Die Geister, die ich rief - Robert Arthur - E-Book

Die Geister, die ich rief E-Book

Robert Arthur

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Beschreibung

Ein Geist greift einen Mann an und ein Radioreporter für Gruselhörspiele verschwindet spurlos. Einen dickköpfigen Onkel trifft der Blitz. In welcher Geschichte geht es um eine alte Glocke, die Tote zurück ins Leben holt? Wo geht es um spezielle Briefmarken und seltsame Bewohner? Ein Band mit zehn kuriosen und spannenden Kurzgeschichten des US-amerikanischen Autors Robert Arthur! Der berühmte Erfinder von Die drei ??? schrieb sie im Jahr 1963. Schaurig-skurrile Abenteuer in einer Neuübersetzung aus dem Englischen. Die Handlungen der extra gruseligen Geschichten sind zeitlos und einzigartig: Bis heute spukt es hier auf jeder Seite! Für Liebhaber der Detektive aus Rocky Beach und Gruselfans ab 14 Jahren ist die Neuübersetzung der Geschichten aus dem Englischen ein Muss

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Seitenzahl: 243

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Cover for EPUB

Titel

Die Geister, die ich rief

10 geisterhafte Kurzgeschichten

Robert Arthur

KOSMOS

Impressum

Alle Angaben in diesem Buch erfolgen nach bestem Wissen und Gewissen. Sorgfalt bei der Umsetzung ist indes dennoch geboten. Verlag und Autoren übernehmen keinerlei Haftung für Personen-, Sach- oder Vermögensschäden, die aus der Anwendung der vorgestellten Materialien und Methoden entstehen könnten. Dabei müssen geltende rechtliche Bestimmungen und Vorschriften berücksichtigt und eingehalten werden.

Distanzierungserklärung

Mit dem Urteil vom 12.05.1998 hat das Landgericht Hamburg entschieden, dass man durch die Ausbringung eines Links die Inhalte der gelinkten Seite gegebenenfalls mit zu verantworten hat. Dies kann, so das Landgericht, nur dadurch verhindert werden, dass man sich ausdrücklich von diesen Inhalten distanziert. Wir haben in diesem E-Book Links zu anderen Seiten im World Wide Web gelegt. Für alle diese Links gilt: Wir erklären ausdrücklich, dass wir keinerlei Einfluss auf die Gestaltung und die Inhalte der gelinkten Seiten haben. Deshalb distanzieren wir uns hiermit ausdrücklich von allen Inhalten aller gelinkten Seiten in diesem E-Book und machen uns diese Inhalte nicht zu Eigen. Diese Erklärung gilt für alle in diesem E-Book angezeigten Links und für alle Inhalte der Seiten, zu denen Links führen.

Aus dem Amerikanischen übersetzt und bearbeitet von Anja Herre

Titel der Originalausgabe: »Ghosts and More Ghosts«

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Umschlagsabbildung: © Irv Docktor

© 2024, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG

Pfizerstraße 5–7, 70184 Stuttgart

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Mit freundlicher Genehmigung der Universität Michigan.

ISBN 978-3-440-51001-8

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Hauptteil

Anmerkung der Übersetzerin

Unsichtbare Schritte

Mr Miltons Gabe

Die Rosenquarzglocke

Post aus El Dorado

Der wundervolle Tag

Ein komischer Vogel

Glauben Sie an Geister?

Sturkopf Onkel Otis

Mr Dexters Drache

Hank Garveys Taggeist

Über den Autor

»Einige meiner besten Freunde sind Geister, und die folgenden zähle ich dazu. Eine erstklassige Mischung aus Gänsehautgrusel und ektoplasmischer Unterhaltung.«

– Alfred Hitchcock

Diese zehn Geschichten, verfasst von einem Experten in der Kunst des Absonderlichen, des Grusels und der Spannung, werden euch wohlig schaudernde Lesestunden bereiten – begleitet von einem leisen Schmunzeln, um die Anspannung zu lindern.

Dieses Buch widme ich Andrew und Elizabeth, einfach so.

ANMERKUNG DER ÜBERSETZERIN

Die Geschichten in diesem Buch sind zeitlos. Und gleichzeitig sind sie es ganz und gar nicht.

