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Hat das Glück sie für immer verlassen? Der berührende Roman »Die Frauen von Gut Wredenhagen« von Gabriele Droste jetzt als eBook bei dotbooks. Seit Friederike Kröger 1865 mit ihren beiden Töchtern vom Gutshaus in Mecklenburg vertrieben wurde, scheint ein Fluch auf den Frauen der Familie zu liegen. Sie können nie eine erfüllte Liebe haben, weil sie an jenem schicksalhaften Tag ein altes Erbstück verloren, das ihnen immer Glück gebracht hat. Viele Jahre später erfährt auch Friederikes Ururenkelin Laura von ihrer Vergangenheit – und ist fest entschlossen, herauszufinden, was damals geschah. Wird sie es schaffen, das Geheimnis zu lösen … und das Glück zu finden, nach dem sie sich so sehr sehnt? Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der bewegende Familiengeheimnisroman »Die Frauen von Gut Wredenhagen« von Gabriele Droste wird die Fans von Kate Morton und Carolin Rath begeistern! Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 659
Über dieses Buch:
Seit Friederike Kröger 1865 mit ihren beiden Töchtern vom Gutshaus in Mecklenburg vertrieben wurde, scheint ein Fluch auf den Frauen der Familie zu liegen. Sie können nie eine erfüllte Liebe haben, weil sie an jenem schicksalhaften Tag ein altes Erbstück verloren, das ihnen immer Glück gebracht hat. Viele Jahre später erfährt auch Friederikes Ururenkelin Laura von ihrer Vergangenheit – und ist fest entschlossen, herauszufinden, was damals geschah. Wird sie es schaffen, das Geheimnis zu lösen … und das Glück zu finden, nach dem sie sich so sehr sehnt?
Über die Autorin:
Gabriele Droste, gebürtige Hamburgerin, studierte Kunst und Germanistik in München sowie französische Literaturgeschichte in Paris an der Sorbonne. Dort arbeitete sie anschließend in der
Kulturabteilung der Deutschen Botschaft und wurde dann Journalistin. Privat und beruflich führten – und führen – ihre Wege immer wieder nach Frankreich und Wien. Sie lebt mit ihrer Familie in München.
Gabriele Droste veröffentlichte bei dotbooks bereits »Sophies Geheimnis, »Claras Erbe« und »Maries Schicksal«.
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eBook-Neuausgabe Oktober 2023
Dieses Buch erschien bereits 2000 unter dem Titel »Lauras Erbe« bei Heyne
Copyright © der Originalausgabe 2000 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München
Copyright © der Neuausgabe 2023 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)
ISBN 978-3-98690-852-2
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Gabriele Droste
Die Frauen von Gut Wredenhagen
Roman
dotbooks.
FÜR MEINE MUTTER
LAURA, 1995
Laura stand auf der Terrasse und beobachtete, wie die Sonne hinter der Trauerweide verschwand. Wie lichte Kobolde tanzten ihre Strahlen im hellen Grün der Zweige. Bald würde sie sich in einen rotglühenden Ball verwandeln, der, so hatte Großmutter Lily immer gesagt, aussähe wie ein Lampion, den man ihr zur Abendstunde in den Baum hängen würde.
Großvater Hermann hatte über solcherlei Bemerkungen nur den Kopf geschüttelt, während Laura sie wunderbar gefunden hatte. »Der Lampion soll nicht aufgehängt werden, Lilomi!« hatte sie gebettelt. »Der Tag soll noch nicht zu Ende sein.«
Wie alt war sie da gewesen? Vielleicht vier oder fünf Jahre. Ungefähr zu der Zeit hatte sie wohl auch den Namen Lilomi, gebildet aus Lily und Omi erfunden.
Jeder Tag müsse irgendwann zu Ende sein, hatte Lilomi damals gesagt, weil er dann für die Menschen auf der anderen Seite der Erdkugel begänne. Und wie sie denn den neuen Tag erleben wolle, wenn sie sich nachts nicht anständig ausgeschlafen hätte.
Laura hatte gefunden, daß Schlaf etwas gänzlich Überflüssiges war. Zumal man Kinder zwang, den Tag auch noch durch einen Mittagsschlaf zu unterbrechen.
Wenn sie tot sei, hätte sie schließlich noch genug Zeit zum Schlafen – tief unter der Erde im Dunklen wie Urgroßmutter Anna auf dem Nienstedtener Friedhof.
Unwillkürlich zog Laura die Schultern hoch. Trotz des milden Sommerabends war ihr kalt. Vor wenigen Stunden hatten sie Lilomi neben Großvater Hermann und Anna beerdigt. An einer Lungenentzündung war sie gestorben, ganz plötzlich. So wie Urgroßmutter Anna. Der Pfarrer hatte von einem langen und erfüllten Leben gesprochen. Aus seiner Sicht hatte er recht. Lilomi war fünfundneunzig Jahre alt geworden. Noch ein wenig älter als Urgroßmutter Anna. Aber hatte sie der kleinen Laura nicht versprochen, mindestens hundert Jahre alt zu werden?
Laura dachte an den Anruf ihrer Mutter Helen vor einer Woche. Lilomi ging es plötzlich sehr schlecht, hatte Helen gesagt. Man müsse mit dem Schlimmsten rechnen. Sie war völlig außer sich gewesen und hatte Laura beschworen, sofort nach Hamburg zu kommen.
Sie hatte sich gleich auf den Weg gemacht. Ihre Tochter Clarissa war ohnehin gerade in einem Feriencamp, und den kleinen Antiquitätenladen hatte sie kurzerhand geschlossen. Einen Moment lang hatte sie überlegt, ob sie Henry anrufen sollte, dann entschied sie sich dagegen. Sie hatten sich vor wenigen Wochen getrennt. Vielmehr – sie hatte sich von ihm getrennt. Wozu sollte sie ihn anrufen. Er würde sie nicht vermissen. Niemand würde sie in München vermissen. Aber Lilomi würde vielleicht ganz schnell gesund werden, wenn nicht nur ihre Tochter, sondern auch die Enkelin am Krankenbett säße.
Noch am Abend desselben Tages war sie in den Nachtzug gestiegen – aber sie war zu spät gekommen.
Lilomi war in dem Augenblick gestorben, als der Zug an der Alster entlanggefahren war und Laura an ihre Kinderausflüge mit der Großmutter in die Stadt und an die obligatorische Dampferfahrt gedacht hatte.
»Lilomi hat gewußt, daß du kommst«, hatte Helen Laura getröstet, »und ist mit einem Lächeln eingeschlafen.«
Laura stieg die kleine Steintreppe hinunter, die von der Terrasse in den Garten führte. Ob Helen Lilomi auch erzählt hatte, daß Onkel Dirk nicht kommen würde, weil er auf seiner Weltreise nirgendwo zu erreichen war? So wie sie selbst vor zehn Jahren, als ihr Vater gestorben war, und seine zweite Frau behauptet hatte, sie habe Laura nicht verständigen können. Dabei war sie doch nur in Italien gewesen und nicht etwa auf einer Weltreise.
Und ob Helen Lilomi erzählt hatte, daß sie und Dirk fest entschlossen waren, das Haus nach ihrem Tod zu verkaufen und sich irgendwo im Süden niederzulassen? Vermutlich nicht.
Lilomi hatte dieses Haus, das sie von ihrer älteren Schwester geerbt hatte, heiß geliebt. Ihr halbes Leben hatte sie hier verbracht, und die letzten fünfundzwanzig Jahre nach Großvater Hermanns Tod ganz allein. Durch kein Argument war sie dazu zu bewegen gewesen, das Haus am Blankeneser Mühlenberg zu verlassen.
»Wir haben seinerzeit unsere Häuser in Mecklenburg verloren«, hatte Lilomi trotzig gesagt, darum werde sie dieses hier nicht aufgeben. Helen nannte solche Bemerkungen »Lilomis Mecklenburger Elegien«. Sie war davon überzeugt, daß Lilomi sich nur nicht von ihrem Mobiliar trennen wollte, das sie ein Leben lang zusammengetragen hatte, der Sammlung von Biedermeiermöbeln, die Großvater Hermann, der keinen Sinn dafür besessen hatte, nur das Omatorium zu nennen pflegte. Laura hingegen hatte die Großmutter verstanden, schließlich war es Lilomi gewesen, die in ihr die Liebe zu Antiquitäten geweckt hatte. Schon der fünfjährigen Laura hatte sie den Unterschied zwischen reinem Biedermeier und dem später folgenden, von ihr verächtlich als Nudelmeier bezeichneten Stil zu erklären versucht.
Laura strich über die Blätter der Trauerweide, unter deren bis auf den Boden reichenden Zweigen sie sich als Kind so gern versteckt hatte, um den drohenden Mittagsschlaf hinauszuzögern, und betrachtete das Haus, das Lilomis Schwager, ein bekannter Architekt, um die Jahrhundertwende als Hochzeitsgeschenk für seine Frau gebaut hatte. Es war renovierungsbedürftig, aber die Strahlen der untergehenden Sonne tauchten es in ein mildes Licht, das seine Kratzer und Blessuren verwischte. Und die ihm verbliebenen Stuckaturen, die Gipsrosetten, das Terrassengeländer – eine Parade putziger Säulchen zwischen zwei Veranden – verliehen ihm Charme, zierten es, wie Broschen und Halskette einem verschlissenen Kleid Glanz verleihen.
