Die geflohene Geschichte - Kate Kowalski - E-Book

Die geflohene Geschichte E-Book

Kate Kowalski

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Beschreibung

Worte haben Macht, das weiß jeder in der Schriftstellerstadt Kapitolo. Denn aus Worten werden Figuren und Figuren werden lebendig. Deshalb muss jeder, der des Schreibens mächtig ist, seine Fingerabdrücke und eine Speichelprobe abgeben – sollte eine Figur aus ihrer Geschichte entkommen, können die Behörden so den Schöpfer der Figur identifizieren, der diese dann in die Geschichte zurückschreiben muss. Die leidenschaftliche Fantasy-Autorin Kate hatte bisher noch nie Probleme mit ihren Figuren. Umso erstaunter ist sie, als sie eines Nachts von der Polizei aus dem Bett geklingelt wird: Eine ihrer Figuren soll einen Mord begangen haben. Für Kate beginnt ein Abenteuer, in dem sie nicht nur ihre Figur finden und ihren guten Ruf retten muss, sondern auch einem Geheimnis aus der Vergangenheit auf die Spur kommt ...

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Seitenzahl: 528

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Das Buch

In der Schriftstellerstadt Kapitolo dreht sich alles um Geschichten. Und um die Macht des geschriebenen Wortes. Denn aus Worten werden Figuren, Helden und … Monster. Öfter als man glaubt, entkommen die Figuren aus ihrer Fantasiewelt und treten in die Realität über – was strengstens verboten ist. Deshalb muss jeder, der des Schreibens mächtig ist, seine Fingerabdrücke und eine Speichelprobe abgeben. Wenn eine Figur aus ihrer Geschichte entkommt, können die Behörden so den Schöpfer der Figur identifizieren, der dann mit einer Geldstrafe und im schlimmsten Fall mit einem Schreibverbot belegt wird.

Die leidenschaftliche Autorin Kate Kowalski hatte Gott sei Dank noch nie Probleme mit ihren Figuren. Bis eines Nachts die Polizei mit einem Durchsuchungsbefehl vor ihrer Wohnungstür steht. Eine ihrer Figuren soll einen Mord begangen haben. Zunächst kann Kate die Vorwürfe kaum glauben, schließlich schreibt sie Fantasy-Romane und keine Krimis. Die Beweislage ist jedoch eindeutig, es sieht nicht gut für Kate aus. Also beschließt sie, auf eigene Faust zu ermitteln, um ihre Unschuld zu beweisen. Aber als ein weiteres Verbrechen geschieht, keimt in Kate ein schrecklicher Verdacht auf …

Die Autorin

Kate Kowalski hat schon in ihrer Jugend Geschichten erfunden und aufgeschrieben. Bereits ihr Debüt Untergehen bei Ebbe war ein großer Erfolg und wurde in zwölf Sprachen übersetzt. Inzwischen hat sie über zwanzig Romane in verschiedenen Genres veröffentlicht. Sie lebt und arbeitet im Gartenviertel von Kapitolo, wo sie sich eine Wohnung mit der ehemaligen Straßenkatze Möbius und zu vielen Spinnen teilt. In alten Sagen und Legenden findet man die Theorie, dass es sich bei Kate Kowalski um eine bekannte deutschsprachige Autorin handelt. Nichts davon ist jedoch bewiesen. Vielleicht ist diese Autorin auch eine Romanfigur von Kate Kowalski – oder umgekehrt?

Roman

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

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Der Roman wurde mit Geldern aus dem Stipendienprogramm 2021 der VG WORT im Rahmen von NEUSTART KULTUR gefördert.

Originalausgabe 01/2023

Redaktion: Wera Riegler

Copyright © 2023 Kate Kowalski

Copyright © 2023 dieser Ausgabeby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Das Illustrat GbR, München

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN: 978-3-641-29195-2V001

Verantwortungsgesetz

– allgemeiner Teil –

(1)Die Verantwortlichkeit für den Übertritt der Figur liegt beim Autor und wird mit einer Geldstrafe von mindestens sieben und maximal dreihundertsechzig Tagessätzen geahndet.

(2)Die Höhe eines Tagessatzes bestimmt das Gericht unter Berücksichtigung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Autors.

(3)Auf Figuren werden dieselben Gesetze angewendet wie auf die Bürger des Staates.

(4)Aufgrund der Verantwortlichkeit des Autors für seine Figuren wird er anteilig an der Strafe beteiligt. Die Höhe des Anteils richtet sich nach der Schwere des Verbrechens.

(5)Gelten schuldmindernde Umstände für den durch die Figur verursachten Schaden, liegt die Verantwortlichkeit dafür anteilig beim Autor. Die Höhe des Anteils bestimmt das Gericht nach Prüfung der Intentionen des Autors während der Erschaffung der Figur.

(6)Die Verhandlung über den Schuldanteil des Autors hat zeitnah im Anschluss des Straf- und Zivilrechtsprozesses gegen seine Figur stattzufinden.

Vorwort der Autorin

Die Geschichte Kapitolos begann vor Tausenden von Jahren mit der ersten geflüsterten Erzählung am Feuer einer Kreatur, die bereits beinahe ein Mensch war.

Viele Generationen später erhob sich die Stadt auf den Überresten eines Dorfes, das auf den Grundmauern einer Siedlung errichtet worden war. Und das Flüstern am Feuer wurde eingefangen auf Pergament und Papier und zwischen die Seiten eines Buches gepresst. Die Stadt erhielt einen Namen und wuchs Jahr um Jahr und mit ihr die Wunder, die ihre Mauern beherbergten.

Kapitolo – die Stadt der Figuren.

Es heißt, wer nach Kapitolo kommt, dem ist es bestimmt, hier zu sein. Doch für niemanden ist die Stadt gleich. Manche sehen nur die breiten Alleen mit den zerfallenden Prunkhäusern und den vom Grünspan überzogenen Statuen auf den öffentlichen Plätzen. Andere wiederum spiegeln sich unentwegt mit den Wolken in den gläsernen Fassaden der Hochhäuser im Müntzviertel.

Selbst das Wetter ist für jeden anders. Regnet es in der einen Straße, bleibt es trocken in der nächsten. Hagelt es hühnereigroße Eisklumpen auf die Dächer von Autos und Booten drüben am Hafen, wirbeln weiche Schneeflocken zwischen den Windmühlenflügeln am westlichen Rand der Stadt.

Nur die Sonne brennt im Sommer für alle gleich und verpasst den Bewohnern gerötete Nasen.

Ich war zwölf, als ich die erste Figur sah, und sechzehn, als ich mit einer sprach. Den ersten Vertrag für ein Buch erhielt ich mit einundzwanzig. Natürlich war das nicht der erste Roman, den ich geschrieben habe, nur der erste, der seinen Weg aus meiner Schublade hinaus zu einer Agentur und anschließend zu einem Verlag gefunden hat.

Nach seinem Erscheinen nannte mich die wichtigste Tageszeitung der Stadt das Wunderkind der Literatur, nur um mein zweites Buch – eine Sammlung von Kurzgeschichten –, das genau ein Jahr später erschien, als Enttäuschung auf ganzer Linie zu bezeichnen. Ich solle mir mehr Zeit für das Schreiben nehmen, riet mir die Kritikerin.

Doch genau die besaß ich nicht. Immerhin musste ich das Eisen schmieden, solange es heiß war, das begriff ich bereits damals, so jung ich auch war. Die nächste fotogene Debütantin stand schon in den Startlöchern, um meinen Platz im Rampenlicht einzunehmen. Ich wollte Geld verdienen und allen beweisen, dass ich mit meiner Kunst auf eigenen Beinen stehen konnte, schließlich hatte ich das Studium dafür aufgegeben. Nach dem Erfolg des ersten Romans bildete ich mir ein, dass es nun ewig so weitergehen würde, ein Voranschreiten ohne Täler und Rückschläge. Ich war naiv und geschmeichelt – eine Kombination, die oft die Grundlage für Katastrophen bildet.

Es kam, wie es kommen musste: Mir rann das Geld nur so zwischen den Fingern hindurch, weil die Verkäufe leider nicht mit dem Kritikerlob mithalten konnten und sich das zweite Buch deutlich schlechter verkaufte. Also schrieb ich zunehmend schneller und verfasste zwei, manchmal sogar drei Romane pro Jahr, wechselte in beliebtere Genres, lieferte Kurzgeschichten für Magazine und Anthologien, um im Gespräch zu bleiben, und behauptete in jedem Interview, dass ich wenig Schlaf bräuchte.

Das stimmte natürlich nicht. Im Grunde befand ich mich während meiner Zwanziger in einem Zustand dauerhafter Erschöpfung, weil ich die meisten Nächte auf Partys und mit Schreiben verbrachte. Manchmal war ich so müde und verkatert, dass ich vergaß, an welchem Roman ich gerade arbeitete, und mit jedem Jahr wurde mein Stil schlampiger und die Anmerkungen meiner Lektorin länger.

Mit der Zeit bediente ich mich einer Reihe Pseudonyme, um gleichzeitig bei mehreren Verlagen zu veröffentlichen. Kate Winter schrieb fantastische Unterhaltungsromane für jedermann, Kate Raven verfasste Liebesromane zum Wegträumen und Kaden Andersson knallharte Krimis. Es fiel mir nicht schwer, zwischen den jeweiligen Autorenpersönlichkeiten hin und her zu wechseln. Während Kate Raven auf Lesungen stets süß und humorvoll auftrat, damit sie bloß niemandem auf die Füße trat, gab Kaden Andersson bärbeißige schriftliche Interviews (ich hatte einen Ex-Freund dafür bezahlt, dass er mir ein unscharfes Bild von sich als Autorenfoto zur Verfügung stellte), in denen er der Welt mehr Schlechtes als Rechtes unterstellte – und Kate Kowalski lag irgendwo dazwischen, doch auch ihre Interviews ließen ihr Leben deutlich interessanter erscheinen, als es in Wirklichkeit war.

