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Hermann Glettler, Bischof von Innsbruck und Künstler, und der Psychiater, Psychologe und Psychotherapeut Michael Lehofer führen Gespräche über befremdliche und aufregende Texte aus dem Neuen Testament. In ihnen begegnet uns Jesus von Nazareth berührend nahe und fremd zugleich. Und unbequem. Die Dialoge und Reflexionen eröffnen einen neuen Blick auf die Person Jesu und auf die Relevanz von Spiritualität für unsere Zeit. Traditionelle Vorstellungen werden infrage gestellt, um neuen lebendigen Erfahrungen von Spiritualität Platz zu machen.
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Seitenzahl: 201
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Hermann Glettler Michael Lehofer
Die fremde Gestalt
Gespräche über den unbequemen Jesus
Cover
Titel
Impressum
Vorwort
1Brutal unharmonisch
2Die neue Familienaufstellung
3Spirituell überheblich?
4Der typische Absolutheitsanspruch
5Maßlose Überforderung
6Verherrlichung des Leidens
7Quälende Vergleiche
8Um Himmels willen leibfeindlich?
9Gott greift nicht ein
10Worum geht es eigentlich?
11Die armen Schweine
12Naiver Glaube
13Heilsame Distanzlosigkeit
14Entwürdigende Demut
15Das Gesetz brechen
16Die Verwechslung von innen und außen
17Religion als Geschäft
18Selbstgerecht und fertig?
19Beschuldigen macht schuldig
20Zugemutete Freiheit
21Wahrheit besitzen
22Erschreckend real und herrlich
23Die Fragen sind bekannt
24Der Traum vom Reich
Nachwort
Dieses Buch begann an einem trüben Sonntagnachmittag bei einer guten Tasse Tee. Unser Gespräch kam auf das Tagesevangelium, in dem von einem höchst unkonventionellen und unhöflichen Verhalten Jesu die Rede ist. Einer kanaanäischen Frau begegnete er richtig unverschämt und brüskierend. Wir gestanden uns gegenseitig unser Erstaunen über diese weitgehend unbekannte Seite Jesu.
So wie wir meinen viele, Jesus von Nazareth so halbwegs zu kennen. Wer konfrontiert sich denn mit dem Sperrigen, Fremden und gar nicht Bequemen in den Reden und im Auftreten Jesu? Und was entgeht einem von der spirituellen Kraft und Lebendigkeit Jesu, wenn man dies nicht tut? Ist unsere Beziehung zu ihm vielleicht deshalb oft so fad, so irrelevant für das normale Leben und letztlich banal, weil wir ihn nur in der schönen, domestizierten Verpackung haben wollen?
Neigen wir nicht in allen unseren Beziehungen dazu, das Unbekannte zugunsten des Bekannten zu minimieren? Dabei lebt jede Beziehung von einer grundsätzlichen Spannung. Es ist die Spannung zwischen einer selbstverständlichen Vertrautheit und einer faszinierenden Fremdheit. Der oder die andere bleibt uns immer ein Stück weit unbekannt und damit überraschend neu und interessant. Für eine lebendige Beziehung braucht es beides, Freiraum und Geborgenheit, Nähe und Distanz. Vertrautheit allein kann zu einer Alltagsbanalität im Umgang führen und eine Beziehung der inneren Spannung berauben. So erzeugt das Vertraute mitunter Distanz, während das Fremde durch das geweckte Interesse Nähe ermöglicht.
Das vorerst unverständliche, ja befremdende Verhalten Jesu im erwähnten Sonntagsevangelium war für uns der Anstoß, über seine „fremde Gestalt“ nachzudenken. Den meisten ist Jesus in irgendeiner Weise vertraut, auch wenn es nicht selten nur die spärlichen Reste von Erzählungen sind, die wir in unserer Kindheit über seine Wunderheilungen und seine Sorge um Ausgestoßene gehört haben. Er ist und bleibt die faszinierendste Persönlichkeit der Menschheit. Immer wieder tauchen aber auch Jesusworte auf, die in ihrer eigenartigen Fremdheit aufhorchen lassen. Sie stellen das Vertraute infrage. Die vorliegenden Gespräche haben genau diese relativ unbekannten oder zumindest gerne verdrängten Textstellen aus den vier Evangelien zum Ausgangspunkt gewählt.
