer mit gutem Herzen unterwegs.« Spott schwang in Eduards Stimme, und Mareike sprang wütend von der Bank auf.

»Ach, sei still, Eduard!«, fauchte sie und tippte mit dem Finger an Eduards Brust.

Henriette war erschrocken, wie ungezogen Mareike sich benahm, aber es sollte sie eigentlich nicht überraschen. Mareike war nicht die Frau, die sich den Mund verbieten ließ.

Eduard lachte herzlich und grinste auf Mareike hinab, denn er war mehrere Zentimeter größer als die Frauen.

»Es ist immer wieder schön, mit dir zu sprechen, kleine Mareike.« Er nickte den Frauen zu und drehte sich um. »So Gott will, sieht man sich wieder.«

»Besser später als früher«, murrte Mareike schnippisch und ließ sich wieder auf die Bank fallen.

Henriette starrte zwischen ihrer neuen Freundin und Eduard Graff hin und her. Sichtlich verwirrt setzte sie sich wieder zu Mareike und schaute sie abwartend an.

»Er ist ein gemeiner, arroganter Kerl, aber lass dich ruhig von seinem Charme einlullen«, wisperte sie leise und wich Henriettes Blick aus.

»Seid ihr zusammen auf die Schule gegangen?«

Mareike zeigte die Straße hinauf. »Herrn Harms’ Gemischtwarenladen ist in der Von-Sydow-Straße, und die Straße, die sie kreuzt, ist die Bergstraße. Dort oben ist die Schule des Dorfs.«

Henriette wertete dies als Ja auf ihre Frage und blieb ein wenig hilflos neben ihrer neuen Freundin sitzen. Sie wusste nicht, was sie zu Mareike sagen sollte, denn Eduard Graff war freundlich gewesen. Nicht mehr und nicht weniger.

»Möchtest du, dass ich dir noch Niendorf, das kleine Fischerdorf, zeige?«, fragte Mareike nach einiger Zeit des Schweigens.

Henriette schüttelte lächelnd den Kopf. »Ein anderes Mal, ich denke, ich habe für heute genug gesehen.«

»Dann bringe ich dich gerne zurück.« Mareike erhob sich in einer fließenden Bewegung, und das freundliche Lächeln lag wieder auf ihrem Gesicht. Als wäre nichts gewesen. Als hätte diese Begegnung mit Eduard Graff gar nicht stattgefunden. Henriette erhob sich ebenfalls, und gemeinsam gingen sie über die Straße zurück zum Platz an der Uhr. Auch wenn sich ihr die Frage aufdrängte, was zwischen Eduard Graff und Mareike vorgefallen war, hielt sie den Mund. Vielleicht war es auch nur eine kindische Fehde aus der Schulzeit – ein Zwist, der schon ewig währte.

»Das ist die Schneiderei deiner Mutter, oder nicht?« Henriette hatte das kleine weiße Häuschen bei ihrem ersten Spaziergang gar nicht bemerkt. Es stand in der Nähe des Friseursalons Sint. Im Schaufenster erkannte sie Modepuppen, die prächtige Kleider in verschiedenen Farben trugen. Die Schnittmuster waren modisch und zum Teil sehr extravagant, aber das gefiel Henriette irgendwie.

»Ja, genau. Aber im Moment haben wir noch geschlossen, weil meine Mutter in Lübeck ist und neue Kleiderstoffe kauft. Aber komm gerne mit deiner kleinen Schwester ein anderes Mal vorbei, dann schneidern wir euch etwas Schönes.«

Henriette hakte sich bei Mareike unter und schmiegte sich mit der Schulter an die neue Freundin. »Das werde ich machen, Mareike. Vielen Dank für das Angebot, und dass du mir Timmendorfer Strand gezeigt hast.«

»Sehr gerne … und wenn du möchtest, zeige ich dir demnächst auch noch alles andere. Ich wünsche mir, dass wir noch viel Zeit miteinander verbringen.«

»Das tun wir, immerhin sind wir doch jetzt Freundinnen«, versprach Henriette und fügte mit einem Grinsen hinzu: »Außerdem musst du mir alles über den schrecklichen Eduard Graff erzählen.«

Mareike hielt sich kichernd die Hand vor den Mund und nickte begeistert. Henriette stimmte in das Lachen ein, und das erste Mal, seit sie Hamburg verlassen hatten, war es, als hätte ihr Herz wieder einen Platz in dieser Welt gefunden. Als wäre sie nicht mehr allein mit all ihrem Schmerz.

