Die Frauen der Villa Sommerwind. Die Hoffnung am Horizont - Anna Husen - E-Book

Die Frauen der Villa Sommerwind. Die Hoffnung am Horizont E-Book

Anna Husen

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Beschreibung

Die Familiensaga am Timmendorfer Strand geht weiter: Nun müssen Henriettes Zwillinge in den unsicheren Zeiten der Vorkriegsjahre ihren Weg finden und die Gefahren des Kriegs überstehen. Timmendorfer Strand, 1924: Henriettes Zwillingstöchter, Julia und Christine – zwei Schwestern, die unterschiedlicher nicht sein könnten – wachsen trotz der Schatten des Ersten Weltkriegs behütet in der Villa Sommerwind ihrer Familie auf. Während Julia als junge Frau alles daran setzt, ihren Traum zu erfüllen, Köchin der Villa Sommerwind zu werden, verliebt sich Christine in Maximilian, einen Freiheitskämpfer für politisch Verfolgte. Als dieser in Gefahr gerät, flieht Christine mit ihm und lässt ihre Tochter in der Obhut ihrer Schwester zurück. Julia, die jetzt mit ihrer Nichte und Mutter zu Beginn des Zweiten Weltkriegs auf sich allein gestellt ist, muss über sich hinauswachsen, um nicht nur sich, sondern ihre ganze Familie zu beschützen … Anna Husen lässt die Geschichte des bezaubernden Ostsee-Kurorts Timmendorfer Strand auch in ihrem zweiten Familienroman lebendig werden. Ein Roman voller mitreißender Schicksale, starker Frauen und der Bedeutung von Familie. "Nostalgisch und lebensfroh lässt Anna Husens historische Familiensaga das Ostseebad Timmendorfer Strand lebendig werden ..." ― Berliner Lokalnachrichten Erlebe Henriettes Geschichte in Band 1 der Familiensaga um die Villa Sommerwind: Das Glück am Horizont

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Seitenzahl: 617

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Anna Husen

Die Hoffnung am Horizont

Die Frauen der Villa Sommerwind

Roman

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Über dieses Buch

Die große Saga vor der Kulisse von Timmendorfer Strand geht weiter!

 

Timmendorfer Strand, 1924: Henriettes Zwillingstöchter Julia und Christine – zwei Schwestern, die unterschiedlicher nicht sein könnten – wachsen trotz der Schatten des Ersten Weltkriegs behütet in der Villa Sommerwind ihrer Familie auf. Während Julia als junge Frau alles daran setzt, ihren Traum zu erfüllen, Köchin der Villa Sommerwind zu werden, verliebt sich Christine in Maximilian, einen Freiheitskämpfer für politisch Verfolgte. Als dieser durch die sich zuspitzende politische Lage und sein Engagement in Gefahr gerät, flieht Christine mit ihm und lässt ihre Tochter in der Obhut ihrer Schwester zurück. Julia, mit ihrer Nichte und Mutter zu Beginn des Zweiten Weltkriegs auf sich allein gestellt, muss über sich hinauswachsen, um nicht nur sich, sondern ihre ganze Familie zu beschützen …

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Widmung

Teil 1

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Teil 2

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Teil 3

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Danksagung

Leseprobe »My Dearest Lovers«

 

 

 

 

Für meine Eltern.

Teil 1

Kapitel 1

Julia
Timmendorfer Strand, Juli 1924

Möwen kreisten über ihre Köpfe hinweg, und die Wellen brandeten am Strand. Golden funkelte die Sonne am strahlend blauen Himmel, und Julia streckte die Beine vor sich aus, während sie sich eine Erdbeere aus dem Picknickkorb stibitzte.

»Julia!«, schimpfte ihre Schwester Christine und ließ ihre Hand auf Julias niedersausen, sodass die Erdbeere zurück in den Korb purzelte. »Du sollst ein paar Erdbeeren für Mutter und Vater übrig lassen.«

Theatralisch verdrehte Julia die Augen und verschränkte die Arme hinter dem Kopf, während sie sich auf die Picknickdecke legte. Sie waren nun fast neunzehn Jahre alt, und trotzdem behandelte Christine sie manchmal, als wäre Julia noch ein kleines Kind.

»Du bist so korrekt«, maulte sie und schaute in den blauen Himmel.

Christine schnaubte belustigt und knuffte Julia in die Seite. »In Ordnung, ein paar Erdbeeren kannst du noch essen, aber beschwer dich nicht, wenn Vater nachher beleidigt ist.«

Vater, dachte Julia amüsiert und schloss die Augen. Wie schnell Ole Bergmann, der Mann, der schon immer das Herz ihrer Mutter berührt hatte, zu einem echten Vater für sie geworden war! Ohne Kompromisse, ohne Zweifel. Selbst ihre Schwester Christine, die dem neuen Mann an der Seite ihrer Mutter am Anfang noch skeptisch gegenübergestanden hatte, war seinem Charme und seinen schlechten Witzen erlegen.

»Hörst du mir überhaupt noch zu?«, durchbrach Christine ihre Gedanken, und Julia öffnete wieder die Augen.

»Wie könnte ich dir jemals nicht zuhören?«, fragte sie feixend.

»Du bist unmöglich!«

»Das bemerkst du erst jetzt?« Julia hievte sich hoch und fuhr sich durch ihre roten, widerspenstigen Haare. Sie ließ den Blick über das Meer schweifen, und ein Lächeln zupfte an ihren Lippen. Ihr Zuhause war so wunderschön, dass es ihr beinahe das Herz zerriss.

»Wir sollten uns auf den Heimweg machen.«

Julia zog die Augenbrauen in die Höhe und musterte ihre Schwester eingehend. Christine war eine bezaubernde Schönheit geworden, die sich durch nichts aus der Ruhe bringen ließ. Ihr schwarzes Haar war zu einem adretten Zopf geflochten, der über ihre Schulter hing. Das blaue Kleid, welches sie trug, wies keine Flecken auf, und ein sanftes Lächeln huschte über ihre Gesichtszüge.

»Wieso hast du es auf einmal so eilig?«

Christine zuckte schweigend mit den Schultern und fuhr mit ihren Fingern durch den Sand. Neugierig beobachtete Julia sie, bis ihr ein Licht aufging.

»Du willst in die Praxis!«, rief sie und klopfte sich den Staub von ihrem Kleid, während sie sich erhob. »Aber heute ist dein freier Tag.«

Christine seufzte leise und sah Julia an. »Ich möchte Herrn Marks in der Praxis helfen, denn dort finden heute einige Umbauarbeiten statt.«

Julia wollte erwidern, dass ihre Schwester nun wirklich kein Talent für Handwerksarbeiten besaß, denn sie konnte nicht mal einen Nagel richtig in ein Brett hämmern – das war eher Julias Stärke, aber als sie das scheue Lächeln auf Christines Lippen sah, wusste sie, dass diese Worte überhaupt keine Wirkung zeigen würden. Sie hatte ihre Ausbildung zur Krankenschwester vor etwas mehr als drei Jahren begonnen und aufgrund ihrer guten Leistungen schon vorzeitig beendet. Nun arbeitete Christine in Herrn Marks’ Praxis, versorgte Patienten und kümmerte sich um die kleinen und großen Wehwehchen der Bürger von Timmendorfer Strand.

»In Ordnung, dann gib mir den Korb mit den Einkäufen, ich gehe allein zum Hotel zurück.«

»Danke!« Erleichtert erhob Christine sich und zog ihre Schwester in eine innige Umarmung.

Julia konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Für die meisten Menschen war Christine wie ein unscheinbarer Schatten, eine junge Frau, die sich im Hintergrund hielt und immer fleißig und freundlich war. Aber manchmal schien es, als würde ein Funke von Julias Temperament auf Christine überspringen. Dann war sie wie ein Sommersturm, der übers Land zog.

»Sag bitte Mutter und Vater nichts, sonst sind sie wieder besorgt, dass ich zu viel arbeite.« Christine löste sich von ihrer Schwester, und ein flehentlicher Ausdruck huschte über ihr Gesicht.

Julia verdrehte die Augen. »Was soll ich ihnen denn stattdessen sagen? Dass du mit einem Burschen anbändelst? Das glauben sie mir noch viel weniger«, antwortete Julia trocken.

»Sei nicht so gemein!« Christine wurde rot im Gesicht und wandte hastig den Blick ab.

»Und du sei nicht so empfindlich.« Julia strich über Christines Arm und schüttelte den Kopf. »Ich hab’s nicht so gemeint, das weißt du genau.«

Christine nickte gedankenverloren und schlang die Arme um ihren Körper. Ein Zittern huschte über sie hinweg, und sie presste die Lippen aufeinander.

Julia zog scharf die Luft ein und beobachtete ihre Schwester eingehend. Auch das war Christine. Ihre Schwester zeigte ihre Gefühle nicht gerne, zog sich in ihr Innerstes zurück und schwieg lieber über die Dinge, die sie beschäftigten.

»Was ist los?«, fragte Julia zaghaft, hakte sich bei ihrer Schwester unter und schnappte sich die Picknickdecke, bevor sie mit Christine zur Strandpromenade ging.

Christine kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe. »Herr Marks hat gesagt, dass ich einige Kurse der Medizin in Kiel besuchen kann, wenn ich möchte«, sagte sie dann kleinlaut.

