Die Freude des Evangeliums - Franziskus (Papst) - E-Book

Die Freude des Evangeliums E-Book

Franziskus (Papst)

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Beschreibung

"Ich weiß sehr wohl, dass heute die Dokumente nicht dasselbe Interesse wecken wie zu anderen Zeiten und schnell vergessen werden. Trotzdem betone ich, dass das, was ich hier zu sagen beabsichtige, eine programmatische Bedeutung hat und wichtige Konsequenzen beinhaltet ... Ich wünsche mir eine arme Kirche für die Armen." Papst Franziskus Das vollständige Dokument plus Einführung und Themenschlüssel

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Papst Franziskus

Die Freude desEvangeliums

Das Apostolische Schreiben»Evangelii gaudium«über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute

Mit einer Einführung von Bernd Hagenkord SJ

Impressum

P. Bernd Hagenkord SJ ist Leiter der deutschsprachigen Abteilung von Radio Vatikan.

Originaltitel des Apostolischen Schreibens:

Esortazione Apostolica Evangelii gaudium

© Libreria Editrice Vaticana 2013

Für diese Ausgabe:

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2013

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

Umschlagmotiv: © dpa / picture alliance

Register: Verlag Herder

ISBN (E-Book) 978-3-451-80150-1

ISBN (Buch) 978-3-451-33492-4

Inhalt

Die Programmschrift zur KirchenreformEinführung von P. Bernd Hagenkord SJ

Schlüsselwort ›Freude‹

Was für einen Text haben wir in der Hand?

Quellen des Textes

Der Sprachstil

Die Kapitel des Textes: Worum es geht

Geistliche Lesart

Gott zuerst

Aufgabe von Kontrolle

Es ist auch anstrengend

APOSTOLISCHES SCHREIBEN EVANGELII GAUDIUM

Papst Franziskus

Einleitung [1]

I. Freude, die sich erneuert und sich mitteilt [2– 8]

II. Die innige und tröstliche Freude der Verkündigung des Evangeliums [9 –10]

Eine ewige Neuheit [11–13]

III. Die neue Evangelisierung für die Weitergabe des Glaubens [14 –15]

Anliegen und Grenzen dieses Schreibens [16 –18]

Erstes KapitelDie missionarische Umgestaltung der Kirche [19]

I. Eine Kirche ›im Aufbruch‹ [20 –23]

Die Initiative ergreifen, sich einbringen, begleiten, Frucht bringen und feiern [24]

II. Seelsorge in Neuausrichtung [25 –26]

Eine unaufschiebbare kirchliche Erneuerung [27–33]

III. Aus dem Herzen des Evangeliums [34 –39]

IV. Die Mission, die in den menschlichen Begrenzungen Gestalt annimmt [40 – 45]

V. Eine Mutter mit offenem Herzen [46 –49]

Zweites KapitelIn der Krise des gemeinschaftlichen Engagements [50 –51]

I. Einige Herausforderungen der Welt von heute [52]

Nein zu einer Wirtschaft der Ausschließung [53 –54]

Nein zur neuen Vergötterung des Geldes [55 –56]

Nein zu einem Geld, das regiert, statt zu dienen [57–58]

Nein zur sozialen Ungleichheit, die Gewalt hervorbringt [59 –60]

Einige kulturelle Herausforderungen [61– 67]

Herausforderungen der Inkulturation des Glaubens [68–70]

Herausforderungen der Stadtkulturen [71–75]

II. Versuchungen der in der Seelsorge Tätigen [76 –77]

Ja zur Herausforderung einer missionarischen Spiritualität [78 –80]

Nein zur egoistischen Trägheit [81– 83]

Nein zum sterilen Pessimismus [84– 86]

Ja zu den neuen, von Jesus Christus gebildeten Beziehungen [87– 92]

Nein zur spirituellen Weltlichkeit [93 –97]

Nein zum Krieg unter uns [98 –101]

Weitere kirchliche Herausforderungen [102–109]

Drittes KapitelDie Verkündigung des Evangeliums [110]

I. Das ganze Volk Gottes verkündet das Evangelium [111]

Ein Volk für alle [112–114]

Ein Volk der vielen Gesichter [115 –118]

Alle sind wir missionarische Jünger [119 –121]

Die evangelisierende Kraft der Volksfrömmigkeit [122–126]

Von Mensch zu Mensch [127–129]

Charismen im Dienst der evangelisierenden Gemeinschaft [130 –131]

Die Welt der Kultur, des Denkens und der Erziehung [123 –134]

II. Die Homilie [135 –136]

Der liturgische Kontext [137–138]

Das Gespräch einer Mutter [139 –141]

Worte, die die Herzen entfachen [142–144]

III. Die Vorbereitung auf die Predigt [145]

Der Dienst der Wahrheit [146 –148]

Der persönliche Umgang mit dem Wort [149 –151]

Die geistliche Lesung [152–153]

Ein Ohr beim Volk [154 –155]

Pädagogische Mittel [156 –159]

IV. Eine Evangelisierung zur Vertiefung des Kerygmas [160 –162]

Eine kerygmatische und mystagogische Katechese [163 –168]

Die persönliche Begleitung der Wachstumsprozesse [169 –173]

Am Wort Gottes orientiert [174 –175]

Viertes KapitelDie soziale Dimension der Evangelisierung [176]

I. Die gemeinschaftlichen und sozialen Auswirkungen des Kerygmas [177]

Bekenntnis des Glaubens und soziale Verpflichtung [178 –179]

Das Reich, das uns ruft [180 –181]

Die Lehre der Kirche zu den sozialen Fragen [182–185]

II. Die gesellschaftliche Eingliederung der Armen [186]

Gemeinsam mit Gott hören wir einen Schrei [187–193]

Treue zum Evangelium, um nicht vergeblich zu laufen [194 –196]

Der bevorzugte Platz der Armen im Volk Gottes [197–201]

Wirtschaft und Verteilung der Einkünfte [202–208]

Sich der Schwachen annehmen [209 –216]