Alles in allem war es jedoch ein einfacherer Job, als zum Beispiel jeden Tag schwere Möbel von einem Lkw herunterzuhieven, um sie anschließend in die vierte Etage zu tragen, das war mir schon bewusst. Mit anderen Worten: Ich kam zurecht. Mit einunddreißig war ich ein alter Hase und das Schreiben längst zur Routine geworden. Es diente dazu, Geld zu verdienen, von Kunst war schon lange keine Rede mehr, im Gegenteil. Wenn andere Autoren davon sprachen, dass Literatur nicht zu bloßem Handwerk verkommen dürfe, ärgerte ich mich darüber, wie geringschätzig auf meine Arbeit geblickt wurde, und hielt sie für hochnäsig und dünkelhaft. Tauchte in der Szene mal wieder ein sogenanntes Wunderkind auf, konnte ich nur noch nachsichtig lächeln. Ich hielt mich für abgeklärt. Fragte mich jemand, was ich beruflich tat, antwortete ich stets knapp und fügte hinzu: »Keine Angst, meine Figuren sind noch nie übergetreten, diese Art von Autorin bin ich nicht.«

Denn seien wir ehrlich, das ist es doch, was die meisten von Ihnen von uns Autoren glauben, deren Figuren nach Kapitolo kommen: dass wir die Kontrolle verloren haben, den Bezug zur Realität. Dass die Grenze zu unserer Fantasie durchlässig geworden ist, und diese Grenze, das wissen wir alle, muss unter allen Umständen aufrechterhalten werden. So tun, als ob ist nur in Ordnung, wenn wir Kinder sind. Tagträume sind gestattet, solange wir sie der Realität nicht vorziehen. Und was sind diese nach Kapitolo gelangten Figuren anderes als Ergebnisse eines Als-ob-Spiels, das wir mit uns und den Lesern spielen? Tagträume, die mit der Realität konkurrieren? Das ist es doch, was Sie denken, oder etwa nicht?

Sie nehmen an, dass wir einen Schritt zu weit gegangen sind und die Großzügigkeit der Öffentlichkeit, die es uns ermöglicht, vom Schreiben zu leben, damit entlohnen, sie durch unsere Figuren in Gefahr zu bringen. Sie sehen den Verdacht bestätigt, der von Anfang an auf uns liegt.

Dieses Misstrauen, das gebe ich zu, ist nicht ganz von der Hand zu weisen, immerhin machen wir etwas zu unserem Beruf, das uns in dieser Stadt stets an den Rand der Legalität führt. Dabei könnten wir an jedem anderen Ort der Welt schreiben, ohne die Konsequenzen des Übertritts zu befürchten. Trotzdem bleiben wir hier. Immer wieder werden wir daher gefragt, warum wir Kapitolo nicht verlassen – und immer wieder geben wir dieselben Antworten: Wir haben Familie hier. Wir haben schon immer hier gelebt. Hier gibt es die meisten Verlage, die meisten Messen und Veranstaltungen, das beste Publikum, die stärkste Kulturförderung, die besten Stipendien, überhaupt von allem das Beste! Und diese Antworten sind alle auf ihre Weise wahr, aber sie treffen nie den Kern. Die ehrlichste Antwort ist viel einfacher – und viel komplizierter, wie das immer mit solchen Dingen ist.

Sie lautet: Wir können uns dem Bann, den diese Stadt auf uns ausübt, einfach nicht entziehen; er bindet uns an ihre Straßen, Hügel und Plätze, wie Kinder an den Rockschoß ihrer Mutter, und gern nehmen wir das Risiko in Kauf, mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten und die Missbilligung der Menschen auf uns zu ziehen. Denn das hier ist Kapitolo, die Stadt der Figuren! Wo sollten wir sonst leben?

Nur hier ist der Quell der Kreativität unerschöpflich. Schreibblockaden gibt es nicht, an jeder Ecke finden sich Dutzende Ideen, wenn man nur hinschaut. Die Stadt ist ein reich gefülltes Büfett der Sinne, das dazu einlädt, sich zu bedienen; für jeden Geschmack ist etwas dabei, kein Geist bleibt hungrig. Nur hier gibt es etwas, das außer uns niemand kann, weder Maler noch Bildhauer, weder Schauspieler noch Sänger. In jeder Figur steckt das Potenzial, in unserer Welt zu erscheinen, und wir können uns dem Reiz des Verbotenen nicht gänzlich entziehen. Schreibenden kann man nicht trauen, hat schon mein Professor an der Universität im Anfängerkurs für Kreatives Schreiben immer behauptet und damit nur ausgesprochen, was vermutlich wahr ist.

Denn wer möchte nicht etwas Besonderes sein? Seien Sie ehrlich, könnten Sie der Versuchung widerstehen?

Nirgendwo auf der Welt ist die Grenze zwischen Realität und Fantasie so durchlässig wie in Kapitolo. Dafür wurde die Stadt berühmt; das ist es, was Touristen anzieht und Einheimische nicht mehr groß überrascht. Jeder begegnet irgendwann einmal einer lebendig gewordenen Figur, wenn er nur lange genug hier lebt.

Doch jeder weiß auch, dass sie nicht hierhergehören. Figuren gehören in die Fantasie. Verlassen sie die Seiten eines Buchs, werden sie zum Problem.

Dies ist die Geschichte meines Problems.

Es wurde viel darüber geschrieben und berichtet, die Zeitungen waren voll damit, es gab Sondersendungen und mehrseitige Artikel – und über alles, was danach geschah und mit mir nur noch sehr wenig zu tun hatte. Doch kaum etwas davon kam der Wahrheit auch nur nahe. Mein Name wird auf ewig damit verbunden sein, und deshalb wird es Zeit, die Geschichte einmal so zu erzählen, wie sie wirklich passiert ist.

Ich tue also, was ich immer getan habe: Ich schreibe sie auf …

Erster Teil

1

Wie alles begann:

Ich kam an dem Tag in die Stadt, als der weiße Wal vor dem Kaufhaus der Wünsche starb.

Als ich das Tier durch die Autoscheibe erblickte, wusste ich sofort, dass der Wal nicht von dieser Welt war. Es ging ein Zittern von ihm aus, das sich auf jeden übertrug, der ihn ansah.

Bei seinem Anblick erfasste mich das Grauen wie zuletzt Jahre zuvor, als die Bäume vor meinem Fenster im Licht der Straßenlaternen Schatten an die Wand warfen. Jedes Kind kennt diese Angst, die mit den flackernden Schatten einhergeht. Weil aus ihnen Monster erwachsen können, die uns bis in unsere Träume verfolgen.

Der Gestank des sterbenden Wals zog durch die Straßen, und die Leute schlossen Fenster und Türen. Sie hielten sich Tücher und Ärmel vor die Nasen und rannten hastig an dem verendenden Tier vorbei, das ausgerechnet auf dem grauen Asphalt übergetreten war statt im Wasser des Uferlosen Flusses, der die Stadt in der Mitte teilte.

An jenem Tag war mein dreizehnter Geburtstag nur noch eine knappe Woche entfernt, und ich zog in eine Stadt, die ich nicht kannte. Meine Mutter trat eine neue Stelle in Kapitolo an, weshalb die ganze Familie ihre Sachen packte und in die legendäre Stadt der Figuren zog. Dabei hatte es Tränen auf meiner Seite und lautstarke Diskussionen aufseiten meiner Eltern gegeben, weil mein Vater zwar stets behauptet hatte, er könne als freiberuflicher Genealoge überall arbeiten, damit im Grunde jedoch nur meinte, dass er seinen Laptop in den Urlaub mitnehmen wollte. Ich war wütend darüber, dass ich mein vertrautes Umfeld und meine Freunde verlassen sollte, doch am Ende der Sommerferien waren die Kisten verstaut, und wir fuhren dem Umzugstransporter auf überfüllten Autobahnen voraus.

Nichts daran macht diese Geschichte bereits zu einer besonderen, sie ereignet sich so oder so ähnlich jeden Tag tausendfach in diesem Land.

Als meine Eltern und ich jedoch sechs Stunden später im Schritttempo an der Absperrung vor dem Kaufhaus der Wünsche vorbeifuhren, spiegelte ich mich für einen kurzen Moment im Auge des sterbenden Wals – und auf einmal schien die Welt stehen zu bleiben. Als hätte mich etwas aus der Zeit gerissen.

In der trüber werdenden Iris sah ich ein dünnes Mädchen mit langen Fingern, die über dem aufgerissenen Mund und der rechten Wange lagen. Meine Hand roch nach Schweiß und Gummibärchen, die ich kurz vorher gegessen hatte. Die leere Tüte lag noch zu meinen Füßen. Mein langes blondes Haar war vom Lehnen gegen die Scheibe zerzaust, und in meinem viel zu ernsten Blick lag damals noch so vieles – Angst, Neugier und ein seltsamer Hunger auf Abenteuer.