»Aber das ist doch großartig! Wenn dir die Kurse gefallen, könntest du sogar Medizin studieren. Das wolltest du doch immer!«, rief Julia begeistert. »Warum siehst du deswegen so besorgt aus?«

Sie gingen den kleinen Hügel hinunter zum Denkers Kurhotel, und während Christine noch beharrlich schwieg, ratterte ein Karren an ihnen vorbei. Julia erkannte, dass es der Bauer Hubert war, der Gemüse, Obst und Getreide für die Hotels im Kurort auslieferte.

»Die Damen Graff«, grüßte er sie, als der Karren zum Stehen kam und sie daran vorbeigingen.

»Guten Morgen, Herr Hubert«, entgegnete Julia höflich, löste sich von ihrer Schwester und spähte in den Karren.

»Na … haben Sie wieder neue Rezeptideen für dieses Gemüse?«, fragte der Bauer mit einem Grinsen auf den Lippen und sprang vom Karren.

»Ja, sehr viele sogar, Herr Hubert. Ich möchte einen neuen Gemüseeintopf ausprobieren, den ich in einem alten Kochbuch meiner Großmutter entdeckt habe.« Ehrfürchtig strich sie über die Säcke, sog den Duft von frischem Gemüse ein und konnte gar nicht in Worte fassen, wie dankbar sie war, dass die Inflation nun langsam abflachte und niemand im Kurort mehr Hunger leiden musste. Die Läden füllten sich mit frischen Waren, und endlich konnte Julia all die Rezepte ausprobieren, für die ihr so lange die Lebensmittel gefehlt hatten.

»Das klingt vorzüglich, junge Dame. Ich hoffe, Sie lassen mich davon probieren.«

»Aber natürlich, Herr Hubert.« Sie lächelte den Mann höflich an und verabschiedete sich hastig von ihm, denn Christine war ohne ein Wort des Grußes weitergegangen.

Allein dieses Verhalten zeugte davon, dass ihre Schwester tief in Gedanken versunken war. Julia schüttelte irritiert den Kopf und lief ihrer Schwester eilig hinterher. »Tine!«, rief sie und ergriff ihr Handgelenk.

Christine wirbelte herum und starrte Julia beinahe erschrocken an; die Lippen fest aufeinandergepresst, wich sie Julias Blick sofort wieder aus.

»Du bist heute äußerst merkwürdig …«, murmelte Julia und ließ Christines Handgelenk los.

Ihre Schwester zuckte nur mit den Schultern und wandte sich wieder ab, aber so schnell würde Julia sich nicht abschütteln lassen. Sie war hartnäckig und konnte ihren Liebsten ungeheuer auf die Nerven gehen, aber so fand sie auch immer heraus, was die Menschen in ihrer Nähe bedrückte.

»Nun rede schon mit mir!«, forderte Julia Christine auf und zog sie mit auf eine Bank nahe der Promenade, bevor sie die VillaSommerwind ihrer Familie erreichten.

Wortlos setzte Christine sich und verhakte die Finger ineinander. Einige schwarze Haarsträhnen hatten sich aus ihrem geflochtenen Zopf gelöst und umrahmten ihr Gesicht wie Schatten. Manchmal beneidete Julia ihre Schwester um ihre Schönheit. Um die feine Haut wie Porzellan, dieses Haar, das schwarz wie die Nacht war und immer glänzte. Um die schön geschwungenen Brauen, die kirschroten Lippen. Christine sah aus wie eine Prinzessin, wie eine schweigende Schönheit inmitten von goldenem Sonnenlicht. Sie, Julia, war dagegen ein Wildfang mit ihren feuerroten Haaren und der sommersprossigen Haut. Ihre Lippen waren trocken, ihre Hände schwielig von der heimlichen Arbeit in der Küche, und doch wusste sie in ihrem tiefsten Inneren, dass sie nicht wie Christine sein musste. Dass sie ihre Schwester immer lieben würde und dieser Neid nur ein Trugbild in ihrem Herzen war.

»Meinst du …«, setzte Christine unsicher an und biss sich auf die Unterlippe. »Denkst du, dass Mama und Papa mir erlauben werden, Kurse in Medizin zu besuchen? Vielleicht sogar wirklich zu studieren?«

Julia hob die Augenbrauen und brauchte einige Zeit, um die Worte ihrer Schwester zu verarbeiten. »Warum sollten sie das denn nicht? Mutter hat dir erlaubt, während des Krieges im Lazarett zu arbeiten. Sie hat deiner Lehre zugestimmt und würde dir auch ein Studium erlauben. Da bin ich mir sicher.«

Christine seufzte so tief, als läge das ganze Leid der Welt auf ihren Schultern, und sah ihre Schwester unsicher an. »Aber wenn ich heiraten soll … dann kann ich keine Ärztin mehr sein …«

Nun begriff Julia, was der wirkliche Grund für die Niedergeschlagenheit ihrer Schwester war. Nur düster erinnerte sie sich an das Gespräch ihrer Eltern, das sie gemeinsam mit Christine belauscht hatte. Sie hatten sich darüber unterhalten, dass ihre Töchter langsam alt genug waren, um darüber nachzudenken, dass sie einen Gatten an ihrer Seite brauchten. Doch in diesem Gespräch klang es nicht danach, dass diese Pläne von heute auf morgen in die Tat umgesetzt werden sollten. Natürlich wusste Julia, dass man von einer Frau nach der Hochzeit erwartete, dass sie ihren Beruf aufgab und sich um Haushalt und Kinder kümmerte.

»Dir ist schon bewusst, dass niemand das von Mutter erwartet hat, oder? Sie hat die VillaSommerwind immer mitgeführt und sich trotzdem gut um uns gekümmert, oder nicht?«

»Aber doch nur, weil unser leiblicher Vater es ihr erlaubt hat.«

Das war nicht wahr, und das wusste Christine genauso gut wie Julia. Aber im Gegensatz zu Christine traute Julia sich, diese Worte auszusprechen.

»Mama hat sich genommen, was ihr zustand. Sie hat niemandem erlaubt, ihr die Aufgaben im Hotel wegzunehmen, auch wenn unser leiblicher Vater es wollte. Außerdem …« Julia stockte und ließ die Worte in der Luft verweilen, ein Kratzen jagte durch ihre Kehle, und sie räusperte sich.

Darüber sprachen sie nicht. Über den Tod ihres leiblichen Vaters an diesem furchtbaren stürmischen Tag auf der Ostsee. Darüber, dass nur Julias Dummheit ihren Vater Eduard das Leben gekostet hatte. Noch immer fühlte sie sich deswegen schuldig, auch wenn ihr niemand jemals diesen Tod auflasten würde. Tränen brannten mit einem Mal in ihren Augen, und Julia blinzelte sie hastig weg.

Nein! Sie wollte sich nicht von dieser Trauer übermannen lassen, sie würde lächeln. So, wie sie es immer tat, auch wenn ihr Herz zerbrach oder sie lieber schreien wollte, wenn diese Schuld sie umklammerte wie eine kalte Hand ihre Kehle.

»Mama wird dir schon nicht verbieten, nach Kiel zu fahren. Sie wird dir wahrscheinlich eine Anstandsdame an die Seite stellen, aber du wirst dorthin fahren und so viele interessante Dinge lernen, Christine. Zudem bin ich mir sicher, dass unsere Eltern, wenn sie überhaupt an einen Mann für dich denken, einen guten und ehrbaren Burschen für dich aussuchen. Jemanden, der dir deine Leidenschaft nicht verbieten wird.«

Ein kleines Lächeln erschien auf Christines Gesicht, nachdem Julia dies gesagt hatte, und sie verflocht ihre Finger mit denen von Julia. »Ich danke dir, Julchen, dass du immer an meiner Seite bist«, flüsterte sie heiser und zog ihre Schwester in ihre Arme.

Julia erwiderte die Umarmung liebevoll und strich ihrer Schwester über den Rücken. Sie würde immer an der Seite von Christine sein. Sie beschützen und mit ihr gemeinsam all die Kämpfe austragen, die noch auf sie warteten. Auch wenn Christine wenige Minuten älter war als sie, fühlte Julia sich für ihre Schwester verantwortlich. Für dieses zarte, gescheite Mädchen, das manchmal wie ein schweigender Schatten im Raum war.

Vorsichtig löste Julia sich von Christine und wischte die Tränen von den Wangen ihrer Schwester fort. »Nun hör auf zu weinen und geh zu Herrn Marks, sag ihm, dass du die Kurse in Kiel besuchen wirst, und heute Abend sprechen wir mit Mutter und Vater.«

»Aber ich kann doch nicht einfach Herrn Marks zusagen, wenn unsere Eltern mir noch nicht die Erlaubnis …«

»Papperlapapp!«, unterbrach Julia ihre Schwester grinsend und zwinkerte ihr zu. »Wir stellen sie einfach vor vollendete Tatsachen … das hat schon immer funktioniert.«

Mehr oder weniger, murmelte eine säuerliche Stimme in Julias Kopf, die sie jedoch eilig vertrieb. Das Donnerwetter würde schon nicht so schlimm ausfallen, außerdem könnte sie immer noch für Christine in die Bresche springen, und ihr Ziehvater konnte ihr sowieso keinen Wunsch abschlagen. In der Hinsicht war er wie Julias bester Freund Paul.