III. Das Gemeingut und der soziale Friede [217–221]

Die Zeit ist mehr wert als der Raum [222–225]

Die Einheit wiegt mehr als der Konflikt [226 –230]

Die Wirklichkeit ist wichtiger als die Idee [231–233]

Das Ganze ist dem Teil übergeordnet [234 –237]

IV. Der soziale Dialog als Beitrag zum Frieden [238 –241]

Der Dialog zwischen Glaube, Vernunft und den Wissenschaften [242–243]

Der ökumenische Dialog [244 –246]

Die Beziehungen zum Judentum [247–249]

Der interreligiöse Dialog [250 –254]

Der soziale Dialog in einem Kontext religiöser Freiheit [255 –258]

Fünftes KapitelEvangelisierende mit Geist [259 –261]

I. Motivationen für einen neuen missionarischen Schwung [262–263]

Die persönliche Begegnung mit der rettenden Liebe Jesu [264 –267]

Das geistliche Wohlgefallen, Volk zu sein [268 –274]

Das geheimnisvolle Wirken des Auferstandenen und seines Geistes [275 –280]

Die missionarische Kraft des Fürbittgebets [281–283]

II. Maria, die Mutter der Evangelisierung [284]

Ein Geschenk Jesu an sein Volk [285 –286]

Der Stern der neuen Evangelisierung [287–288]

Themenschlüssel

Die Programmschrift zur Kirchenreform

Einführung von Bernd Hagenkord SJ

Es begann mit der Balkonszene, oben an der Fassade von Sankt Peter. Als Papst Franziskus mit seinem berühmt gewordenen »Guten Abend« am 13. März 2013 sein Papstamt antrat, war das nur die erste einer ganzen Reihe von Überraschungen. Diese Balkonszene zeigte etwas Neues. Die meisten von uns konnten noch nicht genau sagen, was dieses Neue genau war, aber sich segnen zu lassen, bevor er selbst segnet, die Schlichtheit der Gestik und der Kleidung, all das sah nach einem Versprechen von viel Neuem aus.

In unserer Welt – vor allem wenn Fernsehkameras involviert sind – ist alles inszeniert. Als öffentliche Person muss man sich ins Bild setzen können, muss mit Kameras und Menschenmengen umgehen können. Und da kam Papst Franziskus mit einem eigentlich unspektakulären Auftritt, und die Welt lag ihm zu Füßen.

Bei der ersten Messe predigte er stehend, eine Praxis, die er danach beibehielt. Die Wohnung im Gästehaus, die kleineren Wagen – all das zeigte einen Papst, der so ganz anders war, als wir es gewohnt waren. Dieser Papst ist zugänglich, er baut keine Distanzen auf, weder physisch noch in der Symbolik und schon gar nicht in der Sprache.

Vor allem aber die vielen direkten Begegnungen beeindrucken. Bei jeder Generalaudienz umarmt Franziskus, grüßt, küsst, segnet, fasst an und lässt sich anfassen, stundenlang. Er hat eine sehr körperliche Präsenz, wenn er Menschen trifft. Zuerst dachten wir, das sei der Überschwang der ersten Monate, aber wir lagen falsch. Die Menschenmengen nehmen nicht ab und auch die Begeisterung nicht. Oder vielleicht sollte ich sagen: Die Freude, diesem Papst direkt zu begegnen, ist bei jeder einzelnen Begegnung frisch, das sieht man den Gesichtern der Menschen an, wenn sie sich auf dem Petersplatz, in Rio de Janeiro oder Lampedusa oder bei einem der Papstbesuche in Rom um ihn drängen.

Zuerst habe ich diesen Überschwang misstrauisch betrachtet, denn Massenbewegungen haben immer etwas Verdächtiges an sich. Aber nachdem es Mittwoch nach Mittwoch, Audienz nach Audienz und Begegnung nach Begegnung genau so direkt, enthusiastisch und körperlich weiterging, wurde immer klarer, dass die Menschen, die Franziskus begegnen, sich einfach freuen, ganz ohne Vorbehalte. Dabei ist der Papst kein so charismatischer Mensch, wie es etwa Johannes Paul II. war. Eine Handbewegung, eine Geste – und die Menge und die Kameras verstanden, was dieser Papst wollte. Franziskus ist anders. ›Schlicht‹ will einem einfallen, aber das trifft es nicht. Pastoral vielleicht? Auf jeden Fall direkt, unmittelbar, unverstellt, authentisch.

Mittlerweile bin ich überzeugt davon, dass es diese Authentizität ist, die die Menschen überzeugt und begeistert. Was er tut und was er sagt, ist alles echt. Wie der erste Auftritt ist nichts symbolisch, nichts ist reine Geste, die etwas anderes ausdrücken soll. Wenn er nach Lampedusa fährt, um Flüchtlinge zu treffen, dann will er genau das: Flüchtlinge treffen. Da gibt es keine politische Botschaft dahinter, oder besser: Die politische Botschaft kommt in der Rangliste der Zwecke erst ganz weit hinten. Seine Kommunikation ist direkt und klar, worauf wir noch zurückkommen werden. Diese Authentizität ist es, die Freude macht. Man sieht ihn und versteht sofort, ›wie Religion geht‹.

Schlüsselwort ›Freude‹

›Freude‹ ist ein Schlüsselwort dieses Papstes. Es gibt andere, die häufiger genannt werden, ›Reform‹ zum Beispiel oder ›Armut‹. Wenn man den Menschen begegnet, die gerade von einem Treffen mit dem Papst kommen, dann ist es aber vor allem Freude, die in den Gesichtern steht.

Freude ist auch ein Wort, das in seinen Predigten immer wieder auftaucht. Es ist ein Wort, das ein wenig altmodisch klingt, hat es doch gar nichts mit den Dingen zu tun, die uns Spaß machen oder Befriedigung verschaffen. Das, was Freude von allen anderen dieser Begriffe wie Spaß etc. trennt, ist die Tatsache, dass wir Freude nicht machen können. Eine Aufforderung wie »Freu dich, sofort!« fällt ins Leere. Freude steht uns nicht zur Verfügung. Viel von dem, was diese Freude ausmacht, wird vom Papst im Text selber beschrieben.