„Der am Herzen des Vaters ruht, hat Kunde gebracht.“ So steht es im Prolog des Johannesevangeliums. Auf die Frage des Apostels Philippus antwortete er: „Wer mich sieht, sieht den Vater.“ (Joh 14,9) Das bedeutet: Jesus ist die Zugänglichkeit zum innersten Geheimnis Gottes. Er hat den Vorhang des Nichtwissens und der Trennung zwischen Gott und Mensch entfernt. Wenn wir dennoch im Folgenden von der unbequemen und fremden Seite Jesu sprechen, soll damit keineswegs implizit von einem Rest willkürlicher oder bösartiger Unberechenbarkeit Gottes gesprochen werden. Ganz und gar nicht.
Es ist auch verständlich, dass Menschen, die an Jesus Christus als Gottes Sohn glauben, sich nicht gerne mit dem Menschen Jesus auseinandersetzen wollen. Jedoch eröffnet sich gerade durch die totale Menschwerdung das Geheimnis einer erlösten Begegnung mit Gott. Gott ist das offene, lichte Geheimnis unfassbarer Nähe und Barmherzigkeit. Diesem Geheimnis rund um die Person des Jesus von Nazareth wollen wir nachgehen. Jesus ist uns vertraut und fremd zugleich. Er gehört nicht den Gläubigen allein. Er gehört auch den Verunsicherten und Zweiflern. Er ist nicht der Garant einer wohltemperierten Religiosität für jene, die zum kirchlichen Innenkreis gehören. Obwohl er seinen Jüngern die Freundschaft angeboten und alles mit ihnen geteilt hat, bleibt ein Moment der Unverfügbarkeit, das um eines reifen, gott- und weltoffenen Glaubens willen wahrzunehmen und in seiner Bedeutung hervorzuheben ist. Jesus ist nicht nur „der liebe Jesus“, wie wir uns ihn manchmal in kindischer Manier vorstellen – ein Jesus, der keinen Anstoß erregt, der niemanden verunsichert und sich den Erwartungen der Frommen fügt.
Bedauerlicherweise gibt es eine Menge von Jesusbildern, die genau diese Klischees vertiefen. Sie entschärfen seine Bedeutung, verwässern seinen Anspruch und verharmlosen seine Botschaft. Jesus kann emotional verkitscht werden, sodass die herausfordernde Lebensrelevanz seiner Person nicht mehr zum Vorschein kommt. Man kann ihn auch auf das sozialkritische und revolutionäre Potenzial seiner Lebensweise und Botschaft reduzieren. Das hätte zumindest eine politische Stoßkraft für unsere Welt, die sich in einer extremen sozialen Schieflage befindet. Oder man verengt die menschlich-göttliche Weite Jesu auf ein ganz subjektives, pietistisches Format, sodass eine Begegnung mit ihm zu einer einseitig frommen Vereinnahmung verkommt. All diese einseitigen Bilder sind das Resultat der vielen Versuche einer sträflichen Domestizierung Jesu. Deshalb ist es wichtig, im Auftreten und in der Botschaft Jesu besonders jene Momente zu beachten, die sperrig sind und eine tiefere Nachfrage sowie eine persönliche Involvierung erfordern. Das vorliegende Buch ist dem nicht-konformen, unbequemen Jesus auf der Spur.
