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Die 15-jährige Anna wohnt mit ihrem Vater in Owls Hollow. Einem kleinen Dorf am Ende eines Tals, das nur durch einen Wald von seiner Nachbargemeinde getrennt ist. Die Bewohner der beiden Dörfer gehen sich wegen alter Feindschaften aus dem Weg. Als Anna eines Tages verbotenerweise durch den Wald von der Schule nach Hause läuft, findet sie einen verletzten Jungen und beschließt ihm zu helfen. Obwohl er aus dem Nachbarort stammt, nimmt sie ihn mit nach Hause. Bei der Suche nach Verbandsmaterial, findet sie ein rätselhaftes Tagebuch ihrer verstorbenen Mutter. Gemeinsam mit dem Jungen aus dem Wald, beginnt Anna das Tagebuch ihrer Mutter zu lesen und die beiden stoßen auf uralte Geheimnisse des Tals. Doch was hat all das mit Annas verstorbener Mutter zu tun? Und warum will niemand im Dorf mit Anna über die vergangenen Ereignisse aus dem Tagebuch sprechen? In den Tiefen des Waldes begeben sich die beiden auf die abenteuerliche Suche nach den Antworten.
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Inhaltsverzeichnis
Über das Buch
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Epilog
Danksagung
Über die Autorin
Impressum
Nicola Beck
Die Geheimnisse von Hollows End Eine Halloween-Geschichte
Kinder- und Jugend-Fantasy
Die 15-jährige Anna wohnt mit ihrem Vater in Owls Hollow. Einem kleinen Dorf am Ende eines Tals, das nur durch einen Wald von seiner Nachbargemeinde getrennt ist. Die Bewohner der beiden Dörfer gehen sich wegen alter Feindschaften aus dem Weg.
Als Anna eines Tages verbotenerweise durch den Wald von der Schule nach Hause läuft, findet sie einen verletzten Jungen und beschließt ihm zu helfen. Obwohl er aus dem Nachbarort stammt, nimmt sie ihn mit nach Hause. Bei der Suche nach Verbandsmaterial, findet sie ein rätselhaftes Tagebuch ihrer verstorbenen Mutter.
Gemeinsam mit dem Jungen aus dem Wald, beginnt Anna das Tagebuch ihrer Mutter zu lesen und die beiden stoßen auf uralte Geheimnisse des Tals. Doch was hat all das mit Annas verstorbener Mutter zu tun? Und warum will niemand im Dorf mit Anna über die vergangenen Ereignisse aus dem Tagebuch sprechen? In den Tiefen des Waldes begeben sich die beiden auf die abenteuerliche Suche nach den Antworten.
Anna durfte eigentlich nicht durch den Wald nach Hause zu laufen. Ihr Vater hatte sie gebeten, nach der Schule immer direkt nach Hause zu gehen. Aber Anna mochte den Wald so sehr. Vor allem im Herbst. Da war das Licht einfach etwas ganz Besonderes. Einige Blätter lagen schon auf dem Boden und es raschelte so herrlich, wenn Anna mit den Stiefeln hindurchlief. Manche Blätter hingen zwar noch an den Bäumen, waren aber schon orange, rot oder braun verfärbt. Sie baumelten im Wind und verwandelten das Sonnenlicht in ein wunderschönes Farbenspiel. Und wie es roch! Die kalte Luft war durchsetzt mit dem Duft von feuchter Erde und reifen Früchten und der Vorahnung auf den ersten Schnee. Anna blieb an einer lichten Stelle des Waldes stehen, ließ sich die Sonne auf ihr Gesicht scheinen, breitete die Arme aus und drehte sich im Kreis. Da sie jedoch die Augen geschlossen hatte, sah sie nicht, wo sie hintrat. Und prompt trat sie mit dem Fuß auf einen Ast und fiel ins Laub. Lachend lag sie auf den Rücken, schaute hinauf zum Himmel und machte mit den Armen und den Beinen einen Laubengel in die Blätter am Boden.