Evangelii gaudium ist der erste von Franziskus vollständig selbstverfasste längere Text. Viel ist bereits geschrieben worden und viel wird noch über diesen Text geschrieben werden, aber Sie halten diese Ausgabe ja in der Hand, um den Text selbst zu lesen, und genau so soll es auch sein. Meine Einführung will keine Zusammenfassung des Textes sein und schon gar nicht soll sie das Lesen ersetzen. Aber ein Schreiben, das neben der internationalen Finanzwirtschaft die Reform der Kirchenstrukturen und die Predigtvorbereitung behandelt, braucht vielleicht eine Handreichung oder eine Art Lesehilfe. Die möchte ich mit diesen Zeilen anbieten.

Was für einen Text haben wir in der Hand?

Evangelii gaudium ist eine apostolische Exhortation, also ein Lehrschreiben. Franziskus merkt an, dass das Interesse an kirchlichen Dokumenten nicht wirklich nachhaltig ist, eine Erfahrung, die wir gut nachvollziehen können. Wann haben Sie das letzte Mal eine kirchliche Verlautbarung mit Spannung erwartet? Aber obwohl er um die Schwierigkeit weiß, mit solchen Texten im Zeitalter von kurzen Predigten, Twitter und 1.30-Minuten-Statements im Fernsehen zu kommunizieren, schreibt er dennoch. Für ihn ist das, was er zu sagen hat, programmatisch, und dieses Programm will formuliert sein. Damit geht der Text der Intention nach über den Charakter eines reinen Lehrschreibens hinaus.

Eine offizielle Festlegung über Rang und Bedeutung eines solchen Textes gibt es nicht; Enzyklika, Exhortation, Apostolischer Brief sind ganz verschiedene Formen, sich an die Gläubigen zu wenden. Eine Enzyklika mag formal bedeutender sein, aber letztlich entscheidet allein der Inhalt.

Grundsätzlich behandeln solche Exhortationen bestimmte Themen. Sie schließen Bischofssynoden ab (sogenannte Postsynodale Apostolische Exhortationen); auch Evangelii gaudium nimmt die Beratungen der Bischofssynode vom Oktober 2012 auf. Allerdings ist der Text eben nicht »postsynodal«, also nicht rein auf die Synode bezogen.

Quellen des Textes

Ein Wort an dieser Stelle zu den Quellen dieses Textes. Zum einen sind da, wie gesagt, die Ergebnisse der Synode zu nennen. Dem Papst (noch Benedikt XVI.) sind sogenannte Propositionen vorgelegt worden, auf die auch eine ganze Reihe von Aussagen im Text Bezug nehmen; Sie erkennen das jeweils an der Fußnote. Die vollständige Liste der Propositionen können Sie – auf Englisch – auf der Webseite von Radio Vatikan finden.

Zweitens erwähnt der Papst den Rat, den er sich eingeholt hat (16). Papst Franziskus ist berühmt dafür, dass er zum Telefonhörer greift und um Rat fragt. In einigen der Bücher, die aus Gesprächen mit ihm entstanden sind, erzählt Franziskus von ihm wichtigen Menschen, deren Rat er einholt oder mit denen er spricht, wenn ihm etwas ganz wichtig ist.

Drittens nennt er seine eigenen Gedanken und Erwägungen als Quelle (16). Wer die Predigten Papst Franziskus’, besonders die während der Morgenmessen, verfolgt hat, dem werden sehr viele Formulierungen bekannt vorkommen. Die dem Papst eigene Fähigkeit zu lebendigen Bildern und treffenden, manchmal humorvollen Umschreibungen findet sich auch in Evangelii gaudium wieder: Mir fällt die »verbeulte Kirche« ein oder das »Christsein wie Fastenzeit ohne Ostern«. Viel Denken, Beten und Reflektieren von früher ist in den Text eingeflossen. Noch einmal möchte ich die Gesprächsbücher mit Kardinal Jorge Mario Bergoglio[1] erwähnen. Wer sie kennt, dem wird ebenfalls Einiges auffallen, was hier wiederkehrt. Es ist also nichts grundlegend Neues, was der Papst präsentiert; ich würde es eher als eine Art Ernte bezeichnen. Was im Laufe der vergangenen Jahre in ihm geistlich gewachsen ist, das holt er nun ein.

Erwähnenswerte Quellen sind auch einige bedeutende kirchliche Texte. Natürlich sind da die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils, vornweg Lumen gentium, also die Konstitution über die Kirche in der Welt von heute, und Unitatis redintegratio, das Dokument über die Ökumene, das vor allem für die Methode des Papstes wichtig ist. Dann sind da aber auch zwei Schreiben Papst Pauls VI.: seine Antrittsenzyklika über die Kirche (Ecclesiam Suam) und eine Exhortation, die auch bei der Bischofssynode zur Neuevangelisierung 2012 immer und immer wieder begeistert erwähnt wurde (Evangelium nuntiandi von 1975, ihrerseits selbst ein Ergebnis einer Bischofssynode).

Natürlich sind da auch einige Texte von Papst Johannes Paul II., aber bedeutsamer ist vielleicht das Abschlussdokument der Versammlung der lateinamerikanischen Bischofskonferenzen von 2007, normalerweise nach dem Tagungsort »Aparecida« benannt. Schon häufiger haben sich die Bischöfe Lateinamerikas und der Karibik zusammengesetzt, um maßgebliche Papiere zu verfassen, jeweils benannt nach dem Entstehungsort. Medellín und Puebla seien hier genannt; von dorther (1968 und 1979) stammt der Begriff der »vorrangigen Option für die Armen«. Aparecida hatte 2007 den Begriff der »Misión continental« eingeführt und damit eine kontinentweite Bewegung begonnen, neue Formen der Verkündigung zu entdecken und zu pflegen. Man kann dieses Dokument in seiner Bedeutung für Lateinamerika kaum überschätzen. Bei seiner Reise nach Brasilien im Sommer 2013 hat Franziskus einen Abstecher in diese Stadt zwischen Rio und São Paulo gemacht, um selber noch einmal die Wichtigkeit dieses Dokumentes für die Kirche in Lateinamerika und auch für ihn zu betonen. Kardinal Bergoglio war 2007 federführend für die Abfassung zuständig, und Vatikansprecher Pater Federico Lombardi erzählte einmal, dass jeder Staatschef, der den Papst besuche, eine Kopie dieses Dokumentes in die Hand bekomme. Viele Ideen aus Aparecida finden sich eins zu eins in Evangelii gaudium wieder.