In diesem Moment wusste ich, dass es mein Spiegelbild war, gleichzeitig jedoch erschien mir das Mädchen wie eine Fremde. Zum ersten Mal fragte ich mich, ob mein Ebenbild in der Fantasiewelt genauso aussehen würde wie dieses Mädchen vor mir, mit den leicht abstehenden Ohren, die ich stets unter dem langen Haar verbarg. Seit einem halben Jahr schrieb ich regelmäßig Tagebuch, und meine Mutter hatte mich gewarnt, dass alles, was ich nach unserem Umzug nach Kapitolo verfasste, die Gefahr barg, in die reale Welt überzutreten. Das war die Natur dieser Stadt.

»Ach …«, sagte sie nun auf dem Beifahrersitz und seufzte, während sie sich mit einem Erfrischungstuch über die Hände rieb, dessen Zitronenduft den Gestank von draußen vertreiben sollte. »Ich mochte das Buch nicht besonders, aber das ist doch eine Schande. Das arme Tier.«

Mein Vater nickte und versuchte, einen anderen Wagen zu überholen, damit wir schneller an der Absperrung vorbeikamen. Aber die Autos fuhren alle nur Schritttempo. Der Kadaver des Wals war viel zu faszinierend, jeder wollte einen Blick darauf erhaschen. Beim Anblick der aufplatzenden, austrocknenden Haut wurde mir übel.

Als sich meine Mutter zu mir umdrehte, glänzte der Schweiß des viel zu heißen Sommers auf ihrer sommersprossigen Nase. »Alles in Ordnung da hinten, Kate?«, fragte sie, und ich nickte.

»Mir geht’s gut«, gab ich die typischste aller Teenagerantworten, wenn genau das Gegenteil der Fall ist. Der Anblick des Wals und meines Spiegelbilds in seinem Auge hatte etwas in mir in Aufruhr versetzt. Mir zitterten die Hände.

»Willkommen in Kapitolo«, erwiderte mein Vater trocken und bog endlich in eine Seitenstraße ab.

Ich verrenkte mir den Hals, um aus dem Rückfenster zu sehen, aber der Wal war längst hinter der Häuserecke verschwunden. Nur sein Geruch begleitete uns noch bis zu dem vierstöckigen Gebäude, das die nächsten Jahre über unser Zuhause sein sollte.

Fünf Tage später, zu meinem dreizehnten Geburtstag, schenkten mir meine Großeltern eine Schmuckausgabe von Moby Dick, damit ich mich immer an den Tag erinnern würde, an dem ich das erste Mal in die Stadt der Figuren gekommen war.

Meine Mutter hielt es für ein geschmackloses Geschenk, aber mein Vater klopfte mir auf die Schulter und erwiderte: »Willst du ihr ab jetzt etwa alle Bücher verbieten, Schatz? Es wird nicht das letzte Mal sein, dass sie einer Figur begegnet.«

Damit sollte er recht behalten.

Aber der sterbende weiße Wal war meine erste, und ich frage mich manchmal, ob meine eigene Geschichte nicht anders verlaufen wäre, wenn ich ihm an jenem Tag nicht ins Auge geblickt hätte.

2

Achtzehn Jahre später – wie es eigentlich begann:

Das Klingeln an der Tür riss mich aus dem Tiefschlaf, als ich gerade von Kindern träumte, die mit Elefanten in steinernen Wasserbecken schwammen. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass das Geräusch nicht zu meinem Traum gehörte. Stöhnend quälte ich mich aus der Bettwärme. Durch die efeuumrankten Küchenfenster fiel schwaches Licht in den Flur und beleuchtete den Weg zur Wohnungstür.

Ich nahm an, dass es einer der Nachbarn war, der den Schlüssel vergessen oder verloren hatte und wenigstens ins Haus hineinwollte, um dort auf den Schlüsseldienst zu warten. Am Abend hatte es geschneit, und draußen lag knöchelhoch Pulverschnee über dem seit Tagen alles überziehenden Eis. Es waren die kältesten Tage des Winters, und in der Nacht gefror einem der Speichel schon auf den Lippen, wenn man keinen Schal über dem Gesicht trug.

Auch die Wohnung kühlte nachts herunter, ich konnte die unangenehme Kälte bereits an den Knöcheln spüren und wollte so schnell wie möglich ins Bett zurück. Als ich am Badezimmer vorüberging, griff ich mir den weißen Bademantel, der an einem Haken hinter der Tür hing. Ich war ein bisschen genervt und hundemüde, weil ich wieder einmal zu spät ins Bett gegangen war.

Als ich die Kamera einschaltete, die den Eingangsbereich des Hauses zeigte, sah ich jedoch keinen Nachbarn, sondern ein halbes Dutzend Polizisten auf den Stufen vor dem Haus stehen. Sie trugen kompakte schwarze Wintermontur, die ihnen das Aussehen riesiger Actionfiguren verlieh. Auf den Ärmeln ihrer Uniformen war der stilisierte Schwarze Tempel eingestickt, das Emblem der Abteilung Verbrechen durch Figuren – kurz VdF.

Augenblicklich überfiel mich Panik. Jeder Schreibende kennt die VdF und ihren Ruf. Niemand will mit ihr zu tun haben, denn wenn sie bei einem auftaucht, hat man ein Problem.

Und nun stand sie vor meiner Tür. Schlagartig war ich wach.

Jemand hielt einen Ausweis in die Kamera. Er sah echt aus. »Wir sind hier, um Sie zu einer Befragung aufs Präsidium zu begleiten.«

»Worum geht es denn?«, fragte ich nervös in die Gegensprechanlage.

»Das würden wir Ihnen gern persönlich mitteilen.«

Wie hypnotisiert drückte ich auf den Türöffner, und keine Minute später standen sie im Flur und forderten mich auf, mir etwas anzuziehen. Die Polizisten sprachen nur das Nötigste, ihre Mienen blieben starr, die Bewegungen weder zu aggressiv noch zu vertraulich. Ein Mann reichte mir einige Papiere, ein zweiter teilte mir mit, dass ein weiteres Team mit einem Durchsuchungsbefehl auf dem Weg war. Ob ich damit einverstanden sei, dass sie meine Rechner und Unterlagen beschlagnahmten und die Wohnung durchsuchten? Meine Kooperation würde das ganze Prozedere für alle Beteiligten wesentlich vereinfachen und mir später positiv angerechnet werden.

Ich brachte kaum ein Nicken zustande. Das Wort später jagte mir eine Heidenangst ein. Ich hatte das Gefühl, als würde mich jemand an den Schultern unter Wasser drücken. Auf die Idee, einen Anwalt anzurufen, kam ich gar nicht, in meinem Kopf herrschte ein einziges Durcheinander. Ich dachte an all die Dinge, von denen ich nicht wollte, dass sie ein Fremder sah: alte Liebesbriefe, Dessous, peinliche Filme und kitschige Platten, die nur für mich und einsame Nächte bestimmt waren und von denen nie jemand hatte erfahren sollen. Und ich dachte auch an meine Tagebücher in ihrem Versteck auf der Dachterrasse.

Trotz der Kälte begann ich zu schwitzen, mein Brustkorb fühlte sich eng an, und das Atmen fiel mir schwer. Der Mann sprach in sein Funkgerät, mehr Leute fluteten die Wohnung. Kurz darauf stand ich im Wintermantel im Flur, doch ich trug noch immer Pantoffeln. Eine Polizistin stellte mir die Stiefel vor die Füße, und diese Geste rührte mich sehr. Beim Schließen des Reißverschlusses zitterten mir die Finger, eine nervöse Reaktion, die sich seit meiner Jugendzeit immer dann zeigte, wenn ich aufgeregt oder aufgewühlt war. Vor allem beim Signieren von Büchern war das eine lästige Sache, die mir oft peinlich war.

Anschließend führte mich jemand am Ellbogen die Treppe hinunter und hinaus auf die Straße zum Einsatzwagen. In mir sträubte sich alles dagegen, Fremden meine Wohnung zu überlassen, es war ein kaum zu ertragender Eingriff in meine Privatsphäre, aber ich war viel zu überrumpelt, um mich dagegen zu wehren. Mir lagen Fragen auf der Zunge, ich wollte wissen, wer die Wohnung am Ende abschließen würde. Wann ich meine Sachen wiederbekommen würde, und ob sie wirklich alles aus den Schubladen herauszerren würden, wie man das in Filmen sah, oder ob das Ganze ordentlicher ablief. Hatten die Polizisten schon Schlimmeres gesehen als die Unordnung, die in meiner Küche herrschte, weil ich wieder einmal zu faul zum Abspülen gewesen war? Auf dem Herd standen noch die Reste der Spinatpasta vom Abend, und eine geöffnete Packung Kekse samt Krümeln lag auf der Anrichte daneben. Mir fiel ein, dass sich im Bad unter dem Waschbecken ein Berg Handwäsche stapelte, den ich am nächsten Tag hatte waschen wollen, auch das war mir peinlich.

Aber ändern konnte ich daran nichts mehr. Mit einem Knall fiel die Wagentür hinter mir zu, und ich verspürte den Impuls, schreiend dagegenzuhämmern und meine Freilassung zu fordern. Doch auch das tat ich nicht. Stattdessen saß ich wie erstarrt zwischen zwei Beamten der VdF, deren Knie meine rechts und links einkeilten und die auf jede meiner Fragen einsilbig antworteten, bis ich es schließlich aufgab. Alles, was ich von ihnen erfuhr, war, dass offenbar eine meiner Figuren nach Kapitolo gekommen war und man ihre Fingerabdrücke am Fundort einer Leiche gesichert hatte.