Sie sind es nicht, weil sie Mitte des vergangenen Jahrhunderts geschrieben wurden und unwillkürlich den Geist ihrer Zeit widerspiegeln. Da treten Präsidenten auf, die es nur noch in Geschichtsbüchern gibt, da sind Telefonverbindungen noch auf Kabel und eine Dame bei der Vermittlung angewiesen. Es werden richtige, echte Atlanten gewälzt, keine Apps aufgerufen.

Sie sind zeitlos, weil man trotz all dieser Vergänglichkeiten begreift, worum es geht. Weil die Angst vor dem, was sich in der dunklen Kammer hinter der knarrenden Tür verbirgt, zeitlos ist. Sie sind es, weil sie wie alle guten Geschichten Gänsehaut erzeugen, zum Lachen bringen, aufs Glatteis führen. Und weil man Seite für Seite einfach immer schneller umblättern muss, bis man schließlich, von der Spannung getrieben, ganz außer Atem ist.

In meinem Kopf war Robert Arthur lange ausschließlich der Schöpfer der Buchreihe Die drei ???. Dabei hatte er einfach ganz grundsätzlich ein eiskaltes Händchen für richtig gute Geschichten.

Ich stelle ihn mir vor, den Autor, an einer Schreibmaschine, deren klappernde Anschläge heute so ungewohnt klingen wie die Wörter Blankoscheck oder Weltatlas. Das Fenster zum Hof steht offen (ziemlich sicher wehen die weißen Gardinen), das Gaslicht ist gedimmt, ab und an blickt er hinaus, ruft die herumschwirrenden Geister zusammen und bannt sie auf Papier.

Für mich geht es beim Übersetzen weniger darum, einen Satz wortwörtlich zu übertragen. Vielmehr geht es mir um den Geist des Textes. Darum, wie ich seine Figuren verstehe. Höre, wie sie sprechen, gehen, sich den Regen auf den Kopf prasseln lassen. Dieser Geist kann flatterhaft sein. Manchmal ist im Text etwas zu spüren, was über die hingeschriebenen Wörter hinausgeht und ebenso schwer zu greifen ist wie ein Nebelschleier nach Mitternacht.

Und eben weil Robert Arthur in meinem Kopf dasitzt, zeitlos im Jahr 1940, auf seiner Schreibmaschine Wörter wie Blankoscheck und Telefonkabel und die Präsidenten Roosevelt (beide!) klappernd zu Papier bringt, war es mir wichtig, diesen Dingen auch im Jahr 2024 einen Platz zu geben, sie nicht unter den Schreibtisch fallen zu lassen. Der zarte Staub, der hier manchmal liegt, sollte nicht achtlos weggewischt werden – schon gar nicht bei Geistergeschichten, oder?

Gleichzeitig ist Husten fast unvermeidlich, wenn Staub aufgewirbelt wird. Hier und da tauchten im Originaltext Beschreibungen oder einzelne Wörter auf, die ich im Deutschen nicht einfach so wiederholen wollte. Einfach weil sie Sichtweisen ausdrücken, die damals zwar verbreitet gewesen sein mögen, die ich aber im Jahr 2024 nicht aufgreifen und deren Leben ich somit nicht verlängern mochte. Daher sind diese Wörter, sofern sie nicht in der wörtlichen Rede der handelnden Figuren dazu dienen, ebendiese Figuren näher zu beschreiben, dann doch unterm Schreibtisch gelandet.

Dieses Buch ist nicht bloß eine Reise ins Reich der Geister, Gespenster und sonstiger Übernatürlichkeiten. Es ist eine zeitlose Zeitreise in die Mitte des vergangenen Jahrhunderts. Und nun genug der Vorworte – ich wünsche euch viel Spaß auf der Reise!

© Irv Docktor

UNSICHTBARE SCHRITTE

Die Nacht war dunkel und stürmisch. Wie aus wütenden Wolken prasselte der Regen herab und unter seiner Wucht verschmolzen die Geräusche der Großstadt auf seltsame Weise. Für Jorman klangen sie wie ein gedämpftes Grollen.

Er hingegen hatte es recht behaglich. Der kleine Zeitungskiosk neben dem Eingang zur Untergrundbahn war regendicht.