Neben den lateinamerikanischen Bischöfen, deren Stimme wir im Dokument von Aparecida lesen, kommen in Evangelii gaudium auch immer wieder Stellungnahmen anderer Kontinente zur Sprache, etwa Indien, Ozeanien, Afrika oder die USA; der Papst legt offensichtlich Wert auf das Hören auf die Ortskirchen. Das Dezentrale, das er erwägt, lebt er in dieser Schrift bereits vor.

Abschließend ist noch einer der größten Theologen der Kirche zu nennen, der eine große Rolle in der Exhortation spielt: Thomas von Aquin. Sein präzises Denken liefert immer wieder den Hintergrund für Erörterungen Franziskus’, vor allem wenn es um Ethik oder um Verschiedenheit und Einheit geht.

Der Sprachstil

Papst Franziskus schreibt an alle, das wird immer wieder deutlich. Und alle bedeutet, dass auch Nichttheologen Gewinn aus der Lektüre ziehen können. Franziskus entschuldigt sich bei den Lesern für einen Neologismus, ein von ihm erfundenes spanisches Wort (24), und wenn er die Konzilslehre von der Hierarchie der Wahrheiten anführt (36), folgt darauf gleich ein Beispiel aus dem Alltag eines Predigers (38). Es ist ihm wichtig, Sie alle anzusprechen, nicht nur einen Kreis von Menschen, die mit kirchlichen Dokumenten umzugehen gewohnt sind.

Auch sein Sprachstil trägt dazu bei. Anführen möchte ich ein Stilmittel, das auffälligerweise fehlt. Kirchliche Dokumente aller Ebenen sind gern mit Bibelzitaten angereichert, um die Rückbindung an die Ursprungstexte zu verdeutlichen, leider meistens mit Folgen für die Lesbarkeit. Abgesehen von der biblischen Hinführung zur Freude im Anfangsteil verzichtet Franziskus weitgehend darauf; man braucht kein exegetisches Wissen, um nachzuvollziehen, was der Papst sagen will. Wenn er die Bibel zitiert – und das tut er vor allem im letzten Drittel des Textes –, dann um Gedanken von dort in seinen Text einzuführen, nicht um seine eigenen Gedanken zu illustrieren. Papst Franziskus zeigt so eine ganz eigene Wertschätzung für die Heilige Schrift.

Manchmal ist die Sprache Franziskus’ recht robust, manchmal wird sie sehr persönlich, wie etwa wenn er uns Leser mit »ihr« anspricht oder von seinen Träumen spricht. Dann wiederum übernimmt sie an einigen Stellen die manchmal weltfremd klingende Präzision der Dogmatik oder des Kirchenrechts, etwa wenn es um die »authentische Lehrautorität« der Bischofskonferenzen geht – ein Terminus technicus (32). Dann wieder wird es für einige Sätze eine Gebetssprache, eine kurze Anleitung zu einer betenden Erforschung des Gewissens. Er bittet, »noch heute« die persönliche Begegnung mit Christus zu suchen (3). Es lohnt sich dann, den Text einige Momente lang sinken zu lassen und der Einladung des Papstes nachzugehen.

Wir werden uns schnell darauf einigen können, dass die eindrucksvollsten Stellen diejenigen sind, wo Franziskus von »individualistischer Traurigkeit«, von der »Kirche mit offenen Türen«, von der »verbeulten Kirche« spricht, von der »Revolution der Zärtlichkeit«. »Ich will keine Kirche, die darum besorgt ist, der Mittelpunkt zu sein«: Hier kommt der Mensch Franziskus am deutlichsten zum Vorschein, und die Textstellen sind deswegen auch die packendsten.

Franziskus lässt die Sprache so, wie sie dem Thema angemessen ist; er unterwirft die Themen nicht einem gewissen kirchlichen Sprachstil. Das mag dann an manchen Stellen uneinheitlich wirken, trägt aber sehr zur Verständlichkeit bei.

Immer wieder hören wir den Papst selber sprechen – den Menschen, nicht das Amt. »Ich erinnere mich …« heißt es da (7). Und wenn man liest, was er über das sagt, was er die »Mystik« nennt, dann können wir gar nicht anders, als uns Franziskus inmitten der Menge auf dem Petersplatz vorzustellen: »zusammen zu leben, uns unter die anderen zu mischen, einander zu begegnen, uns in den Armen zu halten, uns anzulehnen, teilzuhaben an dieser etwas chaotischen Menge, die sich in eine wahre Erfahrung von Brüderlichkeit verwandeln kann« (87). Seine Sprache ist insgesamt sehr körperlich, physisch. Sie ist wie seine ganze Kommunikation, Papst Franziskus geht immer aufs Ganze. Geist und Körper, Barmherzigkeit und Umarmung, Gebet und Händeauflegen, Reform und Einfachheit gehören zusammen, das eine ist nicht Symbol für das andere. Das macht die Sprache sehr zugänglich, manchmal etwas sperrig, was durchaus seine ganz eigene Attraktivität hat, aber es macht das Projekt – wie wir sehen werden – auch anstrengend.