Dabei versuchen wir auch selbst, unsere Vorstellung von Jesus von falschen Wünschen und Projektionen zu reinigen. Mit dieser Klärung können auch Enttäuschungen einhergehen. Für uns bleibt als zentrale Frage: Herr, wer bist Du? In welchem Gesicht begegnest Du uns heute? Welche Nähe und Fremdheit mutest Du uns heute zu? Das Wahrnehmen der fremden Gestalt Jesu ermöglicht vielleicht auch eine Solidarität mit allen, die trotz persönlicher Anstrengung keinen Zugang zu Gott finden. Dieser Aspekt der inneren Verbundenheit mit allen Fragenden, Suchenden und Zweifelnden ist uns wichtig. Der unbequeme Jesus holt uns auf jeden Fall aus unserer Komfortzone heraus. Wer bereit ist, kann sich auf eine Begegnung mit ihm einlassen.
Hermann Glettler und Michael Lehofer
Mt 10,34-36
Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen! Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, um den Sohn mit seinem Vater zu entzweien und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter; und die Hausgenossen eines Menschen werden seine Feinde sein. Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert, und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert.
HG: Ein pakistanischer Bischof hat mir erzählt, dass ein hochrangiger muslimischer Geistlicher einmal in seiner Gegenwart Jesus als jene Person bezeichnete, „die nie ein Schwert angegriffen hat“. Er wollte damit seinem offensichtlich geschätzten Gesprächspartner ein Kompliment machen und vielleicht auch über die traurige Tatsache der in Pakistan fast alltäglichen Verfolgung von Christen hinwegtrösten. Dieser aus der Sufi-Mystik kommende Ehrentitel trifft genau das Wesen Jesu. Er ist es, der Gewaltfreiheit gepredigt und einen radikalen Gewaltverzicht für sich und seine Gemeinschaft vorgelebt hat. Umso schockierender und unverständlicher ist die Aussage Jesu über sein Kommen auf die Erde. Er sei gekommen, das Schwert zu bringen und nicht Frieden. „Schwert“ steht in dieser Aussage für „Entscheidung“. Und Entscheidung beinhaltet immer eine Scheidung. Oft gar eine blutige. Wie lässt sich also diese singuläre Hardcore-Passage aus dem Mund Jesu verstehen? Leicht ließe sie sich für eine Radikalisierung seiner Anhängerschaft missbrauchen – was ja tatsächlich immer wieder geschehen ist.
ML: Man muss ja zugeben, dass die Geschichte des Christentums diesen Text leider auch bestätigen kann. Im Namen Jesu Christi ist viel Heil, aber auch viel Unheil in die Welt gekommen. Wie gesagt, lässt uns dieser Text ein Stück ratlos bleiben angesichts der bei Weitem überwiegenden friedliebenden Aussagen von Jesus. Und doch lohnt es sich, sich auf die Provokation einzulassen: Kann man den Frieden auch dialektisch betrachten? In einer Gruppe von Menschen, bei der man spürt, dass viele ungelöste Konflikte im Hintergrund mitschwingen, bekomme ich gelegentlich den Impuls, diese deutlich zu machen. Es entsteht der Wunsch, die Wunde offenzulegen, damit sie heilen kann. Der Chirurg muss den Menschen verletzen, um ihn zu heilen. Was diese Metapher bedeutet, ist für uns eine Alltagserfahrung. Wir müssen konfliktfähig sein, um Frieden stiften zu können. Nicht nur, sondern auch.
Ich denke desgleichen an Menschen, die sich durch eine ausgesprochene Harmoniebedürftigkeit auszeichnen und die in verschiedensten Situationen gerade dadurch Unfrieden gestiftet haben. Zweifelsohne ist die Konfliktscheu ein Faktor, der sehr viel Unglück erzeugt. Jesus erklärt seinen Jüngern, dass ein Leben mit ihm und seiner Lehre nicht unbedingt nur zu Glück und Eintracht führen muss. Bereits die Erklärung dieser Tatsache zerstreut falsche Erwartungen für ihr eigenes Leben, die sie sonst mit Jesus und seiner Lehre verbunden hätten. Jesus verweist auf die eigentliche Wirklichkeit, nämlich jene der tiefen Verbundenheit mit Gott. Die Verbundenheit zwischen den Menschen, die uns immer als erste vor Augen steht, verblasst vor diesem Hintergrund.
