Die Frauen vom Schloss - Marie Louise Fischer - E-Book
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Die Frauen vom Schloss E-Book

Marie Louise Fischer

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Beschreibung

Napoleon hat sich selbst zum Kaiser ernannt, mit Bayern ein Bündnis geschlossen und es zum Königtum erhoben. Die Familie Deinharting beschließt, den Winter in München zu verbringen, um an den Ereignissen teilzuhaben. Und es ist auch ist es an der Zeit, für die jüngste Tochter Auguste einen Mann zu finden. Doch dieses Unternehmen erweist sich trotz Augustes Schönheit schwieriger als erwartet. Wird sich am Ende ein passender Ehekandidat finden, sodass sich für die Deinhartinger alles zum Guten wendet? Der dritte und letzte Band der Deinharting-Trilogie von Marie Louise Fischer.

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Seitenzahl: 735

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Marie Louise Fischer

Die Frauen vom Schloss

Roman

Der Herbstregen trommelte auf das Dach der mächtigen alten Reisekutsche und rann in stetigen Bächen die kleinen Fenster herab.

Die Damen – Elisabeth von Deinharting, ihre sechzehnjährige Stieftochter Auguste und die junge Immigrantin Antoinette de Beaujeux, die seit der Französischen Revolution in Bayern hängengeblieben war – kuschelten sich eng aneinander. In ihren sehr offenherzigen Balltoiletten aus pastellfarbigem Chiffon, hoch unter dem Busen tailliert, wie es der Mode entsprach, waren sie für dieses Wetter allzu leicht angezogen. Daran änderten auch die Seidentücher nichts, die sich Elisabeth und Antoinette um die Schultern gelegt hatten. Auguste hatte davon nichts wissen wollen. Sie war so stolz auf ihr erstes »erwachsenes« Ballkleid, dass sie es mit nichts hatte kaschieren mögen; zu prachtvoll brachte es ihre glatten, wohl gerundeten Arme, den Ansatz ihres festen kleinen Busens und ihren langen, leicht gebogenen Hals zur Geltung.

»Mon premier bal!«, seufzte sie mit verklärtem Lächeln. »Je suis très excitée!«

Man schrieb das Jahr 1804, und wie es der Sitte der gehobenen Stände in Bayern entsprach, benutzte man die französische Sprache, auch wenn man unter sich war.

Antoinette schlang lächelnd den Arm um die Schultern der Jüngeren. »Es ist der erste Ball, zu dem unsere gute Afra einlädt! Denken Sie nur einmal daran, wie aufgeregt sie erst sein muss.«

Elisabeth von Deinharting zog ihr Tuch fester um die schmalen Schultern. »Ich halte es nach wie vor für einen Fehler.«

»Du kannst nicht vergessen, dass sie als Tochter eines Dorfwirts zur Welt gekommen ist?« – Ihr Mann, der Hofmarksherr Anselm von Deinharting, fragte es lächelnd; er hatte sich längst an ihren Snobismus gewöhnt und es tat seiner zärtlichen Bewunderung für sie keinen Abbruch. Heute, in dem fließenden lichtgrauen Kleid, dessen Farbe der ihrer Augen entsprach, mit dem von Antoinette sehr kunstvoll frisierten, jetzt ganz natürlich wirkenden blonden Haar, das selbst im Regenlicht schimmerte, schien sie ihm ganz besonders reizvoll.

»Niemand wird es je vergessen«, erklärte sie entschieden.

»Aber sie ist doch jetzt eine Baronin Lingen«, sagte Auguste naiv, »und sie lebt auf einem Schloss.«

»Das ihr Vater ihr gekauft hat … und wir alle wissen, dass das Geld dazu aus nicht sehr sauberen Quellen stammt.«

Anselm von Deinharting streckte seine große braune Hand aus, um die kleine schmale Elisabeths zu berühren, die sich in dem Seidentuch versteckte wie ein Vögelchen, das sich fürchtet. »Ich muss mich über dich wundern, Elisabeth«, scherzte er, »seit wann sprichst du über Geld? Und was weißt du von den Geschäften des dicken Schwaiger?«

Elisabeth wurde bewusst, dass ihre Bemerkung undamenhaft gewesen war, und eine rote Welle flutete vom Ansatz ihres weißen Busens bis in das helle Gesicht. »Excusez moi … ich weiß wirklich nicht, wie ich darauf kam.«

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, beruhigte sie ihr Mann, »im Gegenteil … ich freue mich stets, wenn ich einen Ansatz von Realitätssinn bei dir entdecke.«

»Nun jedenfalls …« Doktor Friedrich König, Arzt und Forscher, den es vor Jahren nach Deinharting verschlagen hatte, bemühte sich, seine langen Beine einigermaßen bequem unterzubringen, »›non olet‹, wie schon die alten Römer sehr weise vom Geld zu sagen pflegten. Ganz egal, wie er es erworben hat, der Wirt kann sich beglückwünschen, dass er genügend davon besitzt … und seine Tochter, dass sie es ausgeben darf.« – Ursprünglich hatte er reiten wollen, aber da das Wetter von gestern auf heute umgeschlagen war, hatte er das Angebot angenommen, ihn nach Schloss Karpfing, Afra von Lingens Besitz, zu kutschieren.

»Ich finde Ihre Einstellung …« Elisabeth reckte das Kinn vor und suchte nach Worten. »… zumindest nicht gerade vornehm.« Seit er aufgehört hatte, ihr den Hof zu machen, hatte sie begonnen, ihn zu kritisieren.

Ihn kümmerte es nicht. »Was kann man bei meiner Herkunft anderes erwarten?«, neckte er sie. »Ich habe mich immer frank und frei dazu bekannt, dass mein Vater über den Posten eines Gerichtsschreibers nicht hinausgekommen ist. Und wie meine Großmutter zu dem Geld gelangt ist, das sie mir vererbt hat, könnte ich beim besten Willen nicht sagen.«

»Geld«, sagte der Hofmarksherr nachdenklich, »viel Geld, meine ich, stammt immer aus unsauberen Quellen. Mit Ehre und Anstand kann man es sich nicht erwerben. Entschuldigen Sie, Frédéric, das habe ich natürlich nicht persönlich gemeint. An Ihrer Integrität besteht selbstverständlich nicht der geringste Zweifel.«

»Verstehe schon, mon bon ami, ich bin ja auch nur der Erbe. Ich selber, fürchte ich, wäre ganz außerstande, etwas zu verdienen. Umso froher bin ich, dass ich es nicht brauche und ungetrübt meinen Neigungen und Forschungen leben kann.«

»Geld!«, sagte Elisabeth verächtlich. »Was ist das für ein Thema! Und zu diesem Anlass!«

»Verzeih, meine Liebe!« Anselm von Deinharting verstärkte den Druck auf ihre schmale Hand. »Du selber warst es, die es angeschnitten hat!«

»Ich habe mich dafür entschuldigt.«

»Nun, auf alle Fälle«, meinte Auguste, Sehnsucht in der Stimme, »hat Afra einen hübschen Mann, und er muss sie sehr liebhaben, dass er sie geheiratet hat.«

»Gewiss doch«, sagte Anselm von Deinharting so rasch, als müsste er fürchten, dass einer der anderen eine skeptische Bemerkung machen könnte, »Afra und Felix von Lingen sind ein sehr schönes Paar.« Liebevoll betrachtete er seine Tochter; je älter sie wurde, desto mehr erinnerte sie ihn an Caroline, seine verstorbene erste Frau. Auguste hatte das gleiche glatte, goldrote Haar, die gleiche empfindliche Haut, den gleichen leidenschaftlichen Glanz in den braunen Augen und den vollen Mund, dessen Winkel sich so leicht verzogen – lächelnd, schmollend oder auch hart.

»Mit einem schöneren Damenflor als wir«, sagte Friedrich König, als könnte er die Gedanken des Freundes lesen, »wird wohl niemand auf dem Ball aufwarten können.«

In der Tat schienen die drei, was ihr Aussehen betraf, miteinander zu wetteifern: die blutjunge Auguste, Elisabeth, in deren Gesicht sich schon die ersten zarten Falten gegraben hatten und es noch feiner und durchgeistigter erscheinen ließen, und Antoinette, deren runde, blaue, stets ernsthaft und beherzt blickende Augen in einem so reizvollen Gegensatz zu ihrem kastanienbraunen, natürlich gelockten und geschickt frisiertem Haar standen.

»Danke«, sagte sie vergnügt, »wir können uns aber auch mit unseren Kavalieren durchaus blicken lassen!«

Das war nicht zu leugnen und die beiden Herren verzichteten auch auf eine solche Koketterie. Der Hofmarksherr, obwohl schon über fünfzig – zu seiner Zeit ein Greisenalter –, hatte sich die aufrechte Haltung seiner jungen Jahre bewahrt. Breit in den Schultern, mit kräftigen Beinen und Armen und einem mächtigen Kopf, an dem alles ausgeprägt war, als hätte die Natur sich Mühe gegeben, mit ihm etwas ganz Besonderes zu schaffen, wirkte er immer noch ungemein männlich. In sein braunes, dichtes Haar hatten sich erst vereinzelt weiße Fäden gemischt, die ihn nicht älter machten, sondern seine Stärke gleichsam noch zu betonen schienen. Im Gegensatz zu ihm wirkte Friedrich König, der geborene Preuße, schlank, schmal, blond, fast unscheinbar, wären da nicht der Zug von Humor um seine Lippen gewesen und die Lachfältchen um seine Augen, aus denen mehr als Intelligenz, ja, beinahe Weisheit sprach.

»Wer wohl sonst noch alles kommt?«, fragte Auguste.

»Sicher wird ein hübscher junger Mann für dich dabei sein!«, neckte der Vater sie.