Langsam ging Laura zur Terrasse zurück und ließ sich auf einem der verwitterten Korbstühle nieder. Bis vor kurzem hatte hier die Trauergesellschaft gesessen, darunter auch der Nachbar General Wulfert von Wunningen, seit Jugendzeiten ein Verehrer von Helen, der ihre Mutter vergeblich zu überreden versucht hatte, das Haus nicht zu verkaufen. Vermutlich war allein der Gedanke an seine ständige Präsenz Grund genug für Helen, daß sie hier nicht leben mochte. Sie hatte Wulfert niemals leiden können. Zum Leidwesen von Lilomi, die ihre Tochter gern mit dem General verheiratet gesehen hätte. Laut Helen hatte sie Lauras Vater Robert stets als »diesen hergelaufenen Juristen Kron« bezeichnet. Wie empört war Lilomi gewesen, als der »hergelaufene Jurist« ihre behütete Tochter geschwängert hatte und wie vollständig war dann später die Wandlung gewesen.
Vielleicht deshalb, weil Laura äußerlich ihrer Urgroßmutter Anna ähnelte. Sie besaß die gleichen roten Locken und grünen Augen, geriet aber, wie Lilomi oft betonte, in ihrer Phantasie, im Erfinden von Streichen, ihrer Wildheit ganz nach Annas Vater, dem Ururgroßvater Kröger. Dem »tollen Mecklenburger Gutsherrn Kröger«, von dem die Leute im Dorf Wredenhagen immer noch sprachen, obwohl er doch vor hundertdreißig Jahren gestorben war. Laura hatte es genossen, den Geschichten zu lauschen, die Lilomi über ihn erzählte. Seine Angewohnheit, mit dem Pferd durch die geöffnete Verandatür über den Teetisch der anwesenden, versammelten Damen zu springen, hatte ihr besonders gut gefallen. Glühend hatte sie damals ihre Urgroßmutter Anna darum beneidet, daß sie auf einem Gutshof aufwachsen durfte. Allerdings fragte sie sich, wie Anna und ihre Schwester Luise es geschafft hatten, in ihren langen weißen Kleidern zu spielen.
Laura dachte daran, wie sie immer wieder zusammen mit Lilomi die vergilbten Fotos betrachtet hatte, auf denen der Gutshof und ihre Vorfahren zu sehen waren.
Spontan stand sie auf, und ging in den Salon. Auf Lilomis Sekretär standen die Fotos in Silberrahmen. Die früher so glänzenden Rahmen waren seit geraumer Zeit nicht mehr geputzt worden, und das angelaufene Silber paßte zu den vergilbten Fotografien.
Laura nahm das Bild in die Hand, das 1865 an Annas zehntem Geburtstag gemacht worden war. Ururgroßvater Kröger war eine wahrlich imposante Gestalt in Junkersuniform, neben dem seine zierliche Frau Friederike in ihrem schwarzen Kleid und dem Häubchen bläßlich und ein wenig verhärmt wirkte. Außerdem sah sie streng aus. Auch Urgroßmutter Anna und ihre Schwester Luise blickten auf dem Foto sehr ernst drein.
Laura hatte sich als Kind darüber gewundert, warum Anna an ihrem Geburtstag nicht fröhlich in die Kamera lachte, und gefragt, ob sie etwa enttäuscht über ihre Geschenke gewesen sei.
Lilomi aber hatte erklärt, daß es damals eine unsäglich lange Prozedur gewesen sei, bis ein Fotograf endlich ein Bild geschossen hatte. Damals – das war hundertdreißig Jahre her.
Auf ihrem Hochzeitsfoto sah Anna zwar bildschön, aber nicht minder ernst aus. Nur auf dem Bild mit der ungefähr zehn Jahre alten Lilomi im Arm lächelte sie strahlend und liebevoll. 1910 mußte dieses Foto aufgenommen worden sein.
Anna war um diese Zeit schon über fünfzig gewesen und immer noch eine schöne Frau mit einem beinahe faltenlosen Gesicht. Beeindruckend war jedoch nicht nur ihre Schönheit und das jugendliche Aussehen. Es war der gütige Ausdruck ihres Gesichts, das den Betrachter gefangennahm, und der sich auf einem Porträt der fast 90jährigen Anna noch vertieft hatte.
Laura betrachtete sich in dem kleinen venezianischen Spiegel, der neben dem Sekretär an der Wand hing. Sie sah der Urgroßmutter ähnlich. Ohne Zweifel. Allerdings fand sie sich bei weitem nicht so schön wie Anna und hatte überdies großen Zweifel, ob sie jemals deren gütigen Gesichtsausdruck haben würde.
Zerstreut betrachtete Laura die Fotos der anderen Familienmitglieder. Ihre Mutter und Onkel Dirk als Schulkinder und sie selbst als kleines Mädchen. Dahinter, halb versteckt, die junge Lilomi am Arm eines ihr gänzlich unbekannten jungen Mannes.
Wer das wohl war? Laura hatte dieses Foto noch niemals zuvor gesehen.
Gedankenverloren kehrte sie auf die Terrasse zurück und entdeckte den General, der vom Nachbargrundstück langsam auf sie zukam.
Hatte er etwas vergessen, oder wollte er Helen erneut dazu bewegen, das Haus nicht zu verkaufen?
Tatsächlich fragte er nach Helen.
»Meine Mutter hat sich etwas hingelegt, Herr von Wunningen«, erwiderte Laura und betrachtete die lange hagere Gestalt mit dem zerfurchten Gesicht, aus dem die Nase wie ein Felsvorsprung herausragte.
»Dann richten Sie ihr doch bitte aus, liebe Laura, daß ich daran interessiert bin, das Haus zu erwerben«, sagte der General, verbeugte sich leicht und fügte hinzu: »Das wäre sicher im Sinne Ihrer Großmutter, Laura.«
Dann ging er zurück. Doch auf nicht direktem Wege, wie Laura feststellte. Er ging zur Trauerweide und verharrte dort einen Augenblick lang, bevor er in Richtung seines Hauses verschwand.
Wieso wollte der General das Haus kaufen? Reichte ihm denn sein eigenes nicht aus? Wieso sollte der Kauf in Lilomis Sinne sein, und was hatte er bei der Trauerweide zu suchen?
Ihr fiel ein, daß es Lilomi niemals recht gewesen war, wenn sie sich als Kind unter der Trauerweide versteckt hatte. Deshalb hatte Laura schließlich die Brauttruhe von Ururgroßmutter Friederike, die auf dem Dachboden stand, zu ihrem Lieblingsversteck erwählt.
Die Truhe gehörte nun ihr. Mitsamt all den Fotoalben, Schriftstücken, Briefen und Familiendokumenten, die Lilomi darin verstaut und Laura vor einigen Jahren schon mit der Bemerkung: »Du hast soviel Familiensinn, Kind!« vermacht hatte.
Laura fragte sich, ob sie etwas Neues in den Schriften entdecken würde. Vielleicht eine Geschichte über die Trauerweide, um die sich womöglich ein Geheimnis rankte? Lilomi hatte so viele Familiengeschichten erzählt, aber bei bestimmten Fragen war sie stets ausgewichen und hatte vom Thema abgelenkt. Später kam es Laura so vor, als gäbe es gewisse Geheimnisse, über die nicht gesprochen werden durfte, und Personen, die ungern erwähnt wurden. Zu diesen Menschen zählten Lilomis Bruder Otto und ihr Neffe Walter. Sie waren offenbar Störenfriede in Lilomis idyllisch gemaltem Familienbild, in welchem der Ururgroßvater Kröger den Tausendsassa abgegeben hatte und seine Frau Friederike eine von Vorahnungen beseelte »Spökenkiekerin« war. Urgroßmutter Anna und Vadding, wie Lilomi ihren Vater liebevoll genannt hatte, beschrieb sie als gütige Eltern und ein glückliches Paar.
Über ihre eigene Ehe hatte Lilomi mit Laura niemals gesprochen. Erst als Erwachsene hatte Laura sich die Frage gestellt, wie Lilomi es wohl mit Großvater Hermann, diesem eigenbrötlerischen und verschlossenen Menschen ausgehalten hatte. Sie hatten eigentlich niemals etwas gemein gehabt.
Laura betrachtete die Korbmöbel auf der Terrasse und erinnerte sich an einen Streit zwischen den Großeltern, als Lilomi ihm stolz die Hinterlassenschaft einer Reedersfamilie präsentiert hatte, die sie erstanden hatte. Unpraktisch sei das! hatte der Großvater gewettert. So wie das ganze alte Möbelzeug im Haus.
Und er habe keinen Geschmack, hatte Lilomi giftig erwidert. Er sei einfach ein Banause.
»Wir werden uns ab morgen an die Auflösung des Haushaltes machen müssen, Laura«, unterbrach Helen, die plötzlich auf der Terrasse stand, die Gedanken ihrer Tochter.
Helens Stimme klang müde. Der Tod ihrer Mutter hatte sie sehr mitgenommen. Sie ließ sich in einen Korbsessel fallen und strich gedankenverloren über die Lehne.
»Ich hoffe, daß du dir noch eine Woche Zeit nehmen kannst, Laura. Ich bin über siebzig. Allein schaffe ich das nicht. Deine kleine Clarissa ist ja noch in den Ferien und dein Laden ...«
Helen unterbrach sich und sah durch die geöffnete Terrassentür in den Salon. »Für deinen Laden«, fuhr sie fort, »wirst du einige schöne Stücke bekommen.«
Laura zuckte zusammen. Wie merkwürdig, daß sie, obwohl sie doch mit Antiquitäten handelte, niemals daran gedacht hatte, eines Tages Lilomis Möbelstücke zu verkaufen. Sie senkte den Kopf und fühlte, wie ihr die Tränen in die Augen schossen. Lilomi war nicht mehr da. Und ihre Welt wurde aufgelöst. Zerrupft wie ein Salatkopf. Nur weil ihre Kinder das Haus verkaufen wollten.