HG: Mit Sicherheit erteilt die extrem „unbequeme“ Aussage einem Kuschelkurs in der Nachfolge Jesu eine deutliche Absage. Jesus ist nicht der Meister oberflächlicher Harmonisierungen. Jesus provoziert Entscheidungen. Er ist radikal, weil er die Dinge „von der Wurzel her“ (lat. radix) angeht und sich nicht scheut, die Wahrheit auszusprechen. Wer mit ihm unterwegs sein will, muss sich auch auf Vorbehalte und Ablehnung bis hinein in die eigene Familie einstellen. Es kann eine schmerzliche Entscheidung notwendig sein, wenn ein Bekenntnis zu Jesus eine Dissonanz zu familiären Erwartungen erzeugt. Ich habe das Glück, dass ich meinen Weg in großer Freiheit gehen konnte. Aber was wäre gewesen und wie hätte ich reagiert, wenn meine Eltern oder Freunde sich massiv gegen meine Lebenswahl ausgesprochen hätten?
Die Nachfolge Jesu kann Leid verursachen. Für die junge Kirche war dies nichts Außergewöhnliches. Verfolgungen um des Himmelreiches willen waren ganz selbstverständlich Bestandteil des „neuen Weges“. Nicht alle wollten oder konnten ihn mitgehen. In diesem Text sind somit auch Erfahrungen der ersten Jahrzehnte der Jesusbewegung reflektiert. Die Entscheidung für Christus hat quer durch Bekannten- und Familienkreise Bruchlinien gezeichnet. Jesus hat kein verführerisches Versprechen gegeben, dass ein Leben mit ihm nur auf Zustimmung und Wohlgefallen stoßen würde. Sein radikales Wort beinhaltet damit auch nachträglichen Trost für all jene, die Widerspruch, Ablehnung und sogar Verfolgung hautnah erleben. Ich denke konkret an einige junge Bekannte aus dem Iran, die sich für die Taufe entschieden haben und in den meisten Fällen dafür von ihren Familien verstoßen wurden. In jedem Fall drückt die Ansage vom „Schwert bringen“ weder die Absicht noch das Ziel des Wirkens Jesu aus. Vielmehr zeigt sie an, was auf rätselhafte Weise sein Wirken zur Folge hatte und auch heute noch auslöst.
ML: Man kann die Aussage Jesu drehen und wenden, wie man will – sie bleibt ein Stachel im Fleisch. Eine unangenehme, etwas bittere Note in der Begegnung mit der Person Jesu, die aber in uns auch eine Bereitschafft zur Dekonstruktion erzeugen kann. In diesem Fall bedeutet Dekonstruktion, die Fiktion unserer harmonischen Wirklichkeiten aufgeben zu können beziehungsweise ermutigt zu werden, sie aufzugeben. Es ist selbstverständlich, dass man diesen Text nur als Würze in der gesamten geistigen Speise der Heiligen Schrift sehen kann. Aber ohne diese Würze würde der Kontrapunkt fehlen – wie das scharfe Gewürz in einer Speise, das Bittere in einer Schokolade. Das Ganze könnte nicht den Charakter des Offenen, des weiterhin Interessanten, des neugierig Machenden behalten. Das Neue Testament hinterlässt uns nicht ratlos, jedoch zweifelsohne mit einem fragenden, einem offenen Herzen.