Christine zog skeptisch eine Augenbraue in die Höhe, doch ein kleines Lächeln zeigte sich auf ihrem Gesicht. »Würdest du das wirklich …?«

Julia erhob sich und zog ihre Schwester auf die Beine, schob sie sanft in die Richtung, die zum Platz an der Uhr und der Praxis von Herrn Marks führte. »Nun geh schon!«, forderte sie ihre Schwester grinsend auf.

Christine seufzte leise und zog Julia in eine weitere eilige Umarmung. »Ich danke dir«, flüsterte sie, ihr Atem kitzelte in Julias Ohr, und sie winkte ihrer Schwester zum Abschied.

Ein wenig verloren blieb Julia auf der Promenade stehen und schaute sich um. Die kleinen Kaffeehäuser waren schon gut gefüllt mit Gästen. Dienstboten und Lehrjungen liefen umher, machten Besorgungen und gingen ihrem Tagewerk nach. Julia fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, und ein schelmisches Grinsen huschte über ihr Gesicht. Sie lief über die Straße und steuerte den Dienstboteneingang der Villa Sommerwind an. Die Tür war geschlossen, aber Julia klopfte dreimal daran, und im nächsten Augenblick erschien ein Gesicht im Türrahmen.

»Fräulein …« Die Stimme klang kläglich, und Sabine, Julias Zimmermädchen, trat aus der Dunkelheit hinaus zu ihr. »Sie sollen doch nicht …«

Julia wischte die Bemerkung mit einer Handbewegung fort und lächelte. Das Zimmermädchen war nur wenige Jahre älter als sie und erst seit einigen Monaten im Dienst ihrer Familie, und doch hatte es schon hinreichend Bekanntschaft mit Julias stürmischem Gemüt und ihrer Starrsinnigkeit gemacht.

»Nun lass mich schon hinein, Sabine«, forderte sie das Zimmermädchen auf.

Sabine seufzte und schüttelte den Kopf, einige braune Haarsträhnen umrahmten ihre sanften Gesichtszüge, und sie trat ergeben zur Seite. Julia ging an ihr vorbei und steuerte die Küche an, jedoch nicht ohne Sabines Bemerkung wie ein Messer im Rücken zu spüren.

»Wenn Ihr Herr Vater Sie wieder in der Küche erwischt, dann wird das Donnerwetter nicht weit entfernt sein …«

Julia verdrehte die Augen, atmete tief durch und betrat die Küche. Sofort erfasste sie eine wohlige Wärme. In ihrer Nase kitzelte der herbe Duft von Gewürzen, vermischte sich mit der Süße von Früchten, und sie hörte das Brutzeln von Fleisch in einer Pfanne, Stimmengewirr, das wie Pistolenschüsse durch die Luft flog.

»Fräulein Julia!«

Sie drehte sich abrupt um, nur um im nächsten Augenblick Nikolas und Herrn Behring in die Augen zu schauen, die gerade aus dem Büro des alten Küchenchefs getreten waren. Julia schenkte den Männern ein hinreißendes Lächeln und neigte den Kopf zur Seite.

»Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag, die Herren.«

Nikolas stieß geräuschvoll die Luft aus und verdrehte die Augen. »Dein Vater wird uns den Hals umdrehen, wenn er dich …«

»Er muss es nicht wissen, oder?«, unterbrach Julia ihn hastig und ging um die Arbeitsplatte herum, an der ein Küchenjunge gerade Gemüse schnitt. Neben ihm brodelte eine Suppe in einem riesigen Topf, und Julia schnupperte gierig daran. »Ich würde gerne bei der Gemüsesuppe helfen … meine Großmutter hat ein herrliches Rezept dafür aufgeschrieben, und ich würde es gerne mal ausprobieren …«

Der Küchenjunge starrte Julia erschrocken an und senkte eilig den Kopf, aber Julia lächelte freundlich und zog das Rezept hervor. »Bitte«, sagte sie an Nikolas und Herrn Behring gewandt.

Der alte Küchenchef fuhr sich durch sein schütteres Haar, doch dann nickte er ergeben. »In Ordnung, du kannst das Rezept zusammen mit Torben ausprobieren.« Er deutete auf den schlaksigen Küchenjungen. »Aber wenn dir die Suppe misslingt, dann erklärst du deinen werten Eltern, warum es schon wieder keine ordentliche Vorspeise, sondern am Ende nur Salat für die Gäste gibt.«

»Abgemacht!«, rief Julia und griff sich eine Schürze vom Haken.

Sie wusste, dass Herr Behring ihr aus einem noch unerfindlichen Grund keinen Gefallen abschlagen konnte und Nikolas sowieso nicht, denn er war der Bruder von Julias Ziehschwester Elisabeth. Im Krieg hatte er einen Arm verloren, aber dennoch arbeitete er immer noch in der Küche an Herrn Berings Seite. Natürlich konnte er nicht alle wichtigen Arbeiten erledigen, aber er assistierte Herrn Behring, plante die Speisen mit ihm und ging den Küchenjungen zur Hand.

Julia breitete das Rezept vor sich und Torben aus, suchte sich das Gemüse und alles Weitere, was sie brauchte, zusammen und begann voller Eifer mit dem Kochen.

Seit sie letztes Jahr mit der Schule fertig geworden war, trieb sie sich immer öfter in der Küche herum. Noch hatten ihre Eltern nicht von ihr verlangt, eine Ausbildung zu beginnen oder sich in die Belange der Villa Sommerwind einführen zu lassen. Doch Julia wusste, dass sie nicht für immer dieses freie Leben führen durfte, dass sie früher oder später Verantwortung übernehmen musste – für ihr eigenes Leben und die Villa Sommerwind. Aber in diesem Augenblick wollte sie nur das Kochen genießen.

Gerüche erfüllten ihre Nase, Gedanken kreisten ihr durch den Kopf, und ihre Finger schnitten geschickt das Gemüse. Ein sanftes Pulsieren rauschte durch ihren Körper, all ihre Sinne waren geschärft, wenn sie Lebensmittel verarbeitete, sich ganz dem Kochen hinab und völlig darin aufging.

 

»Julia Maria Graff.« Sie zuckte zusammen und ließ beinahe den Löffel fallen, mit dem sie gerade die Suppe probiert hatte.

Julia presste die Lippen aufeinander und drehte sich schuldbewusst um, schaute in das Gesicht ihres Ziehvaters Ole und senkte eilig den Kopf.

»Du hast es schon wieder getan …«

Zerknirscht verschränkte Julia die Hände ineinander und linste zu ihrem Vater hinauf. Seine stürmischen blonden Locken rankten sich um seinen Kopf, und die grünen Augen musterten Julia eingehend.

»Ich wollte … Großmutters Rezeptbuch war so spannend und …«, druckste sie herum, doch all die Ausreden, die sie gerne benutzt hätte, um sich zu verteidigen, verhakten sich auf ihrer Zunge.

»Eigentlich wolltest du sagen, dass du dich nur zufällig hier in die Küche verirrt hast und dich nun auf den Weg in dein Zimmer machst, um dich für das Bankett heute Abend anzukleiden.« Ole kniff die Augen zusammen und sah sie ernst an, aber ein Hauch von Belustigung schwang in seiner Stimme mit.

»Nein, das wollte ich nicht sagen«, rutschte es Julia heraus, und sie biss sich auf die Unterlippe.

Du bist so ein dummes Ding, schalt sie sich selbst in Gedanken und schaute an sich hinab. Die Schürze war mit Flecken beschmutzt, die leider nicht vor ihrem eleganten Kleid haltgemacht hatten. Haarsträhnen klebten an ihrer Stirn, und ihre Finger waren schwielig.

»Julia …« Nun klang Oles Stimme warnend, und sie band sich hastig die Schürze ab, sah zu Nikolas, der jedoch nur wenig hilfreich mit den Schultern zuckte.

»Warum darf ich nicht hier sein?«, brauste sie abermals auf, ihre Hände ballten sich zu Fäusten, und Zorn zuckte durch ihre Gedanken wie ein krachender Blitz. »Ich will Köchin werden, ich will Gerichte kreieren, die die Menschen noch lange im Gedächtnis behalten! Ich bin keine feine Dame, die auf Bankette will!«

Ihre Worte hallten durch die stickige Luft in der Küche, und ein Schauer rieselte über Julias Rücken, als sie begriff, was sie da gerade gesagt hatte. Ihr Ziehvater neigte den Kopf zur Seite, seine Augen musterten sie streng, und Julia schluckte den Kloß, der sich in ihrem Hals gebildet hatte, nur mit Mühe hinunter.

»Ich … es …«, stammelte Julia, doch Ole hob die Hand.

»Darüber sprechen wir ein anderes Mal, und vor allem, wenn wir allein sind.« Seine Stimme war hart wie geschliffener Stahl, der über Julias Haut kratzte.

Er ging zu ihr und wollte sie am Arm packen, doch Julia riss sich in einer stürmischen Bewegung los und schüttelte erbost den Kopf. »Nein! Wir sprechen nie darüber, was ich will! Wir sprechen immer nur darüber, was ihr wollt«, schrie sie wutentbrannt, wartete jedoch nicht auf Oles Antwort.

Stattdessen schnappte sie sich das alte Kochbuch ihrer Großmutter und rannte aus der Küche hinaus. Oles Worte verfolgten sie wie Pfeile, die sirrend durch die Luft sausten, aber sie kümmerte sich nicht darum. Sie rannte zum Dienstboteneingang, stieß die Tür auf und verließ die VillaSommerwind. Rannte zu dem einzigen Menschen, der sie verstand, dem einzigen Menschen, der immer an ihrer Seite war.