Anna war sehr verträumt und verspielt. Ihre Lehrerin hatte sie gerade heute wieder ermahnt, da sie im Klassenzimmer aus dem Fenster starrte und die Vögel beobachtete, statt dem Unterricht zu folgen. Vögel hatten Anna schon immer sehr fasziniert. Sie träumte oft, dass sie selbst fliegen könnte. Das taten viele ihrer Freunde auch. Aber Anna träumte nicht einfach nur vom Fliegen. Anna wusste genau, wie sich Flügel anfühlten. Sie wusste, wie sie sie schwingen musste, um abzuheben oder durch die Luft zu gleiten. Für Anna waren das nicht nur Träume, sondern Erinnerungen, die in ihren Träumen lebendig wurden.
Noch immer am Boden im Laub liegend, bemerkte Anna einen Specht, der über ihr an einem Baum landete und sich seitlich am Stamm festhielt. Er schaute sie genau an. Dann klopfte er zweimal sanft mit dem Schnabel an die Rinde und schaute ihr wieder in die Augen. Anna blickte auf ihre Uhr. Genau zwei Uhr mittags. Der Vogel hatte völlig recht. Auch, wenn ihr Vater nicht zuhause war und nicht merken würde, dass sie später kam, weil sie den Umweg durch den Wald genommen hatte. Sie sollte langsam den Heimweg antreten und vor allem nicht tiefer in den Wald hinein. Sie war schon sehr nah am Stadtgebiet von Wolf Hollow, dem Nachbarort von Owl Hollow, in dem sie wohnte. Sie durfte nicht nach Wolf Hollow. Nicht, dass es dort gefährlich war, aber die Bewohner von Wolf Hollow und Owl Hollow mochten sich nicht besonders. Ihr Vater sagte, dass dies auf einen Familienstreit vor über hundert Jahren zurück ging. Anna war das egal. Sie hielt sich von Wolf Hollow fern. All ihre Freunde wohnten ohnehin in Owl Hollow, daher wusste sie gar nicht, was sie im Nachbarort überhaupt sollte. Nur der Wald zog Anna immer wieder an. Er trennte die beiden Orte voneinander und lag im Zentrum von Hollows End, dem Tal, in dem sich beide Dörfer befanden. Annas Vater war es nicht recht, wenn sie allein und zu tief in den Wald ging.
Anna stand von ihrem Laubengel auf und klopfte ein paar lose Blätter von ihrer Kleidung. Viel lieber hätte sie allerdings noch mehr bunte Blätter an sich befestigt und wie ein herbstliches Gefieder getragen. Gerade, als sie ihren Rucksack wieder schulterte, hörte sie ein Jaulen. Sie hielt still und wartete, ob das Geräusch nochmal kam. Und da war es wieder, eindeutig ein Jaulen links von ihr. War da jemand verletzt und brauchte Hilfe? Sie lief, ohne nachzudenken darauf zu, obwohl ihr Zuhause in der anderen Richtung lag. Das Jaulen ertönte wieder und Anna beschleunigte ihren Schritt. Als es recht nah war, sie aber immer noch nicht sah, woher es kam, blieb sie stehen und lauschte. „Auuuuuuuuuu!“, machte es wieder, diesmal direkt vor ihr. „Auuuuaaaaaa! Auauauau!“ und da, hinter einem umgestürzten Baum bewegte sich auch etwas. Ganz vorsichtig schlich Anna sich an, um es nicht zu erschrecken. Sie trat um den Baum herum und erblickte… einen Jungen?! „Auuuuuuu!“, machte der gerade wieder. Er war etwa in ihrem Alter, also fünfzehn oder sechzehn Jahre alt. Aber sie hatte ihn noch nie gesehen.
„Was hast du?“ fragte Anna und der Junge fuhr erschrocken zusammen. Als er sah, dass es nur Anna, also nur ein Mädchen und kein wildes Tier war, entspannte er sich.
„Mein Fuß!“ klagte er. Anna sah auf seinen Fuß, der unter dem Baum eingeklemmt war. Anna trat näher an ihn heran und der Junge wich mit dem Oberkörper etwas zurück. Anna rollte mit den Augen. Als wäre sie gefährlich, lächerlich. Oder lag es daran, dass sie ein Mädchen war und er ein Junge?
„Keine Angst. Ich will nur schauen, ob ich dich befreien kann.“
Sie betrachtete den Fuß und den Baum genauer. „Hm!“ machte sie. „Ich habe eine Idee. Warte hier!“ sagte sie und kicherte. Auch der Junge lächelte ein wenig. Anna legte ihren Rucksack ab, lief ein Stück weg und suchte einen besonders großen und stabilen Ast. Als sie einen gefunden hatte, trug sie ihn zurück zum Baum. Den Ast als Hebel nutzend, hob sie den Baum ein kleines Stückchen an, sodass der Junge seinen Fuß darunter herausziehen konnte. Dann ließ sie den Ast wieder los und der Baum plumpste wieder herunter. Der Junge saß nun neben dem Baum und rieb sich seinen Fuß, der sichtbar dick angeschwollen war.