Elisabeth sah ihn kopfschüttelnd an. »Du solltest keine zu großen Erwartungen in ihr erwecken, mon cher! Ich bin sicher, die gute Afra hat nur Leute eingeladen, die sie bei uns kennengelernt hat …«

Antoinette warf sich sofort für die Freundin in die Bresche. »Was blieb ihr denn anderes übrig?«

»Das sollte kein Tadel sein, meine liebe Antoinette. Afras schwierige Situation ist mir durchaus bewusst. Ich wollte Gustel nur klarmachen, dass sie kein neues Gesicht auf diesem Ball erwarten darf.«

»Wie schade!« Auguste tat einen tiefen Seufzer. »Dann hätten wir eigentlich gar nicht zu fahren brauchen.«

»Eine kleine Abwechslung tut immer gut«, meinte Elisabeth.

»Und außerdem sind wir es Afra schuldig!«, fügte Antoinette hinzu.

»Schuldig? Wie soll ich das verstehen?«, fragte Elisabeth sofort.

»Verzeihen Sie, ma tante …« Obwohl Antoinette mit der Hofmarksherrin nicht verwandt war, brauchte sie seit Jahren diese vertraute Anrede, während Anselm von Deinharting für sie »Monsieur« war. »… verzeihen Sie, ich habe mich falsch ausgedrückt. Natürlich schulden die Deinhartinger Afra nichts und Afra den Deinhartingern alles. Aber da ja Sie und Monsieur es waren, die das Mädchen aus der Enge ihrer dumpfen Welt befreit haben, nehme ich an, dass es Ihnen auch selbstverständlich erscheint, sie jetzt, da sie ihr Ziel fast erreicht hat, weiter zu unterstützen.«

Der Hofmarksherr lächelte ihr zu. »Was für eine gescheite kleine Ansprache! Aber ich fürchte, Antoinette, Sie überschätzen die Rolle, die wir im Leben dieser jungen Person gespielt haben. Sie hat sich recht eigentlich selber am Schopf aus ihren beschränkten Lebensumständen gezogen. Wir waren nichts als eine Stufe, die sie zum Aufstieg benutzt hat.«

Unter derlei Gesprächen rollte die Kutsche gemächlich durch den Abend. Der Bauernweg, auch bei trockenem Wetter schlecht genug – tiefe Rinnen und Furchen hatten sich in ihm ausgeprägt –, war durch den strömenden Regen vollkommen aufgeweicht, sodass die Hufe der Pferde in ihm versanken und die Räder sich nur schwer und mit schmatzenden und glucksenden Geräuschen aus ihm lösten.

»Papa, bitte, sagen Sie Peter doch, er soll etwas schneller fahren!«, drängte Auguste.

Anselm von Deinharting schüttelte sachte den Kopf. »Bei dem Wetter? Lieber nicht, ma petite. Peter weiß schon, was er den Rössern und dem Gefährt zumuten darf.«

»Aber wir werden zu spät kommen!«, klagte Auguste.

Antoinette drückte ihr beruhigend die Hand. »Sicher nicht, Liebes … seien Sie unbesorgt, wir verpassen nichts.«

In eben diesem Augenblick stand Afra von Lingen auf der Höhe der prachtvoll geschwungenen Doppeltreppe, die aus der Eingangshalle ihres Schlosses hinaufführte. Die Türen des Ballsaals hinter ihr waren weit geöffnet, alle Leuchter mit brennenden Kerzen bestückt, livrierte Bedienstete in elegantem Grau bildeten ein Spalier – aber noch kein Gast war zu sehen. Afra hielt sich sehr gerade, den Kopf hoch erhoben, das Kinn vorgestreckt. Ihr schwarzes, störrisches Haar war mit viel Mühe gebändigt und aufgedreht worden, sodass es ihr jetzt, am Hinterkopf hochgesteckt, in langen Korkenzieherlocken auf die nackten, gepuderten Schultern fiel. In ihren schräg stehenden schwarzen Augen stand ein leidenschaftliches Funkeln; sie hatte die Lippen zusammengepresst und ihre Nüstern blähten sich. Sie war sehr schön, sehr gepflegt, und dennoch strahlte ihr ganzes Wesen eine entschlossene Tüchtigkeit aus, die nicht zu einer Dame ihrer Zeit passen wollte. Das leuchtend rote Kleid, das sie aus Paris hatte kommen lassen, konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihr die Tracht einer jungen Bäuerin besser gestanden hätte. Tatsächlich war sie so etwas wie eine Bäuerin geworden. Unfähig, sich wie andere Standespersonen es zu tun pflegten, mit Unterhaltung, Handarbeiten, Musik und Gesellschaftsspielen die Zeit zu vertreiben, hatte sie die Verwaltung der kleinen Landwirtschaft, die zu Schloss Karpfing gehörte, selbst übernommen, vielmehr hatte sie sie ihrem Gatten, dessen Laxheit sie entnervt hatte, förmlich aus den Händen gerissen. Er stand zu ihrer Seite, ein wenig hinter ihr, hübsch und elegant mit seinem blonden, leicht gelockten Haar und den verträumten blauen Augen unter den langen, seidigen Wimpern. Obwohl er schon Ende zwanzig war, wirkte er noch immer wie ein großer Junge, ein Mensch, der sich weigerte, erwachsen zu werden. Nur seine leicht herabgezogenen Mundwinkel verrieten, dass er mit seinem Leben nicht zufrieden war. »Ich habe es dir von Anfang an gesagt, meine Liebe«, sagte er jetzt, »dieser Ball war ein Fehler!«

Sie fuhr zu ihm herum. »Musst du mir immer alles verleiden?«

»Ich … dir?« Gelassen hielt er ihrem funkelnden Blick stand. »Nicht im Geringsten. Du weißt, ich gönne dir jeden Spaß … nur fürchte ich, dies wird keiner für dich werden.«

»Und warum, wenn ich fragen darf?«

Er lächelte sein seltsam freudloses, fast boshaftes Lächeln. »Weißt du das nicht selber?«

»Weil Beata abgesagt hat? Na und! Sie ist schon wieder …« Gerade noch rechtzeitig besann sie sich darauf, dass sie eine Dame sein wollte und verbesserte sich: »Sie fühlt sich nicht wohl und ihr Gatte will sie nicht verlassen. Ähnlich steht’s mit den Hollbergs. Die Gräfin leidet an der Gicht … und die Breetzens und Rückersbachs hatte ich ohnehin nur pro forma eingeladen …«

»Absagen, Absagen, Absagen!« Felix von Lingen fand, während er das böse Wort wiederholte, eine kleine Melodie dazu.

Brüsk wandte sie ihm den Rücken zu. »Du bist unerträglich!«

»Du irrst dich, ma chère … es ist die Wahrheit, die du nicht ertragen kannst!«

»Was für eine Wahrheit?«, fauchte sie, ohne ihn anzusehen und heftig den Fächer bewegend. »Deine Wahrheit. Für die bedanke ich mich. Ich habe im Leben noch alles erreicht, was ich wollte … und du? Was kannst du von dir sagen?«

»Ich habe eine schöne Frau … und mein Auskommen!«, sagte er mit bitterem Spott.

»Ach, hör auf!« Mehr zu sich selber fügte sie hinzu: »Die Kaltenbachs kommen bestimmt … und die Amertingens.« Sie schlug sich mit dem zusammengeklappten Fächer in das Innere ihrer linken Hand. »Sie haben nicht abgesagt. Sie müssen kommen!«

Wie aufs Stichwort wurde das Schlosstor geöffnet, die Kerzen flackerten, und ein schlanker bayerischer Offizier in blauer Paradeuniform, Knöpfe und Leder auf spiegelnden Hochglanz poliert, kam mit weit ausholenden elastischen Schritten, den Helm in der Hand, die Treppe hinauf.

Afras Spannung löste sich, lächelnd kam sie ihm entgegen. »Hauptmann Wessel … wie schön!«

Er zog ihre bräunliche, ein wenig zu kräftige Hand an die Lippen. »Bedaure außerordentlich, gnädigste Baronin …«

Mit einem Ruck entriss sie ihm ihre Hand. »Wie? Was gibt es zu bedauern?«

»Dass ich an Ihrer fete nicht teilnehmen kann. Bin für heute Abend zu einem Bankett in Taufbeuern zitiert worden. General Wrede ist auf Visite. Zu schade, gnädigste Baronin … aber da kann man nichts machen.«

Afra war weiß um die Lippen geworden. »Und das sagen Sie mir jetzt erst?!«

Er sah ihr ins Gesicht, blanke Unverschämtheit in den hellen Augen. »So ist’s nun mal beim Militär, man muss immer auf das Unvorhergesehene gefasst sein, gnädigste Baronin …« Er verbeugte sich formell. »Wenn Sie mich also entschuldigen wollen …« Mit einer lässigen Verbeugung zu Felix von Lingen hin sagte er nur: »Baron …«, wandte sich ab und enteilte so schnell, wie er gekommen war.