Die Kapitel des Textes: Worum es geht

Nun kann man fragen, ob das alles auch wirklich zusammengehört. Wie kann es zum Beispiel sein, dass die soziale Eingliederung der Armen – ein weltweites Phänomen, das Wirtschaft und Gerechtigkeit und alles Mögliche umfasst –, den gleichen Rang bekommt wie das Predigen (bzw. umgekehrt)? Auf den ersten Blick wirkt vielleicht einiges lose zusammengesetzt und nur durch schlagkräftige Formulierungen und den Aufruf zur Reform zusammengehalten. Schauen wir aber genauer hin, zeigt sich durchaus ein Ganzes.

Es fällt auf, dass die vom Papst angegebenen sieben Themenbereiche (17) nicht mit den fünf Kapiteln übereinstimmen, in welche die Exhortation eingeteilt ist. Das muss uns nicht weiter verwirren; die formale Einteilung trennt die Inhalte voneinander, während der Papst selber seinen inneren roten Faden angibt, der nicht immer gleich zu erkennen ist.

Einige Abschnitte scheinen auch allein zu stehen und nur durch die Klammer des Themas verbunden zu sein. Auch das braucht nicht zu verwirren. Der Papst ist in seinem Text ein Anwalt der Vielfalt, die sich im Idealbild des Polyeders, eines vielflächigen geometrischen Körpers, zeigt (236); es geht nicht um geschliffene Ecken und Kanten, sondern die Einzelteile dürfen durchaus ihren Charakter behalten und bilden dennoch ein Ganzes.

Der Papst beginnt fulminant. Etwas wagen, Begeisterung, Freude, Begegnung, Weitergabe des Glaubens. All die ihm am Herzen liegenden Themen kommen direkt vor. Gott wird nie müde, uns zu verzeihen, es liegt an uns, auf Gott zuzugehen. Alles kommt in Bewegung, Franziskus schafft beim Lesen einen Rhythmus, dem man sich schwer entziehen kann.

Das erste Kapitel will ein Verständnis dafür schaffen, was mit der Verkündigung – im Text mit dem kirchlich gebräuchlichen, aber leider im Deutschen etwas schwer vermittelbaren Wort »Mission« bezeichnet – genau gemeint ist. Stichworte sind »Aufbruch«, »Verschiedenheit«, »Freiheit«, »Reform« und »Läuterung«. Hier zeigt sich, wie sehr die Grundbewegung des Glaubens, die den Glaubenden zu einer Weitergabe drängt, mit Veränderung verbunden ist. Wagemut, Kreativität und Besonnenheit sind Haltungen, die der Papst hier ausbuchstabiert (33, 47). Es geht um die Lehre der Kirche, um Ethik, um Praxis, um die Sakramente und um die Sprache der Verkündigung.

Bei der Erörterung der Sprache findet sich eine Spannung, die für alle anderen Betrachtungen maßgebend ist: Die Sprache muss vielgestaltig sein, aber wir dürfen uns nicht der Illusion hingeben, dass eine perfekte Sprache das Kreuz verschwinden ließe. Es wäre falsch zu glauben, wenn man nur die richtigen sprachlichen Mittel einsetzte, dass dann der Glaube weniger sperrig werde. Der christliche Glaube ist ohne diese letzte Unverständlichkeit nicht zu begreifen (42); es kann also gar nicht um eine Anpassung des Glaubens an die Zeit gehen. Der Stein des Anstoßes, das Kreuz, bleibt. Diese methodische Grundspannung betrifft auch die anderen Teile des Kapitels.

Im zweiten Kapitel geht es um einige »Aspekte der Wirklichkeit«, in der die Weitergabe des Glaubens stattfindet (51). Hier sind auffällig die ersten vier »Nein zu …«, klare Absagen gegenüber bestimmten Wirtschaftsformen, die Freiheit und Menschlichkeit ausschließen. Hier zeigt sich nicht ein kirchlicher Reflex gegen eine moderne Welt, sondern das offene Auge für die Wirklichkeit und der Wille, sich damit nicht abfinden zu wollen. Es geht um den Ausschluss von Menschen und die »Kultur des Wegwerfens«, ein Papst Franziskus sehr wichtiges Thema; es geht um die Vergötzung des Geldes, um Unterwerfung und um Gewalt hervorbringende Ungleichheit. »Diese Wirtschaft tötet« (52) ist der provozierende Satz, um den man nicht einfach herumlesen kann.

Es geht auch um die Absage an einen zersetzenden Relativismus, ein Thema, welches das vergangene Pontifikat sehr bewegt hat.

Ganz stark sind die Aussagen zu den Versuchungen, wie Franziskus es nennt, also den inneren Bewegungen, die von einer fruchtbaren Weitergabe des Glaubens abhalten. Karrierismus, Egoismus, Pragmatismus, spiritueller Konsumismus: die ganzen Ismen der in der Kirche Tätigen kommen auf den Prüfstand, gekrönt von seinen Gedanken zur »spirituellen Weltlichkeit« (93). Franziskus legt uns hier eine Erforschung unseres innerkirchlichen Gewissens vor. Die ganzen Subjektivismen, Selbstgerechtigkeiten und die sich daran anschließenden innerkirchlichen Konflikte richteten sich gegen die Kirche selbst: »Wen wollen wir mit diesem Verhalten evangelisieren?« (100).

Einzelne Personengruppen behandelnd geht es dann abschließend um die Laien, um die Rolle der Frau, die Rolle des Priestertums, die Jugend und die Frage nach den Berufungen.

Das dritte Kapitel befasst sich mit dem eigentlichen Kern, der Verkündigung, der Mission, der Evangelisierung oder Neuevangelisierung, wie auch immer man das bezeichnen will. Es geht um die Vielgestalt der Kirche und die verschiedenen Kulturen. Europa bekommt ein Warnsignal gezeigt: Es könne und dürfe nicht seine historisch gewachsene Kultur mit dem Christentum gleichsetzen (118).

Glaubenssinn, Volksfrömmigkeit, Symbolik des Glaubens: Papst Franziskus wendet sich einzelnen Ausdrucksformen des Glaubens und der Weitergabe zu. Ganz besondere Aufmerksamkeit erhält die Homilie, also die Predigt zur Schriftauslegung in der Messe. Man könnte es sogar als einen »Text im Text« verstehen, als eine »Exhortation in der Exhortation«, in der Franziskus im Kleinen den Gesamtzusammenhang des Textes durchexerziert.