Kapitel 3

Henriette
September 1903

Die Sonne schien durch einen winzigen Spalt im Vorhang ins Zimmer. Blinzelnd öffnete Henriette die Augen. Der Geruch von frisch gewaschener Wäsche kitzelte sie in der Nase. Langsam erhob sie sich, tappte zur Fensterbank und zog den Vorhang zur Seite. Weit öffnete sie das Fenster und sog gierig die salzige frische Meeresluft ein.

»Guten Morgen, wunderschönes Timmendorf«, flüsterte sie und verharrte einen Augenblick in der Kälte, bis sich eine Gänsehaut auf ihren nackten Armen bildete und sie das Fenster rasch wieder schloss.

Noch war es ruhig in den Privaträumen der Familie Hohnhold, und Henriette genoss die Stille in vollen Zügen. Sie hatte sich schneller im Kurort eingelebt, als sie es für möglich gehalten hatte. Trotz ihrer anfänglichen Skepsis hatten die Dorfbewohner sie mit offenen Armen aufgenommen, ihr sogar Willkommensgeschenke gemacht, und der Besitzer von Denkers Kurhotel hatte sie zu einem Bankett eingeladen.

Henriette zog sich ein blaues, eng geschnittenes Kleid an, das Mareike ihr geschneidert hatte. Sie strich hingerissen über den seidigen Stoff, der wie in Wellen über ihren Körper floss. Gerade wollte Henriette ihr Zimmer verlassen, da hörte sie im Flur ein leichtes Knacken und lauschte aufmerksam. Leise schlich sie zur Tür und öffnete sie vorsichtig, darauf bedacht, kein Geräusch zu machen.

Der Flur lag noch im Dämmerlicht, nur einige Gaslampen an der Wand waren entzündet worden. Henriette spähte in die Finsternis, dann erkannte sie, wie ein Schatten aus dem Büro heraushuschte.

Sie kniff die Augen zusammen, konnte die Gestalt ihres Vaters jedoch nur erahnen und zog sich hastig vom Türspalt zurück, als der Schatten sich zur Treppe bewegte. Sie hörte auf die gleichmäßigen Schritte und verharrte einen Augenblick ganz still und leise, bevor sie die Tür vorsichtig öffnete. Henriette schlich zum Treppenaufgang und erkannte ihren Vater noch auf den Stufen, bevor er aus ihrem Sichtfeld verschwand.

»Wo gehst du in dieser Herrgottsfrühe denn hin, Vater?«, wisperte Henriette und zögerte keinen Augenblick, ihm hinterherzulaufen.

Ihr Vater war kein Frühaufsteher. Er schlief meistens länger als die übrigen Mitglieder der Familie, arbeitete dafür jedoch immer bis spät in die Nacht. Henriette hatte sich irgendwann seinem Rhythmus angepasst, seit sie jedoch in Timmendorfer Strand angekommen waren, wachte sie des Morgens immer mit den ersten Strahlen der Sonne auf.

Darauf bedacht, kein Geräusch zu verursachen, schlich sie die Treppe hinunter und erreichte die Empfangshalle, in der Stille herrschte. Dann jedoch hörte sie ein Rumpeln, und Herr Bors, der Empfangschef, tauchte hinter dem Tresen auf.

»Guten Morgen, Fräulein Henriette«, begrüßte er sie mit verkniffenem Gesichtsausdruck.

»Moin, Herr Bors«, erwiderte Henriette irritiert und schaute sich in der Halle um. »Ist mein Vater hier vorbeigekommen?«

Der Empfangschef runzelte die Stirn und schüttelte dann knapp den Kopf. »Nein, Ihren Herrn Vater habe ich heute noch nicht gesehen. Außerdem wäre es auch recht früh für ihn, oder nicht?«

Henriette unterdrückte ein Seufzen.