Das Fenster, das er stets offen ließ, um nahende Kundschaft zu hören, Kleingeld entgegenzunehmen und Zeitungen hinauszureichen, ließ eine feuchte Kühle herein, ein winziger Ölheizofen in der Ecke hielt sie jedoch mit seiner ausstrahlenden Wärme in Schach.

Ein Transistorradio dudelte, und Foxfire, sein Drahthaarterrier, schnarchte zu seinen Füßen.

Jorman langte nach oben und schaltete das Radio ab. Bisweilen bereitete ihm das Gedudel Vergnügen. Meist lauschte er aber doch lieber dem Leben, das wie ein Fluss an seinem Kiosk vorbeirauschte.

Heute Abend hatte sich allerdings selbst der Times Square den Sturmgöttern ergeben. Jorman hörte nicht einen einzigen Passanten vorbeigehen, obwohl sein Zeitgefühl – verstärkt durch die Radioansage kurz zuvor – ihm sagte, dass es erst wenige Minuten nach Mitternacht war.

Er zündete sich eine Pfeife an und rauchte zufrieden.

Kurz darauf hob er den Kopf. Schritte nahten – langsame, bedächtige, vertraute Schritte. Vor seinem Kiosk blieben sie stehen, und er lächelte.

»Hallo, Clancy«, begrüßte er den Streifenpolizisten. »Ist ’ne gute Nacht für Enten.«

»Hätt’ ich bloß Schwimmhäute an den Füßen«, grummelte der stämmige Polizist. »Käme mir sehr zupass. Bist schon ein komischer Kauz, an so’m Abend so lang auszuharren, ohne Aussicht auf Kundschaft.«

»Mir gefällt’s.« Jorman grinste. »Ich hör dem Sturm gern zu. Regt die Fantasie an.«

»Meine auch«, knurrte Clancy. »Aber in meiner Fantasie kommt bloß meine Wohnung vor, ’ne warme Wanne und was Heißes zu trinken. Bah!«

Er schüttelte sich und stapfte mit einem »Gute Nacht« weiter.

Jorman hörte die Schritte des Polizisten leiser werden. Ein Weilchen herrschte Stille, abgesehen vom Regen und vom gelegentlichen Vorbeirauschen eines Taxis. Dann vernahm er abermals Schritte.

Diesmal kamen sie von der Seitenstraße her und er lauschte ihnen aufmerksam, den Kopf leicht zur Seite geneigt.

Sie waren – er suchte nach dem richtigen Wort – nun, sonderbar. Schlurf-schlurf, wie von großen Füßen in Segeltuchschuhen, die bei jedem Schritt ein Stück über den Gehweg schleiften. Schlurf-schlurf – schlurf-schlurf kamen sie langsam näher, zögerlich, als bliebe jemand alle paar Schritte stehen, um sich umzublicken.

Jorman fragte sich, ob der herannahende Mensch wohl eine Behinderung hatte. Einen Klumpfuß vielleicht, den er bei jedem Schritt nachzog. Kurz kam ihm der abwegige Gedanke, die Geräusche stammten von vier Füßen und nicht von zwei; er verwarf ihn jedoch mit einem Lächeln und horchte noch genauer hin.

Nun gingen die Schritte an ihm vorbei, und obwohl der Regen ein eindeutiges Auseinanderhalten erschwerte, hatte er den Eindruck, jeder schlurfende Schritt werde begleitet von einem leisen Klacken.

Während er noch eingehender lauschte, erwachte Foxfire aus seinem Schläfchen. Jorman spürte die Regungen des kleinen Hundes an seinen Füßen, dann hörte er ein tiefes Knurren. Er streckte die Hand hinunter und da saß Foxfire an seinen Schuh gekauert, den Schwanz eingeklemmt, das Fell gesträubt.

»Ruhig, mein Junge!«, flüsterte er. »Ich will etwas hören.«

Foxfire verstummte. Jorman hielt ihm die Schnauze zu und lauschte. Die Schritte des Unbekannten waren an ihm vorbei bis zur Ecke geschlurft. Dort hielten sie inne, wie unentschieden. Dann bogen sie in die 7th Avenue ab und wurden kurz darauf vom Sturm verschluckt.