Es folgen Überlegungen zur Einführung in den Glauben, zur Katechese und zur geistlichen Begleitung. In allem ist der Mensch das Maß der Mittel; hier trifft sich dieses Kapitel mit dem vorhergehenden und dem nachfolgenden.

Nach diesen eher konkreten Überlegungen wird es im vierten Kapitel wieder abstrakter und geistlicher, theologischer. Zunächst betont der Papst, dass Glaube immer die ganze Welt verändern wolle; einen privaten Glauben zur individuellen Vorbereitung auf die Welt ›danach‹ könne es nicht geben.

Dann geht es noch einmal um die Armen, die Hinfälligen, die Opfer von Menschenhandel, die Migranten, besonders auch die ungeborenen Kinder. Diese Armen werden von Gott bevorzugt; hier geht es nicht um eine besondere Form von Caritas oder Spendentätigkeit, sondern um eine Sicht auf die Welt. Die Option für die Armen sei eine »theologische Kategorie« (179). Mit der Frage »Wo ist dein Bruder?« (211) erinnert er an seine Predigt auf Lampedusa, wo er uns alle genau das gefragt hat. Tausende Menschen ertränken und wir empfänden nicht einmal mehr Trauer, hat er damals gesagt. Gegen diese Form von Mittäterschaft müsse sich der Glaube ganz deutlich ausrichten; »prophetischen Widerstand gegen den hedonistischen heidnischen Individualismus« (193) nennt Franziskus das, eine deutliche Sprache. Hier wird er auch in der theologischen Einordnung sehr deutlich; keine kirchlichen Deutungsversuche hätten das Recht, hier irgendetwas zu relativieren (194).

In diesem Kapitel legt der Papst »vier Prinzipien« vor, wie er es nennt, pastoral-philosophische Erörterungen über das Verhältnis von Zeit und Raum, Einheit und Konflikt, Wirklichkeit und Idee und schließlich über den Vorrang des Ganzen vor dem Einzelnen. In aller Kürze klingt das hier vielleicht sehr abstrakt; mir wird aber hier die ganz besondere, nüchterne Version der Weisheit dieses Papstes deutlich. Wenn er abstrakt wird, hebt er nicht ab.

Den Abschluss dieses Kapitels bilden seine Gedanken zu Glaube und Vernunft, Ökumene, zum Dialog mit dem Judentum, zum interreligiösen Dialog und zur Religionsfreiheit.

Das Abschlusskapitel bindet alle Überlegungen zusammen, indem es über den Geist nachdenkt, der die Weitergabe des Glaubens prägt. Es ist eher eine Meditation denn ein erörternder Text, die Sprache ist nüchtern. Man kann es als zweiten Teil der innerkirchlichen Erforschung des Gewissens lesen; noch einmal geht es auch darum, wo die Glaubenden in der Kirche zu kurz greifen. Kritik gibt es für diejenigen, die zu großen Abstand zu den Wundmalen halten (270), für die Herren in der Kirche (271) und so weiter.

Aber das ist nicht die Absicht des Kapitels, es ist vielmehr ein Stilmittel Franziskus’. Es geht ihm in dieser Meditation vielmehr um eine Grundhaltung. Es geht um Beten und Handeln, missionarischen Eifer, den Dank, die Fürbitte und den Blick auf Maria.

Geistliche Lesart

Jede und jeder von Ihnen wird eigene Gründe haben, zu diesem Text zu greifen. Vielleicht wollen Sie wissen, was dran ist an den Schlagzeilen über den Reformwillen. Vielleicht haben sie die bisherigen Predigten und Ansprachen verfolgt und möchten nun den Zusammenhang sehen. Vielleicht wollen Sie sich über die Anfangsbegeisterung für diesen Papst hinaus anregen lassen. Oder Sie wollen sich schlicht von der Freude packen lassen. Alle Motivationen haben ihre Berechtigung und sind ein Tor in den Text hinein, denn unsere Erwartungshaltung prägt das, was wir wahrnehmen.

An dieser Stelle möchte ich eine Weise des Lesens des Textes anregen, die eine eher geistliche ist. Sie richtet sich nach dem spirituellen Grundgerüst, von dem auch Papst Franziskus geprägt ist und das auf Ignatius von Loyola, den Gründer des Jesuitenordens, zurückgeht.

Der Papst spricht in seiner Exhortation vom Genießen der inneren Freude und von der Begeisterung, das Gute zu tun (2). Das sind alles innere Regungen, Reaktionen in uns. Geistlich nützlich ist es, diese inneren Regungen – Bewegungen, wie Ignatius sie nennt – zu registrieren. In den Worten des Papstes aus der Exhortation: »Es ist gut, sich der Gegenwart Gottes bei einer ruhigen Lektüre des Textes (der Bibel) zum Beispiel zu fragen: Herr, was sagt mir dieser Text? Was möchtest du mit dieser Botschaft an meinem Leben ändern?« (153). Eine Exhortation ist nicht die Bibel, und dennoch hält das Prinzip. Wenn ich mich ernsthaft fragen will, was das alles für mich bedeutet und was Gott von mir will, wenn es um die Weitergabe des Glaubens geht, dann lohnt es sich, vorurteilsfrei auf die eigenen Reaktionen zu schauen. Jubel, Abwehr, Freude, Zögern, Fragen, Zustimmen: All das sind innere Bewegungen. Und all das sagt mir etwas über meinen Stand der Dinge, wenn es um das Thema der Weitergabe des Glaubens und der Erneuerung geht.