„Das sieht übel aus“, sagte Anna. „Wie ist das denn passiert?“
Misstrauisch wurde sie von dem Jungen betrachtet. „Ich bin übrigens Anna!“, fand sie ihre Manieren wieder und streckte ihm ihre Hand entgegen. Zögerlich nahm er die Hand und schüttelte sie ein wenig. „Tim!“ sagte er leise. Anna setzte sich auf den Baum.
„Also erzähl Tim, was ist passiert?“, forderte sie ihn auf.
„Der Baum war schon fast umgefallen. Ich habe ihn als Balken zum Balancieren genutzt, und dann, dann ist er ganz abgebrochen und ich bin hinuntergefallen. Der Baum ist noch etwas gerollt und blieb dann auf meinem Fuß liegen“, erzählte er.
„Na da hast du aber Glück gehabt, dass der Fuß noch dran ist“, sagte Anna. Tims Gesicht wurde erst weiß und dann leicht grün.
„Nein, nein“, beruhigte ihn Anna sofort. „Das war nur ein Scherz. Aber gefährlich war das schon, was du da gemacht hast.“
„Ja“, atmete Tim erleichtert aus. „Ich muss jetzt gehen“, sagte er und wollte aufstehen. Als er den Fuß jedoch belastete, jaulte er wieder auf wie ein Tier „Auuuuuuuuuuuu!“, machte er. Und setze sich wieder auf den Boden.
„Du brauchst einen Verband“, stellte Anna fest. „Wo wohnst du denn?“
Tim zeigte nach links. Anna schaute erstaunt.
„Du bist aus Wolf Hollow?“, fragte sie ungläubig. Sie selbst war ja schon recht tief im Wald von Owl Hollow aus. Aber Wolf Hollow war nun wirklich zu weit zum Humpeln.
„Was machst du denn so weit im Wald von Owl Hollow?“, fragte sie ihn.
„Ich habe einen Hasen verfolgt“, antwortete Tim. „Und bin dann wohl zu weit in den Wald rein.“
Anna überlegte und hatte eine Idee.
„Ich nehme dich mit zu mir. Da kann ich dir einen Verband machen. Und dann begleite ich dich zum Rand von Wolf Hollow. Abgemacht?“
„Hm“, machte Tim. „Werden deine Eltern nicht mit dir schimpfen, wenn du einen Jungen aus Wolf Hollow mit nach Hause bringst? Außerdem darf ich nicht nach Owl Hollow! Meine Eltern haben es verboten!“
„Keine Angst!“, beruhigte ihn Anna. „Mein Vater ist nicht zu Hause. Er kommt erst später am Nachmittag wieder. Und bis dahin habe ich dich verbunden und nach Wolf Hollow begleitet. Niemand wird es je erfahren.“
„Und deine Mutter?“, fragte Tim. Anna guckte traurig zu Boden. „Verstehe!“, sagte Tim. „Das tut mir sehr leid. Vermisst du sie?“
Anna nickte. „Ich war noch klein, als sie gestorben ist. Ich erinnere mich nicht mehr an viel. Aber ihre Stimme vermisse ich sehr. Sie hat mir immer vorgesungen. Und ihr Gesicht würde ich immer und überall erkennen! Ich habe auch ein Bild von ihr zu Hause. Mein Vater sagt, ich sehe ihr sehr ähnlich!“ Jetzt lächelte Anna wieder.
Tim überlegte noch kurz, dann stimmte er Annas Plan zu seiner Rettung zu. Sie half ihn beim Aufstehen und er legte seinen Arm um ihre Schultern. Gemeinsam traten sie so den Weg nach Owl Hollow an. Glücklicherweise wohnte Anna am Ortsrand direkt am Wald. So mussten sie nicht durch das Dorf laufen. Zwischendurch machten sie immer wieder kurze Pausen. Es war für beide deutlich anstrengender als gedacht. Tim konnte nur einen Fuß richtig belasten, und Anna stützte ihn und trug zudem noch beide Rucksäcke. Aber sie kamen voran. Nach einer halben Stunde hatten sie Annas Zuhause erreicht und ließen sich auf die Treppenstufen vor dem Haus fallen.