Kapitel 2

Julia
Niendorf

Völlig außer Atem kam Julia vor der kleinen Holzhütte von Oles Familie zum Stehen, und augenblicklich beruhigte sich ihr in Aufruhr geratenes Herz. Die Wellen brandeten am Strand, erklangen wie eine sanfte Melodie in ihren Ohren, und ein trauriges Lächeln streifte ihre Züge.

»Julia?« Sie wirbelte herum, als sie das Knarren der Tür vernahm und Paul, ihr bester Freund auf dieser ganzen weiten Welt, auf sie zukam. »Was tust du hier?«

Julia biss sich auf die Unterlippe und ließ sich wortlos in den Sand fallen. Mit einem Mal fühlte sie sich leer und erschöpft. Paul setzte sich neben sie und musterte Julia von der Seite. Seine grünen Augen ließen den Blick über Julia schweifen. Er sah aus wie eine jüngere Version ihres Ziehvaters, war jedoch ganz anders als Ole.

Sanfter, aber fordernder. Ruhiger, aber in den richtigen Momenten laut und tapfer.

»Du hast dich mit deinen Eltern gestritten«, mutmaßte Paul, und Julia nickte schweigend.

Paul seufzte und legte einen Arm um Julias Schultern, zog sie zu sich und hauchte einen Kuss auf ihren roten Haarschopf. »Lass mich raten, du bist wütend geworden, hast meinen Bruder angeschrien, und dann bist du weggerannt.«

»Ja«, presste Julia mühsam hervor und blinzelte die Tränen weg, die in ihren Augenwinkeln brannten.

»Weswegen dieses Mal?« Pauls Stimme war ernst, er machte sich nicht über ihr ungestümes Wesen lustig, so wie ihre Schwester Christine es manchmal gerne tat, auch wenn sie das nicht böse meinte.

»Papa hat mich in der Küche erwischt, als ich mich eigentlich fürs Bankett hätte fertig machen sollen …«, krächzte Julia und wischte sich wütend die Tränen von den Wangen, die sie nun doch nicht aufhalten konnte.

»Du bist aber auch dämlich«, schalt Paul sie liebevoll. »Du weißt genau, dass sie dir diesen Wunsch nicht verwehren würden, wenn du auch nur ein einziges Mal wirklich mit ihnen darüber sprechen würdest, dass du Köchin werden willst. Aber stattdessen schleichst du dich heimlich fort, widersetzt dich ihren Anweisungen und wirst dann wütend, wenn sie dich zurechtweisen.«

Sie hatte den Worten ihres besten Freundes nichts entgegenzusetzen, denn sie entsprachen der Wahrheit. Doch ihr fehlte der Mut, mit ihren Eltern darüber zu reden, sie konnte sich einfach nicht dazu überwinden. Da war diese finstere Angst, die an ihr nagte, dass sie niemals gut genug wäre, um Köchin zu sein. Niemals gut genug für ihre Eltern und die Arbeit in der VillaSommerwind sein würde. Denn ihre Träume waren im Gegensatz zu denen ihrer Schwester Christine nicht so hochtrabend und wertvoll. Nein, sie wollte einfach nur kochen, weil sie alles an dieser Arbeit liebte. Es war die einzige Tätigkeit, die eine Leidenschaft in ihr entfachte.

»Steh auf«, forderte Paul sie auf und zog sie hoch. Julia schaute betreten auf den Sand zu ihren Füßen, doch Paul legte eine Hand unter ihr Kinn und hob ihren Kopf. »Du musst mit ihnen sprechen, Julchen, sonst werdet ihr immer wieder aneinandergeraten, und du wirst niemals glücklich.«

Ihr Herz krampfte sich bei diesen Worten schmerzhaft zusammen, und sie presste die Kiefer so fest aufeinander, dass ihre Zähne knirschten.

»Aber ich fürchte mich«, wisperte Julia in die Stille des Nachmittags hinein.

Es kostete sie all ihre Überwindung, diese Worte laut auszusprechen. Schmerzhaft verhakten sie sich auf ihrer Zunge, und ihr Herz pulsierte ungezähmt in ihrer Brust.

»Du hast doch gar keinen Grund, dich zu fürchten«, antwortete Paul und zog sie nochmals in seine Arme. »Du bist die mutigste Frau, die ich kenne. Sei nicht immer so hart zu dir, sprich mit deinen Eltern über deine Wünsche, und tu nicht immer so, als wärst du weniger wert als Christine.«

Julia sah ihren besten Freund erschrocken an, ihre Kehle zog sich zusammen, und sie wollte einen Schritt zurückweichen, aber Paul ließ sie nicht los.

»Das tue ich gar nicht …«, versuchte sie sich in Ausflüchten.

»Doch, das tust du. Dein ganzes Leben lang schon, aber damit musst du jetzt aufhören. Nur weil Christine andere Träume hat als du, sind deine nicht weniger wert, hörst du?«

Julia nickte betreten, stellte sich auf die Zehenspitzen und hauchte Paul einen Kuss auf die Wange. »Danke, dass du für mich da bist«, flüsterte sie ihm ins Ohr.

»Immer«, antwortete Paul lächelnd, doch da ertönte eine schelmische Stimme.

»Da kann man glatt eifersüchtig werden, wenn man euch so sieht.«

Julia verdrehte die Augen und wirbelte herum, doch ein spitzbübisches Lächeln zupfte an ihren Lippen. »Ich nehme ihn dir schon nicht weg, Richard.«

Dieser lachte kehlig auf und trat zu ihnen. Richard Homburg war der Neffe von Pater Homburg. Er stammte aus Lübeck und hatte dort eine Tischlerlehre gemacht. Feuerrote Locken umrahmten sein Gesicht, der Schalk blitzte aus seinen tiefschwarzen Augen. Richard hatte schnell Freundschaft mit ihr und Christine geschlossen, denn sie besuchten immer noch oft die Kirche von Pater Homburg. Mit Paul jedoch … Julia beobachtete, wie Richard ihren besten Freund in eine innige Umarmung zog und ihm heisere Worte ins Ohr flüsterte. Zwischen ihnen war mehr als nur Freundschaft, so viel mehr, dass Julia es nicht in Worte fassen konnte. Sie sah nur Pauls Blick voller Liebe und das stumme Flackern in seinen Augen, sah, wie sich die Hände der beiden jungen Männer verschränkten und sie Julia angrinsten.

»Es ist auch schön, dich zu sehen, Julchen«, sagte Richard nun, löste sich von Paul und umarmte sie herzlich.

Sie legte die Arme um seinen stämmigen, von harten Muskeln durchzogenen Körper, und der Geruch von Leim und Holz stieg ihr in die Nase. »Ich freue mich auch«, murmelte Julia.

Während Richard über ihren roten Haarschopf wuschelte und sie feixend ansah, dachte sie daran, wie unterschiedlich sie und Christine waren. Julia hatte in der tiefen Freundschaft zu Paul und Richard eine Zuflucht gefunden, ein kleines Zuhause, in dem sie sich nicht eingesperrt fühlte. Sie hatte schon immer eher Freundschaft mit Jungen als mit Mädchen geschlossen, und bis auf ihre Schwester und Isabella Bors, die Tochter des mürrischen Empfangschefs, war sie mit keinem Mädchen befreundet. Im Gegensatz zu Christine, die in der Schule so viele Freundinnen hatte, mit denen sie jetzt immer noch durch den Kurort streifte, Kaffee trank und sich über die neueste Mode aus Frankreich unterhielt.

»Du siehst aus, als ob dir eine Laus über die Leber gelaufen wäre«, bemerkte Richard.

Sie pustete sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Ich habe mich mit meinem Vater gestritten, nachdem er mich in der Küche erwischt hat.«

Richards Augenbrauen schnellten in die Höhe, und er warf Paul einen kurzen Blick zu, der jedoch nur mit den Schultern zuckte. Dann legte Richard einen Arm um ihre Schultern.

»Das musst du mir genauer erzählen, Flammenmädchen, und außerdem habe ich einen Mordshunger. Ich finde, dass du mal wieder etwas für uns kochen könntest.«

Flammenmädchen.

Dieser Kosename verursachte ein sanftes Prickeln auf Julias Haut, und sie musste wider Willen lächeln. Als sie Richard vor einigen Jahren kennengelernt hatte, da hatte er ihr diesen Namen gegeben, weil sie sich mal wieder von ihrer wilden, ungezügelten Seite gezeigt hatte. Seit diesem Augenblick war sie das Flammenmädchen mit den feuerroten Haaren, das niemals den Mund halten konnte und in den Augen ihrer Mutter wohl immer eine kleine Rebellin bleiben würde.

»Nun, was sagst du?«, schreckte Richard sie aus ihren verworrenen Gedanken auf. »Wollen wir einen gemütlichen Nachmittag miteinander verbringen, oder möchtest du lieber wieder nach Hause zurück?«

Nein, das wollte sie auf keinen Fall. Dann müsste sie sich wieder mit ihren Eltern auseinandersetzen. Und den Mut finden, endlich mit ihnen über ihre Wünsche und Träume zu sprechen.

»Ich will nicht zurück«, antwortete Julia, »aber ich bin mir nicht sicher, ob Paul in seiner Küche Lebensmittel hat, aus denen man wirklich etwas zu essen zaubern kann.«

Paul verzog das Gesicht zu einer Grimasse und vergrub die Hände in den Hosentaschen. »Wir könnten auf den Markt gehen und dort etwas kaufen«, murmelte er.