»Sie haben recht, es ist tatsächlich zu früh für meinen Vater, dann habe ich mich wohl geirrt. Vielen Dank.« Sie ging zum Ausgang des Hotels, aber Herrn Bors’ Stimme hielt sie auf.

»Soll ich dem Zimmermädchen mitteilen, dass Sie einen Spaziergang machen? Nicht, dass die junge Elise sich noch um Sie sorgt.«

Bei den Worten war Henriette unbehaglich zumute – Herrn Bors’ Stimme klang schnippisch, als ob sie nicht das Recht hätte, das Hotel ohne Erlaubnis ihres Vaters zu verlassen.

»Das wäre sehr freundlich von Ihnen, wenn Sie Elise mitteilten, dass ich einen Spaziergang mache. Ich werde aber zum Frühstück zurück sein«, entgegnete Henriette mit zuckersüßer Stimme und lächelte Herrn Bors an.

Sie wartete gar nicht auf seine Antwort und stürmte aus der Villa Sommerwind. Der Wind pfiff um die Häuserecke, und Henriette schaute sich suchend um, konnte ihren Vater jedoch nirgendwo entdecken. Da Herr Bors ihn nicht gesehen hatte, musste ihr Vater den Dienstboteneingang genommen haben, den die Angestellten benutzten, um das Hotelgebäude auf der linken Seite zu verlassen, wenn sie zum Beispiel Besorgungen erledigten.

Aber warum ihr Vater so ein Geheimnis daraus machte, dass er das Hotel verließ, verstand Henriette beim besten Willen nicht. Seufzend sah sie sich um, die Fußgängerpromenade, die mit gelben Steinen gepflastert war, lag noch still und verlassen da. Bald würde das Seebad jedoch zum Leben erwachen und der Trubel des Tages beginnen. Henriette entschloss sich, durch den Kurpark am Denkers Kurhotel vorbei zum Strand hinaufzugehen. Sie begegnete zwei Dienstmädchen, die ebenfalls auf dem Weg zum Strand waren, vermutlich um die Badekarren zu säubern, bevor die Gäste sich zum Sonnenbaden aufmachten. Sie erreichte die Strandpromenade und war froh, dass die Bäume ihr ein wenig Schatten spendeten, denn es war selbst am frühen Morgen schon angenehm warm. Lächelnd blieb sie am Zugang zum Strand stehen und betrachtete die eindrucksvolle Ostsee. Ihr Herz schlug heftig gegen die Rippen, und ein Kribbeln huschte durch ihren Körper.

Die Sonne erhob sich schüchtern über dem Horizont, tauchte die Welt in helles Rot, badete die kleinen Wolken in goldenem Licht. Möwen kreischten über ihrem Kopf, flogen in atemberaubendem Tempo einen Sturzflug in die Wellen, um sich ihr Frühstück zu ergattern. Seit sie das erste Mal mit Mareike und ihren Geschwistern am Strand gewesen war, wusste Henriette, dass sie diesen Ort von nun an ihre Heimat nennen wollte. Dass sie niemals mehr woanders sein wollte als hier in Timmendorfer Strand.

Obwohl sie ihren Vater auch hier nicht entdecken konnte, lief sie hinunter zum Strand. Sie konnte sich eigentlich nicht vorstellen, dass er hier war, aber vielleicht irrte sie sich auch. Sein Verhalten war äußerst merkwürdig, er durchbrach seine eigene Routine, da könnte sie ihn ebenso gut auch am Strand finden. Henriette schlüpfte aus den Schuhen und ließ sie in der Nähe der Düne stehen. Der Sand war noch kalt und ein wenig klamm, denn es hatte letzte Nacht Bindfäden geregnet. Aber die Luft fühlte sich klar und salzig an. Die Wellen türmten sich auf, brachen am Strand, und Gischt spritzte auf. Mit jedem Schritt, den sie näher zum Wasser ging, pulsierte ihr Herz immer stärker in ihrer Brust.