»Der General war eben hier«, sagte Laura. »Er möchte das Haus kaufen. Er meint, das sei in Lilomis Sinne.«
»Wulfert?« Helen tippte sich an die Stirn. »Sicher nur eine sentimentale Anwandlung von ihm. Was will denn der alte alleinstehende Mann mit zwei Häusern? Im Alter sollte man sich von Dingen trennen, statt sie noch zu vermehren.«
Helen schwieg einen Augenblick lang.
»Ich möchte nur wenige Dinge aus diesem Haushalt«, fuhr sie fort und strich mit dem Finger über die Porzellanplatte auf dem Tisch, auf der zuvor Lachsbrötchen für die Gäste serviert worden waren.
»Dieses Geschirr hier zum Beispiel. Es ist jetzt fast hundert Jahre alt. Anna hatte sich sofort in die Bemalung mit den Veilchen verliebt und monatelang gespart, um es kaufen zu können. So jedenfalls hat sie es mir erzählt.«
»Es ist wirklich sehr hübsch«, pflichtete Laura bei.
»Dirk will es bestimmt nicht haben«, fuhr Helen fort. »Antiquitäten interessieren ihn überhaupt nicht.«
»Ich weiß«, erwiderte Laura. »Das hat er vom Großvater. Der konnte mit Lilomis Welt auch nie etwas anfangen.«
»Lilomis Welt!« wiederholte Helen langsam und in Gedanken versunken.
»Lilomis Welt. Sie hat sie sich so zurechtgerückt, wie sie sie haben wollte. So wie ihre Möbel.«
»Was meinst du damit – ihre Ehe, oder die Familiengeschichte?« fragte Laura. »Darüber habe ich vorhin nämlich nachgedacht.«
Helen nickte. »Ich nehme an, daß nichts, was du an Dokumenten in der Brauttruhe finden wirst, das heile Familienbild beschädigen wird. Verräterische Liebesbriefe etwa hat Lilomi sicher sorgfältig aussortiert und verbrannt.«
»Liebesbriefe?«
»Damit meine ich nicht die Brautbriefe von ihrem Vadding an Anna«, sagte Helen. »Die kann man jeder Schulklasse vorlesen. »Ich meine die anderen ...«
»Vielleicht von dem jungen Mann, dessen Foto ich vorhin auf dem Sekretär entdeckt und nie zuvor gesehen habe?« fragte Laura. »Wer war das?«
»Das war ...«
Helen unterbrach sich und schwieg.
»Später«, sagte sie dann. »Es gibt so viele Dinge, die ich dir nun erzählen kann, jetzt, wo Lilomi tot ist. Und es gibt etwas, das Anna mir vor ihrem Tod gegeben hat, weil sie wohl ahnte, daß ihre Tochter es vernichten würde.«
Helen stand auf und kam nach einer Weile mit einem Päckchen unter dem Arm zurück.
»Annas Tagebücher«, sagte sie und legte die schmalen Bände vor Laura auf den Tisch.
»Annas Tagebücher?«
Laura griff nach dem obersten, einem in feines Leder gebundenen Buch, und schlug es auf.
»Der Eintrag stammt aus dem Jahr 1874«, sagte sie ehrfürchtig.
»Anna hat als junge Ehefrau begonnen, Tagebuch zu schreiben«, erklärte Helen. »Sehr sporadisch, aber bis kurz vor ihrem Tod. Ich habe sie bis heute aufbewahrt. Jetzt gehören sie dir.«
Was mochte Anna wohl geschrieben haben?
Laura blätterte in den Seiten des ersten Buches herum.
Der Satz »Mama ist tot«, sprang ihr ins Auge. Ihre Töchter hätten ihr das Kochbuch mit ins Grab legen sollen, damit das Unglück, das es brächte, mit ihr begraben sei.
Wie merkwürdig. Lilomi hatte erzählt, daß Friederike eine großartige Köchin gewesen war. Warum sollte man ein Kochbuch mit ins Grab geben, in welchem doch sicher wunderbare Rezepte gestanden hatten?
Das hinge mit der Geschichte vom Glücksrezept zusammen, erklärte Helen Laura auf ihre Frage. Friederikes Leitfaden fürs Glück, der auf der ersten Seite des Buches gestanden und eines Tages herausgerissen worden war. Er war auf eine ebenso mysteriöse Weise verschwunden, wie ihre Pendule.
»Friederike muß, so hat es Anna erzählt, anschließend davon überzeugt gewesen sein, daß sie alle fortan nur noch vom Unglück verfolgt sein würden«, erzählte Helen.
Das verschwundene Glücksrezept! Lilomi hatte es einmal erwähnt. Das war damals gewesen, als sie auf einem ihrer Stadtausflüge mit Laura die Uhr, die nun seit gut fünfunddreißig Jahren auf der Kommode im Salon stand, im Schaufenster eines Antiquitätenhändlers entdeckt hatte.
»Schau, Laura, hatte sie gerufen, »die Pendule sieht genau so aus wie die, welche dein Ururgroßvater Kröger seiner Frau Friederike aus Franzensbad mitgebracht hat. Anna hat sie mir genau beschrieben. Sie wurde eines Tages gestohlen. Genauso wie ein Rezept aus Friederikes Kochbuch. Kein Mensch hat je herausgefunden, wer der Dieb oder die Diebin gewesen ist.«
Fasziniert hatte Laura die Uhr betrachtet. Ein viereckiges schwarzes Gehäuse mit floralen Goldverzierungen und einem ebenfalls vergoldeten Ziffernblatt hinter einem Glasdeckel. Sie erinnerte sich noch genau an das Bild der Großmutter, die ihre Nase an die Fensterscheibe gedrückt hatte und auf dieser mit einer ihrer behandschuhten Hände herumgetrommelt hatte, während sie mit der anderen unablässig ihren verrutschenden Hut zurechtrückte. Einen unvergeßlichen Eindruck hatte auch die nun folgende Szene bei ihr hinterlassen, als sie Lilomis Talent zum Handeln kennenlernte.
Aus dem Inneren des Ladens hatte sich eine kleine hagere männliche Gestalt genähert, die einen spitznasigen, bebrillten Kahlkopf von der anderen Seite gegen das Fenster preßte. Einen Augenblick lang hatten sich die beiden Nase an Nase durch die Scheibe hindurch angestarrt. Dann war die Gestalt verschwunden und im nächsten Augenblick im Türrahmen aufgetaucht, um sich nach eventuellen Wünschen der verehrten gnädigen Frau zu erkundigen. Dabei war sein Lächeln ebenso unterwürfig wie verschlagen gewesen. Lilomi aber legte eine herablassende Freundlichkeit an den Tag. Ungefähr eine halbe Stunde hatte der zähe Handel um den Preis der Uhr, die der Händler nicht unter achthundert Mark hatte verkaufen wollen, gedauert. Lilomi schien zwischendrin entschlossen, den Laden zu verlassen und schockierte den Händler schließlich mit der Aussage, daß diese Pendule die gestohlene Uhr ihrer Großmutter sei. Der Mann versicherte, daß er das Objekt erst jüngst aus dem Nachlaß einer Kapitänsfamilie aus Blankenese erworben habe, doch das beeindruckte Lilomi überhaupt nicht. Zum Schluß erstand sie die Uhr für dreihundert Mark.
»Kennst du die Geschichte, wie Lilomi die Pendule gekauft hat?« fragte Laura ihre Mutter.
»Ich erinnere mich daran«, erwiderte Helen. »Du selbst hast sie mir damals ganz stolz erzählt.«
Helen seufzte. »Lilomi hatte schon ein geniales Talent zum Handeln. Wie sonst hätte sie auch bei dem schmalen Beamtengehalt meines Vaters ihrer Sammelleidenschaft für Antiquitäten frönen können?«
Die Leidenschaft für Antiquitäten hat sie mir vererbt, dachte Laura, nur nicht ihre Fähigkeit zum Feilschen.
»Glaubst du, daß es tatsächlich die Uhr von Ururgroßmutter Friederike ist?« fuhr Laura fort.
Helen wiegte den Kopf.
»Ehrlich gesagt, nein. Solche Empire-Pendulen sind doch in großen Mengen hergestellt worden. Warum sollte ausgerechnet diese die gestohlene von Friederike sein?«
»Weil mir der Gedanke einfach gefällt«, erwiderte Laura. »Ich habe die Uhr immer geliebt. Als Kind schien es mir so, als ob sie mit ihrem silberhellen Gebimmel den Tagesablauf bestimmen würde.«
Beide schwiegen eine Weile.
»Es wird kühl«, sagte Helen schließlich. »Laß uns bei Aarhus am Strandweg etwas essen gehen. Vor zwei Monaten war ich dort noch mit Lilomi. An dem Tag hat sie zum ersten Mal über den Tod gesprochen und daß sie bald alle wiedersehen würde, die von ihr gegangen sind. Und plötzlich hat sie davon geträumt, noch einmal als die junge Lily von einst auf die Erde zurückzukehren, um mit dem Mann zu leben, den sie eigentlich geliebt hat.«
»Ist das der auf dem Foto? Klingt wie die Geschichte aus Jean Delannoys Film Das Spiel ist aus«, meinte Laura nachdenklich. »Dort konnte doch das Paar, das im Leben nicht zusammenkam, auf die Erde zurückkehren, aber sie haben ihre Chance vertan.«
Helen nickte und stand langsam auf.