»Ein Affront!« Afra war wütend. »Das werde ich dem Kerl nie verzeihen!«

»Aber vielleicht hat er ja die Wahrheit gesagt …«

»Unsinn. Zumindest hat er es schon früher gewusst. Er hat mich demütigen wollen. Hast du denn nicht bemerkt, wie frech er mich fixiert hat!? Du musst dich mit ihm duellieren!«

Felix von Lingen verzog die Lippen. »Du vergisst, dass ich nicht mehr satisfaktionsfähig bin … seit ich dich geheiratet habe.«

»Seit du wegen Spielschulden den Dienst in der kaiserlichen Armee hast quittieren müssen. Aber fangen wir nicht wieder mit diesem Thema an. Das dürfte zwischen uns doch abgehandelt sein. Jedenfalls: Daran, dass Wessel bei uns einquartiert ist, kann ich nichts ändern, aber speisen wird er fortan allein!«

Felix von Lingen zupfte sich nachdenklich am Ohrläppchen. »Ich glaube, seine Aversion … seine Abneigung, richtet sich gar nicht gegen dich, Afra … du siehst das falsch. Sondern gegen mich. Ich bin in seinen Augen ein Unwürdiger.«

»Dabei ist er nicht einmal von Adel!«

»Aber ein Kriegsheld.«

Impulsiv wandte sie sich ihm zu. »Lass es gut sein, mein Junge. Du hast deine Haut oft genug zu Markte getragen.«

»Weiß Gott!«

Sie sahen sich in die Augen und für Sekunden war das alte, liebevoll-kameradschaftliche Verhältnis zwischen ihnen wiederhergestellt.

Erst am Flackern der Kerzen merkten sie, dass das Schlosstor abermals geöffnet wurde.

»Hofmarksherr Anselm von Deinharting und Familie!«, verkündete Johann, der älteste der Diener, der für diesen Abend die Rolle des Majordomus übernommen hatte – so hofherrschaftlich ging es auf Schloss Karpfing nicht zu, dass er im Sommer nicht auch bei der Landwirtschaft mit hätte zupacken müssen; aber er sah stattlich aus mit seinem weißen Haar, dem glatt rasierten, von zahllosen Falten durchfurchten Gesicht, das dennoch von jugendlich frischer Farbe war.

»Lass die Musik aufspielen!«, bat Afra ihren Mann und eilte auch schon die Treppe hinunter, den Freunden entgegen, elastisch wie ein junges Mädchen, obwohl ihre Taille nach der Geburt des kleinen Maximilian ein wenig von ihrer Biegsamkeit verloren hatte.

Die Deinhartings waren unter großen »Parapluies«, wie man Regenschirme damals zu nennen pflegte, einigermaßen trocken in das Schloss geleitet worden. Dennoch glänzte auf Antoinettes Wangen ein Regentropfen wie eine Träne, und Auguste betrachtete missbilligend ihre Seidenschuhe, die einen Spritzer abbekommen hatten.

»Wie schön, dass Sie gekommen sind!« Afra hätte sie am liebsten alle der Reihe nach umarmt, aber sie zwang sich zur Zurückhaltung, weil sie wusste, dass eine solche Vertraulichkeit weder ihrer Rolle noch ihren Beziehungen zu den anderen entsprochen hätte.

»Was für ein Wetter!« Anselm von Deinharting gab Hut und Stock an einen der Diener, schüttelte sich und nahm Elisabeth das Schultertuch ab; Friedrich König bemühte sich um Antoinette.

»Nun, wir haben Herbst«, erinnerte Afra mit Haltung.

»Sind wir die Letzten?« Auguste zupfte ihr Kleid zurecht. »Der dumme Peter ist wieder einmal so langsam gefahren, und Papa wollte nicht …«

Afra fiel ihr ins Wort. »Ach, wichtig ist doch nur, dass Sie da sind! Sie sehen bezaubernd aus, Auguste … von der kleinen Gustel ist nichts mehr geblieben!«

»Ich hoffe nur, Sie haben auch Tänzer für mich!«, erwiderte Auguste unbefangen.

Afra überhörte diese Bemerkung. »Bleiben wir nicht hier unten, wo es zieht!«

Auch Felix von Lingen war inzwischen zur Begrüßung gekommen.

»Führ du Mademoiselle Auguste«, bat Afra ihn.

Lächelnd reichte er dem jungen Mädchen den Arm, ihm folgten Elisabeth und der Hofmarksherr.

Afra hielt Antoinette, die an der Seite Friedrich Königs hatte hinaufsteigen wollen, zurück.

»Ist etwas nicht in Ordnung?«, fragte Antoinette sofort.

Afra mochte sich nicht so schnell bloßstellen. »Du meinst mit den Vorbereitungen? Oh, nein, es hat alles geklappt.« Die beiden gleichaltrigen Freundinnen duzten sich wie in den vergangenen Jahren.

»Aber irgendetwas stimmt doch nicht, ma chère! Ich kenne dich zu gut, du kannst mir nichts verbergen. Wenn du deine Nasenflügel auf diese Art blähst …«

Afra hatte sich überwunden. »Ach was, du wirst es ja ohnehin gleich merken … ihr alle!« Sie wollte leichthin sprechen, aber der Hals war ihr wie zugeschnürt. »Ihr seid die Ersten!«

»Aber Afra, wenn weiter nichts ist!«

»Ich erwarte mit Sicherheit die Kaltenbachs und die von Amertingens.« Afras Stimme brach. »Alle anderen haben abgesagt!«

»Du weißt, Emanuel konnte sein Korps nicht verlassen.«

»Ihm nehme ich es ja auch gar nicht übel«, sagte Afra mühsam.

»Nimm es nicht so schwer!« Antoinette berührte beschwichtigend ihren Arm. »Dann wird es eben ein Ball in kleinem Kreise … etwas Netteres kann ich mir gar nicht denken!« Sie eilte so behände die freie linke Treppe hinauf, dass sie noch vor Elisabeth und ihrem Gatten oben war. »Denken Sie sich, es wird ein Ball im ganz intimen Kreis!«, verkündete sie mit gut gespielter Heiterkeit. »Nur wir, die Kaltenbachs und die von Amertingens.«

Auguste konnte ihre Enttäuschung nicht verbergen. »Aber mit wem soll ich denn dann tanzen?«

»Auguste, bitte!«, sagte Elisabeth, die die Situation sofort erfasst hatte, tadelnd. »Führ dich nicht auf wie ein ungezogenes Kind.«

»Ich werde mit Ihnen tanzen, wenn Sie gestatten«, erbot sich Felix von Lingen vergnügt.

»Ach Sie, Sie sind …« Auguste stockte.

»Was bin ich?« Felix von Lingen war ernst geworden.

»Ein verheirateter Mann«, sagte Auguste errötend.

Er begriff, dass sie wirklich nichts anderes gemeint hatte, und brach in ein erleichtertes Lachen aus.

Anselm von Deinharting ging Afra entgegen, die, ganz gegen ihre Art, den Kopf gesenkt hielt; die Last der Enttäuschung und Erniedrigung beugte ihr den Nacken.

»Wir werden also, wie ich höre«, sagte der Hofmarksherr, »ganz entre nous sein. Meine Gattin und ich sind sehr erleichtert. Sie wissen ja, wie sehr wir Menschenansammlungen und lärmende Veranstaltungen hassen.«

Sie blickte ihn von unten herauf an. »Sie waren immer sehr gut zu mir.«

»Sagen wir lieber … ich habe immer große Stücke auf Sie gehalten!« Galant bot er seiner Frau den rechten, Afra den linken Arm und führte die Damen in den Ballsaal.

Es war ein schöner, rechteckig geschnittener Raum, der durch die reichen Stuckaturen, die die Ecken ausfüllten, oval wirkte.

Auch an der Decke und den Wänden gab es jene Stuckaturen, wie sie für die ausgehende Barock- und beginnende Rokokozeit bezeichnend sind, dazwischen altersdunkle Ölgemälde, die Allegorien aus der griechischen Sagenwelt darstellten. Die Wandleuchter, die die Kerzen trugen, stammten aus eben jener Zeit, während Afra das Mobiliar ganz modern gewählt hatte. Die wenigen Kommoden, Abstelltische und Stühle, die an den Wänden standen, waren von gradliniger Strenge, zum Teil mit Einlegearbeiten verziert, die altrömische und altägyptische Elemente zeigten. Die Mitte des mit schönem Parkett ausgestatteten Saals war ganz freigehalten worden und dort, wo sich eine Schar von festlich gestimmten Menschen hätte tummeln sollen, fühlte Afra sich zwischen ihren wenigen Gästen recht verloren.

Bedienstete – viel zu viele, denn Afra hatte sich für diesen großen Tag einen Teil des Deinhartinger Personals ausgeliehen – boten Getränke und kleine Leckerbissen an.

Die Damen griffen zu, aber Anselm von Deinharting betrachtete den goldgelben Likör mit Unbehagen.

Afra begriff sofort. »Ich glaube, ich habe auch für Sie das Richtige, Monsieur!« Sie winkte einen jungen Diener herbei, der dem Hofmarksherrn einen klaren Obstler einschenkte.

Er trank mit Behagen. »Alle Achtung! Der ist gut!«

»Kein Wunder!« Afras Lächeln war schwach. »Er stammt aus der Deinhartinger Brennerei.«

»Bravo, meine Liebe, Sie haben Geschmack.« Er beäugte die bunt verzierten, winzigen Stückchen sauren Fischs und Fleischgelees, die Afra selber ihm anbot. »Sehr verlockend … aber ich hoffe, wir kriegen auch noch etwas Handfestes zu essen?«

»Aber ja!«, versicherte Antoinette. »Es ist ein Ball mit Souper, nicht wahr, Afra?«

Anselm von Deinharting zog seine schwere goldene Uhr. »Es ist gleich zehn … worauf warten wir denn noch?«

»Auf die anderen«, sagte Afra mit gepresster Stimme.

»Da bin ich aber ganz und gar dagegen! Sie haben noch einen jungen Hausstand, meine Liebe, deshalb sei es Ihnen verziehen. Aber eine Mahlzeit muss pünktlich auf den Tisch, sonst vergrämt’s die Köchin und verschmort’s den Braten … stimmt’s nicht, Elisabeth?«

»Absolut. Margarethe Meyr würde es mir nie verzeihen, wenn ich einmal nicht pünktlich servieren lassen würde.«

»Aber wäre es nicht eine grobe Unhöflichkeit, wenn wir …«

»Keineswegs! Unhöflich ist nur der unpünktliche Gast … geben wir ihnen also noch zehn Minuten, und dann zu Tisch.«

»Wie Sie meinen, Monsieur!« Unversehens war Afra aus der Rolle der Hausherrin in die der Untergebenen geraten, in der sie einstmals als geduldete Mitschülerin und spätere Hauslehrerin auf Schloss Deinharting gelebt hatte.