Richard lachte auf und zog Paul zu sich, hauchte ihm einen flinken Kuss auf die Wange und zog ihn dann mit sich. »Du kennst ihn zu gut, Julia … er hat nie etwas Ordentliches zu essen daheim.«

Das stimmte leider. Seit Pauls Eltern nach Hemmelsdorf in eine kleine Bauernkate gezogen waren, um dort ihren Lebensabend in Ruhe und mit weniger Arbeit zu verbringen, lebte Paul allein in der kleinen Hütte seiner Familie.

Er hatte nicht den Weg seiner Eltern eingeschlagen und den Fischfang der Familie Bergmann weitergeführt, sondern sich beim Lübecker General-Anzeiger als Journalist beworben, doch nun arbeitete er sehr viel, sodass er selten zu Hause war. Insgeheim hoffte sie, dass Richard irgendwann zu Paul ziehen würde und sie gemeinsam dort ein glückliches Leben führen könnten – vielleicht würde es für Außenstehende so aussehen, als würden sie als zwei Junggesellen zusammenwohnen. So wie Heinrich, der beste Freund ihrer Mutter, der mit seinem Partner Simon zusammenlebte.

Bevor Julia den Strand verließ, schaute sie noch einmal wehmütig zur stürmischen Ostsee. Die Sonne glitzerte auf den Schaumkronen der Wellen, und Möwen stürzten sich in die Fluten, angelten sich einen Fisch aus dem Meer, den sie in ihrem Maul davontrugen. Julia legte die Hand auf ihre Brust, spürte ihr pulsierendes Herz unter ihren Fingerkuppen und schmeckte Salz auf ihren Lippen.

Stumm betete sie zum Meer, dass sie den Mut finden würde, ihren eigenen Weg zu gehen und für sich selbst einzustehen, bevor sie sich umdrehte, um Paul und Richard zu folgen.

Lass mich mutig sein, so wie meine Schwester.

Kapitel 3

Christine
Timmendorfer Strand, September 1924

Halt still, Tobias, sonst kann ich die Wunde nicht ordentlich verarzten.« Christine musterte den schmächtigen Knaben eingehend, dessen Körper sich versteifte.

Ein sanftes Lächeln huschte über ihre Lippen, und sie berührte den Jungen vorsichtig an der Schulter. »Du brauchst keine Angst zu haben, hörst du? Ich bin gleich fertig, und dann wird die Wunde auch bald nicht mehr schmerzen.«

»Ja, Frau Doktor«, murmelte Tobias zwischen zusammengebissenen Zähnen.

Christine korrigierte ihn nicht, dass es »Schwester Christine« heißen müsste, denn es gefiel ihr insgeheim, »Frau Doktor« genannt zu werden, auch wenn sie noch keine Ärztin war.

Vorsichtig desinfizierte sie die Wunde, die sich über Tobias’ rechten Oberarm zog, und tupfte diese dann sauber. Der Junge hielt tapfer still, obwohl sein ganzer Arm brennen musste wie Feuer. Tobias hatte in der Werkstatt seines Vaters gearbeitet, der Schreiner war, und sich an einem rostigen Nagel den halben Arm aufgerissen. Die Wunde war zwar Gott sei Dank nicht sonderlich tief, aber Christine musste aufpassen, dass sie allen Schmutz, der die Heilung behindern und zu einer Infektion führen konnte, entfernte, bevor sie damit beginnen würde, die Wunde zu nähen.

Sie betrachtete die nun gesäuberte Wunde noch einmal und holte anschließend Nadel und Faden hervor. Tobias zuckte kaum merklich zusammen, und ein Lächeln streifte Christines Züge.

»Wenn du möchtest, kann ich dir ein wenig Schmerzmittel geben, dann spürst du es nicht so sehr, wenn ich die Wunde nähe.«

Tobias sah sie nachdenklich an, schüttelte dann aber den Kopf. »Nein, ich schaffe das schon.«

Christine unterdrückte ein Seufzen und verdrehte die Augen. Dass diese Knaben immer noch dachten, sie müssten immer stark sein und dürften keine Schwäche zeigen, war wirklich anstrengend.

»Na gut, bitte halt jetzt still.«

Tobias nickte und biss die Zähne so fest zusammen, dass es knirschte. Christine konzentrierte sich auf ihre Arbeit und begann vorsichtig die Wunde zu nähen.

Stich für Stich.

Ganz so, wie Herr Marks es vor neun Jahren im Lazarett des Hotel Demory getan hatte, als sie ihm dabei zuschauen durfte. An dem Tag, als sie den Doktor kennengelernt hatte. Tobias hielt tapfer still, stieß aber einen erleichterten Seufzer aus, als Christine fertig war und ihm zunickte.

»Kann ich jetzt gehen?«, fragte er.

»Ich verbinde die Wunde noch, damit sie sich nicht doch noch durch Schmutz entzündet. Und ich möchte, dass du dir einige Tage Pause von der Arbeit in der Werkstatt nimmst.«

»Aber …«, begann der Knabe.

»Du solltest auf sie hören, junger Mann. Die gute Christine kann außerordentlich wütend werden, wenn du dich ihrem Willen widersetzt«, unterbrach da eine Stimme Tobias, und Christine hob den Blick.

Herr Marks stand im Türrahmen, zwei Tassen in der Hand, aus denen es herrlich nach frischem Kaffee duftete.

»Herr Doktor«, murmelte Tobias beschämt und senkte den Kopf. Sein schmächtiger Körper zitterte, und es war Christine, als müsste er ein Schluchzen unterdrücken.

»Habt ihr Probleme in der Werkstatt?«, fragte Christine.

Tobias hob den Blick und nickte kaum merklich. »Wir haben in letzter Zeit nicht viele Aufträge bekommen. Aber jetzt hat mein Vater einen dicken Fisch an Land gezogen, und ich muss ihm doch helfen! Meine kleine Schwester kann das nicht, und meine Mutter ist schwanger … sie kann nicht mehr schwer heben, weil ihr Bauch schon ziemlich groß geworden ist und sie Schmerzen hat!«

Dunkel erinnerte sich Christine an Nadine Hollbert, die Mutter von Tobias, die vor einigen Tagen bei ihnen in der Praxis gewesen war und über Schmerzen im Bauch geklagt hatte. Sie hatten die Hebamme zurate gezogen, die erfühlt hatte, dass das Kind vermutlich falsch herum im Bauch lag, und die nun der Familie beinahe täglich einen Besuch abstattete, um zu kontrollieren, ob sich der Säugling noch drehte oder ihnen eine schwere Geburt bevorstand.

»Tobias …«, versuchte Christine den Jungen zu beruhigen, doch er erhob sich ruckartig und schüttelte den Kopf.

»Nein! Ich muss meinem Vater helfen. Ich bin der älteste Sohn, das ist meine Pflicht! Sie verstehen das nicht, weil Sie eine … eine …«

»… weil ich eine Frau bin«, beendete Christine seinen Satz und schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Pass auf, was du sagst, Tobias. Du weißt nicht, was wir im Ersten Weltkrieg alles durchmachen mussten, denn da warst du noch ein kleines Kind.« Ihre Stimme hatte einen schneidenden Unterton angenommen, und der Knabe zuckte bei jedem ihrer Worte wie von einem Hieb getroffen zusammen.

Christine war selbst überrascht über ihren Ausbruch, so verhielt sie sich normalerweise nicht. Sie war eigentlich ruhig und besonnen, vor allem gegenüber den Patienten in der Praxis. Aber sie konnte es nicht ertragen, dass der Junge ihr vorwarf, sein Leid nicht zu verstehen, denn das entsprach schlicht und einfach nicht der Wahrheit. Sie hatte so viel mehr Schmerz gesehen, als der Junge sich auch nur vorstellen konnte. So viel Verlust und Traurigkeit, dass es ihr immer noch das Herz zerriss.

»Ich wollte Sie nicht beleidigen … Frau Doktor«, stammelte Tobias und ließ sich wieder auf den Schemel fallen.

»Das hast du nicht, Tobias. Aber ich möchte, dass du auf mich hörst. Ansonsten muss ich ein ernstes Wort mit deinem Vater reden. Du sollst dich ausruhen. Denn du hilfst deiner Familie nicht, wenn du vor Erschöpfung Fieber bekommst und selbst das Bett hüten musst.«

Tobias schluckte schwer. »In Ordnung, wenn Sie das wünschen, Frau Doktor.«

»Sehr gut.« Christine wickelte einen frischen Verband um die Wunde, gab dem Knaben noch ein leichtes Schmerzmittel mit und entließ ihn dann mit einem Wink.

Anschließend starrte sie noch einige Zeit auf die geschlossene Tür und fuhr sich über die Lippen.

»Du machst dir zu viele Gedanken um den Jungen«, bemerkte Herr Marks und stellte die Kaffeetasse auf den Tisch neben Christine, dann setzte er sich auf den Schemel.

»Und Sie machen sich zu wenige«, antwortete sie schnippisch und griff nach der Kaffeetasse.

Der wohlige herbe Geschmack des Getränks stieg ihr in die Nase, und ein Schauer rieselte ihr über den Rücken. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, wie Herr Marks eine Augenbraue in die Höhe hob und sie ernst ansah.