„Puh!“, machten beide.
„Ich glaube, jeden Tag möchte ich das nicht machen“, sagte Anna und atmete schwer.
„Da bin ich deiner Meinung. Ich klettere so schnell auf keinen Baumstamm mehr, versprochen.“
Als sich die beiden etwas erholt hatten, gingen sie ins Haus und Anna machte in der Küche zwei Limonaden. Tim setzte sich auf einen Küchenstuhl und stürzte sein Getränk in einem Zug herunter.
„Das tut gut!“, sagte er und Anna schenkte ihm nach. Auch sie hatte starken Durst nach der Anstrengung im Wald.
„Ich schau mal nach Verbandsmaterial“, sagte sie. „Ich glaube, im Vorratsraum ist ein Erste-Hilfe-Kasten.“ Sie lief in den Flur und ging zum Vorratsraum. Dort angekommen sah sie sich um. Und tatsächlich, auf dem obersten Regal war der Kasten mit dem roten Kreuz darauf zu sehen. Anna zog die kleine Leiter hinter der Tür hervor und stellte sie auf. Vorsichtig kletterte sie auf die zweit oberste Stufe. Doch so kam sie noch nicht an den Kasten heran. Sie kletterte also noch eine Stufe höher. Und dann konnte sie den Kasten bewegen. Richtig greifen zwar nicht, dazu war sie zu klein, aber er bewegte sich zumindest mal auf dem Regal. Wenn sie ihn weiter zum Rand bewegte, würde er mit der Zeit kippen und dann könnte sie ihn auffangen. So zumindest der Plan. Was Anna jedoch nicht sah, war, dass auf dem Kasten noch etwas lag. Dieses Etwas rutschte nun herunter und landete neben der Leiter auf dem Boden. Anna betrachtete es zunächst nicht, sondern fischte weiter nach dem Kasten mit dem Verbandszeug. Und tatsächlich, ihr Plan funktionierte. Als der Koffer weit genug vorne war, kippte er leicht und Anna konnte nach dem Henkel greifen und den Koffer herunterziehen. Als sie ihn sicher in der Hand hatte, stieg sie vorsichtig von der Leiter und hob auf, was ihr fast auf den Kopf gefallen wäre. Als sie es in der Hand hielt, erkannte sie, dass es sich um ein altes Buch handelte. „My Secrets“ stand darauf: „Meine Geheimnisse“ also. Anna zog nachdenklich die Brauen zusammen und lief mit dem Buch in der einen Hand und dem Erste-Hilfe-Kasten in der anderen Hand zurück zu Tim in die Küche.
„Was hast du da?“, fragte er neugierig, als Anna völlig in den Bann des Buches gezogen zurückkam.
„Ein altes Buch!“, sagte Anna und legte es auf den Küchentisch. Tim wollte nach dem Buch greifen und es anschauen aber Anna entschied, dass sie zunächst nach seinem Fuß schauen wollten. Also zog Tim seinen Schuh und den Socken aus, damit Anna den Fuß verbinden konnte. Sie kniete sich vor ihn und schaute sich den Fuß genau an. Der Knöchel war dick und blau. Vorsichtig tastete Anna den Fuß ab. „Auuuuu!“, machte Tim wieder. „Entschuldige!“, sagte Anna. „Ich mach dir von dieser Salbe drauf. Die hat mir mein Vater letztes Jahr auf die Hand geschmiert, als ich von der Schaukel gefallen bin. Das Handgelenk sah auch so dick aus wie dein Fuß. Und dann mache ich dir den Verband um den Knöchel, dann ist er etwas gestützt.“
„Klingt gut!“, sagte Tim und ergab sich in Annas fürsorgliche Hände. Nach zehn Minuten hatte Anna den Knöchel mit Salbe eingecremt und einen Verband angelegt. Dieser war zwar bestimmt nicht perfekt und Tim sollte definitiv noch zum Arzt, aber für den Moment war es gut so. Anna stellte ihm noch einen zweiten Stuhl hin, damit er den Fuß hochlegen konnte. Sie hatte mal gehört, dass das bei Schwellungen gut war.