Die Polizei ging von Mord aus.

3

Die Einheimischen nennen das Polizeipräsidium den Palast der Schneekönigin. Dabei gibt es weder eine Schneekönigin noch einen Palast. Nur zwei moderne, sich in die Höhe schraubende Gebäudeflügel mit Milchglasfassade, die durch einen Backsteinoriginalbau verbunden sind. Dieser duckt sich zwischen die beiden hell strahlenden Anbauten, als schäme er sich für seine dunkle Vergangenheit.

Den Mauern dieses Mittelteils sieht man das Alter an; die unzähligen Jahre voller Tragödien, Anschuldigungen, geflüsterter Berichte, Geständnisse und vergossener Tränen. Von den strahlenden Fassaden des Schneepalasts prallt all dies ab. Und je länger ich dem Beamten Driessen in seinem Büro gegenübersaß, desto mehr kroch mir die Kälte trotz der Winterstiefel von den Füßen langsam nach oben in die Schultern, als wären die weiß gestrichenen Wände tatsächlich aus Eis. Ich versuchte zu begreifen, was geschehen war, aber es wollte mir nicht recht gelingen. Nie im Leben hätte ich damit gerechnet, dass eine meiner Figuren nach Kapitolo kommen würde. Ich hielt mein Schreiben für unbedenklich und ungefährlich, genau wie mich.

Bei der VdF sah man das offenbar anders. Peer Driessen hatte den Fall wenige Stunden zuvor übertragen bekommen ebenso wie die Koordination mit den zuständigen Beamten der Mordkommission. Er war ein hohes Tier innerhalb der VdF, sein Foto fand sich häufig in Zeitungen und seine Stellungnahmen in Fernsehsendungen. Obwohl erst Ende vierzig, war er bereits seit über zehn Jahren das öffentliche Gesicht der VdF und galt als Hardliner, was die Bestrafung von Autoren und Figuren betraf. Er war tadellos höflich, dabei jedoch keineswegs freundlich. Über der dunklen Hose trug er ein Hemd ohne Schlips, die Ärmel waren nachlässig hochgekrempelt. Doch die Arbeit hatte Spuren hinterlassen. Er besaß tiefe Falten, die sich von den Augenwinkeln über die Wangen bis unter die Ohren zogen, und sah aus wie jemand, der dringend Urlaub benötigte.

Das Licht einer schlichten weißen Deckenlampe bot gerade genug Helligkeit, um Papiere lesen zu können, während es um jeden Gegenstand einen Schattenkragen legte. Hinter dem Schreibtisch hing ein schmales Regal, auf dem zahlreiche gerahmte Fotos standen. Sie zeigten Driessen dabei, wie er entflohene Figuren in Gewahrsam nahm und sie ihrer Strafe zuführte, es waren Ausschnitte seiner anhaltenden erfolgreichen Karriere.

Ich erkannte nicht alle Figuren, die darauf abgebildet waren, nur ein paar. Oskar Matzerath. Sancho Panza. Alexej Wronskij. Das waren spektakuläre Fälle gewesen, weil ihre Autoren bereits verstorben waren und somit nicht zur Rechenschaft gezogen werden konnten. Die Zeitungen hatten seitenweise darüber berichtet. Mein Blick glitt über die Gesichter, während sich das Zittern meiner Hände verstärkte. Schließlich blieb er an einem Bild hängen, das sich vor vielen Jahren tief in mein Gedächtnis eingegraben hatte.

Driessen hatte einen jungen Mann am Oberarm gepackt, die andere Hand auf seinen Kopf gelegt, während er ihn auf die Rückbank eines Polizeiwagens schob. Der Blick der Figur war der eines eingesperrten Tiers, ihr Name Holden Caulfield. Es hatte sich um einen der wenigen Fälle gehandelt, in denen Leute gegen die Verurteilung einer Figur protestiert hatten, weil sie nicht glauben konnten, dass ausgerechnet Salingers beliebter Protagonist Enten in einem Park abgeschossen haben sollte. Salinger war zu einer hohen Geldstrafe verurteilt worden und danach aus Kapitolo fort- und wieder in seine Heimat gezogen.

Bei Holdens Rückführung in die Fantasiewelt, die im Fernsehen übertragen worden war, hatte ich keinerlei Befriedigung empfunden. Diese Figur war ein Held meiner Jugend gewesen – und zu sehen, wie sie in Handschellen die Stufen des Schwarzen Tempels hinaufgeführt wurde, hatte mich erschüttert. Es kam mir damals so grundlegend falsch vor, dass jemand, der doch für so viele von uns ein Symbol der Freiheit gewesen war, alle Gewalt über sich verlor. Holden hatte sich nicht gewehrt, und als sich die großen, schweren Flügeltüren aus Diamantnuss hinter ihm schlossen, hatte ich still geweint.

Auch jetzt schnürte mir der Anblick dieses Fotos wieder die Kehle zu. Dieses Mal jedoch aus Angst. Denn die Fotos auf dem Regal bezeugten vor allem eines: Hier war jemand, der keine Gnade walten ließ; wer gegen die Regeln verstieß, musste dafür bezahlen, selbst wenn es sich um Jane Austens Emma gehandelt hätte.

Eine instinktive Furcht vor Driessen erfasste mich, obwohl er augenscheinlich nichts tat, was mir hätte Angst bereiten müssen. Trotzdem wurde mein Mund trocken, als er mir sachlich erklärte, weshalb ich hier war, und mir versicherte, dass es sich lediglich um eine erste Befragung handelte und ich jederzeit gehen könne. Auf dem Tisch zwischen uns lagen Papiere und Fotos, die das Verbrechen dokumentierten.

Gegen Mittag war die Polizei zu einer Wohnung in Mitte-West gerufen worden, in der sie die Leiche der 33-jährigen Damla Abbas fand. Sie war mit einem stumpfen Gegenstand erschlagen worden und musste bereits einige Stunden tot sein. Bei der Untersuchung des Tatorts hatte die Spurensicherung unter anderem die Fingerabdrücke einer Figur entdeckt – meiner Figur.

Driessen schob ein Foto zu mir herüber. Aus der Aufnahme starrte mir eine Tote blind entgegen. Unter ihrem dunklen Haar breitete sich ein Blutfächer wie ein altmodischer Stehkragen aus dem 16. Jahrhundert aus.

»Sind Sie sicher?«, fragte ich, während ich die Finger zwischen die Knie steckte, um das Zittern zu verbergen.

Er nickte, und die Falten erzeugten unruhige Schatten in seinem Gesicht. »Die Fingerabdrücke am Tatort stimmen mit Ihren überein. Das steht zweifelsfrei fest. Natürlich ist es immer möglich, dass jemand bei der Auswertung der Datenbank einen Fehler gemacht hatte, aber die Wahrscheinlichkeit ist doch gering.«

Da Figuren die spiegelverkehrten Fingerabdrücke ihrer Schöpfer besitzen, muss ein jeder Bewohner in Kapitolo bereits zur Einschulung seine Fingerabdrücke registrieren lassen. Immerhin wird einem in der Schule das Schreiben beigebracht – und Worte besitzen Macht, das weiß in Kapitolo jedes Kind. Mit ihnen erschafft man Figuren, Helden und Monster.

Auf diese Weise ist jeder Bürger registriert, ob er nun eine Lizenz zum Schreiben vom Amt für Literatur und Artverwandtes besitzt oder nicht. Wer später in die Stadt zieht, so wie meine Familie, muss sich nachträglich erfassen lassen. Das macht es der VdF so leicht, Figuren ihrem Schöpfer zuzuordnen.

»Sie wissen sicher, dass gegen Sie auf jeden Fall eine Anzeige wegen Übertretung einer Figur im Sinne des Verantwortungsgesetzes gestellt wird.«

Ich nickte. Bei dem Gedanken daran, was mir blühen könnte, sollte sich herausstellen, dass meine Figur einen Menschen getötet hatte, wurde mir übel.

»Haben Sie eine Figurenhaftpflichtversicherung?«

Erneut nickte ich.

»Dann dürfte die Begleichung der Tagessätze kein Problem sein. Allerdings gelten Sie anschließend als vorbestraft, das ist nicht mehr zu ändern.«

Mich überkam das Bedürfnis, mich zusammenzurollen. Ich kannte einige Autoren, die aus demselben Grund vorbestraft waren, manche von ihnen hatten im Anschluss die Stadt verlassen, um an anderen Orten weiterzuschreiben. Die, die hiergeblieben waren, beklagten sich oft darüber, wie beschwerlich es war, die jährliche Verlängerung ihrer Schreiblizenz zu erhalten. Es war jedes Mal ein Kampf mit dem Amt.

Wieder huschte mein Blick über die Fotos auf dem Tisch, die Driessen für mich ausgebreitet hatte. War das, was ich dort sah, wirklich in irgendeiner Weise meine Schuld? Hatte ich eine Figur erfunden, die in die Realität eingedrungen und zum Mörder geworden war? Oder war sie nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen und hatte gar nichts mit dem Verbrechen zu tun?

Ich schluckte und wischte mir die schweißnassen Hände an den Oberschenkeln ab, während mir das Herz rasend gegen den Brustkorb schlug. Alles war möglich, und ich ahnte nicht im Geringsten, um welche Figur es sich handeln könnte, doch genau das wollte Driessen in diesem Augenblick von mir wissen.