HG: Für mich bleibt die Frage, warum Jesus, der vollkommen in der Gesinnung des Erbarmens gelebt und gehandelt hat, gegen Ende seines Lebens extremen Widerstand erfahren musste. Natürlich hat er diesen auch selbst provoziert. Faule Kompromisse wollte er nicht gelten lassen. Er hat sich, seinen Jüngern und uns das Leben damit nicht billig gemacht. Darin liegt für mich die Spur einer Antwort, warum Jesus die brutal unharmonischen Sätze vom „Schwert bringen“ überhaupt verwenden konnte. Sie sind mir Anstoß zu einer kritischen Selbstbefragung. Ich kenne die Versuchung, „um des Friedens willen“ oder aus Wehleidigkeit den einfacheren Weg zu wählen. Manchmal steht dahinter auch Feigheit, Unentschlossenheit oder Bequemlichkeit, gelegentlich auch die Angst, Ansehen oder Wohlgefallen aufs Spiel zu setzen. Ganz gewiss gibt es somit in der anspruchsvollen Schule Jesu – vermutlich nicht nur für mich – noch einiges zu lernen.
Mk 3,28-35
Jesus sagte: Alle Vergehen und Lästerungen werden den Menschen vergeben werden, so viel sie auch lästern mögen; wer aber den Heiligen Geist lästert, der findet in Ewigkeit keine Vergebung, sondern seine Sünde wird ewig an ihm haften. Sie hatten nämlich gesagt: Er hat einen unreinen Geist. Da kamen seine Mutter und seine Brüder; sie blieben draußen stehen und ließen ihn herausrufen. Es saßen viele Leute um ihn herum und man sagte zu ihm: Siehe, deine Mutter und deine Brüder stehen draußen und suchen dich. Er erwiderte: Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder? Und er blickte auf die Menschen, die im Kreis um ihn herumsaßen, und sagte: Das hier sind meine Mutter und meine Brüder. Wer den Willen Gottes tut, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter.
HG: Was ist die Sünde gegen den Heiligen Geist? Bitte entschuldige diesen steilen Einstieg in unser Gespräch. Ich möchte diese Frage aufgreifen, weil Bücherregale füllend darüber in der Schultheologie spekuliert wurde. Die für mich überzeugendste Antwort stammt von Papst Franziskus: „Es ist die Sünde, nicht an Gottes Barmherzigkeit zu glauben.“ Der Hintergrund der Diskussion um die neue Verwandtschaft Jesu ist jedenfalls beklemmend. Die Schriftgelehrten versuchten, sich das außergewöhnliche Wirken Jesu durch den Einfluss dämonischer Kräfte zu erklären. Drastischer kann das Missverständnis nicht sein.
In ihrem vernichtenden Urteil drückt sich eine radikale Ablehnung Jesu aus. Es scheint, dass diese negative Dynamik auch die eigene, leibliche Familie erfasst hat. Sie wollen Jesus vermutlich wieder auf den Boden der Realität holen, weil er doch „von Sinnen sei“, wie es an anderer Stelle heißt. Mit einer ziemlich energischen Initiative tritt also die Verwandtschaft auf den Plan. Sie lassen Jesus „herausrufen“ – allerdings mit wenig Erfolg. Sie handeln sich eine ziemliche Abfuhr ein.
ML: Der Text schildert eine schwere Brüskierung seiner Mutter und seiner Brüder. Jesus bricht geradezu mit seiner Verwandtschaft, er steht nicht mehr zu ihr. Und das muss man sich vorstellen angesichts orientalischer Familienbande! Vermutlich habe nicht nur ich solche Erlebnisse auch schon gehabt: Ich dachte, eine innige Beziehung zu jemanden zu haben, aber dieser Mensch tat in einem anderen sozialen Kontext so, als ob er mich kaum kennen würde. Solche Erfahrungen der Verleugnung, der Untreue sind immer sehr kränkend. Und so muss auch dieses Verhalten Jesu eine Kränkung für seine Mutter und seine engste Verwandtschaft dargestellt haben.