Friedrich König beobachtete diesen Vorgang nicht ohne Amüsement.

Anselm von Deinharting warf Elisabeth einen fragenden Blick zu, und sie gab ihm ein zustimmendes Zeichen mit den Augen. Er räusperte sich. »Im Übrigen kenne ich unsere lieben Freunde länger als Sie! Sie sind nicht gerade die Zuverlässigsten. Ich halte es durchaus für möglich …«

Die Wahrheit, die sie sich nicht hatte eingestehen wollen, traf Afra wie ein Schlag. »… dass sie nicht kommen!?«

»Ja.«

»Aber sie haben nicht abgesagt!«

»Mag sein, dass sie sogar vorhatten, Ihrer Einladung zu folgen … aber dann, dieses Wetter!«

Verstört und hilfesuchend blickte Afra zu Antoinette hin. »Kann man das denn so einfach machen? Ich meine … ist das … comme il faut?«

»Nein, es gehört sich bestimmt nicht«, versicherte Antoinette rasch, »es ist ein Zeichen des immer stärker werdenden Verfalls der guten Sitten.«

»Dieser Erscheinung begegnet man doch neuerdings auf Schritt und Tritt«, stimmte Elisabeth ihr zu, »es ist tief bedauerlich, aber es ist so. Wenn die Kaltenbachs und die Amertingens wirklich ohne Entschuldigung ausbleiben sollten … ich sage ausdrücklich wenn, denn im Gegensatz zu meinem Mann kann ich es mir nicht vorstellen … so müssten sie sich wirklich schämen.«

»Ich!?«, rief Afra tief betroffen. »Sie meinen … ich …« Das Ende des Satzes blieb ihr buchstäblich im Halse stecken.

»Aber, meine Liebe, Sie verstehen mich falsch!«, berichtigte Elisabeth rasch. »Genau das Gegenteil habe ich ausdrücken wollen! Sie … die Amertingens und Kaltenbachs müssten sich schämen ob ihrer Ungezogenheit … nicht Sie, liebe Afra, Sie trifft nicht der geringste Tadel.« Sie griff zu einem der Geleehäppchen und betrachtete es zwischen spitzen Fingern. »Hübsch gemacht, übrigens! Würden Sie mir das Rezept verraten?« Es war der Versuch, das Gespräch in eine harmlosere Bahn zu bringen, denn alle Anwesenden wussten selbstredend, dass all die Absagen und das Ausbleiben der Gäste eben doch eine Herabsetzung Afras bedeuteten. Wenn die Deinhartinger einluden, konnte ihnen so etwas nicht passieren.

Afra hatte nicht genug gesellschaftlichen Schliff, um Elisabeths gute Absicht zu durchschauen und das Rettungsseil zu ergreifen.

»Das Rezept?«, wiederholte sie stattdessen töricht. »Aber, gnädige Frau, das hat Margarethe Meyr doch ganz bestimmt selber. Meine Köchin hat ja bei ihr gelernt.«

»Ach so? Daran habe ich mich im Moment gar nicht erinnert. Dann jedenfalls müssen wir die gute Margarethe bitten, uns recht bald einmal auch so etwas Delikates zu bereiten.«

»Aber … es ist genügend davon da!«, beteuerte Afra. »Sie können …« Erschrocken unterbrach sie sich. »Mitnehmen, so viel Sie wollen«, hätte sie beinahe gesagt, begriff aber noch gerade rechtzeitig, dass dieser Vorschlag unmöglich gewesen wäre, ein »faux-pas«, wie man damals zu sagen pflegte … »… davon essen, bis Sie sie nicht mehr sehen können«, vollendete sie schwach und dachte mit Schaudern daran, dass sie, ihr Mann, ihr kleiner Sohn und das Gesinde noch tagelang die in allzu großer Zahl bereiteten Geleehäppchen würden essen müssen.

Elisabeth hatte den Happen verschluckt und wischte sich die Fingerspitzen mit einem Tuch aus Genfer Spitze ab. »Ich danke Ihnen, aber ich möchte mir den Appetit auf das Souper nicht verderben.«

Dann wusste niemand mehr etwas zu sagen.

»Wie geht es dem Kleinen?«, fragte Antoinette, um die Stille, die nur von den Klängen des kleinen Orchesters am anderen Ende des Raumes ausgefüllt war, zu brechen; die Frage an sich war ganz überflüssig, denn sie war noch am vergangenen Nachmittag auf Schloss Karpfing gewesen, um der Freundin bei den Vorbereitungen zum Ball zu helfen.

»Er ist gesund … Gott sei’s gedankt.«

»Könnten wir ihn sehen?«, fragte Elisabeth.

»Nein, nein, heute nicht. Maximilian schläft natürlich längst.« Wieder trat eine peinliche Stille ein.

Auguste raffte sich zu einer Bemerkung auf. »Sie haben ein wunderschönes Kleid, Baronin! Die Farbe wäre natürlich nichts für mich, aber ich wünschte mir wirklich, Mademoiselle Puché würde auch einmal so gut für mich arbeiten.«

Afra konnte sich nicht enthalten, ihren großen Trumpf auszuspielen. »Ich habe es eigens aus Paris kommen lassen!«

Elisabeth zog die dünnen blonden Augenbrauen hoch; wenn sie sich auch alle Mühe gab, Afra gegenüber Gerechtigkeit zu üben, so nahm sie doch auch immer wieder Anstoß an ihrem unpassenden Benehmen. Wie lächerlich und anmaßend, mit einem Kleid aus Paris zu protzen – dazu noch in ihrer Situation! Antoinette quittierte Afras Erklärung mit einem nachsichtigen Lächeln und die Herren reagierten belustigt.

Nur Auguste war beeindruckt. »Eine Kreation aus Paris! Oh, würde Papa mir doch auch einmal eine Toilette aus Paris schenken … ein einziges Mal!«

»Du bist hübsch genug, Gustel«, erklärte ihr Vater schmunzelnd, »auch in den Kleidern des guten Fräulein Pucher.«

»Nennen Sie mich nicht ›Gustel‹, Sie wissen, wie ich das hasse. Ich bin schließlich kein Kind mehr! Und Mademoiselle Puché würde sehr ärgerlich werden, wenn sie hören könnte, dass Sie sie Pucher nennen.«

Die anderen – außer Afra, die ganz benommen war – lachten. »Aber mein liebes Kind«, sagte Anselm von Deinharting, »jeder weiß doch, dass die gute Mademoiselle ihren Namen höchst eigenwillig französisiert hat. Der Guten ist anscheinend noch gar nicht aufgefallen, dass dies heutzutage, da nicht mehr der alte Adel, sondern von unten heraufgespülte Abenteurer …«

Elisabeth unterbrach ihn. »Bitte, mon cher, keine Politik!«

Er entschuldigte sich sofort, blickte dabei Afra an, konnte aber nicht feststellen, ob sie seine Bemerkung auch auf sich bezogen hatte, und zog abermals seine Uhr.

»Sie sollten jetzt aber wirklich zu Tisch bitten!«

»Sie meinen … die anderen kommen nicht mehr?«

»Ich bin dessen gewiss«, erklärte er mit Entschiedenheit.

Afra verlor die Fassung. »Das werden sie mir büßen!«, schrie sie, nun gar nicht mehr Baronin, sondern das, was sie wirklich war: ein Mädchen aus dem Volk. »Denen zahl ich’s heim! Mich so zu brüskieren! Diese verdammte hochnäsige Bande, was bildet die sich denn eigentlich ein?! Was glauben die, wer sie sind? Ein Dreck sind die, jawohl. Ich schwör’s euch, die werden noch vor mir kriechen!«

Während dieses Ausbruchs erblasste Elisabeth, wich unwillkürlich zurück und hielt ihr Spitzentüchlein vor die Nase, als müsste sie einen schlechten Geruch abwehren. Sofort war Anselm von Deinharting bei ihr und stellte sich vor sie, um ihr den Anblick der tobenden jungen Frau zu ersparen; dabei sprach er beruhigend auf sie ein.

Antoinette packte Afra bei den Armen und schüttelte sie leicht. »Afra, komm zu dir, ich bitte dich! Weißt du denn nicht mehr, wo du bist? Du darfst dich nicht so gehen lassen.«

Afra riss sich los und funkelte sie aus ihren schwarzen, schräg gestellten Augen so wild an, dass selbst die beherzte Antoinette erschrak. »Die sind nicht besser als ich!«, tobte Afra. »Niemand ist besser als …«

»Das mag schon sein«, ließ Friedrich König sich hören, »aber sie können sich besser benehmen.« Er sagte es mit großer Ruhe und nicht einmal laut. Doch Afra verstummte sofort und wirbelte zu ihm herum.

»Wenn man vornehm sein will«, fuhr Friedrich König gelassen fort, »muss man auch eine Niederlage mit guter Haltung einstecken können. Das ist das A und O des feinen Benehmens.«

»Wie kommen Sie dazu, mich zu belehren?«, versuchte Afra zurückzuschlagen; aber ihre Wildheit war schon gebrochen.