»Versuchen Sie, ruhig zu bleiben«, sagte er, erreichte damit aber nur das Gegenteil. »Wollen Sie einen Kaffee?«

Wieder einmal nickte ich, und Driessen verließ den Raum, der mir auf einmal noch kälter erschien. Für einen kurzen Moment spielte ich mit dem Gedanken, tatsächlich einfach aufzustehen und zu gehen, doch ich hatte zu viel Angst, dass mir eine Verweigerung in einer möglichen späteren Verhandlung als unkooperativ ausgelegt werden würde. Mir zuckten die Muskeln in Armen und Beinen, weil ich mich so verkrampfte.

Wie hypnotisiert starrte ich zu den Fotos auf dem Wandregal. Ich erkannte nun auch T. H. Whites Protagonisten Wart, der sich nach seinem Übertritt als Brandstifter entpuppt hatte und vor seiner Rückführung zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt worden war. White selbst erhielt zwei Jahre auf Bewährung, weshalb er sich bekanntermaßen auf die Kanalinsel Alderney zurückzog. Würde ich ebenfalls die Stadt verlassen müssen? Das konnte und wollte ich mir nicht vorstellen. Meine engsten Freunde lebten hier, ich hatte alle meine Bücher in Kapitolo geschrieben, und tief in mir saß der Zweifel, ob ich überhaupt in der Lage war, an einem anderen Ort etwas zu Papier zu bringen.

Der Gedanke daran weckte in mir das Gefühl, als würde sich eine unsichtbare Schlinge um meinen Hals zuziehen. Fieberhaft ließ ich das Personal meiner Romane vor dem geistigen Auge Revue passieren. Natürlich dachte ich als Erstes an meine Kriminalromane und ihre Mörder: den schillernden Lee mit seinem Fuchs als Haustier; Deborah in ihren roten Kleidern, die so gern Zitronentarte backte; und Rocco, der farbenblind war und durch eine Anzeige wegen Fahrens bei Rot überführt wurde. Sie schienen mir die offensichtlichsten Kandidaten für einen Mord, immerhin hatten sie bereits mindestens einen begangen. Vielleicht war das aber auch zu offensichtlich gedacht?

Ich überlegte also weiter und versuchte, mich an andere Hauptfiguren und ihre Gegenspieler zu erinnern. Ebenso wie an die beliebtesten Nebenfiguren, die heimlichen Helden aus der zweiten Reihe.

Da war Lola, die nie still sitzen konnte und ein Mundwerk besaß, so groß wie ein Findelstein. Kapitän Moor, dessen Sarkasmus mir eimerweise begeisterte Leserbriefe beschert hatte und der stets mit einem Totenschädel mit Goldzahn sprach. Ich dachte auch an die Figuren, für die ich Verrisse kassiert und zu denen ich deshalb ein zwiespältiges Verhältnis hatte. Die Leser mochten weder die kaltschnäuzige Krankenschwester Ines mit dem Glasauge noch den Gedichte zitierenden Hausmeister Jorge. Doch keine dieser Figuren erschien mir spektakulär genug, um nach Kapitolo zu kommen.

Natürlich ist es bis heute nicht restlos geklärt, was im Detail dazu führt, dass eine Figur in die Wirklichkeit übertritt, einig ist sich die Fachwelt lediglich darin, dass die Autoren die Hauptschuld daran tragen. Die Beliebtheit einer Figur kann eine Rolle bei ihrem Übertritt spielen, ist letzten Endes aber nicht entscheidend, sonst wären Christian Grey und Lolita längst in Kapitolo gesichtet worden. Wie wir jedoch wissen, handelt es sich bei den erscheinenden Figuren aber nicht nur um die Populärsten des Literaturkanons. Es gibt jede Menge Theorien zu diesem Thema, ganze Bibliotheken voll damit, wirklich bewiesen ist allerdings kaum eine. In einer ansonsten magielosen Welt ist die Magie des Übertritts eine Anomalie, mit der sich die Leute nie wirklich angefreundet haben, weil ihnen die Kontrolle darüber fehlt.

Ich muss zugeben, dass ich in jenem Moment Schwierigkeiten hatte, mich an alle Protagonisten meiner Bücher zu erinnern. Ich hatte so viele Romane in so kurzer Zeit geschrieben, dass mir längst der Überblick fehlte. Es waren einfach zu viele, und manche ähnelten sich in ihren Grundzügen auch. Eine Mutter mag alle ihre Kinder lieben (wenn auch nicht immer auf dieselbe Weise), aber ich liebte nicht alle meine Bücher.

Vielleicht hätte ich diese Geschichte schneller durchschaut, wenn ich es getan hätte.

Während ich auf Driessens Rückkehr wartete, beunruhigte mich die Frage, was die Polizei in meiner Wohnung finden würde. Konnten mir gedankenlos dahingekritzelte Notizen zum Verhängnis werden? Wie würden sie die Bücher anderer Autoren bewerten, die in meinen Regalen standen? Sprachen Thomas Harris, Cody McFadyen und Stieg Larsson gegen mich, weil sie brutale Verbrechen beschrieben? Oder eher Elena Ferrante und Dan Brown? Was war mit Terry Pratchett und Isabel Allende? Hatte das Lesen einiger dieser Autoren den Übertritt meiner Figur befördert? Würden sie Urteile über Schund und Anspruch fällen, wenn sie sich die Bücher ansahen? Und die entscheidende Frage: Hatte die VdF die Tagebücher aus meiner Zeit mit Rosalie auf dem Dach gefunden?

Würde etwa jeden Moment jemand hereingestürmt kommen und mich deshalb zur Rede stellen? Driessen hatte mir versichert, dass er diesem Mord auf den Grund gehen würde, koste es, was es wolle. Genau das waren seine Worte gewesen, und ich zweifelte nicht daran.

Als er schließlich nach einigen Minuten zurückkehrte, war ich schweißgebadet und hatte mir die Haare vor Nervosität mehrmals zu einem Knoten hochgebunden und den Haargummi wieder gelöst. Driessen stellte einen braunen Plastikbecher vor mich hin, und der Dampf schlängelte sich in einer Spirale nach oben bis zur Zimmerdecke. In dem Becher befand sich Automatenkaffee für lange Nächte und Magenschmerzen, aber fahrig griff ich danach und verbrannte mir sofort die Zunge.

»Und Sie sind sicher, dass Sie das Opfer nicht kennen?«, fragte Driessen derweil, als hätte es nie eine Pause in unserem Gespräch gegeben.

Vehement schüttelte ich den Kopf. »Der Name sagt mir gar nichts.«

Das war die Wahrheit. Ich kannte Damla Abbas nicht. Das Gesicht löste in mir keinerlei Erinnerung aus. Außerdem sehen Menschen im Tod nicht aus wie zu Lebzeiten. Die Frau hatte dichtes braunes Haar und von zu viel Sonne gefleckte Haut, aber diese Beschreibung traf auf viele Menschen in Kapitolo zu. Wie sollte ich nur im vom Leid verzerrten Gesicht dieser Toten irgendjemanden erkennen, den ich möglicherweise irgendwann einmal getroffen hatte? Es schien mir absurd. Das alles schien mir absurd.

Vorsichtig nahm ich noch einen Schluck Kaffee.

»Es muss eine Verbindung geben«, drängte Driessen, und das Stirnrunzeln zog wieder tiefe Gräben in sein Gesicht. »Sonst wäre Ihre Figur doch nicht in dieser Wohnung gewesen. Möglicherweise war das sogar der Ort, an dem sie nach Kapitolo übergetreten ist. Wäre das möglich?«

»Ich sehe aber keine Verbindung«, erwiderte ich. »Kann es denn … kann es denn nicht ein Zufall gewesen sein? Dass sie«, ich deutete auf das Foto des Opfers, »nur zur falschen Zeit am falschen Ort war?«

Das Stirnrunzeln vertiefte sich.

»Oder dass das Ganze ein Missverständnis ist?«, fügte ich hastig hinzu. »Leute machen Fehler. Vielleicht …«

»Welches Missverständnis denn? Ein Mensch ist tot, und Ihre Figur war am Tatort.« Mit verschränkten Armen lehnte er sich zurück.

Ich schwieg. Sollte ich jemanden anrufen? Aber wen? Ich hatte keinen Anwalt, der auf Abruf bereitstand, so etwas konnte ich mir nicht leisten. Warum war ausgerechnet jetzt eine Figur von mir übergetreten und nicht schon vor Jahren? Das Grübeln bereitete mir Kopfschmerzen.

»Ist Ihnen in letzter Zeit vielleicht etwas aufgefallen? Seltsame Begegnungen? Anrufe, Briefe? Möglicherweise hat die Figur versucht, mit Ihnen Kontakt aufzunehmen, das kommt häufig vor. Die Figuren suchen die Nähe ihrer Schöpfer. Auf diese Weise werden die meisten von ihnen erwischt.«

Ich schüttelte den Kopf, und nachdenklich rieb sich Driessen das Kinn. Dann klopfte er mit der Hand sanft auf die Stuhllehne. »Sie besitzen eine Sonderlizenz für Kriminalromane, in denen Sie Morde beschreiben dürfen, nicht wahr?«, fragte er.

»Ja, aber meine Mörder enden immer hinter Gittern.« Etwas in mir sträubte sich, eine Schuld einzugestehen. Ich schrieb doch keinen Horror! Dafür benötigt man eine weitere Sondergenehmigung des Amts für Literatur und Artverwandtes, und die hatte ich nie beantragt.