HG: Jesus sitzt inmitten einer neuen Familie, rundherum seine Jüngerinnen und Jünger. Seine ursprüngliche Familie hat in dieser neuen Familienaufstellung vordergründig keinen Platz mehr – zumindest nicht im Innenkreis. Sie ist zwangsläufig draußen. Drinnen sind diejenigen, die sich auf das Wort Jesu einlassen, an ihn glauben und den Willen Gottes auch tun. Bei der schroffen Gegenfrage „Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder?“ spürt man den Widerstand Jesu gegen die familiäre Rückholaktion. Seine Antwort ist extrem befremdend und verletzend – speziell gegenüber seiner Mutter: „Wer den Willen Gottes tut, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter.“
ML: Liebesbeziehungen sind etwas Heiliges, indem sie einen heil werden lassen. Wir neigen allerdings dazu, sie durch unsere übergroßen Erwartungen zu überfrachten und durch unsere Bedürftigkeit sogar zu zerstören. Die Beziehungen werden überstrapaziert, wenn wir nicht verstehen, dass sie dem Wesen nach Symbole für die spirituelle Verbundenheit, auf christlich übersetzt, Symbole für die große Liebe Gottes zu uns sind. Nur durch diese Einsicht entsprechen wir dem Heiligen. Wenn wir das verstehen, entlasten wir unsere Beziehungen und können sie frei und liebevoll leben. Das heißt, die Radikalität in diesem Text ist bei näherer Betrachtung ein Hinweis darauf, dass jede Beziehung dem Wesen nach auf etwas anderes verweist. Nur in dieser Durchlässigkeit für das Eigentliche kann die Beziehung frei bleiben.
HG: Mir fällt dazu eine Begebenheit ein, die sich bei einem Workshop zum Thema „Partnerschaft und Sexualität“ im Rahmen eines interreligiösen Kongresses zugetragen hat. Eine junge Studentin, die nur die Aufgabe hatte, das Protokoll zu erstellen, hat die Diskussion von uns Religionsvertretern mit der Frage unterbrochen: „Wozu ist es eigentlich notwendig, die persönliche Partnerschaft mit Gott in Verbindung zu bringen?“ Sie hat sich für die Frage entschuldigt, aber im Grunde nach dem Wesentlichen gefragt.
Nach einer knappen Verlegenheit habe ich folgende Antwort versucht: „Erstens könnte Gott die erste Adresse deiner Dankbarkeit sein, dass du unter Millionen von Alternativen genau diesen wunderbaren Menschen gefunden hast. Zweitens hilft dir der Glaube, dass du deinem Partner verzeihst, für dich nicht Gott sein zu können. Und drittens ist es für einen gläubigen Menschen klar, dass Kinder ein Geschenk Gottes sind und niemand das Recht hat, über sie zu verfügen.“
ML: Genau um diesen Punkt geht es in allen menschlichen Beziehungen, um eine verweisende Durchlässigkeit auf das Göttliche hin. Selbstverständlich identifizieren wir uns mit Menschen, die wir lieben. Darauf gründet jede Leidenschaftlichkeit in Beziehungen. Leidenschaftlich müssen sie sein, sonst sind sie leer. Jedoch heißt Identifikation, sich etwas zu eigen zu machen. Die Gefahr ist die Vereinnahmung, die dabei passieren kann. Daher ist es notwendig, den Menschen in dieser Beziehung gleichzeitig auch immer wieder herzugeben, auf ihn zu verzichten. Du bist meine Frau, mein Mann, mein Kind, mein Freund und gleichzeitig bist du mir das alles ohne das „mein“. Jesus fordert in radikaler Weise das innere Loslassen ein.