»Ja, vertan«, murmelte sie. »Vertan, nicht wahrgenommen, entweder gar nicht erst bekommen, oder zu spät erkannt. Ich dachte schon manches Mal, daß ein Fluch über den Frauen unserer Familie liegt.«
»Hör auf!« protestierte Laura und ihr Herz krampfte sich bei dem Gedanken an Henry und ihre Trennung zusammen. »Jetzt redest du genauso wie die Ururgroßmutter, nachdem ihr Glücksrezept und die Uhr verschwunden waren. Das ist Spökenkiekerei.«
Laura nahm Annas Tagebücher und folgte ihrer Mutter ins Haus. Sie legte die Bücher neben die Pendule, deren Zeiger zwölf Uhr anzeigten. Die Uhr war stehengeblieben, weil sie, nachdem Lilomi ins Krankenhaus gekommen war, natürlich niemand mehr aufgezogen hatte.
Laura hatte ein schlechtes Gewissen. Sie selbst hatte in den letzten Tagen auch nicht daran gedacht. Ihr klangen die Worte der Großmutter im Ohr: »Man darf niemals vergessen, die Uhr aufzuziehen, Laura, sonst verliert der Tag seine Zeit.«
Blitzschnell fischte Laura den Schlüssel aus der Schale mit den getrockneten Blumen, die seit jeher neben der Uhr stand, und zog das Werk auf. Nachdem sie das Pendel in einen gleichmäßigen Schwung gebracht hatte, versuchte sie, den vergoldeten Zeiger zu drehen.
Es gelang ihr nicht. Der filigrane Pfeil ließ sich nicht um einen Millimeter bewegen.
»Die Uhr ist kaputt, Helen«, rief Laura aufgebracht. »Der Zeiger läßt sich nicht drehen.«
»Sicher war sie seit einer Ewigkeit nicht mehr beim Uhrmacher«, erwiderte Helen müde. »Du kannst sie ja in München richten lassen. Wozu willst du sie denn jetzt überhaupt aufziehen?«
»Weil Lilomi das so gewollt hätte«, erwiderte Laura unglücklich. »Weil der Tag seine Zeit verliert, wenn die Uhr stehenbleibt. Und dann auch noch um Mitternacht. Das hat nichts Gutes zu bedeuten.«
»Die Mitternacht zog näher schon, in stummer Ruh lag Babylon ... oder?« zitierte Helen ironisch und legte den Arm um Laura.
»Es kann genausogut zwölf Uhr mittags gewesen sein, Kind. Anna würde sagen, daß die Mecklenburger Spökenkiekerei nun doch von uns beiden Besitz ergriffen hat.«
Ein nettes Erbe! dachte Laura, tippte auf den störrischen Zeiger und schloß dann behutsam den gläsernen Deckel über dem Ziffernblatt. Sie drückte die Tagebücher ihrer Urgroßmutter fest an sich und starrte auf die Uhr.
»Spökenkiekerei hin oder her, Helen. Es hat etwas zu bedeuten, daß die Zeiger sich nicht mehr bewegen lassen. Als wolle die Uhr mir sagen, daß ich etwas über die Vergangenheit erfahren muß, was für die Zukunft wichtig ist. Für meine, für Clarissas, für unser aller Zukunft.«
FRIEDERIKEWredenhagen 1865
Friederike Kröger malte einen schwungvollen Schnörkel auf das letzte Menü-Kärtchen und legte die Feder aus der Hand. Eigentlich machte sie diese Arbeit nur zum Vergnügen, denn ihr Mann lobte die schön geschriebenen Karten nicht. Und Johanns besten Freund, Gutsnachbar Karl Jensen, der mehrmals in der Woche bei ihnen zu Gast war, interessierten sie auch nicht sonderlich. Waren sie nur zu dritt, so trug Friederike ihnen meist mündlich vor, was serviert wurde. Heute aber kam der Medizinalrat Kröpsch aus Röbel. Und der versicherte Friederike jedes Mal, welche Freude es ihm machen würde, allein den akkurat geschriebenen Menü-Plan zu lesen. Und zur Erinnerung an ein wieder einmal wunderbares Mahl, wie er stets betonte, nahm er anschließend immer sein Kärtchen mit.
Die heutige Speisefolge würde den drei Männern besonders gefallen. Das Essen sollte mit einer Krebssuppe beginnen, gefolgt von Flußzander, Zunge in Burgunder, Rebhuhnbrust und Fasan. Zum Nachtisch würde es Käsebrötchen, Gefrorenes, Früchte und Baumkuchen geben. Der Medizinalrat sagte immer, daß er für Letzeren auch zu Fuß käme, und er den Erzherzog in Schwerin gut verstünde.
Friederike lächelte bei dem Gedanken an den Erzherzog. Jedes Jahr wiederholte sich der gleiche Vorgang. Auf dem Wohltätigkeitsball des Erzherzogs stand inmitten anderer Spenden der knapp einen halben Meter hohe Baumkuchen. Und niemals bekam einer der Gäste die Chance, ein Stück von ihm zu erwerben. Der Erzherzog beanspruchte ihn ganz für sich allein. Nur einmal im Jahr hätte er schließlich die Gelegenheit, den besten Baumkuchen von ganz Mecklenburg verzehren zu können, behauptete er. Und obwohl Friederike ihm auf sein Drängen hin das Rezept dafür aufgeschrieben hatte – sechzig Eier wurden darin verarbeitet –, schien es seinen Köchen nicht zu gelingen, ihn auf Friederikes Art zuzubereiten.
Friederikes Herz hing an dem Kochbuch, das ihr die verstorbene Mutter mit in die Ehe gegeben und in das sie selber nun auf der ersten Seite ein Rezept hineingeschrieben hatte. Das ist ein besonderes Rezept! hatte sie betont. Eines, das die Seele nährt und nicht den Leib. Deine Seele wird daraus Kraft gewinnen, um für Leib und Seele anderer Menschen zu sorgen.
Friederike lächelte dem Bild ihrer Mutter zu, das über ihrem Schreibtisch hing. Dem Glücksrezept, aus dem sie ihrem Küchenpersonal manchmal ein paar Zeilen vorlas, um dessen Eifer anzuregen, war ein Beutelchen beigefügt gewesen, das sie sorgsam in ihrem Nähtischchen verwahrte. Es enthielt eine Mischung aus ihr unbekannten Blumensamen und Kräutern, über deren Herkunft und Zusammenstellung ihr die Mutter nichts verraten hatte. Das müsse ein Geheimnis bleiben, hatte sie, die von Kräutern und deren Heilkräften viel verstand, zu ihrer Tochter gesagt und ihr geraten, in Stunden des Kummers oder großen Ärgers ein paar Krümelchen davon im Mund zergehen zu lassen. Wenn sie sparsam damit umginge, würde es für ihr Leben reichen.
Friederike ging sehr sparsam damit um, denn außer, daß sie sich häufig über Johann und seine derben Scherze aufregte, verlief ihr Leben in einem gleichförmigen, weder von besonders glücklichen noch unglücklichen Stunden unterbrochenen Rhythmus.
Manchmal überkam sie ein vages Gefühl von Sehnsucht nach etwas, das sie nicht genau definieren konnte. Vielleicht fühlte sie sich einsam, dachte sie, wenn sie abends mit ihrer Stickerei allein im Salon saß. Ihr Mann verbrachte die Abende immer seltener mit ihr, zog die Gesellschaft seines Freundes Jensen vor. Zu Beginn ihrer Ehe war es anders gewesen. Wie oft war er da abends mit ihr spazierengegangen, hatte sie zu Ausritten mitgenommen. Auch, so schien es ihr rückblickend, war er nachts rücksichtsvoller zu ihr gewesen. Jetzt kam er nur noch selten zu ihr und war dann meistens betrunken.
Die Mutter hatte sie zwar über ihre ehelichen Pflichten dergestalt aufgeklärt, als daß sie dem Mann nachts zu Willen sein müsse, denn es diene seinem Vergnügen und nur dadurch kämen auch die Kinder. Sie hatte aber nicht gesagt, daß der Mann dies auch in betrunkenem Zustand tun dürfte, und einem dabei Schmerzen und Grobheiten zufügen würde, die man, ihrer Meinung nach, einer Ehefrau nicht antun sollte.
Am schlimmsten waren Johanns Überfälle, wenn er einige Tage und Nächte lang im Jagdhaus gezecht hatte. Das waren Augenblicke, in denen sie ihn verabscheute.
Sie hatte überlegt, daß die Mutter mit großem Kummer vielleicht die schlaflosen Stunden nach diesen schrecklichen Überfällen gemeint haben konnte, und in solchen Nächten manchmal ein paar Krümel vom Kräuter-Glücksgemisch genascht.
In der Tat hatte sie sich hinterher ganz leicht, fast berauscht gefühlt und war in dem Gefühl eingeschlafen, daß alles doch gar nicht so schlimm sei.
Seit sie diese Feststellung gemacht hatte, war sie zwar ständig in Versuchung, das Beutelchen zu öffnen, um ein wenig von dem Inhalt zu naschen. Aber dann hätten die Kräuter kaum für ein paar Jahre gereicht. Und eigentlich, so dachte sie manchmal schuldbewußt, müßte sie doch ihren Töchtern noch etwas davon mit in die Ehe geben. Warum nur hatte die Mutter ihr nicht viel mehr von dem Glückskraut, wie sie es insgeheim nannte, geschenkt?
Vermutlich, weil es alles war, was sie hatte, beschloß Friederike und schlug entschlossen das in schwarzes Leder eingebundene Buch auf.
1. Juli 1865. Mittags-Menue mit Medizinalrat Kröpsch, notierte sie. Friederike pflegte nämlich nicht nur Rezepte in das Kochbuch zu schreiben, sondern auch kleine Geschichten rund um die Mahlzeiten, über Gäste und Tagesereignisse. Diese Tagebuch-Notizen schrieb sie seit dem Tag, als sie das Buch in der Küche vergessen hatte, in Französisch. Die Vorstellung, daß das Personal ihre Notizen lesen könnte, hatte sie verschreckt.