»Bitte entschuldigen Sie …«, murmelte Christine und trank einen weiteren Schluck Kaffee. »Ich scheine heute sehr dünnhäutig zu sein.«

»Ist etwas vorgefallen?«

»Meine Schwester«, antwortete Christine unruhig, und ihre Fingernägel klackerten gegen die Kaffeetasse.

»Was hat sie denn schon wieder angestellt?«, fragte Herr Marks.

Es war nicht so, dass sie zum ersten Mal ein Gespräch dieser Art führten. Julia war ein Wirbelwind, selbst jetzt noch, da sie fast erwachsen war. Sie war wortgewandt, aber auch unruhig, hatte eine große Klappe und wollte sich partout nicht an Regeln halten. So kam es, dass sie immer wieder in Konflikt mit ihren Lehrern geraten war und mit ihren Eltern.

»Sie hat sich schon wieder mit unseren Eltern gestritten. Vater hat sie in der Küche erwischt, wo sie sich erneut unerlaubterweise herumgetrieben hat. Das ist in den letzten Monaten mehrmals passiert, und langsam verliert Papa die Geduld mit ihr. Sie ist nicht zu einem normalen Gespräch mit unseren Eltern bereit und …« Christine brach ab und seufzte schwer, als würde das Gewicht der ganzen Welt auf ihren Schultern lasten.

»Nimm es mir nicht übel, wenn ich nicht so besorgt bin wie du, aber das klingt nicht anders als die Streitereien, die Julia sonst mit deinen Eltern hat.« Herr Marks sah sie mit erhobenen Augenbrauen an, und Christine konnte nicht leugnen, dass er damit ein wenig recht hatte.

Julia hatte sich schon immer häufiger mit ihren Eltern gestritten als Christine. Sie hatte sich gerne fortgeschlichen, war herumgestreift, und manchmal wusste niemand, wo sie war. Aber dieses Mal war es anders.

»Es ist schlimmer«, sagte Christine und verknotete die Finger ineinander. »Ich habe Angst, dass sie Julia fortschicken könnten. Auf eine Hauswirtschaftsschule oder zur Familie meiner Mutter nach Hamburg.«

Nachdenklich sah Herr Marks sie an. »Du willst Julia helfen, aber du weißt nicht, wie.«

Damit traf er den Nagel auf den Kopf, und Christine zuckte unbehaglich mit den Schultern. Es sollte ihr Angst machen, wie gut Herr Marks sie durchschauen konnte. Gerade so, als würde er ihre Gedanken lesen. Aber sie arbeiteten auch schon eine lange Zeit zusammen, und wenn es jemanden gab, dem Christine bedingungslos vertraute, dann war es Herr Marks. Er war intelligent, ohne jemals arrogant zu wirken. Er hatte ihr viel beigebracht und ihr geholfen, ihre Träume zu verwirklichen. Die Menschen in Timmendorfer Strand vertrauten ihm, und er schien immer zu wissen, was er sagen musste, damit sich seine Gesprächspartner besser fühlten.

»Ich …«, setzte Christine an, doch da ertönte die Klingel an der Praxistür, und im nächsten Augenblick hörte Christine dumpfe Schritte, ein Gesicht erschien im Türrahmen, und Herr Marks erhob sich lächelnd.

»Maximilian Grabens! Wenn das keine Überraschung ist.« Herr Marks streckte dem jungen Mann erfreut die Hand entgegen, und Christine war überrascht über diese recht überschwängliche Begrüßung.

Argwöhnisch betrachtete sie Maximilian Grabens. Weizenblonde Locken rankten sich wirr um seinen Kopf, und beinahe schwarze Augen musterten Christine neugierig. Sie erkannte, dass seine Nase ein winziges Stück nach links gebogen war und einen kleinen Höcker aufwies, was vermutlich von einer Prügelei als Jugendlicher herrührte. Solche Verletzungen hatte sie schon zur Genüge in der Praxis gesehen, wenn die Knaben mal wieder über die Stränge geschlagen hatten oder sich beweisen mussten. Und doch waren seine markanten Gesichtszüge auf eine merkwürdige Art schön. Die kirschroten Lippen verzogen sich zu einem sanften Lächeln, als er vortrat und eine kleine Verbeugung andeutete.

»Guten Tag, die Dame. Mein Name ist Maximilian Grabens.«

Christine erhob sich eilig, und ihr Herz machte einen seltsamen Hüpfer, sodass ihr im ersten Augenblick die Worte im Hals stecken blieben. Sie räusperte sich und ergriff die Hand, die er ihr darbot.

»Es ist mir eine Freude, Sie kennenzulernen, Herr Grabens. Ich heiße Christine Graff und bin Herrn Marks’ Schwesternhelferin.«

Maximilian Grabens drehte sich zu Herrn Marks um und grinste. »Die fleißige junge Dame, die schon mit elf Jahren in einem Lazarett geholfen hat. Natürlich, du hast mir von ihr erzählt.«

Christine spürte, wie Hitze ihr in die Wangen stieg und ihr Herz nun beinahe schmerzhaft gegen ihre Rippen pochte. Sie warf Herrn Marks einen erbosten Blick zu, der lediglich mit einem versöhnlichen Lächeln abwinkte.

»Genau, das ist Christine. Meine Schwesternhelferin, die hoffentlich bald in Kiel einige Medizinkurse besuchen kann, um sich weiterzubilden. Denn ihr Traum ist es, eines Tages selbst Ärztin zu sein.«

Christine unterdrückte ein Schnauben. Da war es wieder. Dieses leidige Thema, dem sie immer noch nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt hatte, obwohl ihr Herz sich danach sehnte, endlich mehr über die Medizin und den menschlichen Körper zu lernen.

Maximilian Grabens pfiff anerkennend durch die Zähne und schenkte Christine ein hinreißendes Lächeln. »Das ist ein sehr löblicher Traum, Fräulein Graff …« Sein Blick huschte über ihr Antlitz, streifte ihre Hände und musterte diese eingehend. Gerade so, als würde er nach einem Ring an ihrem Finger Ausschau halten.

»Vielen Dank«, antwortete sie schlicht und wunderte sich über sein Verhalten, denn Maximilian Grabens konnte unmöglich denken, dass eine verheiratete Frau in einer Praxis arbeitete.

Es war immer noch nicht gesellschaftlich anerkannt, wenn eine Frau arbeitete, und die meisten Männer fanden, dass die Frauen sich um den Haushalt und die Kinder kümmern sollten. Es war, als hätten die Frauen all den Fortschritt, den sie sich in Kriegszeiten erkämpft hatten – die Selbstbestimmtheit, die Freiheit und die Verantwortung für die Geschäfte ihrer Männer –, wieder verloren, jetzt in den Jahren des Friedens.

Ein ohrenbetäubendes Schweigen breitete sich in der Praxis aus, und Christines Blick fiel auf die Uhr an der Wand. Sie räusperte sich unangenehm berührt und griff nach ihrer kleinen Handtasche. »Wenn es nichts mehr gibt, was ich heute noch für Sie tun kann, Herr Marks, dann werde ich mich jetzt auf den Weg nach Hause machen.«

Herr Marks nickte ihr abwesend zu und schüttelte dann eilig den Kopf. »Nein, heute haben wir keine weiteren Termine. Ich begleite dich zur Tür.«

Christine warf noch einen Blick auf Maximilian Grabens, verlor sich für einen Herzschlag im tiefen Schwarz seiner Augen und spürte, wie ihre Handinnenflächen feucht wurden.

»Ich … ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag, Herr Grabens. Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen.«

Ehe sie sichs versah, ergriff Maximilian Grabens ihre Hand und hauchte einen Kuss darauf. Erneut zupfte dieses schelmische Lächeln an seinen Lippen, und er hob die Augenbrauen ein Stück.

»Die Freude ist ganz meinerseits, Fräulein Graff. Ich hoffe, dass wir uns wiederbegegnen.«

Christine lag die Frage auf der Zunge, ob er länger bleiben würde. Ob dies nicht nur ein kurzer Besuch war. Eigentlich schwirrten tausend Fragen in ihrem Kopf umher, laut wie ein Schwarm Bienen. Aber kein einziges Wort drang über ihre Lippen. Sie konnte ihr Gegenüber nur anstarren wie ein Schulmädchen, das sich in den begehrtesten Knaben der Klasse verguckt hatte. Dabei war dies gar nicht ihre Art, und Christine wusste in diesem Augenblick nicht, warum ihr Herz so pulsierte und ihr Körper sich anfühlte, als ob ein Sommergewitter über ihn hinwegzöge.

»Das … das würde mich freuen«, hörte Christine sich selbst sagen und schnappte erschrocken nach Luft.

Wer hat da gesprochen?, dachte sie verwirrt, und ihr Herz schien zu antworten: Das war ich.

Hastig stürmte sie aus dem Behandlungszimmer und zur Tür der Praxis, an der Herr Marks schon auf sie wartete.

»Ist alles in Ordnung mit dir?«

Christine sah über die Schulter zurück zu Maximilian Grabens. »Wer ist das?«

Herr Marks grinste und öffnete die Tür. »Maximilian ist der Sohn eines Freundes von mir, mit dem ich zusammen Medizin studiert habe. Sein Vater ist im Krieg gefallen, und seine Mutter, die gebürtige Engländerin ist, hat es zurück in ihre geliebte Heimat gezogen. Maximilian jedoch hat England niemals kennengelernt und ist in Deutschland geblieben. Er hat Politik studiert und engagiert sich …« Herr Marks brach ab und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Er hat eine Stelle im Büro des Bürgermeisters ergattern können. Es ist zwar nur ein kleiner Einstieg in die Politik, aber da ich hier wohne, hat er sie sofort angenommen, denn so kennt er immerhin schon jemanden hier.«

Christine kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe herum, beobachtete Herrn Marks ganz genau, entschied sich dann aber dagegen, ihm eine weitere Frage zu stellen. Sie hatte dieses Zögern in seiner Stimme bemerkt und spürte, dass Herr Marks ihr keine Antwort darauf geben wollte.