Driessen schlug eine Mappe auf, sein Blick huschte über die darin abgehefteten Papiere. »Wir haben das überprüft. Im Moment sehen wir keine Überschneidungen von Ihnen mit dem Opfer. Ihre Wohnorte lagen auch in der Vergangenheit weit auseinander, Sie haben andere Schulen besucht, eine andere Ausbildung abgeschlossen, andere Jobs ausgeübt. Waren Sie je in einem Sportverein?«

»Ich gehe joggen.«

Er machte sich eine Notiz. »Die Tote ist ungefähr so alt wie Sie.«

»Das sind viele Menschen in dieser Stadt.« Ich meinte es nicht schnippisch, es war nur ein Fakt.

»Wir benötigen von Ihnen eine Liste mit Figuren, die Ihnen als infrage kommend erscheinen, und dazu passende Beschreibungen. Wenn Sie Vorlagen für die äußere Erscheinung verwendet haben, brauchen wir auch diese.«

»Könnte es nicht sein, dass … Es gibt doch Theorien, dass Fan-Fiction-Figuren genauso übertreten können. Ist es nicht möglich, dass es gar nicht meine Figur ist, sondern sie meiner nur ähnelt?« Ich mochte nicht so viele Leser haben wie J. K. Rowling oder Haruki Murakami, aber auch ich besaß einige sehr treue Leser, die jedes meiner Bücher kauften, mir Fanbriefe schrieben und sich über die Jahre an der einen oder anderen Fanfiction versucht hatten.

»Ich glaube, ich hatte mal vor Jahren mit einem solchen Fall zu tun«, erwiderte Driessen. »Die Fingerabdrücke waren das reinste Durcheinander.« Er winkte ab. »Glauben Sie mir, das ist hier nicht der Fall. Manchmal wirken die Fingerabdrücke etwas verwischt, wenn Lektoren und Übersetzer ihren Anteil an der Formung haben, aber meistens kann man den Urheber trotzdem einwandfrei ermitteln.« Er tippte noch einmal auf die Fotos. »Die Tote arbeitete als Journalistin für ein bekanntes Newsportal, das als autorenkritisch gilt.«

»Oh …«

»Sie haben nie davon gehört?«

»Solche Sachen interessieren mich nicht«, gab ich zu. »Es gibt vielleicht Leute, die meine Bücher nicht mögen, aber die Texte machen auch niemanden wütend, wenn Sie verstehen, was ich meine. Ich bin nicht politisch engagiert oder so. Es sind harmlose Romane, Unterhaltung.« Ich zuckte mit den Schultern und hob die Hände. »Niemand stört sich an ihrer Existenz.«

Schweigend betrachtete er mich einen Moment lang, bevor er sich erschöpft über die Augen rieb. Mir fielen die Knitter in seinem Hemd auf, als hätte er es nur oberflächlich gebügelt. Wann hatte er wohl das letzte Mal ausreichend Schlaf bekommen?

»Haben Sie eine Ahnung, womit wir hier die meiste Zeit verbringen?«, fragte er unvermittelt.

Ich schüttelte den Kopf.

»Mit einer endlosen Schleife der immer gleichen Figuren.« Er klang frustriert. »Mindestens einmal im Jahr verfolgen wir ein Rotkäppchen im kurzen Kleid und roten Mantel. Der dazugehörige Wolf kommt sogar noch öfter vorbei. Manchmal als Mensch-Tier-Hybrid, manchmal als behaarter Sexprotz mit langem … na, Sie wissen schon. Und wer wird gerufen, wenn eine solche Bestie mal wieder in der Nacht einen Imbiss überfällt und fast den armen Kerl hinter der Theke auffrisst, weil sie hungrig ist? Wir!« Er legte sich die Hand auf die Brust. »Die VdF. Dann haben wir alle Hände voll damit zu tun, das kann ich Ihnen sagen. Jedes Jahr der gleiche Mist zu Weihnachten, wenn verwirrte alte Männer mit weißen Bärten durch die Stadt rennen, und hören Sie mir bloß auf mit Halloween! Da rücken wir stündlich aus. Und alles nur, weil mal wieder neue Anthologien erschienen sind.«

Augenblicklich fühlte ich mich schuldig. Natürlich hatte ich selbst schon an Weihnachts- und Halloween- und Sonst-was-Anthologien teilgenommen. Feiertage und Jubiläen gehen immer gut, das mögen Leser und Verleger.

Driessen schob mir weitere Fotos über den Tisch, die nicht zu meinem Fall gehörten. Es waren Aufnahmen anderer Tatorte, deren Anblick mir Galle aufsteigen ließ.

»Warum zeigen Sie mir das?«, fragte ich empört.

»Weil das auch einer Ihrer Kollegen zu verantworten hatte. Eine nette kleine Geschichte über einen Monsteralligator in der Kanalisation. Hat acht Jahre dafür gekriegt, der Herr Kollege. Hing mit seiner Scheidung zusammen, fragen Sie mich nicht.«

Wir starrten uns an wie Cowboys bei einem Showdown am Mittag, wenn die Schatten am kürzesten sind. Wollte er mir ein schlechtes Gewissen einreden? Sollte ich etwas gestehen? Wusste er vielleicht doch von der Sache mit Rosalie, und das alles hier war nur ein Vorwand, um mich aus der Reserve zu locken?

»Wissen Sie, wie viel es die Stadt jährlich kostet, die Schäden zu beseitigen, die frei laufende Figuren anrichten? 53 Millionen. Und das sind nur die Sachschäden. Dazu kommen noch die Kosten, die für die allgemeine Sicherheit entstehen. Zur Verhinderung der Schäden. Und es werden mehr. Schaut man sich die Statistiken an, kann man sehen, wie der Graph nach oben geht. Es werden immer mehr Figuren, Jahr um Jahr.« Eindringlich blickte er mich an, als wüsste ich den Grund dafür. Dann lehnte er sich auf dem Stuhl wieder zurück. »Aber Ihnen ist das natürlich egal, nicht wahr? Sie schreiben, was Sie wollen, und welche Gefahr davon für die Stadt und ihre Bewohner ausgeht, interessiert Sie nicht, oder welche Figur hier vielleicht herüberkommt. Hauptsache, die Geschichte ist spannend.«

»So ist das nicht!«

»Ich denke, es ist genau so.«

Ich hatte das Gefühl, dass der Fall für Driessen bereits geklärt war. Meine Figur hatte sich am Tatort aufgehalten, also musste sie auch der Täter sein. Konnte ich von ihm wirklich erwarten, dass er seine Mitarbeiter dazu bringen würde, in alle Richtungen zu ermitteln?

»Es werden doch nicht alle Figuren, die nach Kapitolo kommen, straffällig«, wandte ich ein.

»Nein, aber ein Großteil. Weil sie durch den Übertritt verwirrt sind, traumatisiert oder sich einfach nicht mit unseren Regeln auskennen. Ich meine, Sie können von Conan dem Barbaren nicht erwarten, dass er Ihnen die Tür aufhält und seinen Müll trennt. Und das sind vergleichsweise harmlose Dinge. Von einer übergetretenen Figur geht stets eine latente Gefahr aus, weil sie unberechenbar ist, das können Sie mir glauben. Ich habe im Laufe meiner Karriere genug gesehen, um davon überzeugt zu sein, dass es besser wäre, wir würden die ganze Sache mit dem Schreiben von Geschichten einfach lassen.«

Ich wusste nicht, ob er die letzte Äußerung tatsächlich ernst meinte oder nur der Frust aus ihm sprach. Doch bevor ich etwas erwidern konnte, wechselte er abrupt das Thema.

»Wie wäre es, wenn ich Ihnen noch einen Kaffee hole?«

»Danke, ich möchte nichts mehr.«

»Er wird Ihnen guttun.«

»Ich …«

Driessen erhob sich. »Ich bin gleich zurück.«

Ein zweites Mal fiel die Tür hinter ihm ins Schloss, und ein zweites Mal blieb ich regungslos auf dem Stuhl sitzen. Was meine Leser wohl dazu sagen würden, wenn sie mich so sehen könnten? Wie würden sie reagieren, wenn sie von dieser Sache erfuhren?

Es kam oft vor, dass wütende Leser ihre Bücher in die Buchhandlungen zurückbrachten, wenn die VdF einen Fall öffentlich machte. Allerdings kannte ich auch Autoren, die von ihren Lesern in einer solchen Krisenzeit unterstützt worden waren. Manchmal zeigten die Leute Verständnis für schwierige Umstände, in denen sich Autoren wiederfanden. Ehrliche Reue wurde anerkannt, vor allem, wenn die Autorin oder der Autor sehr beliebt waren. Aber würden sie mir auch verzeihen, wenn meine Figur einen Menschen umgebracht hatte?

Auf einmal wurde die Tür aufgestoßen, und mir rutschte vor Schreck fast das Herz in die Hose. Eine kleine drahtige Frau stürmte in den Raum, ihr schwarzes Haar war zu Cornrows geflochten, sie trug schwarze Jeans, ein schwarzes T-Shirt, ein schwarzes Jackett und ein schweres silbernes Kreuz auf der Brust.

»Kommen Sie«, rief sie und winkte mich ungeduldig zu sich.

»Wie bitte?«

»Kommen Sie!«

Zögerlich erhob ich mich, der Stuhl schabte übers Linoleum.

»So kommen Sie doch endlich«, forderte sie mich ein drittes Mal auf, während sie einen Blick über die Schulter den Gang hinunterwarf. Als ich nah genug bei ihr war, packte sie mich am Oberarm und schob mich hinaus in den Flur.