Die Pendule auf der Kommode erinnerte sie mit zwölf hellen Schlägen daran, daß es Zeit wurde, in der Küche nach dem Rechten zu sehen. Friederike klappte das Kochbuch zu, legte es in die Schublade ihres Schreibsekretärs und erhob sich, um das Fenster zu schließen. Unter der mächtigen Buche inmitten des Gutshofes spielten ihre Töchter Anna und Luise unter der Aufsicht der französischen Gouvernante mit einem Ball. Einen Augenblick lang sah Friederike ihnen zu. Ein Gefühl von Stolz überkam sie beim Anblick der hübschen und wohlgeratenen Mädchen in ihren weißen Kleidern. Zart und zierlich waren sie. Spillerig, behauptete Johann manchmal. Aber so war es richtig. Mädchen aus guten Familien mußten dünn sein. Das hatte ihre Mutter gesagt, und sie hatte sich niemals sattessen dürfen. Das erzählte sie auch ihren Töchtern, wenn sie über Hunger klagten.
Vornehm zu sein hatte eben seinen Preis. Jedenfalls für Frauen. Bei Männern war es anders, bei ihnen kam es auf andere Dinge an. Einem Sohn müßte sie nicht jeden Löffel in den Mund zählen. Ein Sohn – wie sehr wünschte sie sich einen Jungen, und Johann natürlich erst recht. Beim nächsten Mal werde es sicher ein Junge, hatte er bei Annas Geburt vor zehn Jahren gesagt, und als Luise ein Jahr später auf die Welt kam, hatte er seine Enttäuschung kaum verbergen können. Aber seither war sie nicht mehr schwanger geworden, und nun war sie schon dreißig Jahre alt.
Mit einem Ruck schloß Friederike das Fenster.
Das war seine und nicht ihre Schuld. Vermutlich lag es einfach daran, daß betrunkene Männer keine Kinder zeugen konnten. Und erst recht keine Söhne.
Als der verwitwete Johann Kröger vor elf Jahren um die Hand der zwanzig Jahre jüngeren Friederike angehalten hatte, hatte sie zunächst Angst vor dem Zusammenleben mit einem Mann gehabt, über den man sich allerlei wilde Geschichten erzählte. Nichts sei ihm heilig, hieß es. Nicht einmal der Preußenprinz, in dessen Jagdgebiet er ständig wildere, wo er doch selber das große Gebiet der Wittstocker Heide gepachtet habe. Allerdings sei er hilfsbereit gegenüber den Ärmsten, hatten die Leute erzählt, und streng, aber gerecht zu seinen Knechten und Tagelöhnern, deren Kinder er sogar in die Schule gehen ließ.
Das hatte Friederike gefallen und sie meinte, daß dieser verwilderte Witwer in einer harmonischen Ehe ein ruhiger Mann würde. Außerdem hatte ihr sein Aussehen imponiert: Die hochgewachsene Figur in der schneidigen Junkersuniform aus rotem Tuch mit goldenen Knöpfen und das gutgeschnittene Gesicht mit den spottlustigen Augen unter buschigen Brauen, die kühn gebogene Nase und der trotz des Bartes erkennbar volle Mund. Er habe etwas Besonderes, hatte ihre Mutter gesagt, und sie würde Herrin auf einem der prächtigsten Güter in Mecklenburg werden.
Nun, es mochte prächtigere geben. Aber so wie man Johann Kröger als außergewöhnlichen Mann bezeichnen konnte, mußte auch das Gut Wredenhagen, das er gepachtet hatte, als etwas Besonderes betrachtet werden.
Eine kilometerlange Eichenallee führte von Röbel aus kommend nach Wredenhagen, an deren Ende man hinter der Kirche in die Auffahrt zur oberhalb des Dorfes gelegenen Burg einbog, welche dem Mecklenburger Fürsten gehörte. Einst sei sie der Sitz der Fürsten von Werle gewesen, erklärte Johann seiner zukünftigen Frau bei ihrem ersten Besuch. Sie stamme aus dem 13. Jahrhundert und sei erst vor knapp hundert Jahren zum Gutshof umgerüstet worden. Friederike wunderte sich, woher in der flachen Landschaft der Burghügel kommen konnte. Vermutlich sei er aufgeschüttet worden, meinte Johann, denn wie hätte man sonst die Übersicht über etwaige Angreifer behalten sollen?
Die Hofeinfahrt befand sich zwischen dem ehemaligen Torhaus mit Kapelle und einem Wohnturm, der nach Errichtung des Herrenhauses im 16. Jahrhundert als Brau- und Backhaus gedient hatte.
Mit dem Brauen und Backen sei es nun vorbei, hatte Johann gesagt, und Friederike würde mit dem Gebäude nichts zu tun haben. Er habe das mehrgeschossige Haus zum Jagdhaus ernannt, was nichts anderes bedeutete, als daß er hier seine geselligen Herrenabende veranstalten würde.
Gesellige Herrenabende? Und dafür war ein ganzes Haus reserviert? Friederike wunderte sich, denn ihr Vater empfing seine Freunde in der Bibliothek. Sie nahm sich vor, das hohe schmale Haus dennoch in Augenschein zu nehmen, obwohl sie es als nicht sehr einladend empfand. Umso freundlicher sah dagegen das Herrenhaus mit seiner großzügig geschwungenen Freitreppe aus. Einen Augenblick lang bedauerte sie zwar, daß sie hier nicht mehr, wie sie es von ihrem Elternhaus gewohnt war, vom Haus aus direkt in einen Park würde gehen können. Allerdings stand in der Mitte des Hofes eine prächtige Buche und eine Anzahl schöner Eichenbäume. Nur längs der ehemals hohen, nun nur noch bis zur Brust reichenden Burgmauer reihten sich Wirtschaftsgebäude, Stallungen, Scheunen und die Katen der Tagelöhner.
So habe er immer alles im Blick, sagte Johann, und Friederike dachte, daß die Leute sie ebenfalls im Blick hätten. Sie war froh, als sie beim Gang durch das Haus feststellte, daß sich auf der hofabgewandten Seite eine Terrasse befand, von der aus man zwar in keinen Park, aber immerhin in einen kleinen Garten gelangte. Die schöne Aussicht auf das Dorf und die Umgebung wurde durch Bäume und hochgewachsene Sträucher verstellt. Dagegen war der Blick vom Burghof aus frei. Noch niemals, so dachte sie bei ihrem ersten Besuch, hatte sie die Natur so unendlich weit und prächtig in ihrem Farbenspiel empfunden wie hier. Bis zum Horizont schienen sich die leuchtend-gelben Kornfelder und sattgrünen Wiesen zu ziehen, dann und wann unterbrochen von dunklen Waldstücken oder dem lichtgrünen Unterholz der Heidelandschaft.
Nur ein paar Schritte von der Burg entfernt, lag ein kleiner See, der, wie Johann erklärte, nach den früher hier einmal ansässigen Mönchen Mönchsee hieß. Im Laufe der Jahre hatte Friederike den Platz an der Burgmauer, den sie ihren Aussichtsplatz nannte, so lieb gewonnen, daß sie oft dort stand und in die Landschaft blickte. Immer wenn sie ihr Leben als öde und ereignislos empfand, wünschte sie sich ein Vogel zu sein und so weit weg fliegen zu können wie das Auge reichte.
Luise hockte vor der angelehnten Tür einer Tagelöhnerkate und zitterte am ganzen Leib. Voller Angst spähte sie in alle Richtungen. Aber nichts rührte sich. Der Gutshof war menschenleer. Wer soll auch kommen? beruhigte sich Luise. Die Eltern saßen mit Gästen beim Mittagessen, das Gesinde war in der Küche und die Tagelöhner auf dem Feld. Schließlich waren sie noch nie erwischt worden.
»Anna, bitte beeil dich.«
»Ist die Luft rein?« flüsterte Anna von innen.
»Ja. Aber ich mache mir vor Angst bald in die Hosen. Hast du die Kartoffeln?«
»Ängstliche Nudel«, sagte Anna, aber ihre Stimme zitterte ein wenig. Sie hielt der Schwester ihr Körbchen vor die Nase.
»Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs«, zählte Luise andächtig und leckte sich die Lippen angesichts der fürs Abendessen der Tagelöhner gekochten Kartoffeln.
Anna schloß die Tür hinter sich, und die Mädchen hasteten gebückt an Katen und Ställen vorbei, bis sie die kleine Eisenpforte am äußersten Ende der Burgmauer erreicht hatten. Auf der anderen Seite führte ein schmaler Weg den Wall hinunter und endete direkt am Kornfeld. Ihre Mutter sagte immer, daß es sie vor der Ernte an einen goldenen Teppich erinnerte. Später sähe es eher wie der Stoppelkopp von Stallmeister Heinrich aus.
Teppich hin, Stoppelkopp her – bis zur Ernte diente das Kornfeld den Kindern als wundervolles Versteck, wenn sie ihre gestohlenen Kartoffeln, an Glückstagen auch mit einem Stück Fleisch, verzehrten.
»Warum müssen wir immer weiße Kleider tragen«, seufzte Anna, als sie sich den Weg durch die Ähren bahnten.
»Und diese dummen Handschuhe«, ergänzte Luise, während sie die langen weißen Spitzenhandschuhe herunterstreifte. »Bloß damit nirgendwo Sonne hinkommt.«
»Das ist eben vornehm«, sagte Anna und drückte der Schwester das Körbchen in die Hand, um sich ihre Handschuhe ebenfalls ausziehen zu können.