Wenn der Papst vom »Wandel« spricht – und dieser Gedanke durchzieht prägend die gesamte Exhortation –, dann will er, dass wir uns nicht von der Angst vor dem Hinausgehen lähmen lassen, sondern dass wir uns bewegen lassen von der Angst vor Haltungen, die uns Sicherheit vorgaukeln. Diese Angst ist ebenfalls eine innere Bewegung; um vom abstrakten »richtig oder falsch« wegzukommen, lohnt es sich, den eigenen Sorgen nachzugehen, wie sie sich als Reaktion auf die Lektüre zeigen.

Ich schlage das vor, weil mir scheint, dass eine rein akademische Debatte dem Text nicht gerecht wird. Papst Franziskus ist ein zutiefst geistlich denkender und sprechender Mensch, und durch eine geistliche Lektüre des Textes entdeckt man vielleicht Sinn, der einem ausschließlich intellektuellen Zugang verwehrt bliebe. Es geht dabei um Ehrlichkeit sich selbst gegenüber, es geht um innere Widerstände, die sich gerne als rationale Einwände maskieren, es geht um Sorgen und so weiter, die dazugehören, wenn ich mich auf die Freude des Evangeliums einlassen will.

Zu diesem Vorschlag fühle ich mich ermutigt, weil Franziskus selber immer wieder von diesen inneren Bewegungen spricht, die »Traurigkeit« zu Beginn (2) zum Beispiel. Auch sein Sprechen von »Versuchungen«, die uns von der wahren Freude abhalten (7), gehört hier hinein.

Die Begegnung mit Jesus Christus, von der der Papst zum Ende des Textes meditativ und fast hymnisch spricht, ereignet sich ebenfalls hier, im Innern des Menschen, als Reaktion zum Beispiel auf das, was der Papst uns an Gedanken, Anregungen, Herausforderungen, Forderungen, Ermahnungen und Gebeten vorlegt. Wenn ich diese inneren Bewegungen wahrnehme und reflektiere, dann habe ich eine Chance zu dem, was der Papst »aus sich selbst herausgehen« nennt.

Gott zuerst

Nach diesen geistlichen Lese-Anregungen möchte ich noch eine weitere, eher theologische nennen, die sich durch den gesamten Text der Exhortation zieht: Gott ist immer der zuerst Handelnde. Das ist nicht wirklich originell, sondern eine der Grundlagen christlichen Denkens und Betens, aber es scheint dem Papst notwendig, es immer wieder zu erwähnen.

Dahinter steckt eine geistliche Einsicht: Auch wenn wir es wissen, müssen wir immer wieder neu daran erinnert werden. Allzu gern verlassen wir uns auf uns selber oder lassen unsere eigenen Wünsche in den Vordergrund rücken. Im Innern ahnen wir, dass das alles uns überfordert und das Sicheinlassen auf Gott scheint zu unsicher, da verlassen wir uns doch lieber auf uns selber. Dabei ist genau die Schwachheit der Ort der Begegnung mit Gott. In einer Predigt zum Beginn des Advent nannte Papst Franziskus das den »Dialog zwischen unserer Schwäche und Gottes Treue«.

Die Freude des Evangeliums rührt also vor allem von Gott her und davon, dass Gott sich uns mitteilt und zuwendet – selbst wenn wir selber nicht wissen wohin oder uns abwenden. Die Freude ist das Ergriffensein durch das liebende »Zuerst« Gottes, das wir theologisch Gnade nennen.

Alles vom Papst Kritisierte, die vielen Ismen, von denen ich weiter oben sprach, die Fehlformen des Glaubens wie geistlicher Subjektivismus oder der Glaube an das Ausreichen der eigenen Fähigkeiten (Gnostizismus bzw. Neu-Pelagianismus [94]), all das ist letztlich nichts anderes als ein Sichabwenden von diesem Prinzip des Vorrangs der Gnade. Es sind – geistlich gesprochen – Versuchungen, in die wir fallen.

Ganz besonders deutlich wird der Vorrang Gottes beim Sprechen über die Themen, welche die meiste Aufmerksamkeit erhalten haben, die Reformthemen. So begeistert wir auch über Reform sprechen, betont der Papst immer und immer wieder, dass sich alles am Willen Gottes für uns und damit letztlich an der Weitergabe der Frohen Botschaft ausrichten muss. Das dient nicht der Ruhigstellung, sondern ist im Kern noch viel radikaler als das, was wir uns selber ausdenken können. Radikaler, weil es über die innerweltlichen Taktiken und Notwendigkeiten hinausgeht und zur Kreativität, aber auch zum Risiko einlädt. Das Wort Gottes trägt in sich Anlagen, die wir nicht voraussehen können (23), wir werden überrascht von der »beständigen göttlichen Kreativität« (11). Dort spricht Franziskus auch von gesprengten Schablonen des Denkens und übertroffenen Prognosen. Jede Veränderung geht also nur mit ständigem Bezug auf Gottes »Zuerst«, wenn sie wirklich radikal und umfassend sein soll und über unsere eigenen Vorstellungen hinausgehen will.

Wer wirklich verändern will, kann das nur von Gott her tun, aus der Begegnung mit Jesus Christus. Und diese Begegnung hat dann eine Kraft, die wir selber nicht mehr kontrollieren können: »Der Sohn Gottes hat uns in seiner Inkarnation zur Revolution der zärtlichen Liebe eingeladen« (88).

Aufgabe von Kontrolle

Zu Beginn habe ich es bereits angedeutet: Wir haben keinen glatten Text vor uns, er will es auch gar nicht sein. Das macht das Lesen zu einer Art Werkstatterfahrung: Vieles ist begonnen, die Arbeitsbereiche sind benannt, die Arbeitsweise ist erläutert, aber wir sind weit davon entfernt, das Ziel erreicht zu haben oder auch nur zu erkennen.

Mit diesem Werkstattcharakter geht die Offenheit einher, welche die Perspektive des Papstes hat. Franziskus spricht mehrfach von Träumen (27, 31), und Träume haben es an sich, dass man sie nicht kontrollieren kann. Es ist nicht gesagt, wohin uns das führen wird, wenn wir uns aufmachen, aufbrechen, aus uns selber hinausgehen. Und das gilt für den einzelnen Glaubenden genauso wie für die Gemeinschaft. Wie ein dem Wunsch Jesu treueres Papsttum letztlich aussehen wird, ist genau so offen wie alle anderen Bereiche der Kirche.