»Wie schön, dass es ihn nun hierherverschlagen hat, wo er jemanden kennt …« Unschlüssig sah sie Herrn Marks an und straffte dann die Schultern. »Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.«

»Ich dir auch, Christine. Und vergiss nicht, dass du mit deinen Eltern sprechen wolltest.«

Sie unterdrückte den Impuls, die Augen zu verdrehen, und nickte. »Das werde ich machen. Wenn ich Ihre Unterstützung bei der Überzeugungsarbeit brauche, sage ich Ihnen Bescheid.«

Sie schenkte Herrn Marks noch ein Lächeln und verließ dann die Praxis. Auch wenn die Blätter der Bäume sich langsam in den buntesten Farben zeigten, war es noch ein warmer Tag. Die Sonne schien golden vom Himmel, und auf dem Platz an der Uhr herrschte am Markttag ein reges Treiben. Der süßliche Duft von Früchten stieg Christine in die Nase, und sie entschied sich, Himbeeren für ihre Familie mit zur VillaSommerwind zu nehmen. Die Promenade war belebt, in den kleinen Cafés saßen Urlauber sowie Einheimische, die ein kühles Bier oder eine Tasse Kaffee zum Feierabend genossen. Kinder tollten auf dem nahe gelegenen Spielplatz umher, ihre Rufe stiegen hinauf in die Wolken, und aus der Ferne konnte Christine die stürmischen Wellen der Ostsee vernehmen, die sich am Strand brachen.

Ein Lächeln huschte über ihre Lippen, und sie schloss kurz die Augen. Horchte in sich hinein, lauschte ihrem klopfenden Herzen, und der Duft ihrer Heimat kitzelte in ihrer Nase. Als sie die Augen wieder öffnete und weiter über die Promenade ging, fühlten sich ihre Schritte tänzelnd, geradezu leichtfüßig an.

Diese Wirkung hatte Timmendorf immer auf sie. Dieses schnucklige, kleine Dorf, das nach dem grausamen Krieg so schnell wieder zum Leben erwacht war. Sie hatten den Besucheransturm zu Beginn des neuen Jahrzehnts kaum auffangen können. Die Menschen sehnten sich nach gemeinsamer Zeit mit ihren Familien, nach Zerstreuung und dieser Prise Glück, die ihnen im Krieg verwehrt geblieben war. Christine blieb vor der VillaSommerwind stehen und schaute die Fassade hinauf, die gerade einen neuen Anstrich erhielt und schneeweiß in der Sonne funkelte. Auch die goldenen Fensterläden wurden neu gestrichen, und Dienstmädchen schrubbten die Fenster und die Dielen blitzblank.

Ihre Mutter hatte noch vor dem Winter die Villa grundreinigen lassen wollen, damit die Gäste die Bankette und Festlichkeiten, die für den Rest des Jahres geplant waren, in vollen Zügen genießen konnten. Dies erschien Christine ein wenig hochtrabend, denn die VillaSommerwind war ohnehin das ganze Jahr über gut besucht, aber ihre Mutter ließ sich da nicht reinreden, was für sie sprach, denn selbst jetzt, wo sie ihre große Liebe Ole an ihrer Seite hatte, tat sie immer noch alles für die Villa und überließ sich nicht dem Müßiggang.

Christine betrat ihr Zuhause, nickte Isabella, der Tochter des alten Herrn Bors, zu und stieg die Stufen zu den Privatgemächern ihrer Familie hinauf. Doch gerade als sie ihr Zimmer ansteuern wollte, erklangen wütende Stimmen aus dem Salon, und Wortfetzen surrten wie Pfeile an ihrem Ohr vorbei. Stirnrunzelnd blieb Christine stehen, als Amalia, ihre Großmutter, aus dem angrenzenden Kinderzimmer ihres kleinen Bruders Hardi kam.

»Herrgott im Himmel, da bist du ja!«, rief Amalia erleichtert und legte sich eine Hand auf die Brust.

»Was ist denn jetzt schon wieder geschehen?«

Amalia seufzte schwer und deutete mit dem Kopf auf die Tür zum Salon. »Deine Schwester streitet sich wieder mit euren Eltern.«

»Verdammt und zugenäht, kann sie sich nicht ein einziges Mal benehmen?«, murmelte Christine verdrossen und schaute zu Hardis Zimmertür. »Hat er …?«

Amalia schüttelte eilig den Kopf. »Nein, ich habe ihm aus seinem Lieblingsbuch vorgelesen und ihm das Radio, das Herr Damm uns geschenkt hat, ins Zimmer gestellt. Kann sein, dass dein kleiner Bruder jetzt der klassischen Musik verfällt, aber besser so, als dass er bemerkt, dass der Haussegen mächtig schief hängt.«

Christine atmete erleichtert aus. »Ich danke dir, Amalia. Ich kümmere mich darum.«

»Mach das, Kind. Ich glaube, du bist die Einzige, die diese Streithähne noch zur Vernunft bringen kann.«

Mit einem mulmigen Gefühl im Magen ging Christine auf die Tür zum Salon zu. Kurz bevor ihre Finger die Klinke berührten, zuckte das Bild von Maximilian Grabens durch ihren Kopf, und ihr Herz machte erneut einen Satz.

Zum Teufel, nicht jetzt, du dummes Herz, dachte sie verärgert, schüttelte den Kopf und stieß eilig die Tür auf.

»… aber sie darf alles! Ihr lasst es mich noch nicht mal versuchen! Ich darf nicht in die Küche, ich darf nicht kochen lernen und soll meinen Mund halten!«, erklang da schon die Stimme ihrer Schwester Julia, als Christine eintrat.

Ihre Worte waren voller Zorn, und doch war das Zittern in Julias Stimme unverkennbar herauszuhören. Als ob sie bittere Tränen zurückhalten müsste. Sie hatte nur ein einziges Mal geweint, und das war am Todestag ihres Vaters gewesen.

»Das tun wir, weil du dich wie ein kleines Kind benimmst. Eine ungezogene Göre, die nicht auf ihre Eltern hört!«, erwiderte ihr Ziehvater mit einer Heftigkeit, die Christine gar nicht von ihm kannte.

Es gab keinen sanfteren Mann als Ole Bergmann, und Julia musste ihn ordentlich zur Weißglut gebracht haben, wenn er derart erbost war.

»Das ist nicht wahr«, schrie Julia und ballte die Hände zu Fäusten. »Ich habe nicht …«

»Julia Maria Graff«, unterbrach die schneidende Stimme ihrer Mutter Henriette den Wutanfall, und sie trat einen Schritt nach vorn.

Christine bemerkte, dass sich ihre Mutter bis jetzt zurückgehalten hatte, doch nun konnte sie diese Streiterei wohl nicht mehr mitansehen. Julia starrte ihre Mutter mit zusammengepressten Lippen an, wich ihrem Blick dann aber plötzlich aus. Es war, als würde das Sommergewitter in Julias Seele vorüberziehen, und von allen anderen unbemerkt, nur nicht von Christine, schlich sich eine verlorene Träne Julias Wange hinab.

»Was ist denn passiert?«, wagte Christine in die Stille hinein zu fragen, die sich blechern und dumpf anfühlte und sich wie eine Schlinge um ihr Herz legte.

Ole schnaubte und verschränkte die Arme vor der Brust. »Deine Schwester hat ihre Pflichten in der Villa vernachlässigt, sich nicht um den Empfang der Gäste gekümmert und sich stattdessen auf den Markt und dann in die Küche geschlichen, um erneut eines ihrer Rezepte auszuprobieren.«

Julia entgegnete nichts, sondern sah Christine nur schweigend an, doch Christine wusste, wie sehr ihre Schwester in diesem Augenblick zu kämpfen hatte. Wie schwer es ihr fiel, den Mund zu halten und ihrem Ziehvater keine erneuten Widerworte zu geben.

»Nun …« Christine legte die Stirn in Falten und betrachtete die Anwesenden einen nach dem anderen. »Vielleicht solltet ihr Julia einfach erlauben, zu kochen. Sich in der Küche zu beweisen.«

»Das sollten wir?«, fragte Henriette ruhig.

»Warum denn nicht? Wenn das Essen schrecklich schmeckt, dann könnt ihr gemeinsam immer noch entscheiden, ob Julias Weg nicht woanders hinführt. Ob sie nicht auf einer Hotelfachschule besser aufgehoben wäre, aber …« Christine trat zu Julia und verflocht ihre Finger mit denen ihrer Schwester. »Es ist ihr innigster Wunsch zu kochen, und den solltet ihr Julia nicht verwehren. Das habt ihr bei mir schließlich auch nicht getan.«

Christine wusste, welche Wirkung ihre Worte auf ihre Eltern hatten. Dass sie dem nichts entgegensetzen konnten. Denn sie hatte auch im Lazarett arbeiten dürfen, sie hatte ihre Ausbildung zur Schwesternhelferin bei Herrn Marks beginnen dürfen, und ihre Mutter Henriette hatte ihre Träume immer unterstützt.