»Ich kann dieses Vornehmsein nicht leiden«, maulte Luise. »Und das Schlimmste daran ist der Hunger.«
Sie verschlangen die Erdäpfel mitsamt der Schale und schmatzten dabei nach Herzenslust.
»Iß nicht so gierig, Luise«, mümmelte Anna mit vollem Mund. »Sonst wird dir schlecht.«
Luise schluckte den letzten Bissen hinunter.
»Mir ist schon schlecht«, sagte sie kläglich. »Das ist jetzt die Strafe dafür, daß wir den Tagelöhnern ihr Abendessen gestohlen haben.«
»Das sagst du jedes Mal«, erwiderte Anna. »Ich hab’ auch ein schlechtes Gewissen, aber willst du lieber mit knurrendem Magen herumlaufen und dir dabei vorstellen, was unsere Eltern gerade auf ihren Tellern haben?«
»Fasan«, murmelte Luise, »Baumkuchen, Früchte, Gefrorenes ...«
»Wir müssen eben warten, bis wir groß sind, um uns ebenfalls sattessen zu dürfen«, seufzte Anna. »Bis wir heiraten. Und bis dahin mußt du dir auch das Schmatzen abgewöhnen.«
»Du redest schon wie Mademoiselle, Anna. Schmatzen macht doch Spaß«, verteidigte sich Luise. »Außerdem können wir das doch ohnehin nur heimlich machen, und du hast vorhin auch geschmatzt.«
»Ach ja«, seufzte Anna. »Es macht einfach Spaß. Vor allem, wenn ich mir dabei Mamas Gesicht vorstelle. Und wie Mademoiselle rede ich überhaupt nicht. Es sei denn, zum Vergnügen.«
Sie rümpfte die kleine Nase, zupfte am Rand ihres Hutes, wippte mit den Fußspitzen und äffte die französische Gouvernante nach: »Ühr müüüßt, mes enfants, mehr leernään. Ühr müüüßt bei Tisch gerade sützeen. Ihr seid Burgfräuleiiin. Noblesse oblige.«
Luise bog sich vor Lachen. »Genau wie Mademoiselle«, quietschte sie.
»Mademoiselle wird uns die Ohren langziehen, wenn sie Kornhalme in unseren Kleidern findet«, meinte Anna plötzlich und zupfte sich eine Ähre aus den langen, roten Locken.
»Früher gab es hier bestimmt Ritterturniere«, fuhr sie fort. Und ein russischer Kaiser, der glaub’ ich, großer Peter hieß, hat hier auch mal gewohnt. Hat Papa gesagt, und der muß es wissen. Er weiß schließlich alles.«
»Ja, er weiß alles«, echote Luise ehrfürchtig.
»Meinst du, daß er deshalb immer den Prinzen ärgert? Weil der viel dümmer ist als er?«
Erst vor wenigen Tagen hatte Friederike ihrem Mann ein fürchterliches Unheil ausgemalt, das über sie alle käme, würde er seinen ewigen Streit mit dem Prinzen nicht beilegen. Sein eigenes Jagdgebiet sei doch nun wirklich groß genug. Warum er dauernd in dem vom Preußenprinzen wildern müsse?
Weil der Kerl schlecht über ihn rede, hatte Johann wütend erwidert. Und ob seine eigene Frau ihm vielleicht in den Rücken fallen wolle und Sympathie für den Feind hege? Nicht umsonst würde man diesen Verräter seines Standes den roten Prinzen nennen. Er sei eine französisch verseuchte Rotmütze, ein Salonrevolutionär! Nein, zwischen ihnen herrsche Krieg und dabei bliebe es!
Anna und Luise, die in der Halle auf Mademoiselle warteten, hatten das Gespräch, das bei angelehnter Tür geführt wurde, mitangehört. Seither beunruhigte Anna der Gedanke, es könne einen Krieg geben, bei dem der Prinz, weil er im Gegensatz zu ihrem Vater sicher Soldaten hatte, gewinnen würde. Luise hingegen war davon überzeugt, daß niemand gegen den Vater gewinnen könnte.
»Ich weiß nicht, ob der Prinz dumm ist«, meinte Anna. »Daß sie Streit haben ist dumm. Und wenn es Krieg gibt ...« Anna hielt mitten im Satz inne.
»Ich hab’s«, rief sie aus. »Wir beschwören die Maus.«
Die Maus war ein Muttermal auf Luises rechtem Arm, das in seiner Form an eine Maus erinnerte. Zumal darauf, sehr zu Luises Kummer, auch noch lange dünne Haare wuchsen.
Daß es sich bei dem Mal nur um eine Maus handeln könne, war seit Luises Geburt klar. Denn Friederike hatte sich während der Schwangerschaft einmal über eine ihr aus dem Wäscheschrank entgegenspringende Maus fast zu Tode erschrocken.
»Das Tier verunziert nun lebenslang den Arm meiner Tochter«, hatte sie nach Luises Geburt geklagt. »Und es wird ihr Unglück bringen!«
»Spökenkiekerei! hatte Johann Kröger geantwortet. Es sei doch etwas Besonderes, so ein Mal auf dem Arm zu haben.«
Friederike war außer sich gewesen. »Vielleicht so besonders wie die Daumen des alten Brömmers?« hatte sie giftig erwidert.
Der Kutscher besaß breite, wie flachgeklopfte Daumen und hatte Friederike während ihrer Schwangerschaft mit Anna durch abrupte Ansprache hinter ihrem Rücken erschreckt. Es klang wie ein Gruselmärchen, fanden die Kinder, wenn Friederike ihnen immer wieder beschrieb, wie ihr Blick damals auf seine breiten, häßlichen Daumen gefallen sei, die über dem Rand seines Hutes lagen, den er unablässig in den Händen drehte. Zur Salzsäule sei sie damals erstarrt. Wie seinerzeit Loths Weib.
So war sie nicht verwundert gewesen, als ihre Tochter Anna mit einem breiten Daumen auf die Welt kam. Sie tröstete sich aber damit, daß ihre Tochter wenigstens nur mit einem, und nicht zwei mißratenen Kutscher-Daumen geschlagen war. Schon früh hatte sie Anna dazu angehalten, den Daumen unter ihre Hand zu schieben, um ihn somit unsichtbar zu machen.
Anna war sehr unglücklich darüber, daß ihre Mißbildung keine magische Ausstrahlung besaß, wie das Mal ihrer Schwester, sondern einfach nur häßlich war, und sie haßte es, mit eingezogenem Daumen herumlaufen zu müssen.
»Dafür hast du grüne Augen und rote Haare«, sagte Luise immer. »Und das haben nur Hexen. Nur wenn du die Maus beschwörst, geht der Wunsch in Erfüllung. Ich allein könnte gar nichts ausrichten.«
Anna befühlte das Mal.
»Ich werde ein Zöpfchen flechten«, meinte sie. »Dann wirkt es noch besser.«
Luise schauderte wie immer, wenn es um eine Beschwörung ging, und die Haare auf dem Muttermal stellten sich kerzengerade auf. Anna flocht und murmelte dabei mit Grabesstimme: »Maus, oh Maus! Laß Papa und den Prinzen Freunde werden!«
Anna wiederholte die Beschwörung dreimal und malte zum Abschluß mit der »schönen« Hand ein Herz in die Luft.
»So«, stellte sie zufrieden fest. »Das muß einfach wirken.«
Luise streifte ihre Handschuhe über und hob das Körbchen auf. »Wir sollten jetzt wieder nach oben gehen, Anna. Wenn Mademoiselle merkt, daß wir so lange weg sind, müssen wir zur Strafe wieder Schönschreiben üben. Dazu hab’ ich keine Lust.«
»Ich auch nicht. Aber sie merkt es nicht. Sie liest doch nach dem Mittagsschlaf immer Liebesromane. Sie tut mir eigentlich sehr leid. Sicher möchte sie gern heiraten. Und niemand hat sie gewollt. Und jetzt ist sie schon fünfundzwanzig. Da ist alles vorbei.«
»Meinst du wirklich, Anna? Was ist, wenn uns niemand heiraten will? Werden wir dann auch Mademoiselles?«
»Vielleicht«, überlegte Anna. »Aber es wird nicht passieren. Das würde Papa niemals zulassen.« Entschlossen rückte Anna ihren Strohhut zurecht und wandte sich mit hocherhobenem Kopf zum Gehen.
»Bück dich, Anna«, flüsterte Luise. »Da kommt jemand.«
Anna ging blitzartig in die Hocke, und die Kinder spähten vorsichtig durch die Halme.
»Das ist Onkel Jensen«, flüsterte Anna, »und Margarete. Was machen die denn hier?«
Karl Jensen war ein stattlicher Mann, der, seit er die Frau im Kindbett und den ersehnten Erben nur wenige Tage später verloren hatte, ein, wie Friederike es nannte, unstetes Leben führte.
Es konnte einem Mann nicht guttun, davon war sie überzeugt, wenn er ohne die Geborgenheit einer Familie lebte. Immer wieder beschwor sie ihren Mann, daß er ihm, als sein bester Freund, zureden müsse, sich wieder zu verheiraten. So wie er selbst es ja schließlich auch getan habe.
Johann Kröger aber war es gerade recht so, wie es war. Er dachte nicht daran, seinem Freund eine Ehe einzureden. Am Ende säße der dann lieber zu Hause, statt mit ihm auf die Jagd zu gehen, die Nächte beim Spiel im Jagdhaus zu verbringen und ihn zu seinen sogenannten Geschäftsreisen nach Berlin zu begleiten, deren Aktivitäten im Wesentlichen in ausgiebigen Besuchen von Bordellen bestanden. O nein, sein Kumpan sollte möglichst noch lange Zeit ledig bleiben. Wenn Friederike mit dem Thema anfing, bestand sein Kommentar aus nicht viel mehr denn: »Hm, hm.« Und abschließend pflegte er zu bemerken, daß sein Freund ja schließlich eine Familie habe, nämlich die ihrige.