Langsam zogen sich die letzten Schatten der Nacht zurück, gaben den Platz frei für die Strahlen der Sonne, die die Welt in schönstem Glanz erstrahlen ließ. Die Ostsee lag in ihrer vollen Pracht vor ihr. Wild und stürmisch. Frei und gefährlich. Sie umfasste den Stoff ihres dunkelblauen Kleides mit beiden Händen und zog ihn bis kurz über die Knie hinauf. Dann ging sie noch einen Schritt auf das Wasser zu, und eisige Kälte durchströmte ihre Glieder, als die raue See ihre Füße umspülte. All ihre Sinne schienen zu explodieren, und ein leises Lachen entschlüpfte unwillkürlich ihren Lippen. Henriette drehte sich im Kreis, Wasser und Sand spritzten auf und verschmutzten ihr Kleid. Sie war so gefangen in ihrer Freude, dass sie die geflüsterten Stimmen erst bemerkte, als es beinah schon zu spät war. Neugierig drehte Henriette sich um, als sie die Silhouetten von zwei Personen nahe dem Aufgang zum Strand sah. Sie kniff die Augen zusammen und huschte hinter einen der Badekarren, die im seichten Wasser aufgestellt waren und in denen die Gäste des Kurortes sich umziehen konnten, um dann in züchtiger Kleidung im Meer zu baden.

Henriette hielt den Atem an, denn sie vernahm die Stimme ihres Vaters, und als die Sonne vollends über den Horizont kletterte und die Personen in ihrem Licht badeten, da keuchte sie schockiert auf.

Eine Frau! Es war eine Frau, die da mit ihrem Vater den Aufgang zum Strand hochging und sich bei ihm unterhakte. Sie lachte leise und lehnte sich mit der Schulter an die von Henriettes Vater. Die Frau schenkte ihm einen koketten Blick, und kurz bevor sie die Strandpromenade erreichten, hielten sie an. Ihre Hände verschränkten sich ineinander, und ihr Vater sah die Frau mit einem liebevollen Lächeln an.

Henriettes Finger krallten sich in das morsche Holz des Badekarrens, während das kalte Wasser ihre Knöchel umspülte.

Mit Schrecken sah sie, wie ihr Vater sich zu dieser Frau hinabbeugte und ihr einen Kuss auf die rosigen Wangen hauchte. Seine Hand strich eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht, und er flüsterte der Frau etwas ins Ohr, was Henriette nicht hören konnte. Die Frau lächelte und bettete ihren Kopf an seine Brust.

Sie war wunderschön. Die schönste Frau, die Henriette je gesehen hatte, nach ihrer Mutter natürlich. Rotbraune Locken umrahmten ein blasses Gesicht, ihre Gesichtszüge waren geschmeidig, die roten Lippen wohlgeformt, und eine kleine Stupsnase ließ das Gesicht jugendlich erscheinen. Sie trug ein hellgrünes Kleid, das sich perfekt an ihren Körper schmiegte, die Ärmel und Hüften mit geschwungenen schwarzen Linien verziert, die sich wie Adern durch den Stoff bewegten.

Henriette wagte es nicht, sich zu rühren, bevor ihr Vater und die Frau auf der Strandpromenade verschwunden und außer Sichtweite waren. Sie zitterte am ganzen Leib, und ihre Kehle war trocken. Sie wankte aus dem kalten Wasser, Schmutz und Sand, Salz und Gischt hatten sich im Stoff ihres Kleides verfangen, und der scharfe Wind hatte ihre Frisur vollkommen ruiniert. Aber all das war bedeutungslos gegen das, was Henriette gerade gesehen hatte.

Ihr Vater und eine Frau!

Sie wünschte sich, dass es nur ein Traum gewesen wäre, aber sie konnte nicht leugnen, was sie mit eigenen Augen gesehen hatte. Henriette presste sich die Hand vor den Mund. Tränen brannten in ihren Augen.

Niemals nach dem Tod ihrer Mutter hatte ihr Vater sich einer anderen Frau zugewandt. Nicht einmal nach der Trauerzeit oder als ihre Großmutter ihm gesagt hatte, dass er eine neue Frau an seiner Seite brauche, hatte er auf sie gehört.