»Nun …«, setzte Henriette nachdenklich an. »Ich will dir deine Wünsche nicht verwehren, Julia. Aber du benimmst dich wie ein dahergelaufener Straßenjunge, du widersetzt dich unseren Anweisungen und widersprichst sogar unseren Gästen, obwohl du weißt, dass diese äußerst freundlich zu behandeln sind.«

»Ich lasse mich trotzdem nicht von unseren Gästen beleidigen …«, murmelte Julia verdrossen, ließ Christines Hand los und verschränkte die Arme vor der Brust.

Herrgott, sie ist solch ein Sturkopf, dachte Christine und seufzte leise.

Sie liebte ihre Schwester von ganzem Herzen. Mehr als irgendjemand anderen, aber wenn Julia endlich einmal wüsste, wann sie besser den Mund hielt, dann wäre ihr Leben um einiges einfacher.

»Genau dieses Verhalten meine ich!« Ole trat zu Julia und sah sie streng an.

Er überragte sie um mindestens einen Kopf, und all die Sanftheit, die diesen Mann normalerweise auszeichnete, war verschwunden. Stattdessen stand jemand vor ihnen, der Christine so fremd vorkam wie ein Geist.

»Du benimmst dich wahrlich nicht wie eine junge Dame aus gutem Hause. Wie sollen wir dir deine Träume erlauben, wenn wir nicht sichergehen können, dass du das tust, was man von dir verlangt? Dass du nicht in der Küche stehst und Herrn Behring und den anderen Mitarbeitern Ärger machst?«

»Ihr habt auch nicht getan, was man von euch verlangt hat! Sonst wäre Hardi nicht auf der Welt!«, platzte es aus Julia heraus, und Christine verzog das Gesicht zu einer Grimasse, denn dieser Satz war eine Frechheit zu viel. Diese Worte würden das Fass zum Überlaufen bringen.

Doch bevor Ole etwas erwidern konnte, bevor auch nur ein Ruck durch seinen Körper ging, schnappte Christine sich ihre Schwester. Bugsierte sie eilig zur Tür des Salons und schob sie aus dem Zimmer hinaus.

»Hardi hat nach dir gefragt«, sagte sie, »er möchte wieder eine deiner großartigen Geschichten hören. Er ist in seinem Zimmer, und Amalia ist bei ihm.«

Ohne auf eine Erwiderung von Julia zu warten, schloss sie die Tür mit einem dumpfen Krachen und ließ sich für einen kurzen Augenblick von der Stille umfangen.

Nur langsam beruhigte sich Christines gehetzter Atem, und sie legte eine Hand auf ihre Brust, dann drehte sie sich wieder zu ihren Eltern um. Ihre Mutter Henriette sah sie neugierig an, und ein winziges Lächeln huschte über ihre Züge.

»Das war Rettung in letzter Sekunde«, bemerkte ihre Mutter und ließ sich seufzend auf die Fensterbank fallen.

Ihr Ziehvater stand immer noch wie eingefroren da.

»Ole, komm her, und setz dich«, forderte Henriette ihn auf.

»Aber …«

Ihre Mutter machte eine wegwerfende Handbewegung. »Julia ist nicht wie Christine. Sie ist wie ein Sommergewitter, sie sagt immer das, was sie denkt, und das bringt dich zur Weißglut, aber sie meint es niemals böse, das weißt du.«

Ole grummelte etwas Unverständliches und setzte sich auf das gemütliche Sofa. Schweigend sahen sie einander an, und Christine wusste, dass sie nun die Verantwortung für dieses Dilemma übernehmen sollte.

»Lasst sie in die Küche. Zu euren Bedingungen und euren Zeiten. Ihr erstellt einen Plan mit ihr, wann sie in die Küche darf und wann sie sich den anderen Aufgaben im Hotel zu widmen hat. Wenn sie sich nicht an eure Anweisungen hält, verliert sie die Chance, ihrer Leidenschaft nachzugehen. Das wird sie nicht gefährden wollen. Und nach einiger Zeit lasst ihr euch von Herrn Behring berichten, wie sie sich schlägt.«

»Das scheint mir ein vernünftiger Vorschlag«, erwiderte Henriette. »Das habe ich auch schon gedacht, aber dann haben diese beiden Dickköpfe sich wieder in die Haare bekommen.«

»Als ob das alles meine Schuld wäre«, bemerkte Ole verdrossen.

»Nein, mein Liebster, das ist es nicht. Aber Julia ist ein Freigeist, das weißt du.« Henriette erhob sich und hauchte Ole einen Kuss auf die Wange.

Christine wandte hastig den Blick ab, doch dann drehte sie sich noch einmal um. »Ich muss auch mit euch sprechen«, sagte sie und hoffte, dass ihre Stimme nicht zitterte.

»Was gibt es denn?«, fragte ihre Mutter interessiert.

»Herr Marks sagt, dass ich einige Kurse der Medizin in Kiel besuchen kann. Dass ich sogar studieren und Ärztin werden könnte. Erlaubt ihr mir das?«

Erneut legte sich Stille über die Anwesenden, und ein Schauer rieselte über Christines Rücken. Sie hielt dieses Schweigen kaum aus, dann aber kam ihre Mutter Henriette auf sie zu und zog sie in eine innige Umarmung.

»Natürlich erlauben wir dir das, Christine, ich habe dir doch damals versprochen, dir ein Studium zu ermöglichen«, flüsterte sie ihr ins Ohr, und es war, als könnte Christine hören, wie diese Last, die sie seit Monaten auf den Schultern getragen hatte, krachend zu Boden fiel.

Kapitel 4

Julia
Timmendorfer Strand, Februar 1925

Schweiß rann ihren Nacken hinab, und angestrengt kniff Julia die Augen zusammen. Den frischen Fisch zu filetieren war um einiges schwieriger, als sie es sich vorgestellt hatte. Nachdenklich biss Julia sich auf die Unterlippe und setzte das scharfe Messer erneut an. Wortfetzen und Lärm surrten um sie herum, Anweisungen wurden durch die Küche gerufen, und die ständige Geschäftigkeit zerrte an ihren Nerven.

Genau das wollten sie dir zeigen, sagte eine spöttische Stimme in ihrem Kopf. Deine Eltern wissen nämlich, wie es in einer Küche zugeht. Deine Mutter leitet dieses Hotel schließlich schon viel länger, als du am Leben bist.

Julia schob den Einwand seufzend beiseite und machte sich erneut ans Werk, aber schon nach einigen Sekunden drang ein derber Fluch über ihre Lippen, der zum Glück im Lärm der Küche unterging.

»Darf ich der jungen Dame helfen?«, ertönte da eine Stimme ganz nah an ihrem Ohr, und Julia zuckte erschrocken zusammen.

Sie legte das Messer beiseite und drehte sich um. Vor ihr stand ein Mann in weißer Küchenuniform. Seine hellbraunen Haare waren ordentlich zurückgekämmt, und ein spitzbübisches Lächeln huschte über seine Züge. Ruhige, meerblaue Augen musterten Julia eingehend, und sie verschränkte die Arme vor der Brust.

»Nein, vielen Dank. Ich schaffe das schon«, antwortete sie abweisend.

Der Mann neigte den Kopf neugierig zur Seite und stellte sich neben Julia. »Dann zeigen Sie mir doch, wie es geht«, schlug er leichthin vor.

Julia presste die Kiefer so fest aufeinander, dass ihre Zähne knirschten. Erneut ließ sie ihren Blick über den Mann schweifen und blieb an dem aufgenähten Namensschild auf seiner Uniform hängen.

Johannes Grünblatt.

Bei dem Namen klingelte etwas dumpf in ihrem Kopf, doch der Lärm und der herrliche Duft, der sich in der Küche ausbreitete, sorgten dafür, dass Julia beim besten Willen nicht einfiel, wer dieser Mann war, der nur ein paar Jahre älter als sie zu sein schien.

Noch immer starrte er sie ungeniert an, und eigentlich hätte Julia sich unwohl dabei fühlen müssen, doch dem war nicht so. Diese blauen Augen schienen sie auf eine merkwürdige Art zu durchschauen, sein Blick umschmeichelte sie wie Wasser, und seufzend ergriff Julia wieder das Messer.

Den Kopf hatte sie bereits mit einem v-förmigen Schnitt vom Fisch abgetrennt. Aber nun musste sie entlang der Mittelgräte schneiden. Sie hatte Herrn Behring genau zugehört, aber bei ihm hatte es so leicht ausgesehen.

Vorsichtig setzte sie das Messer am Kopfende des Fisches an, um ihn nun zu halbieren. Ihre Hand zitterte ein wenig, und als sie versuchte, den Fisch durchzuschneiden, da stockte das Messer erneut, verhakte sich im zarten Fischfleisch.

»Verdammt …«, murmelte Julia leise, doch da legte sich eine Hand auf die ihre, und erschrocken sah sie Herrn Grünblatt an, der ihr nur ein sanftes Lächeln schenkte.

»Halten Sie die scharfe Seite des Messers immer etwas entlang der Mittelgräte«, sagte er ruhig und führte ihre Hand mit dem Messer durch den Fisch. »Wenn Sie das Messer ein wenig vor und zurück bewegen, dann erhalten Sie einen gleichmäßigen Schnitt und es gleitet besser durch den Fisch.«