»Weil Sie es nötig haben. Wenn Sie mit Ihrem Gatten allein sind, können Sie sich von mir aus aufführen, wie Sie wollen, obwohl es auch dann nicht gut wäre … im Hinblick auf das Glück Ihrer Ehe, die Achtung Ihres Gesindes und die Erziehung Ihres Sohnes. Aber sich bei einem gesellschaftlichen Anlass so gehen zu lassen, ist wirklich indiskutabel.«

Afras eben noch vor Zorn gerötetes Gesicht war so blass geworden, dass ihre Haut, die bei aller Pflege einen bräunlichen Ton behalten hatte, fast grünlich schien.

»Bring mich nach Hause, Anselm«, bat Elisabeth.

»Sie können von Glück sagen«, fuhr Friedrich König in herzlicherem Ton fort, »dass Sie unter Freunden sind, Baronin, unter Menschen, die für die Schwächen anderer Verständnis haben … nicht wahr, Elisabeth?« Friedrich König nahm Afra bei der Hand und trat mit ihr auf die Hofmarksherrin zu.

Anselm von Deinharting machte ihnen Platz. »Bitte, Elisabeth!«

Aber das unbeherrschte Verhalten der jungen Frau hatte die streng erzogene Elisabeth so verstört, dass sie vergeblich nach Worten rang.

Da stürzte Afra auf sie zu, erfasste ihre Hand und bedeckte sie mit Küssen. »Gnädige Frau, ich bitte Sie … verzeihen Sie mir!«

Ihre Zerknirschung war für Elisabeth fast so unangenehm wie der vorausgegangene Wutausbruch. Hilfesuchend sah sie ihren Mann an, begegnete dem eindringlich beschwörenden Blick seiner warmen braunen Augen und überwand sich. »Aber sicher, Afra«, sagte sie rasch, »es ist ja nichts weiter geschehen. Jeder von uns kann einmal die Fassung verlieren.«

Anselm von Deinharting bot ihr seinen Arm. »Wohl gesprochen, meine Teuerste, aber jetzt … zu Tisch, zu Tisch!«

Es wurde kein vergnügliches Mahl; das hatte auch niemand erwartet. Bei allem guten Willen konnte keiner der Anwesenden vergessen, wie hemmungslos Afra ihrer Enttäuschung Luft gemacht hatte. Die Gedecke für die Kaltenbachs und Amertingens – es waren elf an der Zahl, denn die gutsherrlichen Nachbarn waren zusammen mit ihren erwachsenen und halb erwachsenen Kindern eingeladen worden – standen unbenutzt auf der reich geschmückten riesigen Tafel, eine unübersehbare Erinnerung an den Schlag, der dem gesellschaftlichen Ehrgeiz der Hausherrin versetzt worden war.

Die heitere Musik, die zum Essen aufgespielt wurde, hatte etwas Gespenstisches.

Afra saß in starrer Haltung da und brachte nur mit äußerster Anstrengung hie und da ein Wort über die Lippen. Auch ihr Mann unternahm keine Anstrengung, eine Unterhaltung in Gang zu bringen. Aber er gab sich gelassen. Sein Lächeln zeigte, dass ihn die ungute Situation kalt ließ, ja, vielleicht sogar höchlichst amüsierte. Afra merkte es nicht. Sie brauchte alle Kraft dazu, sich nicht von dem Wirbel ihrer Gefühle fortreißen zu lassen; noch immer kochte der Zorn in ihr, und noch immer glomm ein kleiner Funke Hoffnung, dass die ausgebliebenen Gäste doch noch eintreffen könnten – einer ihrer Wagen konnte im Schlamm steckengeblieben, eine Achse konnte gebrochen sein, kurzum, für eine Verspätung hätte es unzählige Gründe und Entschuldigungen geben können.

Leben in das festliche Souper brachten nur die Deinhartings, kräftig unterstützt von Antoinette und Friedrich König. Es war nicht so, dass der Hofmarksherr die Unterhaltung an sich riss; bevor er sprach, hatte es keine gegeben. Er war der Mittelpunkt der kleinen Gesellschaft, genauso wie er es auf Schloss Deinharting zu sein pflegte. Nicht viel hätte gefehlt und er hätte es übernommen, eigenhändig die Teller zu füllen, aber davon nahm er denn doch Abstand. Elisabeth, noch immer leicht geschockt, war zu sehr Dame, um sich etwas anmerken zu lassen, und Augustes naive Lebenserwartung hatte schon wieder über die Enttäuschung gesiegt.

Das Essen war fast wie auf Schloss Deinharting, Margarethe Meyrs Schule war unverkennbar, nur erreichte die junge Notburga eben doch noch nicht ganz die Höhe der Meisterin. Die Wildpasteten waren nicht ganz so delikat, die Bouillon nicht ganz so klar und kräftig, der Fisch nicht so weiß und fest im Fleisch, der Braten zwar außen gut gebräunt, innen jedoch nicht mehr rosig – und das, obwohl Afra es sich nicht hatte nehmen lassen, sich selber an den Herd zu stellen, was sie natürlich um keinen Preis der Welt hätte zugeben mögen.

Dennoch lobten die Männer das Essen, die Männer und auch Auguste, die noch den Heißhunger der Jugend hatte, langten kräftig zu, während Elisabeth und Antoinette nur kosteten. Felix von Lingen aß mit großem Gleichmut, Afra dagegen brachte kaum einen Bissen herunter. Der Wein war, wie es sich für eine Wirtstochter gehörte, von hoher Qualität. Besonders der trockene Weißwein, den ihr Vater unter Schwierigkeiten aus der Champagne hatte kommen lassen, löste bei Anselm von Deinharting Begeisterung aus.

Jetzt endlich öffnete Afra den Mund und sagte gepresst: »Ich werde Ihnen eine Kiste schicken lassen.«

Daraufhin entstand Stille am Tisch. Alle empfanden nur zu deutlich, dass Afra eine solche gönnerhafte Geste dem Hofmarksherrn gegenüber nicht zustand, schon gar nicht in der trockenen Form, in der sie gemacht worden war.

Das Schweigen wurde Afra bewusst und sie schrak auf. »Habe ich wieder etwas falsch gemacht?«, fragte sie verstört.

»Nein, gar nicht«, versicherte Anselm von Deinharting rasch, »ich nehme Ihr Angebot dankend an, Baronin.« – Er nannte sie selten mit ihrem erheirateten Titel; jetzt tat er es, um Öl auf ihre Wunden zu gießen.

Das mousse au chocolat, das zum Dessert gereicht wurde, ließ nichts zu wünschen übrig. Die Damen konnten nicht widerstehen, ihr Schälchen auszulöffeln – außer Afra, der es bitter schmeckte, obwohl sie es selber zubereitet hatte.

Danach gab es Käse – Afra hatte es an nichts fehlen lassen wollen –, dem aber nur die Herren zusprachen.

Afra musste sich eingestehen, dass keiner der Gäste, die sie noch erwartet hatte, kommen würde. Sie erhob sich und sagte mühsam die lange vorher zurechtgelegten Worte auf: »Zum Kaffee sollten wir, glaube ich, die Herren verlassen … für uns wäre es die beste Gelegenheit, uns ein wenig frischzumachen.«

Die Damen folgten ihr. Kaum waren die Herren allein, ergriff Anselm von Deinharting die Initiative. »Mache Er die Türen zum Ballsaal zu, Ludwig«, verlangte er von einem der Bediensteten, der zu jenen Leuten gehörte, die von Deinharting ausgeliehen waren, »ich kann das Gedudel nicht mehr hören … und sieh Er zu, dass endlich die Gedecke abgeräumt werden … alle, auch die unbenutzten.« Dann erst wurde ihm bewusst, dass er sich Rechte anmaßte, die ihm nicht zustanden. »Sie haben doch nichts dagegen, Baron?«, fragte er.

»Aber nicht das Mindeste«, war die lächelnde Antwort. »Dann würde ich vorschlagen, Sie kommen hier zu mir ans Tischende, damit wir uns unterhalten können. Rücken Sie bitte zusammen, meine Herren.«

Während des Soupers hatten alle, Afras ausgeklügelter Tischordnung folgend, weit auseinander gesessen. Jetzt kamen Friedrich König und Felix von Lingen bereitwillig Anselm von Deinhartings Wunsch nach. Aber dadurch wurde es immer noch nicht gemütlich in dem großen, wie der Ballsaal mit reichen Stuckaturen versehenen Raum. Es lag wohl auch an den sehr schönen modernen Möbeln, mit denen Afra sich eingerichtet hatte. Es herrschte nicht das unkonventionelle Durcheinander verschiedener Stilarten aus drei Jahrhunderten, aus denen man unbekümmert die schönsten Stücke behalten und nebeneinandergestellt hatte wie auf Deinharting. Afra hätte sich zwar auch bei der Auflösung der Klostergemeinschaften in Bayern billig mit gutem alten Mobiliar versorgen können, und ihr Vater, der alte Schwaiger, hatte ihr das auch schmackhaft zu machen versucht. Aber sie hatte sich dagegen gewehrt, gerade weil es billig gewesen wäre und weil sie sich nicht genügend Geschmack zutraute. So war ihre Einrichtung zwar stilvoll und elegant, aber ganz und gar unpersönlich ausgefallen.

Während die Bediensteten noch geschäftig hin und her liefen, begann Friedrich König, sich seine Pfeife zu stopfen. Felix von Lingen reichte Zigarren – aber es war nur eine Geste, da er nur zu gut wusste, dass der Hofmarksherr nicht rauchte – und zündete sich dann selber eine an. Bis zum Kaffee fielen zunächst nur belanglose Worte. Anselm von Deinharting ließ sich über das Wetter, die Ernte, die Teuerung, den Mangel an Arbeitskräften aus. Friedrich König hörte interessiert zu, warf auch hin und wieder ein Wort dazwischen. Aber der Hausherr blieb stumm, hatte wieder sein maliziöses Lächeln aufgesetzt.