»Onkel Jensen soll wieder heiraten, hat Mama mal zu Papa gesagt«, flüsterte Anna Luise zu. »Aber er kann Margarete nicht heiraten. Sie ist unser Dienstmädchen.«
»Vielleicht doch«, wisperte Luise.
»Das kann nicht gehen. Das wäre eine Mesalliance.«
»Eine was?«
»So heißt ein Buch von Mademoiselle. Ich habe sie gefragt, was das ist. Und sie sagte, eine Mesalliance nennt man es, wenn Leute, die gar nicht zusammenpassen, trotzdem heiraten.«
Karl Jensen und Margarete blieben nun unmittelbar vor den Mädchen stehen und Anna meinte, man müsse das Klopfen ihres Herzens durch die Halme hören.
»Margarete, Geliebte, hast du mich denn nicht ein bißchen gern?« vernahm sie Onkel Jensens flehende Stimme.
»Oh, doch. Gewiß. Aber was Sie von mir wollen, das ... das gehört sich nur für Eheleute.«
Was wollte er wohl von ihr? Anna vergaß ihr ängstlich klopfendes Herz. Sie wurde Zeugin einer offensichtlich höchst unziemlichen und somit aufregenden Geschichte. Einer Mesalliance eben.
Jetzt preßte Onkel Jensen das Mädchen an sich. Wie ungehörig. Und nun versuchte er gar, sie zu küssen. Das war es! Das durften nur Eheleute tun. Warum ließ sie es sich gefallen? Nein, sie tat es nicht. Sie stieß ihn von sich.
»Meine Süße«, keuchte Karl Jensen. »Das darfst du nicht. Vor Gott bist du meine Frau, ich schwöre es.«
»Dann schwört es auch in der Kirche«, gab sie zur Antwort.
»Ich werde es, ich versprech’s, ich werde es«, stammelte Jensen und war nun hochrot im Gesicht. »Laßt mir Zeit, ich werde einen Weg finden.«
»Werdet Ihr? Dann ist es gut. Aber solange laßt mich in Ruh, Herr. Es ist, wie ich’s gesagt hab’.«
Sie riß sich los und eilte den Weg hinauf zur Burg, während Jensen fluchte: »Na warte, dich krieg’ ich schon, du widerspenstige Bauerngöre. Johann könnte vielleicht ...«
Langsam wandte auch er sich zum Gehen und schlug dabei den Weg längs des Kornfeldes ein, um das Gut anschließend durch den Haupteingang wieder betreten zu können.
»Was heißt: Ich krieg dich schon?« Luise zupfte ihre Schwester am Ärmel. »Er hat doch gerade gesagt, daß er sie heiraten will. Und was könnte Papa?«
»Keine Ahnung. Aber ... Luise, da stimmt irgendwas nicht. Sag keinem Menschen etwas davon. Onkel Jensen ist mir richtig unheimlich. So hab’ ich ihn noch nie erlebt.«
Die Mädchen schlichen aus dem Kornfeld, huschten den Weg zur Burg hinauf und schlüpften durch die Pforte. Erleichtert stellten sie fest, daß noch immer kein Mensch auf dem Hof zu sehen war. Niemand konnte also ihre Abwesenheit bemerkt haben. Mit erhobenem Kopf spazierte Anna über den Hof, nahm den zuvor liegengelassenen Ball auf und warf ihn Luise zu.
Friederike hatte sich nach dem Essen zurückgezogen. Die Männer würden nun mit Kaffee und Cognac in der Bibliothek sitzen und über Geschäfte oder Politik sprechen. Das interessierte sie nicht im geringsten, und sie war froh, daß die Anwesenheit von Frauen bei diesen Bibliotheks-Fachsimpeleien, wie ihre Mutter sie genannt hatte, auch gar nicht erwünscht war. Sie beschloß, Notizen über das Gespräch beim Essen in ihr Kochbuch einzutragen. Aber was sollte sie schreiben? Über den Zollverein hatten die Männer gesprochen. Wie langweilig. Und dann über Otto von Bismarck. Gewiß war der ein stattlicher Mann, und würde, laut Aussage von Johann, noch eine glänzende Karriere machen. Wie er wohl als Ehemann war? Vermutlich hatte er als Politiker gar keine Zeit, sich um seine Frau zu kümmern. Politiker! Johann war Gutsherr, und fand ja auch keine Zeit. Nein, sie würde lieber notieren, was Medizinalrat Kröpsch über die Uraufführung der Oper Tristan und Isolde von einem gewissen Wagner erzählt hatte, für die er, der Opernfreund, eigens nach München gefahren war. Er hatte in ergreifenden Worten über die großartige Musik gesprochen, mit der Wagner das Liebesdrama vertont hatte, und zudem erschüttert berichtet, daß der Sänger des Tristan, der Tenor Ludwig Schnorr von Carolsfeld, mit noch nicht dreißig Jahren wenige Wochen nach der Uraufführung verstorben war.
Ob die Rolle des Tristan wohl seinen frühen Tod herbeigeführt hatte?
Nachdenklich ging Friederike durch die Halle und hätte fast ihr Dienstmädchen Margarete Mink vor dem barocken Spiegel übersehen, den ihr Mann jüngst aus Berlin mitgebracht und in einer Nische neben der Haustür aufgehängt hatte.
Ein Spiegel für Gäste sollte das sein. Nicht für das Personal!
Friederike beobachtete das Mädchen, das sich unablässig übers Haar strich und dabei vollkommen in ihren eigenen Anblick versunken zu sein schien.
Margarete hatte etwas Feines an sich, überlegte sie. Etwas, das sie aus dem Kreis der Bauernmädchen herausragen ließ. Unter richtiger Anleitung würde sie sich vielleicht zu einer guten Hausdame entwickeln. Allerdings hatte sie noch viel zu lernen. Wie kam sie jetzt dazu, sich im Spiegel ihrer Herrschaft zu betrachten?
»Margarete«, sagte Friederike in scharfem Ton, »was machst du da?«
Das Mädchen zuckte zusammen.
»Oh, n ... nichts«, stotterte sie. »Hab’ mir nur das Haar ...«
»Nicht hier, das weißt du«, sagte Friederike streng. »Geh an deine Arbeit.«
Karl Jensen fand seinen Freund Johann in Gesellschaft von Medizinalrat Kröpsch im Herrenzimmer vor.
»Da bist du ja«, rief Kröger erfreut. »Dachte schon, du hättest dich auf französisch verabschiedet.«
»Ich habe nur einen kleinen Spaziergang gemacht«, brummte Jensen. »Das Mahl war doch ein wenig zu üppig für meinen katarrhgeschädigten Magen.«
Kröger goß dem Freund einen Cognac ein.
»Nur zu, alter Junge. Das ist ein wohlschmeckender Magensaft.«
Schweigend zündete Jensen sich eine Zigarre an und lauschte dem Gespräch der anderen mit halbem Ohr. Das Bild des Mädchens Margarete wollte ihm nicht aus dem Kopf gehen: Die vollen Brüste, fast zu üppig für die zarte Gestalt, ihr für ein Bauernmädchen auffallend fein geschnittenes Gesicht unter den blonden Zöpfen. Die Augen, deren Blau ihn an Kornblumen erinnerte, und der Mund ... Er stöhnte leise in der Erinnerung daran, wie glutrot die Lippen des Mädchens wurden, wenn sie vor Verlegenheit darauf kaute.
Wußte das leider so ehrbare Geschöpf, wie sein Anblick einem Mann das Blut in den Adern kochen ließ? Er malte sich aus, wie er die Brüste kneten und seine Zunge in ihren Mund stoßen würde. Zum Stöhnen wollte er sie bringen. Wie die kleinen Huren in Berlin, die ihn als Liebhaber lobten und seinen Schwengel als einzigartiges Instrument der Lustbarkeit priesen. Welchen Genuß würde er empfinden, wenn er dies erprobte Instrument in die jungfräuliche Grotte rammen konnte. Er würde es ihr zeigen. Jawoll. Jaulen sollte sie, zittern, um mehr flehen. Verfluchte Ehrbarkeit, die seiner Begierde so hartnäckig im Wege stand. Geheiratet wollte das Mädchen werden! Absurd. Er müßte eine Scheinehe inszenieren. Doch wer sollte sie trauen? Und was würde er anschließend mit dem Mädchen machen? Er fühlte sich unbehaglich bei dem Gedanken.
Ach was, unterdrückte er den Anflug von Anstand, den er in sich aufkeimen fühlte. Trotz ihrer Schönheit war sie doch nicht mehr als eine Bauernschlampe. Und, obschon entjungfert, würde mancher Kerl sich noch glücklich schätzen, sie zur Frau zu nehmen. Wenn nicht, könne schließlich er selbst, Gutsherr Karl Jensen, einen dazu bestimmen.
»Hab’ ich nicht recht, Karl?«
Jensen zuckte zusammen und sah den Freund ratlos an.
»Mein Lieber, hörst du denn gar nicht zu? Kröpsch hat über die Grippeepidemie unter den Landarbeitern berichtet. Sie sterben wie die Fliegen.«
Zufrieden sog Kröger an seiner Zigarre und blies den Rauch bedächtig in die Luft. Unter seinen Leuten konnte so etwas nicht vorkommen. Es war bekannt, daß seine Knechte und Tagelöhner genug zu essen hatten und, wenn sie krank waren, nicht arbeiten mußten. Hiebe teilte er nur aus, wenn’s nötig war, und die Kinder ließ er in die Dorfschule gehen. Außerdem gab’s allwöchentlich eine Tanzveranstaltung für das Gesinde. Das hielt sie bei Laune, und ihn kostete das immerhin jedesmal etwas Mühe wegen der hierfür erforderlichen Genehmigung beim Großherzog. Selbstzufrieden zwirbelte er den Schnurrbart.