HG: Die erste Provokation in der Antwort Jesu lag aber in der unerhörten Weitung des Beziehungshorizonts, wenn er auf den großen Kreis der Jünger verweist und sinngemäß sagt: „Das ist jetzt meine Familie.“ Mir fällt dazu eine Begebenheit bei einer Taufe ein, bei der die Familie sehr ausführliche Bitten für das Taufkind vorgetragen hat. Diese waren – gut gemeint – allesamt auf eine maximale Entfaltung und Selbstverwirklichung des Täuflings ausgerichtet. Das Kind sollte mit der Hilfe Gottes der allerbeste, erfolgreichste und alle seine Chancen optimal nützende Mensch werden. Etwas spöttisch würde ich das gerne als Viagra-Spiritualität bezeichnen. Mit der Hilfe Gottes alles zur höchsten Potenz treiben. Ergänzt hat dann ein Diakon diese Bitten in folgender Weise: „Wir beten auch für unsere Verwandten auf den Philippinen.“ Damals hat dort gerade ein schrecklicher Tsunami gewütet und viel Elend angerichtet. Die Leute waren etwas verstört und verwundert, dass man für die Verwandtschaft des Diakons beten muss. Beim Taufessen danach haben sie sich erkundigt. Der Diakon gab ihnen eine überraschende Antwort: „Wer getauft wird, hat überall auf der Welt Schwestern und Brüder, das ist die neue Verwandtschaft, die jetzt zählt.“
Tatsächlich bekommen unsere ganz natürlichen Beziehungen eine neue Qualität, wenn sie auf einen größeren Kreis hin geöffnet bleiben. Wie wir wissen, gibt es Familien, deren Mitglieder in ungesunder Weise aufeinander kleben und sich gegen die Umgebung abschließen. Und es gibt natürlich auch das andere Extrem: Familienbande, die zu unverlässlich oder gar nicht mehr vorhanden sind. Die neue, umfassende „Familie Gottes“ ist jedenfalls begründet durch Christus, den menschgewordenen Gott. Ein starkes Bild von Kirche. Das neue familiäre Netzwerk Jesu reicht weit über die Grenzen Palästinas und auch über die Grenzen einer institutionalisierten Religion hinaus. Das gibt dem Reden von der Menschheitsfamilie ihren tiefsten Sinn.
ML: Vor einigen Jahren sind Neurobiologen draufgekommen, dass das Hormon Oxytocin eine starke Rolle bei Liebesbeziehungen spielt. Wenn man sich verbunden fühlt, steigt die Oxytocinwirksamkeit im Gehirn an. Einerseits wird Oxytocin ausgestoßen und andererseits werden Rezeptoren sensibilisiert, die diese Informationen empfangen können. Auch wenn zwei Menschen Geheimnisse austauschen, wird Vertraulichkeit erzeugt und dadurch das Oxytocinlevel im Gehirn erhöht.
Interessanterweise ist es aber auch jenes Neurohormon, das für die Fremdenfeindlichkeit zuständig ist. Fremdenfeindlichkeit ist nichts anderes als eine Reflexion: Wer gehört zu mir und wer gehört nicht zu mir? Daher sind alle politischen Strömungen darauf bedacht, wenn sie sich auf die Ängste in Bezug auf Fremde draufsetzen wollen, die Bewusstheit von Nationalismus, des Eigenständigen und des Besonderen zu fördern, weil sie implizit damit sofort die Fremdenfeindlichkeit und die Angst vor den Fremden erhöhen. Jesus schlägt in diesem Text vor, die Grenzen des Eigenen zu erweitern, um damit die Destruktivität an der Grenze zwischen Ich und Du zu verunmöglichen. Diese Erweiterung der Grenzen ist keine Selbstaufgabe, sondern nur eine Ausdehnung des Identitätsraums.
HG: Dieser Gedanke bewegt mich. Christlicher Glaube gründet auf der Weitung des nur ethnischen und nationalen Identitätsraums. Jesus selbst hat diese Weitung vorgegeben, auch wenn es seine primäre Intention war, sein eigenes Volk zu sammeln. Historisch vollzogen wurde die Weitung des neuen Identitätsraumes durch die Öffnung der Kirche auf die Heiden hin – inmitten des römischen Weltreiches, in dem es ohnehin eine reiche Palette von Nationalitäten, kulturellen Eigenheiten, religiösen Lehren und Kulten gab. Die vom jüdischen Gesetz vorgeschriebene Beschneidung war nicht mehr notwendig, um Christ zu werden. Ohne diese Grenzüberschreitung, die vor allem durch den Apostel Paulus betrieben wurde, wäre das Christentum eine vom Judentum abgespaltete Sekte geblieben. Die junge Kirche konnte gerade in den sozial schwierigen Randzonen der großen multikulturellen Städte an Bedeutung gewinnen, gestützt auf die Lehre und Lebenspraxis Jesu. Er selbst identifizierte sich mit Menschen an den sozialen Rändern.