Nachdem sie sich auch an den Tisch gesetzt hatte, nahm sie das Buch wieder in die Hände. Es war tatsächlich alt und auch etwas eingestaubt. Anna fuhr mit dem Finger über den ledernen Einband und die goldenen Buchstaben auf dem Buchdeckel. „My Secrets“, las sie laut vor.
„Geheimnisse also?“, fragte Tim. „Was für Geheimnisse?“
„Keine Ahnung“, sagte Anna und zuckte mit den Schultern.
„Wollen wir reinschauen?“, fragte Tim.
„Hm“, machte Anna. „Es sind Geheimnisse. Wer immer das geschrieben hat, wollte bestimmt nicht, dass wir es lesen.“
„Aber warum hat er es dann aufgeschrieben? Warum hat er es dann nicht nur gedacht? Wenn etwas aufgeschrieben wird, dann liest es auch jemand!“, stellte Tim fest.
„Ja, da hast du auch wieder Recht“, gestand Anna ein. „Lass und rausfinden, wessen Geheimnisse es sind und dann entscheiden, ob wir es lesen dürfen.“
„Einverstanden!“, sagte Tim und nickte.
Anna schlug das Buch auf und bekam riesengroße Augen. Erst erstarrte sie und dann fingen ihre Hände an zu zittern.
„Anna, was ist denn?“, fragte Tim.
„Das Buch“, antwortete Anna, „es ist das Tagebuch meiner Mutter!“
„Wow, aber das ist doch toll. So kannst du mehr über sie erfahren“, sagte Tim.
„Ja. Aber jetzt vermisse ich sie wieder ganz schrecklich. Ich hätte lieber meine Mama wieder anstelle dieses Buches.“
„Na klar wäre dir das lieber. Das ist doch logisch“, sagte Tim. „Trotzdem ist es ein toller Fund. Das sind ihre Erinnerungen. Vielleicht steht auch was über dich drin.“
Anna blätterte ins Buch. „Der erste Eintrag ist von vor fast sechzehn Jahren. Da wurde ich geboren.“ Anna blätterte weiter. „Und der letzte Eintrag wurde vor zehn Jahren geschrieben. Da war ich fünf und sie starb.“
„Dann steht da bestimmt viel über eure gemeinsame Zeit drin. Das ist doch klasse. Jetzt kannst du das alles nochmal erleben aber aus ihrer Sicht.“
Anna blätterte weiter im Buch umher.
„Anscheinend konnte sie gut zeichnen“, sagte sie und drehte das Buch zu Tim um. Auf der aufgeschlagenen Seite war eine Bleistiftzeichnung von einer Eule, die in einem Baum saß. Über der Eule schien der Mond und am Fuße des Baumes saß ein heulender Wolf.
„Das ist wunderschön“, sagte Tim.
„Ich habe es noch nie gesehen und trotzdem kommt es mir seltsam bekannt vor“, stellte Anna fest.
„Ja“, runzelte Tim verwundert die Stirn, „irgendwie schon. Vielleicht war so ein Bild mal im Kunstunterricht dran?“
„Keine Ahnung“, zuckte Anna mit den Schultern.
„Lass uns nach noch mehr Bildern suchen“, schlug Tim vor und Anna blätterte weiter im Buch umher. Und tatsächlich. Immer wieder stießen sie auf größere und kleinere Zeichnungen. Entweder neben oder unter den Texten oder auf separaten Seiten. Immer waren es Wölfe und Eulen und meistens waren sie im Wald abgebildet.
„Offensichtlich mochte deine Mutter Tiere.“
„Sieht so aus. Ich mag Vögel sehr gerne. Die Federn und die Flügel. Eulen sind was Besonderes. Sie gleiten lautlos durch die Luft. Sehr geheimnisvoll.“
„Ich finde Wölfe total klasse“, sagte Tim. „Die Kraft und die Eleganz, das ist faszinierend.“
Die beiden blätterten weiter im Buch, schauten sich die Zeichnungen von Annas Mutter an und vergaßen dabei völlig die Zeit. Bis plötzlich ein Schlüssel in der Tür gedreht wurde und die beiden zu Tode erschraken. Schnell steckte Anna das Buch in ihren Rucksack.
„Anna? Anna! Ich bin zu Hause!“, rief Annas Vater von der Tür. Und noch bevor sich die beiden von ihrem Schock erholt hatten, stand er auch schon in der Küche und betrachtete die Kinder neugierig.