Der Hofmarksherr unternahm einen Vorstoß. »Mir scheint, alles, was ich sage, interessiert Sie nicht, Baron!«

Felix von Lingen zuckte die Achseln. »Warum sollte es auch?«

»Sie sind Schlossbesitzer und Gutsherr …«

»Weder das eine noch das andere, lieber verehrter Hofmarksherr! Hier gibt es nur eine Besitzerin«, erklärte er mit der Betonung auf dem letzten Wort, »ich hatte nur die Ehre, einer gewissen Afra Schwaiger meinen Namen zu geben.«

Anselm von Deinharting hätte darauf manches zu sagen gewusst, etwa, dass ihr Vater die Ehre gehabt hatte, seine Spielschulden zu zahlen, aber er wollte keinen Unfrieden aufkommen lassen. »Aber das kann Sie doch nicht daran hindern, sich für die Zeitläufte zu interessieren.«

»Für die schon. Ich würde gern sehen, wie es weitergeht, das ist ja der einzige Spaß, den man hat. Aber die Ertragslage der Landwirtschaft ist für mich völlig belanglos. Darüber sprechen Sie besser mit meiner Frau, sie pflegt sich höchstpersönlich darum zu kümmern.«

»Ich meine, Sie hätten allen Grund, stolz auf sie zu sein«, warf Friedrich König ein.

»Auf ihre Dummheit? Einer Dame von Stand fiele so etwas nicht ein … und gerade das will sie doch sein.«

Ein livrierter Diener servierte den Kaffee, Anselm von Deinharting erbat einen Obstler, um, als er gebracht wurde, die Flasche gleich stehen zu lassen.

»Das Gespräch scheint sich persönlichen Dingen zuzuwenden, es wäre wohl besser, Sie schickten die Dienerschaft fort«, schlug er vor.

»Ganz wie Sie wünschen!« Felix von Lingen gab entsprechende Anweisungen.

Als sie allein waren, sagte Anselm von Deinharting, während er in dem Mokkatässchen rührte, das winzig im Vergleich zu seiner riesigen Hand war: »Ich bin völlig der Ansicht meines Freundes: Ich finde, dass unserer Afra die Rolle der Gutsfrau und Schlossherrin sehr gut zu Gesicht steht. Ich wünschte von Herzen, eine meiner Töchter hätte nur ein wenig von ihrer Tüchtigkeit.«

»Wünschten Sie es auch von Ihrer Gattin?«, fragte Felix von Lingen lächelnd und nicht im Mindesten beeindruckt.

Der Hofmarksherr musste nachdenken. »Sie ist anders … bei ihr wäre es mir unvorstellbar.«

»Weil sie eine wirkliche Dame … weil sie von uraltem Adel ist! Da haben Sie den Unterschied.«

»Mir scheint das aberwitzig«, erklärte Anselm von Deinharting, »jeder Adelstitel ist doch einmal für besondere Verdienste oder zumindest eine gewisse Bravour verliehen worden … Mein Urahn erhielt ihn, weil er in der Schlacht gegen die Türken Max Emanuel, dem blauen Kurfürsten, das Leben rettete … Aber kaum hat ein Geschlecht ihn, so richtet sich seine ganze Anstrengung darauf, sein Leben fortan dem Müßiggang zu weihen.«

»Sagen Sie lieber: plebejische Arbeiten zu vermeiden.«

»Aber ich kann es nicht plebejisch finden, wenn eine Frau im Haushalt die Hände rührt oder sich, besser noch, mit der Verwaltung eines Gutes befasst … Plebejisch sind in meinen Augen nur Handel und Geldgeschäfte.«

Felix von Lingen führte behutsam die Zigarre, deren Asche einen hübschen langen Kegel bildete, zum Munde. »Sie dürfen solche Ansichten äußern, verehrter Hofmarksherr, Ihre und die Stellung Ihrer Gattin in der Gesellschaft ist unanfechtbar. Um uns hier auf Schloss Karpfing steht’s anders. Was sind wir denn? Ich, ein kaiserlicher Offizier, der seinen Abschied nehmen musste … und meine Frau eine Gastwirtstochter, die hoch hinaus will.« Sein Lächeln verzerrte sich. »Wir hätten kein Kind haben dürfen.«

»Da bin ich nun ganz und gar nicht Ihrer Meinung«, widersprach Friedrich König energisch, »der Junge ist ein echter Maximilian von Lingen. Ich wette, niemand wird später fragen, woher sein Adel stammt.«

»Sehr richtig!«, stimmte Anselm von Deinharting zu. »In einer Zeit wie dieser, wo ein hergelaufener Korse sich selber zum Kaiser machen kann … für mich ist das so unerhört, dass ich es noch immer nicht begreife … und einen neuen Adel gleichsam aus dem Boden stampft!«

»Ja, das war ein seltsames Ende einer großen Revolution!« Friedrich König stocherte in seiner Pfeife. »Statt des alten Königsgeschlechts gibt’s nun einen neuen Kaiser … und einen neuen Adel. Sie dürfen mir glauben, dass ich mich als Bürgerlicher dabei immer wohler in meiner Haut fühle.«

»Dann seien Sie nur nie Napoleon zu Diensten«, scherzte der Hofmarksherr, »er könnte rasch einen Baron aus Ihnen machen.«

»Ja, es ist merkwürdig. Haben Sie eigentlich bedacht, dass dieser Griff Bonapartes nach der Kaiserkrone eine größere Revolution zur Folge haben wird und haben muss als die eigentliche Revolution?«

»Sie rüttelt an der Vorstellung des Gottesgnadentums, das meinen Sie wohl?«, fragte Anselm von Deinharting.

Friedrich König schenkte ihm einen herzlichen Blick. »Sie legen den Finger auf den entscheidenden Punkt. Bisher hat man die Völker in dem Glauben lassen können, dass die Herrschaft ihnen von Gott gegeben sei. Er hat die Könige erwählt … und manche von ihnen haben sich wohl auch aufrichtig für von Gott auserwählt gehalten … und die Könige machten ihre Fürsten, Grafen, Barone und Hofmarksherren, kurzum alle, denen sich die Völker zu unterwerfen hatten. Wollten sie Gott gehorchen, so mussten sie denen gehorchen, die Er über sie gesetzt hatte. Damit wird’s nun bald vorbei sein.«

Felix von Lingen beugte sich vor. »Sie glauben an Revolution?«

»Ja, aber wir werden sie wohl nicht mehr erleben. Wenn der Mensch schon recht lange braucht, um zu einer Erkenntnis durchzustoßen, so sind die Völker in ihrem Denken noch wesentlich schwerfälliger. Ich schätze, es werden Jahrzehnte vergehen … vielleicht sogar ein Jahrhundert.«

»Da kann ich Ihnen nicht recht geben«, widersprach Felix von Lingen. »Nur weil Napoleon an der von Gott gewollten Ordnung zu rütteln wagt! Es gibt noch einen anderen, einen echten Kaiser!«

»Sie denken an den Ihren, an Franz II., nicht wahr? Da muss ich Ihnen sagen: Zum Kaiser von Österreich hat er sich ja auch selber gemacht. Und warum? Weil er spürte, dass das Heilige Römische Reich Deutscher Nation kurz davor steht, auseinanderzubrechen, und es nur noch eine Frage der Zeit ist, wann ihm der andere Kaiser, der französische, den Todesstoß geben wird. Dann wird das Reich des guten Franz nur noch in Österreich liegen, aber immerhin wird er sich weiter Kaiser nennen können.«

»So etwas«, sagte Felix von Lingen, »würde bei mir zu Hause in Wien niemand auszusprechen … ja, nicht einmal zu denken wagen.«

»Zum Glück sind wir im Kurfürstentum Bayern«, erinnerte Friedrich König.

»Und wie steht Bayern da?«, fragte Anselm von Deinharting.

»Nun, es hat doch im Reichsdeputationshauptschluss recht gut abgeschnitten.« Friedrich König begann an den Fingern aufzuzählen: »Die Hochstifte Freising, Passau, Brixen und Trient, Würzburg, Bamberg, Eichstätt, Ebrach und Langheim …«

»Das war eine Folge der Säkularisation.«

»Mag sein, was es will, aber es war ein Gewinn für Bayern! Dazu: die Güter und Hoheitsrechte der unzähligen aufgehobenen Güter und Klöster!«

»Dem Reichsdeputationsausschuss verdanken wir wohl eher die Reichsstädte Dinkelsbühl, Kaufbeuern, Kempten, Memmingen, Nördlingen, Ulm, Augsburg, Lindau …«

»Nicht zu vergessen die Markschaft Burgau!«

»Jedenfalls ein hübsches Stück von Schwaben! Man kann wohl sagen, das ganze Territorium zwischen Iller und Lech.«

»Und in Franken die Reichsstädte Rothenburg, Schweinfurt, Weissenburg und Windsheim …«

Es war, als wollten die beiden Herren sich gegenseitig überbieten.

»Und all diesen hübschen Zugewinn bemüht sich Freund Montgelas nun in eine einheitliche Form zu pressen!«

Felix von Lingens Lächeln war zynischer denn je. »Ich verstehe nicht recht, worüber Sie sich Sorgen machen! Bayern wächst, blüht und gedeiht. Es hat einen Herrscher, der sein Volk liebt … so hört man es doch immer wieder … und in Montgelas einen Staatsmann, der weiß, was er will, und es auch durchführt. Zudem steht er nicht alleine da, sondern wird vom Freiherrn von Zentner und anderen Beamten tatkräftig unterstützt. Ich meine, Bayern kann sich glücklich preisen.«

Anselm von Deinharting schenkte sich einen zweiten Obstler ein. »Jedenfalls sind wir die kaiserliche Besatzung losgeworden! In diesem Punkt hat Max Joseph Österreich die Zähne gezeigt.«

»Ja, weil er Napoleon hinter sich wusste«, sagte Friedrich König, »ansonsten klammert er sich immer noch an seine unselige Neutralität!«

»Was kann er anderes tun?«

»Sich entscheiden«, sagte Friedrich König, »so oder so. Entweder stellt er seine Truppen den Kaiserlichen zur Verfügung …«

»… und macht damit Bayern zu einer österreichischen Provinz, denn darauf wollte das Haus Habsburg ja schon seit Jahrhunderten hinaus!«, warf Anselm von Deinharting ein.