Christlicher Glaube empfängt seine Dynamik aus einer radikalen Öffnung gegenüber allen. Ich durfte etwas von der Freude erleben, die einer Pfarrgemeinde geschenkt wird, wenn sie das versucht. Wir haben uns in St. Andrä in Graz inmitten eines multikulturellen Stadtteils nicht auf die kleine Restmenge der noch praktizierenden Katholiken beschränkt, sondern eine „neue Familienaufstellung“ im Sinne Jesu versucht. Aufgrund einer entschieden gelebten Gastfreundschaft für unterschiedliche ethnische Gruppen, soziale Milieus und Kulturen hat sich die Ahnung von der neuen Familie Jesu eingestellt. Backstage gab es viel Mühe, viele Kämpfe und auch Unverständnis für die konsequente Öffnung, aber durchgesetzt hat sich die Gewissheit, dass wir im Namen des menschgewordenen Gottes doch alle zusammengehören – ohne Wenn und Aber.
Lk 4,16-24.28-30
So kam Jesus auch nach Nazareth, wo er aufgewachsen war, und ging, wie gewohnt, am Sabbat in die Synagoge. Als er aufstand, um vorzulesen, reichte man ihm die Buchrolle des Propheten Jesaja. Er öffnete sie und fand die Stelle, wo geschrieben steht: Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn er hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe. Dann schloss er die Buchrolle, gab sie dem Synagogendiener und setzte sich. Die Augen aller in der Synagoge waren auf ihn gerichtet. Da begann er, ihnen darzulegen: Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt. Alle stimmten ihm zu; sie staunten über die Worte der Gnade, die aus seinem Mund hervorgingen, und sagten: Ist das nicht Josefs Sohn? Da entgegnete er ihnen: Sicher werdet ihr mir das Sprichwort vorhalten: Arzt, heile dich selbst! Wenn du in Kafarnaum so große Dinge getan hast, wie wir gehört haben, dann tu sie auch hier in deiner Heimat! Und er setzte hinzu: Amen, ich sage euch: Kein Prophet wird in seiner Heimat anerkannt. Als die Leute in der Synagoge das hörten, gerieten sie alle in Wut. Sie sprangen auf und trieben Jesus zur Stadt hinaus; sie brachten ihn an den Abhang des Berges, auf dem ihre Stadt erbaut war, und wollten ihn hinabstürzen. Er aber schritt mitten durch sie hindurch und ging weg.
HG: Eine Erzählung mit einer extrem bitteren Wende. Faszination am Anfang, Versuch zum Totschlag am Ende. Kurz zur Vorgeschichte: Die Menschen in Galiläa erlebten mit Jesus einen Aufbruch. Sie waren begeistert von seiner Art, in verständlichen Bildern von Gott zu reden, und ebenso begeistert von seinen Taten. In der Dynamik dieses Aufbruchs kommt er in seine Heimatstadt und geht am Sabbat in die Synagoge. Es ist üblich, dass der Gast gebeten wird, den Tagestext vorzulesen und auszulegen. So trägt Jesus den Text des Propheten Jesaja vor, wo es unter anderem heißt: „Der Herr hat mich gesandt, den Armen eine Frohe Botschaft zu verkünden.“ Provokanterweise hat Jesus beim Vorlesen die Passage vom Gericht, das heißt, von der Vergeltung durch Gott ausgelassen.