»Wer sind Sie?«

»Jasmin Hensen. Abteilung VaF.«

Die VaF war die kleine Schwester der VdF – und der mittlere Buchstabe der entscheidende Unterschied. Es war die Abteilung Verbrechen an Figuren.

4

Immer wieder gab es Berichte darüber, wie Figuren zur Belustigung der Massen ausgestellt wurden, bis die Polizei sie einkassierte. Hin und wieder tauchten Zeitungsartikel auf, in denen Fälle von Figurenmissbrauch erwähnt wurden. Es kursierten auch Gerüchte über Guerillagruppen für Figuren, von denen die meisten Leute jedoch annahmen, dass es sich um Urban Legends handelte. Und natürlich munkelte so mancher hinter vorgehaltener Hand darüber, dass es in Kapitolo viel mehr Figuren gab, als in der Öffentlichkeit bekannt war, aber die meisten Menschen taten das als typische Verschwörungstheorie ab.

Jetzt fielen mir diese Berichte wieder ein.

Die VaF erhielt viel weniger Presse als Driessen und die VdF; ihre Arbeit war in den Augen der Öffentlichkeit nicht unwesentlich, aber doch von geringerer Bedeutung. Hensens Gesicht hatte ich jedenfalls noch nie in einem Leitartikel gesehen.

Während sie mich weiter den Gang hinunterdrängte, fragte ich mich, was hier nur vor sich ging. Ihre dunkle Silhouette war der Cursor, der mich durch die weißen Gänge führte. Hastig hatte ich mir den Mantel umgehängt, meinen Schal jedoch in Driessens Büro vergessen. Ich schlug den Kragen hoch, denn durch die Gänge zog ein kühler Luftzug.

»Die VdF hat ihre Büros hier oben. Wir hingegen …« Sie deutete auf den Fußboden.

Widerspruchslos folgte ich ihr über eine Treppe nach unten und einen weiteren Gang hinunter, anschließend die nächste Treppe in ein noch tiefer gelegenes Stockwerk, deren Stufen ebenfalls aus Milchglas bestanden, und so ging es eine ganze Weile weiter. Doch mit jedem Treppenabsatz, den wir erreichten, wurden die Stufen dunkler, bis aus dem Glas schließlich Beton und am Ende Ziegelsteine wurden.

»Abteilung Verbrechen an Figuren.« Sie zeigte auf das schlichte weiße Plastikschild, wie es sich in vielen Behörden neben den Bürotüren finden lässt.

Ich versuchte, mich zu konzentrieren, während meine Augen die Schatten begrüßten, die sich an den Wänden entlangschoben. Es war weniger grell hier unten, und ich ahnte, dass wir uns im alten Mittelteil des Gebäudes befanden. »Ich wollte nicht …«, brach es unvermittelt aus mir heraus, und sie blieb stehen.

»Was wollten Sie nicht? Dass jemand stirbt?«

Unglücklich nickte ich.

Ihr Blick huschte beinahe ein bisschen gemein über mich hinweg. »Vielleicht, vielleicht nicht. Die entscheidende Frage ist doch zunächst einmal, ob Ihre Figur diese Tat überhaupt begangen hat, oder? Schließlich wissen wir noch gar nicht, wie es zu dem Verbrechen gekommen ist. Und das«, ihr Zeigefinger hob sich in meine Richtung, »ist des Pudels Kern.«

Sie lief weiter, während ich ihr schwankend hinterherstolperte. Ungeduldig wedelte sie mit der Hand in meine Richtung.

»Was ist mit Driessen?«, fragte ich, als sie mir eine Tür aufhielt und wir in einen weiteren Gang traten, von dem ein Dutzend gleich aussehende Türen abgingen.

»Was soll mit ihm sein? Sie sind doch noch nicht verhaftet. Alles, was er im Moment gegen Sie in der Hand hat, sind Fingerabdrücke am Tatort. Das reicht nicht für eine Untersuchungshaft. Die Anzeige wegen Übertritt einer Figur ist natürlich gestellt, aber dafür fahren Sie nicht ein. Also kann jeder von uns eine Runde mit Ihnen plaudern, und Sie können jederzeit gehen.«

Driessen hatte mit keinem Wort erwähnt, dass eine Figur zu Schaden gekommen war, daher gab es eigentlich keinen Grund, die VaF in den Fall zu involvieren. Was wollte Hensen also von mir?

Kurze Zeit später betraten wir ein Büro, das nicht viel größer war als ein Schuhkarton. Die unverputzten Backsteinwände waren lediglich weiß getüncht worden, es gab jede Menge Aktenschränke, und an den Fensterscheiben klebten Bilder von Schneemännern und Schneeflocken, die der Trostlosigkeit ein wenig die Schärfe nahmen.

»Kommissar Sanders«, stellte Hensen den jungen Mann vor, mit dem sie sich das Büro teilte; einen Naturrotschopf mit blassen Sommersprossen und wahrscheinlich von einer Katze zerkratzten Händen.

»Ist sie das?«, fragte er und richtete sich wie elektrisiert auf.

»Driessen hat wieder seine Nummer mit dem Kaffee abgezogen, die Minute habe ich genutzt.« Sie zog einen Stuhl neben ihren Schreibtisch und deutete darauf, damit ich mich setzte.

»Die Nummer mit dem Kaffee?«, fragte ich.

»Er bietet Ihnen Kaffee an, damit Sie ihn mitfühlend finden. Und natürlich, um Sie dort im Zimmer schmoren zu lassen.« Ächzend ließ sie sich auf ihren eigenen Stuhl fallen und rutschte müde in sich zusammen. Mit den Handballen rieb sie sich über die Augen, wie es bereits Driessen getan hatte. Die Arbeit im Palast der Schneekönigin schien für beide Abteilungen schlaflose Nächte mit sich zu bringen. »Na schön«, sagte sie, »wollen Sie jemanden anrufen? Einen Anwalt vielleicht?«

Es drängte mich, nach Hause zu kommen, um nach meiner Wohnung zu sehen. »Ich würde gern meine Lektorin anrufen.«

»Nur zu.«

Ich benötigte drei Versuche, bis Wera schließlich verschlafen ans Telefon ging. Mit knappen Sätzen bat ich sie, zum Präsidium zu kommen, und schilderte ihr, was in der Nacht vorgefallen war und in welchem Schlamassel ich steckte. Ihr entsetztes Schweigen am anderen Ende sprach Bände. Nach einem Moment des Zögerns stimmte sie jedoch zu, mich mit dem Wagen abzuholen, und ich nahm ihr das Versprechen ab, niemandem auch nur ein Sterbenswort davon zu erzählen. Anschließend beendete ich das Gespräch und sah die beiden Polizisten erwartungsvoll an; die Stuhllehne drückte mir unangenehm in den Rücken.

»Glauben Sie, es ist eine Figur aus den Kriminalromanen?«, fragte ich. »Sie haben doch Erfahrung mit solchen Fällen – denken Sie, dass meine Figur am Tatort war, weil sie eine Krimifigur ist und sich vielleicht von solchen Orten und Ereignissen angezogen fühlt?«

»Schon möglich, aber so etwas ist schwer zu sagen«, antwortete Hensen. »Haben Sie selbst denn eine besondere Verbindung zu einer Ihrer Krimifiguren oder Tatorten?«

Verzweifelt schüttelte ich den Kopf. Mir fiel einfach nichts ein. Auch zum Opfer konnte ich nichts sagen. In meinen Romanen fanden die Ermittler stets einen Hinweis, der sie dann auf die Spur des Täters brachte, doch ich war keine Ermittlerin, und falls es hier Hinweise gab, konnte ich sie nicht erkennen.

Nachdenklich betrachtete mich Hensen. »Figuren sind oft eigenständiger, als wir ihnen zugestehen. Vielleicht hat es gar nichts mit Ihnen zu tun.«

»Wie meinen Sie das?«

»Es gibt vieles, das wir noch immer nicht über die Figuren und die Welt, aus der sie kommen, wissen. Doch das wenige, das wir wissen, hat ausgereicht, um darauf basierend Gesetze zu erlassen, die sich seit hundert Jahren nicht geändert haben.« Sie klang verbittert, aber ich wusste nicht, wem der Ärger galt.

»Und was hat das mit diesem Fall und meiner Figur zu tun?«

»Vieles.« Sie deutete unbestimmt in den Raum. »Sehen Sie, wir sind hier eine kleine Abteilung, gerade einmal zwölf Leute. Wollen Sie wissen, wie viele Kollegen Driessen hat?« Sie wartete meine Antwort nicht ab. »Hundertvierundzwanzig. Daran können Sie erkennen, welcher Sache mehr Bedeutung beigemessen wird. In den Augen der meisten Leute in Kapitolo sind Figuren keine Menschen, also verdienen sie auch nicht die Aufmerksamkeit, die wir unserer eigenen Art angedeihen lassen. So einfach ist das.« Ihr Blick wurde herausfordernd. »Ich meine, es stimmt schon, sie sind etwas anderes, nicht wahr? Sie sind die Produkte unserer Fantasie. Dass sie genau wie Sie und ich einen Herzschlag besitzen und bluten, wenn man sie absticht, spielt für die Leute keine Rolle. Figuren genießen nicht denselben Schutz wie Menschen.«

Bevor ich etwas sagen konnte, fuhr Sanders fort. »Wir haben dreiunddreißig Gesetze, die sich mit den Rechten der übergetretenen Figuren beschäftigen. Zweihundertachtundsechzig für ihr Fehlverhalten. Fällt Ihnen etwas auf?«

Betreten schwieg ich. Das alles war mir nicht neu, ich hatte es nur verdrängt. Eine Zeit lang hatte ich versucht, so viel wie möglich über die Figuren in Kapitolo zu erfahren – damals, vor fünfzehn Jahren. Jedes Gerücht hatte ich aufgesogen wie ein Schwamm, aber die Beschäftigung mit dem Thema tat mir nicht gut, es war beinahe zur Obsession geworden. Daher hatte ich es fallen lassen.