Ich brauche keine neue Frau an meiner Seite. Meine Kinder brauchen keine neue Mutter. Sie sollen die Erinnerung an ihre Mutter am Leben erhalten.

Seine Worte hallten einem schmerzhaften Echo gleich in Henriettes Gedanken wider, und Tränen rannen über ihre Wangen. Doch sie biss sich auf die Unterlippe und wischte sich wütend über die Augen.

Du benimmst dich wie ein albernes Kind, machte sich eine spitze Stimme in ihren Gedanken breit. Du solltest deinem Vater ein neues Glück gönnen!

Henriettes Hände ballten sich zu Fäusten, und sie schaute über den Horizont hinweg auf die stürmischen Wellen. Natürlich sollte sie ihm sein Glück gönnen, immerhin hatte er sich aufopferungsvoll um seine Kinder gekümmert, alles für sie getan. Niemals hatte er seine Trauer offen gezeigt.

Und obwohl Henriette all das wusste, obwohl sie sich nicht wie ein kleines Kind benehmen wollte, sondern wie eine Erwachsene, die alleine Verantwortung tragen konnte, fühlte sich dieses Bild von ihrem Vater und dieser Frau, das sich in ihren Kopf eingebrannt hatte, wie Verrat an.

»Warum hast du es mir nicht wenigstens erzählt, Vater?«, murmelte Henriette, doch das rauschende Meer konnte ihr keine Antwort auf diese Frage geben.

Hätte ihr Vater mit ihr über seine Gefühle gesprochen, dann würde sie sich jetzt nicht so elend fühlen.

Henriette raffte ihr Kleid, denn sie wusste, dass es nur eine einzige Person gab, die ihr diese Frage beantworten konnte, und die würde sie nun aufsuchen. Sie lief über die Promenade zurück zur Villa Sommerwind.

Völlig kopflos überquerte sie die Fußgängerpromenade und wurde beinahe von einer Kutsche angefahren. Unter dem Gemecker des Kutschführers murmelte Henriette eine eilige Entschuldigung und versuchte, ihr in Aufruhr geratenes Herz zu beruhigen.

Sie straffte die Schultern und ging nunmehr mit gemächlichen Schritten hinüber zum Hotel. Dort steuerte sie auf den Dienstboteneingang zu, der sich in einer kleinen Gasse zwischen dem benachbarten Hotel Falkenstein und der Villa Sommerwind befand. Nach ihrem Klopfen öffnete sich die dunkle Eichentür mit einem protestierenden Quietschen, und Elise, Henriettes Zimmermädchen, tauchte auf.

»Fräulein Henriette, was tun Sie denn hier?«, fragte Elise erschrocken.

»Ich habe einen Spaziergang gemacht.« Henriette schaute mit einem zerknirschten Lächeln an sich hinunter.

Elise seufzte resigniert und ließ Henriette ein. »Bitte lassen Sie mich Ihnen beim Umkleiden helfen, damit ich das Kleid gleich reinigen kann, sonst bekomme ich es nie wieder sauber. Herr Bors sagte mir, dass Sie einen Spaziergang machen, aber ich habe nicht erwartet, dass Sie den Dienstboteneingang benutzen.«

Henriette winkte ab. »Wenn du es nicht mehr richtig sauber bekommst, dann kann Mareike bestimmt ein paar Stoffreste gebrauchen, um ein neues Kleid daraus zu zaubern.«

»Eine gute Idee, Fräulein Henriette, aber bitte lassen Sie mich trotzdem versuchen, das Kleid zu säubern. Es steht Ihnen doch so gut.« Sehnsucht war aus Elises Stimme herauszuhören, und Henriette wusste natürlich, wieso. Sie hatte erfahren, dass ihr Zimmermädchen aus einer ärmlichen Bauernfamilie aus Hemmelsdorf stammte. Mit dem Lohn aus ihrer Anstellung in der Villa Sommerwind konnte sie die Familie unterstützen und ihren jüngeren Geschwistern sogar den Schulbesuch ermöglichen, weil sie nicht auf dem Hof arbeiten mussten.