»… oder er paktiert mit den Franzosen!«, fuhr Friedrich König fort.

»Und Sie meinen, Napoleon würde Bayern die Selbstständigkeit lassen?«

»Ich weiß es nicht«, musste Friedrich König zugeben.

Felix von Lingen lachte. »Entschuldigen Sie, meine Herren, aber mir scheint, wir sind schon die rechten Politiker … Wenn wir nicht einmal Entscheidungen treffen können, obwohl wir nicht die Verantwortung haben, wie sollen’s dann die in München?«

Anselm von Deinharting seufzte tief. »Hoffen wir, dass sie weiter blicken als wir …«

Musik klang auf und unwillkürlich blickten die Herren zu der breiten Doppeltür, die den Speiseraum mit dem Ballsaal verband. Auguste hatte sie zur Hälfte geöffnet und war hereingeschlüpft. Jetzt stand sie lächelnd auf der Schwelle und genoss die Aufmerksamkeit, die sie erregte; sie spürte sehr wohl, dass sie gefiel.

»Ich komme als ambassadrice«, verkündete sie, »die Damen schicken mich. Da dies nun doch ein Ball ist, möchten wir Sie bitten, die Musik zu nutzen!«

Anselm von Deinharting stand auf, ging zu ihr hin und zupfte sie am Ohrläppchen. »Ich möchte wetten, dass du in erster Linie deine eigene Botschafterin bist.«

»Und … ist das schlimm?«

»Es gehört sich nicht, die Herren zum Tanz zu bitten. Ein braves Mädchen muss warten können.«

Auguste blickte zu Felix von Lingen und Friedrich König hin, die sich jetzt ebenfalls, aber recht gemächlich, erhoben.

»Oh, bei Ihnen könnte das dauern, bis die Musiker ihre Instrumente zusammenpacken!«, erwiderte sie keck. »Wenn Sie erst einmal in eines Ihrer sonderbaren Gespräche vertieft sind …«

Felix von Lingen ergriff galant ihre Partei. »Ich bin Ihnen von Herzen dankbar, Mademoiselle, dass Sie mich von diesen sonderbaren Gesprächen, wie Sie so hübsch sagten, erlöst haben! Tanzen wir also!« Er reichte ihr den Arm.

Anselm von Deinharting und Friedrich König verständigten sich mit einem kurzen Blick, während sie den beiden folgten.

Afra hatte die Musiker bis in die frühen Morgenstunden engagiert, denn es hatte ein prachtvoller Ball werden sollen, so recht geeignet, Gemüter und Zungen in Bewegung zu setzen und Jahre hin unvergessen zu bleiben. Aber die Deinhartinger bestanden darauf, noch vor zwei Uhr nach Hause zu fahren. Sie hatten sich zwar durchaus amüsiert, die Musik und die delikaten Erfrischungen genossen, aber ein wirkliches Fest hatte es doch nicht werden wollen. Obwohl die Herren ihr Bestes taten, fehlte es an Tänzern. Wäre wenigstens noch eine Dame mehr anwesend gewesen, so hätte, bei gerader Zahl, keine bei einer der kunstvoll durchgeführten Françaisen, Menuetts, Quadrillen und Polonaisen zuschauen müssen. Auguste hatte das Recht ihrer Jugend voll ausgenutzt und keinen Tanz ausgelassen. Elisabeth und Antoinette verstanden es lächelnd, gelassen und in guter Haltung zu pausieren. Aber Afra, die die Enttäuschung ohnehin verdüstert hatte, wirkte, wenn sie dieser Situation ausgesetzt war, mit den zusammengepressten Lippen, den geblähten Nasenflügeln und den funkelnden schwarzen Augen wie eine lebendige Drohung. Sie vermittelte ihren Gästen, wenn sie einander zulächelten, sich ein fröhliches Wort zuriefen und auch ein wenig kokettierten, das nicht eben angenehme Gefühl, sich zynisch zu verhalten, obwohl sie sich in Wahrheit ja nur darum bemühten, Afras Ball zu retten. Auf der viel zu großen Fläche und umgeben von viel zu viel Dienerschaft fühlten sie sich ohnehin ziemlich verloren.

Nur Auguste rief: »Schade!«, als Anselm von Deinharting das Zeichen zum Aufbruch gab; die anderen waren eher erlöst. Afra war zu stolz, um sie um längeres Verbleiben zu bitten. Sie wurde von den Damen geküsst, die ihr für die »fête merveilleuse« dankten. Die Herren verabschiedeten sich mit tadellosen Verbeugungen. Die Gastgeber blieben auf der Empore stehen, während die Deinhartinger unten ihre Tücher, Stöcke und Hüte in Empfang nahmen. Nur Antoinette winkte noch einmal nach oben, ließ aber die Hand sofort wieder sinken, als sie den Ausdruck auf Afras Gesicht wahrnahm. Sie sah aus, als wollte sie einen Mord begehen.

Draußen war schon die Kutsche vorgefahren. Es hatte aufgehört zu regnen. Vereinzelte Wolken schwammen rasch über einen weißen Mond. Die Deinhartinger stiegen mit Hilfe des Dieners Ludwig ein.

»Hol Er Baptist«, befahl Anselm von Deinharting ihm, »ich nehme euch beide gleich mit nach Hause. Ihr könnt hinten aufsitzen.«

»Aber wir sollten doch noch beim Aufräumen helfen!«, wagte Ludwig zu widersprechen.

»Tu Er, was ich Ihm sage! Es wird nicht so viel aufzuräumen geben. Die Livreen schicken wir demnächst zurück.«

Es dauerte nicht lange, so war auch der andere Deinhartinger Bedienstete zur Stelle, und die Kutsche rumpelte davon.

Auf der Empore im Schloss wandte Afra sich ihrem Mann zu. »Das werden sie mir büßen!«, stieß sie heraus.

Er lächelte. »Was du auch immer für Dinge sagst! Ja, ja, ich weiß, du bist einen weiten Weg gegangen, aber nie wirst du es dahin bringen, dich an der Gesellschaft deines Landes zu rächen. Wie stellst du dir das auch vor?«

Afra hatte die Hände so kräftig geballt, dass ihre Knöchel weiß geworden waren. »Ich werde es, weil ich es will.«

»Nun, erst einmal musst du in sie hineinkommen, in die gute Gesellschaft … und wenn dir das gelingt, wirst du sicher nicht mehr das Bedürfnis haben dich zu rächen.«

»Wie wenig du mich kennst.«

»Ich kenne die Welt. Wenn die Gesellschaft dich akzeptiert … und ich schließe durchaus nicht aus, dass das eines schönen Tages geschehen könnte … dann wirst du eine Dame geworden sein, und Damen, meine liebe Afra, können auch mit Haltung eine Niederlage einstecken. Aber so weit bist du eben längst noch nicht. Dein ganzes Verhalten am heutigen Abend hat es gezeigt. Das war sehr schlechter Stil, meine Liebe.«

»Das ist nicht wahr!«, protestierte sie heftig. »Ich habe durchaus Haltung bewiesen.«

»Findest du?« Sein Lächeln wurde fast mitleidig. »Von deinem Ausbruch ganz abgesehen, mit dem du die gute Hofmarksherrin einer Ohnmacht nahe gebracht hast, hingst du wie eine Gewitterwolke über der von dir selbst inszenierten Veranstaltung.«

»Das sagst du, um mich noch mehr zu kränken!«

Er wurde, selten genug, ganz ernst. »Nein, Afra, ich versuche dir zu helfen. Glaub mir, wir können von Glück sagen, dass unsere gutsherrlichen Nachbarn nicht gekommen sind. Der Ball wäre auch dann ein Misserfolg geworden. Du bist solchen Dingen noch nicht gewachsen … ein Kleid aus Paris und ein Haufen Dienerschaft nutzen da gar nichts.«

»Und du genauso wenig!«, fauchte sie ihn an; sie war sich bewusst, dass sie ihm diesmal unrecht tat, aber sie musste ihrer Erbitterung Luft machen. »Ich möchte nur wissen, zu was du nutze bist.«

Jetzt war sein vieldeutiges, boshaftes Lächeln wieder da. »Nun, immerhin habe ich dich zur Baronin Lingen gemacht!«

Sie wandte ihm brüsk den Rücken. »Das soll wohl etwas sein.«

»Für eine Gastwirtstochter ganz gewiss. Ich nehme an, du wirst jetzt das Personal dirigieren wollen? Dann erlaube bitte, dass ich mich zurückziehe.« Er verbeugte sich ironisch vor ihrem Rücken. »Dein ergebener Steigbügelhalter!«

Sie fuhr herum, eine neue Beleidigung schon auf der Zunge, denn sie konnte es nur schwer vertragen, nicht das letzte Wort zu haben, und ihre Wut war noch längst nicht abgekühlt; aber er war schon entschlüpft. So musste denn die Dienerschaft ihren Zorn über sich ergehen lassen.