Hensen deutete auf eine Pinnwand, die zwischen zwei Aktenschränken hing, und als ich ihrem Fingerzeig folgte, erkannte ich, dass daran vor allem Fotos angeheftet waren. Auch sie zeigten Figuren wie die Bilder in Driessens Büro. Ich stand auf und trat näher heran. Als ich jedoch erkannte, was hier abgebildet war, zuckte ich zurück wie bei der Verbrennung an einem zu heißen Ofen.

»Das rechts ist E. T. A. Hoffmanns Rabe. Ausgestopft für eine Faschingsparty. Gleich daneben sehen Sie Scheherazade, angekettet in einem dreckigen Keller, und dann ein Stück weiter links Sei Shnagon. Da hatten wir sie zwei Tage vorher mit gebrochenen Rippen auf der Straße gefunden. Die Aufnahme stammt aus dem Krankenhaus.« Hensen verschränkte die Arme. »Das sind natürlich nur die Fälle, über die die Presse auch berichtet hat. Nicht auf der Titelseite, das ist klar, aber immerhin. Wir haben hier noch viel mehr davon.« Sie deutete auf den Aktenschrank.

Langsam setzte ich mich wieder.

»Die Leute wollen, dass Gerechtigkeit geübt wird«, sprach Hensen weiter. »Sie wollen diese Gerechtigkeit geübt sehen. Strafe muss schließlich sein. Und genau dafür ist Driessen da, das ist seine Aufgabe. Er wird alles dafür tun, dass Ihre Figur aus dem Verkehr gezogen wird. Auf die eine oder andere Weise.« Sie sah zu Sanders, der sofort das Sprechen für sie übernahm.

»Nun ist es aber so, dass die städtische Haftanstalt für Figuren auch das kleinste Gefängnis der Stadt ist«, fuhr er fort. »Obwohl die Zahl seiner Insassen weit unter dem Schnitt anderer Einrichtungen liegt, ist es bereits am Limit angekommen. Und vor der nächsten Wahl fließen natürlich keine Gelder mehr, um daran etwas zu ändern. Man gewinnt keine Wahl, wenn man den Leuten erzählt, dass man Geld in die Erweiterung eines Gefängnisses stecken will.« Er streckte mir die zerkratzten Hände entgegen, als wolle er, dass ich sie ergriff. »Wissen Sie, wie viele Verhaftungen von Figuren mit tödlichem Ausgang es in den letzten acht Jahren in Kapitolo gegeben hat?«

»Nein.«

»Zweiundzwanzig. Vierzehn davon allein in Driessens Abteilung. Die Zahl der Figuren, die nach ihrer Verhaftung medizinisch versorgt werden mussten, ist dreistellig.« Sanders stand auf und nahm einen abgegriffenen Zettel von der Pinnwand, auf dem sich eine handschriftliche Liste mit Namen befand. »Das sind Ihre Kollegen, die in den letzten zwölf Jahren wegen eines Tötungsdelikts mit der VdF zu tun hatten. Vier ihrer Figuren haben es gar nicht erst bis zur Verhandlung geschafft, sondern sind vorher verstorben. Drei haben angeblich während der Vernehmung Beamte der VdF angegriffen und mussten anschließend im Krankenhaus behandelt werden. Zwei haben während der Verhandlung ihre Geständnisse widerrufen, weil sie offenbar unter Zwang entstanden sind.« Er setzte sich wieder und verschränkte die Finger im Schoß. »Falls Sie sich fragen, was aus Ihren Kollegen geworden ist, da sieht die Bilanz auch nicht besonders gut aus. Fünf von ihnen sitzen ihren Anteil wegen Mord ab. Vier sind so hoch verschuldet, dass sie bis an ihr Lebensende Entschädigungen zahlen müssen, und drei sind zwar freigesprochen worden, davon haben allerdings zwei die Stadt verlassen, und einer hat sich das Leben genommen. Raten Sie mal, wie viele von denen«, er tippte auf das Papier, »noch aktiv schreiben und veröffentlichen.«

Aus diesem Stoff waren die Geschichten, die sich Autoren bei Stammtischen und Empfängen spät in der Nacht zuflüsterten wie Gruselmärchen, wenn sie zu viel getrunken und keine Lust hatten, schon aufs eigene Hotelzimmer zu gehen. Dann überfiel sie eine angenehme Gänsehaut, weil der Horror hinter diesen Erzählungen sie nicht betraf, schließlich waren sie in Sicherheit – und ihre Figuren weit weg.

Ich hatte an diesen Anekdoten nie Spaß gehabt, denn ich wusste bereits, wie es war, mitten in einer Horrorgeschichte zu stecken. Ich hatte nur nicht erwartet, dass es mir ein zweites Mal passieren würde. Das war die größte Naivität von allen gewesen, anzunehmen, dass einer Katastrophe keine zweite folgen könne.

Als ich nichts erwiderte, beantwortete Hensen die Frage ihres Kollegen. »Zero. Alle sechzehn haben es der VdF überlassen, sich um den Fall und ihre Figuren zu kümmern. Verstehen Sie mich nicht falsch, natürlich muss dieser tragische Todesfall aufgeklärt werden, die Angehörigen von Damla Abbas haben schließlich ein Recht darauf zu erfahren, warum ihr all das geschehen ist. Sie sollen und müssen den Täter bestraft sehen, ich habe dafür volles Verständnis. Aber«, sie beugte sich noch ein Stück nach vorn und stützte die Ellbogen auf den Knien ab, das Kreuz pendelte über ihren verschränkten Fingern, »es geht eben nicht nur darum. Es geht auch um die Art, wie dieses Recht ausgeübt wird.« Sie rieb sich den rechten Oberschenkel, als wäre sie ein alter Mann. »Die Leute glauben immer, dass Gerechtigkeit schwerer wiegt als Recht. Dass sie es sollte! Und sie sind wütend, wenn sie hinter dem Recht zurücktreten muss. Dabei übersehen sie, dass Gerechtigkeit ein großes Potenzial an Willkür birgt. Auch eine Figur, die sich strafbar gemacht hat, verfügt über Rechte. Zumindest sollte es so sein, wenn wir weiterhin als zivilisiert gelten wollen, oder etwa nicht?«

»Es fällt immer leichter, das Recht zu verteidigen, wenn man nicht auf Gerechtigkeit hofft«, erwiderte ich vorsichtig.

»Wenn man nicht selbst betroffen ist, meinen Sie?«

Ich nickte. »Sie haben mich doch aus einem bestimmten Grund hierhergebracht. Die VaF ist nicht an diesem Mordfall beteiligt, habe ich recht? Was wollen Sie also von mir?«

Erneut wechselte Hensen einen Blick mit ihrem Kollegen. »Unser Einfluss innerhalb der Polizei ist begrenzt, genauso wie unser Budget. Was wir hier betreiben, ist ein Kampf gegen Windmühlen. Wir beobachten bestimmte Entwicklungen, vor allem in der VdF und um Driessens Person. In den letzten Wochen hat die VdF ihre mediale Präsenz verstärkt, es wirkt beinahe wie eine Kampagne, in der die Angst der Leute vor den Figuren geschürt wird. Die Leute sollen eingestimmt werden.«

»Worauf?«

»Das wissen wir nicht. Aber wir sind uns sicher, dass Ihr Fall Driessen gerade recht kommt.«

Wenn ich darüber nachdachte, dann fielen mir die zahlreichen Artikel über straffällig gewordene Figuren in den vergangenen Monaten wieder ein. Ich hatte mir nichts dabei gedacht, doch jetzt, da mich jemand darauf aufmerksam gemacht hatte, wunderte ich mich.

»Wir können Ihnen nicht sagen, was Sie tun sollen, aber …«

»Aber?«

»Wir können Sie darauf hinweisen, dass Ihre Figur zwar im Zusammenhang mit einem Kapitalverbrechen gesucht wird und die VdF daher den Vernehmungsvorrang hat, dass eine Verhaftung allerdings durch jede andere Abteilung der Polizei erfolgen kann. Immerhin geht es erst einmal darum, die Figur festzusetzen. Sobald Kollegen einer anderen Abteilung in die Verhaftung involviert sind«, sie lehnte sich zurück und breitete die Arme aus, »sagen wir zum Beispiel der VaF, haben die natürlich auch ein gewisses Beobachtungsrecht, was den Fall und seinen weiteren Verlauf betrifft. Auf diese Weise könnten die involvierten Kollegen dafür sorgen, dass der Umgang mit der Figur während der Festnahme und den Verhören ordnungsgemäß stattfindet.« Sie streckte mir eine Visitenkarte entgegen. »Wenn Ihnen also auch nur der abwegigste Gedanke dazu kommt, wer Ihre Figur sein könnte und wo sie sich aufhält, möchte ich, dass Sie mich anrufen. Nicht Driessen, nicht irgendjemand anderen. Mich.«

Ich sah von der Visitenkarte hinüber zur Pinnwand.