„Hallo!“, sagte er und ging auf Tim zu. „Ich bin Annas Vater Robert. Und du?“
„Ehm“, stotterte Tim und ergriff schüchtern die angebotene Hand. „Tim.“
„Hallo Tim“, sagte Annas Vater, „und wo kommst du her?“
„Nirgends!“, sagte Anna schnell und sprang von ihrem Stuhl. Ihr Vater drehte sich zu ihr um.
„Aha. Er ist also einfach so in unserer Küche aufgetaucht?“
„Ja, nein“, sagte Anna peinlich berührt und schaute zu Boden. Annas Vater lächelte sie an.
„Das wäre ja auch eine Sensation.“
„Ich muss gehen!“, sagte Tim und stand auf. Doch sobald er den Fuß belastete, zog er scharf die Luft ein. Das tat immer noch höllisch weh.
„Oh, was ist denn passiert?“, fragte Annas Vater besorgt.
„Ich bin im Wa..“, setzte Tim an.
„Treppe!“, unterbrach ihn Anna.
„Was nun?“, fragte ihr Vater. „Was ist denn los, Anna? Du weißt doch, dass du mir alles erzählen kannst. Wir sind doch ein Team, Kleines!“
Anna seufzte und setzte sich wieder hin.
„Er ist im Wald von einem Baumstamm gefallen und hat sich den Knöchel verletzt. Da es zu mir nach Hause näher war, sind wir hier her und ich habe ihm den Fuß verbunden.“
„Du meinst den Wald, in den ich dich gebeten hatte, nicht zu gehen?“
Anna nickte schuldbewusst.
„Da reden wir noch drüber“, wurde Anna von ihrem Vater ermahnt. „Es ist schon dunkel. Deine Eltern machen sich bestimmt Sorgen. Wo in Owl Hollow wohnst du denn? Ich fahr dich schnell heim. Laufen kannst du mit dem Fuß nicht.“
„Naja“, sagte Tim. „Eigentlich bin ich aus Wolf Hollow.“
Annas Vater schaute ungläubig zwischen dem Besucher und seiner Tochter hin und her.
„Na das wird ja immer spannender“, sagte er. „Anna, ich möchte, dass du jetzt deine Hausaufgaben machst und dich keinen Millimeter aus dem Haus bewegst. Verstanden? Ich bringe Tim nach Hause und wenn ich wieder komme, unterhalten wir uns beim Abendessen über deinen kleinen Ausflug.“
„Ja, Papa“, sagte Anna kleinlaut.
„Komm Tim, ich bring dich nach Hause. Hoffentlich fressen mich deine Eltern nicht.“ Annas Vater grinste. Doch weder Anna noch Tim waren sich sicher, ob er das nicht doch ein bisschen ernst meinte.
Als Annas Vater und Tim gegangen waren, machte Anna in Rekordzeit ihre Hausaufgaben und räumte den Erste-Hilfe-Kasten wieder in die Vorratskammer. Sie achtete jedoch darauf, dass er leichter zu erreichen war. Nicht, dass sie das nächste Mal von der Leiter fiel, wenn sie wieder danach angelte. Dann schnappte sie sich das Tagebuch ihrer Mutter und ging damit hoch in ihr Zimmer. Zunächst blätterte sie noch einmal durch die wunderschönen Zeichnungen. Warum hatte sie noch nie eine Zeichnung ihrer Mutter gesehen? Die Bilder waren großartig. Warum hängte Annas Vater nicht einige davon auf? Gab es vielleicht keine weiteren Bilder ihrer Mutter und ihr Vater wusste nichts von dem Buch? Wie kam das Buch dann aber auf den Erste-Hilfe-Kasten? Und warum hatte ihr Vater es ihr nicht schon früher gegeben? Standen in dem Buch tatsächlich Geheimnisse, die geheim bleiben sollten und ihr Vater hatte ihr das Buch deshalb absichtlich vorenthalten? Anna beschloss das Buch zu lesen und hoffte, mehr über ihre Mutter herauszufinden. Heimlich natürlich. Also klappte sie es zu und versteckte es unter ihrer Matratze.
Als sie runter in die Küche ging, um den Tisch für das Abendessen zu decken, kam gerade ihr Vater wieder nach Hause.