In der rumpelnden Kutsche, eingeklemmt zwischen Elisabeth und Antoinette, bemerkte Auguste fröhlich: »Das war doch einmal etwas anderes! Aber im Grunde kam’s mir recht gespenstisch vor.«

»Bitte, Gustel!«, tadelte Elisabeth. »Du weißt, es gehört sich nicht, die Leute zu kritisieren … und schon gar nicht solche, deren Gastfreundschaft man gerade genossen hat.«

Das junge Mädchen gähnte herzhaft, durchaus nicht betroffen. »Sie können sagen, was Sie wollen … mir kommt Afra als Baronin immer noch recht komisch vor. Für mich ist und bleibt sie die Mademoiselle, die mir das Lesen und Schreiben beigebracht hat.«

»Was für ein Glück für dich, dass wir anderen ein wenig wendiger sind«, neckte der Hofmarksherr sie, »sonst wärst du für uns immer noch das kleine Mädchen, das aufs Töpfchen gesetzt werden muss!«

»Papa!«

»Ihr Vater hat schon recht«, meinte Antoinette, »es gibt auf dieser Welt keine bleibenden Werte, und selbst die gesellschaftlichen Stellungen, die so fest gefügt erscheinen, verändern sich ständig.«

»Mag sein«, gab Auguste zu, »aber eine Dame von Stand wird Afra in meinen Augen nie sein. Sie ist doch nur …«

»Sei still, ich bitte dich!«, fiel Elisabeth ihr ins Wort.

»Dann akzeptieren Sie mich wohl auch nicht, Auguste?«, fragte Friedrich König scherzend.

»Sie sind ein studierter Herr, das ist etwas anderes!« Das junge Mädchen wurde nachdenklich. »Und dennoch, seien Sie mir nicht böse, heiraten würde ich Sie nie!«

»Auguste!«, rief Elisabeth mahnend. »Was sind das für Redensarten.«

»Lassen Sie sie nur«, sagte Friedrich König beschwichtigend, »so bin ich davor gewarnt, mich in das Fräulein zu verlieben.«

Auguste war froh, dass niemand im Dunkel der Kutsche bemerken konnte, dass sie errötete.

»Wir alle müssen umdenken«, meinte der Hofmarksherr, »wir leben in einer neuen Zeit, in der die Herkunft nicht mehr ausschlaggebend ist, sondern das Können. Die wichtigsten Ämter im Staat werden mehr und mehr mit Bürgerlichen besetzt …« Sofort unterbrach er sich. »Entschuldige, Elisabeth, ich wollte nicht ins Politisieren kommen.«

Ihre kleine Hand schlüpfte in die seine und er spürte den Druck ihrer Finger durch das dünne Kalbsleder ihrer Handschuhe. »Der Wert eines Menschen«, sagte sie, »liegt wohl in seinem Inneren, und doch … Ihr dürft mich nicht für altmodisch oder hochmütig halten … für mich wird’s immer einen Unterschied zwischen einer Dame von Stand und einer Gastwirtstochter geben.«

»Sehen Sie, Mama!«, rief Auguste triumphierend. »Genau das wollte ich sagen! Es war eine Keckheit von Afra, zu einem Ball einzuladen, und sie hat’s verdient, dass niemand außer uns gekommen ist!«

»Ich glaube«, meinte Antoinette nachdenklich, »es kommt darauf an, worin man den Wert eines Menschen sieht … in seiner Tapferkeit oder seiner Klugheit, in seiner Ernsthaftigkeit oder seinem Humor, in seiner Tüchtigkeit oder seiner Vornehmheit! Erst wenn man da Prioritäten setzt, kann man …«

Elisabeth unterbrach sie. »Antoinette, ich bitte Sie! Es ist spät, mir schwirrt der Kopf! Strapazieren Sie mich nicht auch noch mit Ihren Sophistereien!«

Antoinette entschuldigte sich sofort und danach wagte niemand mehr etwas zu sagen. Jeder hing seinen eigenen Gedanken und Träumen nach und es mag sehr wohl möglich sein, dass der eine oder andere dabei ein wenig einnickte.

Als die Kutsche vor dem Dragonerhaus hielt, um Friedrich König abzusetzen, gab es keinen feierlichen Abschied mehr, sondern nur ein paar gemurmelte Worte hin und her.

Der Hofmarksherr zog Elisabeth, die noch immer seine Hand hielt, zu sich hinüber. »Komm zu mir! Hier hast du es bequemer!« Er legte den Arm um sie und sie kuschelte ihren Kopf an seine Brust. Sie atmete gleichmäßig, und er saß, ohne sich zu rühren, um sie nur ja nicht zu stören.

Jedoch als die Kutsche in den Hof von Schloss Deinharting einfuhr – deutlich veränderte sich das Geräusch der rollenden Räder auf dem mit Natursteinen ausgelegten Hof–, waren alle wach, spätestens, als der Wagen mit einem Ruck hielt und die Insassen gegeneinander schleuderte.

»Wir sind da!«, rief Auguste.

»Na endlich«, sagte der Hofmarksherr.

Elisabeth hatte sich von ihrem Mann gelöst und behutsam hob er sie von dem hohen Tritt der Kutsche. Ludwig und Baptist waren hinten abgesprungen und halfen Antoinette und Auguste hinaus. Die Meute schlug heftig an, rasselnd wurde das Tor geöffnet, und Henriette Striegel, Elisabeths ältliche Zofe, erschien, einen Kerzenleuchter in der Hand.

»Sie hätten nicht aufzubleiben brauchen, Henriette«, sagte Elisabeth schnell.

»Aber ich muss der gnädigen Frau doch beim Auskleiden helfen!« Henriette hatte schon geschlafen und das graue Haar hing ihr in einem dünnen Zopf über die Schulter.

»Doch nicht, wenn …«, wollte Elisabeth widersprechen.

Anselm von Deinharting küsste sie auf die Schläfe. »Lass dich ruhig ein wenig verwöhnen!«

»Aber das hätte ich doch auch …«, erbot sich Antoinette.

»Sie«, sagte der Hofmarksherr und führte seine Frau über die Schwelle, »müssen morgen früh zeitig auf sein.«

Elisabeth schauderte ein wenig, nicht weil die Nacht so kalt, sondern weil sie so müde war. »Kommst du noch zu mir?«, raunte sie ihrem Mann zu.

»Es ist schon spät!«

»Oh, bitte, nur für ein paar Minuten!«

Er lächelte auf sie herab. »Wenn du mich so bittest, kann ich dir natürlich nicht widerstehen.«

»Nicht dass du denkst …« Sie errötete heiß.

»Ich denke schon richtig«, neckte er sie.

Eigentlich war auch er müde gewesen und überzeugt, sich seinen Schlaf redlich verdient zu haben. Aber das Glück, dass Elisabeth ihn begehrte, überwog bei Weitem. Die Erinnerung an die Zeit, da sie sich von ihm zurückgezogen und nicht einmal der Andeutung einer Zärtlichkeit zugänglich gewesen war, würde er nie ganz verwinden können. Deshalb genoss er jetzt ihr Vertrauen und ihre Bereitschaft zur Hingabe wie ein immer wieder köstliches und unverhofftes Geschenk. Tatsächlich hatte er längst aufgehört sie zu begehren, als sie zu ihm gefunden hatte, und jetzt wurde er immer wieder überrascht von ihrer spät erblühten Sinnlichkeit.

Antoinette schlich sich auf Zehenspitzen, eine Kerze in der Hand, die sie an Henriette Striegels Leuchter entzündet hatte, in das einfache Zimmer, das sie immer noch mit Thomas teilte, dem Sohn des Hofmarksherrn, der als ihr Bruder galt. Aber so lautlos sie sich auch auszog, der Junge, vor einem halben Jahr zehn geworden, erwachte doch.

»Bist du’s, Tonette?«, murmelte er.

Sie trat zu ihm und fuhr ihm zärtlich durch die pechschwarzen Locken. »Schlaf weiter, mon cher, die Nacht ist nur noch kurz.«

Aber er rieb sich die Augen mit den Fäusten, um vollends wach zu werden. »War’s schön auf dem Ball?«

»Sehr schön.« Sie verschwand hinter dem Paravent, um sich auszuziehen.

»Mit wem hast du getanzt?«

»Mit Monsieur, mit Onkel Frédéric und mit Herrn von Lingen.«

»Mit sonst niemandem?«

»Nein.«

»Warum hat denn sonst niemand mit dir getanzt?«

»Weil sonst niemand da war. Es war nur ein kleiner Ball, weißt du.« Antoinette stand jetzt im Hemd da, goss Wasser in eine Schüssel und wusch sich Gesicht und Hände.

»Da bin ich aber froh«, sagte der Junge aufseufzend. Antoinette rubbelte sich mit einem der rauen, von den Mägden gewebten Tüchern ab. Sie stellte keine Frage.

Dennoch fuhr Thomas fort: »Ich mag nicht, wenn du mit fremden Männern tanzt.«

»Eifersüchtig?«

»Nein«, behauptete Thomas, und er fügte hinzu: »Aber was soll ich denn machen, wenn einer dich mir wegschnappt?«

Antoinette löste das braune Haar, das in natürlichen Locken auf ihre Schultern fiel, und bürstete es durch. »Nur keine Sorge, ich lasse mich schon nicht wegschnappen. Und wer sollte sich auch um mich bemühen? Ich bin ja schon eine alte Jungfer.«

»Stimmt gar nicht. Du bist die Schönste von allen.«

Antoinette legte die Bürste aus der Hand, nahm die Kerze und beugte sich noch einmal mit einem herzlichen Lächeln zu dem Jungen. »Danke für das Kompliment! Aber jetzt wird sofort geschlafen … wir beide müssen morgen früh in die Schule.« Sie gab ihm noch einen Kuss, ging zu ihrem Bett, das ein gutes Stück entfernt stand, löschte die Flamme ihrer Kerze und schlüpfte unter die Decke.

»Ich hab’ dich lieb!«, sagte Thomas undeutlich.

»Ich dich auch«, gab Antoinette zurück.