Franziskus gibt uns keine Blaupause vor. Aber immer und immer wieder hat der Papst in Ansprachen und Predigten eingeladen, mitzumachen. Das scheint erst einmal ein Widerspruch zu sein, ein Ohne-Plan-Agieren. Was es aber letztlich ist, ist ein Sichverlassen auf Gottes Barmherzigkeit. Ein Plan, ein Grundriss der Kirche der Zukunft würde eine Diskussion über Richtig oder Falsch auslösen, und genau das ist nicht die Absicht des Papstes. Er will nicht debattieren und erörtern, was die beste Reform oder die optimale Kirchenverfassung ist. Papst Franziskus will nicht Zustimmer, sondern Mitmacher. Er sucht nicht eine These oder Erklärung und will sie beweisen oder belegen, er will aufrütteln und zur Aktivität anleiten.

»Da ich berufen bin, selbst zu leben, was ich von anderen verlange, muss ich auch an eine Neuausrichtung des Papsttums denken« (32): Wer diesen Satz liest und nicht mindestens ein wenig ein schlechtes Gewissen bekommt, der sollte noch einmal genau nachdenken. Mitmacher sein bedeutet für den Papst, sich selber einbeziehen zu lassen. Wer zuerst das Papsttum, die Bischöfe, die Kirchensteuer oder irgendetwas anderes reformieren will, bevor er sich selber ins Spiel einbringt, der verpasst diesen Text.

Was dann geschieht, ist offen, weil es mit dem Geist Gottes zu tun hat. Die bereits erwähnte »göttliche Kreativität« lässt eine Planung vorab nicht zu. Und eine Kontrolle des Prozesses schon gar nicht.

Auch das kann man sehr gut an den Gedanken zur Reform sehen: Franziskus spricht von der »Dynamik des Aufbruchs, die Gott in den Menschen auslösen will« (20). Auch in der gerade zitierten Stelle über die Reform des Papstamtes wird das sichtbar: Er möchte Vorschläge hören, wie die Ausübung des Amtes dem Willen Jesu für dieses Amt treuer ist (32). Im ersten seiner weiter oben angesprochenen »Prinzipien«, dem zu Zeit und Raum, bietet er eine Deutung dessen an: Es geht ihm darum, »Prozesse in Gang zu setzen anstatt Räume zu besitzen« (223, Hervorhebung von Papst Franziskus). Einen Raum zu besitzen bedeutet einfach übersetzt, Recht zu haben. Genau darum darf es im Wandel und der Veränderung nicht gehen. Aufbrechen, eine Richtung haben, aber den Weg nicht genau kennen. Oder übersetzt: Pilgern.

Es ist auch anstrengend

Es gibt eine Kurzversion dieser Exhortation, oder andersherum formuliert: Diese Exhortation liest sich wie eine ausführliche Version eines anderen Textes. Vor der Wahl zum Papst hatte Kardinal Jorge Bergoglio im sogenannten Vorkonklave, also der Aussprache der Kardinäle vor dem Einzug in die Sixtinische Kapelle, eine Rede gehalten. Der kubanische Kardinal Jaime Ortega hatte um das Skript gebeten, das es gar nicht gab, denn Bergoglio hatte nach Notizen gesprochen. In der Nacht schrieb er das für Ortega auf und gab ihm nach der Wahl die Erlaubnis, diesen Text zu publizieren.

Den Aussagen einiger Kardinäle nach soll diese Ansprache sehr viel Aufsehen erregt haben. Ein Kardinal soll gesagt haben »Das brauchen wir!« Monate später bekommen wir es also nun, ausführlich, in diesem Text.

Bereits in dieser Vorkonklave-Rede wird etwas deutlich, was ich zum Abschluss noch kurz andeuten will: Hier geht es um ein anstrengendes Christentum. Franziskus’ Lieblingsworte sind: dynamisch, aufbrechen, gehen, bewegen, aus sich heraus, aufbrechen, aufmachen und so weiter. Die Exhortation benutzt diese Worte immer dann, wenn es um den Sinn dessen geht, was der Papst erörtert. In der Vorkonklave-Rede ist das noch deutlicher und drastischer, da ist alles in Bewegung geraten.

In der Exhortation spricht der Papst davon, dass Gott eine Dynamik auslöst (20); er will nichts weniger, als was die Bischöfe in Aparecida eine »permanente Mission« genannt haben. Diese Aufforderung übernimmt Franziskus für die gesamte Kirche (25). Und wie wir lesen, hat das immer mit Aufbruch, Herausgehen und so weiter zu tun, weil die Freude, Jesus Christus zu begegnen, gar nicht anders kann, als sich mitteilen zu wollen: »ständige Reform ihrer (der Kirche) selbst« ist die Folge, das »ungeduldige Bedürfnis nach Erneuerung« (27). Das »bequeme pastorale Kriterium« des ›Weiter wie gehabt‹ geht über Bord, Wagemut und Kreativität sind gefragt (33).

Das ist nicht einfach. Vieles von dem, was wir heute als Kirche kennen und schätzen, werden wir verlassen müssen, nehmen wir das Schreiben ernst. Wir müssen Kirche nicht neu erfinden, aber der Aufruf zum »Aufbruch« betrifft eben nicht nur einige, er betrifft alle. Und wenn wir der Exhortation Glauben schenken, dann ist das nur ein Schritt (1), da kommen noch weitere. In einigen Reaktionen in den Medien hieß es, »der Papst müsse nun Taten folgen lassen«. Genau das ist falsch. Nicht der Papst muss – wir alle sollen, das ist die Idee dahinter. Wir können all die Veränderung und die Reform nicht auf den Papst projizieren; nicht Franziskus wird der Agent der Erneuerung der Verkündigung sein. Entweder die ganze Kirche oder gar nicht. Das ist der nicht gerade geringe Anspruch dieses Schreibens.