»Lieber Kröpsch, ich habe nach der dummen Revolution vor nun, gottlob bald zwanzig Jahren, meine Leute mit höherem Lohn zufriedengestellt. Die Tagelöhner von Hinrichshof und Mönchshof dagegen haben weiter revoltiert«, sagte Kröger.
»Und du hast sie bei der Regierung angezeigt!« warf Jensen ein. »Schlauer Fuchs. Für die deinen ist dabei auch noch ein Belobigungsgeschenk wegen Gehorsams herausgesprungen.«
Der Medizinalrat nickte beifällig.
»Und hast du es mir nicht flugs nachgemacht?«
Kröger grinste über das ganze Gesicht. »Du hast auch fleißig kassiert.«
»Ja, aber was haben wir nun davon?« ereiferte sich Jensen. »Seit zwei Jahren diese dumme Verordnung!«
Er ärgerte sich ungemein darüber, daß er jedem Tagelöhner Kartoffelland geben mußte, Garten- und Weideland für eine Kuh, und alle zusammen durften pro Jahr auch noch sechs Kälber aufziehen.
Johann Kröger stimmte mit ihm darin überein, daß die Verordnung lästig sei.
»Löblich, löblich, das mit der Schule«, mischte Kröpsch sich ein und fügte angesichts von Jensens finsterer Miene hinzu, daß er auch die Sache mit der Tanzerei einen guten Einfall fände. Es leuchtete ihm ein, daß so etwas die Leute munter mache und er könne dies aus medizinischer Sicht nur befürworten.
Jensen verzog das Gesicht. Aus medizinischer Sicht, pah! Wozu soll die Tanzerei denn gut sein? Ich will keine munteren, ich will folgsame Arbeiter. Und vor allem bin ich, was die Schule angeht, nicht Johanns Meinung. Je dümmer die Leute bleiben, desto weniger kommen sie auf blöde Gedanken – auf Revolutionäre hören, Aufstände anzetteln, gar nach Amerika auswandern. Als ob es den Tölpeln dort besser ginge!«
»Das ist sehr wohl möglich«, warf Kröpsch ein. »Ich hörte, daß man dort Land an die Einwanderer verteilt. Der Sohn meiner Köchin schrieb, er bewirtschafte nun eine eigene Farm.«
»Solch dumme Briefe soll der Ozean verschlucken!« ereiferte sich Jensen. »Das Geschwätz bringt die Hiesigen doch nur wiederum zum Aufruhr. Demnächst verlangen meine Leute, daß ich ihnen mein ganzes Land geben soll.«
Johann Kröger brach in dröhnendes Gelächter aus. »Du phantasierst, mein Alter. Hier ist nicht Amerika! Wir sind in Mecklenburg.«
»Entschuldige, Johann. Ich muß leider stören.«
Friederike stand in der Tür und sah bleich und ernst aus. »Ich erhielt soeben eine Nachricht aus Heiligen Graben. Die Äbtissin ist todkrank. Man rechnet mit dem Schlimmsten.«
»Wird auch Zeit«, knurrte Kröger ungerührt, »daß die bigotte alte Quissel zur Hölle, pardon, gen Himmel fährt.«
Johann Kröger überwachte ehrenamtlich die Bewirtschaftung der Klosterländereien und konnte die Äbtissin aufgrund ihres frömmelnden Gehabes, ihres Geizes und erst recht ob der Anhimmelei seiner Person nicht leiden.
Friederike schüttelte den Kopf. »Mein Gott, Johann! Immer diese Reden. Du solltest lieber hinüberreiten und unser aller Genesungswünsche überbringen. Das bist du ihr schuldig. Vor allem nach dem üblen Scherz, den du dir mit ihr erlaubt hast.«
Kröger verspürte nicht die mindeste Lust, der alten Quissel wegen die Herrenrunde aufzulösen.
»Genesungswünsche am Totenbett? Meine liebe Friederike, das ist wohl ein Scherz. Und dann von mir. Sie wird denken, der Leibhaftige stünde am Bett, um sie zu holen. Nein, nein, meine Liebe. Laß anspannen und überbring du ihr selbst die Wünsche.«
Friederike wurde noch eine Spur blasser.
»Wie du meinst, Johann«, erwiderte sie kühl und wandte sich zum Gehen. »Ich werde Mademoiselle und die Kinder mitnehmen. So sieht es doch ein wenig nach Familienbesuch aus.«
»Recht so, recht so«, rief Kröger ihr nach. »Das ist Weibersache.«
»Was war das für ein übler Scherz, von dem Ihre Gattin sprach?« wollte Kröpsch wissen.
»Ein guter, mein Lieber, ein guter!« fiel Jensen ein, und sein Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen. »Ich war selber dabei.«
Friederike vernahm das tosende Gelächter, das aus dem Herrenzimmer drang, und fragte sich, wie Männer auch angesichts des Todes von derartiger Rohheit beseelt sein konnten. Vermutlich hatte Johann den Freunden die Geschichte über den vermeintlichen Besuch des Königs Friedrich Wilhelm während seiner Inspektionsreise erzählt.
Sie schüttelte sich noch in der Erinnerung an die Frechheit, mit der er und Jensen als Postillone verkleidet, fälschlich den Besuch des Königs angekündigt und später das für ihn in aller Eile vorbereitete Frühstück als seine vermeintlichen Abgesandten verspeist hatten.
In der Tat war es besser, daß sie selbst der Äbtissin den Gruß überbringen würde. Johann, der Grobian, wäre imstande, und gäbe ihr eine Frechheit mit auf den letzten Weg.
Nachdem sich Kröpsch, leise schwankend vom reichlichen Genuß von Rheinwein und Cognac, verabschiedet hatte, wandte Karl Jensen sich mit der Frage, die ihm seit Stunden auf der Zunge brannte, an seinen Freund. »Du mußt mir helfen, Johann«, stöhnte er.
»Wobei, mein Lieber? Geht es um eine Wette?«
»Um eine Weibergeschichte«, erwiderte Jensen düster.
»Weibergeschichte? Es ist mir neu, daß du dabei Hilfe brauchst. Wessen Frau ist sie? Oder hast du im Kloster eine Novizin entdeckt?«
»Johann! Hör auf mit den dummen Witzen! Es ist ...« Jensen räusperte sich und zwirbelte seinen Schnurrbart. »Es ist eines deiner Dienstmädchen. Margarete Mink.«
Johann starrte den Freund an. »Margarete? Die kleine Blonde in der Küche?«
Jensen nickte stumm. »Ich bin krank vor Verlangen«, ächzte er schließlich. »Ich hab’ nicht einmal mehr Lust auf die Huren in Berlin.«
Johann Kröger musterte den Freund, dessen Anblick nun geradezu erbarmungswürdig war. Wohin manche Weibsbilder einen vernünftigen Mann doch treiben konnten!
»Entführ sie, verführ sie«, schlug Johann rüde vor. »Sie wird’s überleben. Ist ja ein sonniges Kind.«
Jensen schüttelte heftig den Kopf.
»Das es ja eben, Johann. Sie läßt sich nicht verführen. Erst nach der Trauung, als Ehefrau.«
»Sittsam, sittsam«, bemerkte Kröger anerkennend. »Und das macht dich erst richtig gierig, nicht wahr? Vergiß es, Karl. Ich werde ihr nicht befehlen, sich dir hinzugeben.«
»Eine Scheinehe vielleicht?« flehte Jensen. »Hier in der Kapelle. Du könntest als Gutsherr den Pfarrer vertreten. Das wird sie nicht anzweifeln.«
Kröger wiegte den Kopf. Das ging ihm zu weit. Er war nun wirklich zu jeder Art von Scherzen aufgelegt, aber als falscher Pfarrer eine nichtgültige Ehe vollziehen? Das grenzte doch an Gotteslästerung.
Jensen fegte seine Bedenken jedoch mit einer Handbewegung beiseite.
»Bin ich dir nicht bei all deinen Scherzen ein ewig treuer Gefährte?« rief er in klagendem Ton aus. »Einmal nun bitte ich dich um einen Dienst. Willst du, daß ich ernsthaft erkranke vor lauter ungestilltem Verlangen?«
»Genug, Karl. Es reicht. Ich werde darüber nachdenken. Wohl ist mir dabei nicht. Außerdem – wie willst du sie wieder loswerden? Und wenn ich mir überlege, wie mein Ruf durch die Rolle eines falschen Pfaffen leiden könnte, wird mir noch unwohler.«
»Keine Sorge«, unterbrach ihn Jensen, der fürchtete, der Freund könne über eine Rufschädigung ausführlicher nachdenken. »Mir wird da etwas Gutes einfallen. Im übrigen, Johann, seit wann sorgst du dich um deinen Ruf?«
»Das ist etwas anderes als mein üblicher Schabernack, Karl. Wenn ich mir vorstelle, wie Friederike reagieren wird, wenn sie davon erfährt ... Es ist und bleibt eine unmoralische Sache.«
»Sie wird es nicht erfahren. Und wenn, dann wird sie es nicht glauben«, beschwor Jensen den zaudernden Freund und schwitzte dabei vor Erregung. Er war so nah am Ziel, bei Gott, so nah. »Zum Teufel mit der Moral!« schrie er und warf sein Glas in hohem Bogen aus dem Fenster.