Jorman ließ seinen Hund los und rieb sich grübelnd das Kinn. Was am Geruch des Unbekannten Foxfire wohl derart verängstigt hatte?

Ein Weilchen saß Jorman, die Pfeife in der Hand, reglos da. Erleichtert vernahm er kurz darauf Clancys wiederkehrende Schritte. Der Polizist blieb stehen und Jorman wartete nicht ab, bis er etwas sagte. Er beugte sich aus seinem kleinen Fenster.

»Clancy«, fragte er, darum bemüht, sich die Aufregung nicht anmerken zu lassen, »wie sieht der Bursche da vorn aus – der auf der 7th Avenue Richtung Süden? Sollte jetzt etwa auf halber Höhe des Häuserblocks sein.«

»Hm?«, fragte Clancy. »Ich seh’ niemanden. Ist ’ne Zeitung geklaut worden?«

»Nein.« Jorman schüttelte den Kopf. »War bloß neugierig. Da ist also niemand?«

»Nicht in Sichtweite«, erwiderte der Polizist. »Muss wohl irgendwo abgebogen sein. Wir beide haben die Stadt heute ganz für uns. Na dann, bleib sauber. Ich hab noch ein paar Häuser vor mir.«

Das Regenprasseln hörbar auf dem breiten, regenmantelbewehrten Rücken, platschte er davon, und Jorman setzte sich schmunzelnd wieder auf seinen Stuhl. Schon lustig, was für Streiche Geräusche einem spielen konnten, besonders bei Regen.

Abermals zündete er seine erloschene Pfeife an und überlegte, für heute den Laden dichtzumachen, als der letzte Kunde des Abends herannahte. Diesmal erkannte er die Schritte. Es erfüllte ihn mit Stolz – und brachte Umsatz –, dass er all seine Stammkunden mit Namen begrüßen konnte, wenn auf der Straße nicht zu viel Gedränge herrschte.

Dieser hier war, auch wenn er nicht oft kam und noch nie zuvor bei Nacht, einfach. Der Schritt war fest, entschlossen. Klack – das war der Absatz – schlapp – das war die Sohle, die entschieden aufsetzte. Klack-schlapp – der andere Fuß. Kinderleicht. In einer Menschenmenge hätte er den erkannt.

»Guten Morgen, Sir Andrew«, sagte Jorman, als die Schritte an seinen Kiosk traten. »Die Times?«

»Danke.« Die Stimme, die ihm antwortete, hatte einen typisch britischen Akzent. »Sie haben mich erkannt, was?«

»Aber ja.« Jorman grinste. Gewöhnlich verblüffte es seine Kundschaft, dass er ihre Namen kannte. Dabei waren Namen nicht schwer zu lernen, wenn ihre Besitzer in der Nähe wohnten oder arbeiteten. »Ein Page aus Ihrem Hotel hatte gerade eine Zeitung gekauft, als Sie letztes Mal kamen. Nachdem Sie weg waren, hat er mir verraten, wer Sie sind.«

»So einfach, ja?«, rief Sir Andrew aus. »Ich weiß aber nicht, ob mir so viel Beachtung gefällt. Heutzutage bin ich lieber einer unter vielen. Mein schlechter Ruf von früher genügt mir vollauf.«

»Und davon gab’s vor vier Jahren wohl reichlich«, deutete Jorman an. »Hab die Berichterstattung Ihrer Grabräuber-Expedition verfolgt. Interessante Arbeit, Archäologie. Ich wollte schon immer gern mal so in der Vergangenheit rumstochern können.«

»Lassen Sie’s!« Sein Ton war scharf. »Hören Sie auf meinen Rat und bleiben Sie schön gemütlich in der Gegenwart. Die Vergangenheit ist ein unbequemer Ort. Manchmal wirft man einen Blick hinein und bringt dann den Rest seines Lebens damit zu, ihr wieder zu entkommen. Und … Aber ich sollte nicht hier herumstehen und plaudern. Nicht bei dem Sturm. Hier ist Ihr Geld. Nein, hier auf dem Tresen …«

Und während Jorman die Münze ertastete, entfuhr Sir Andrew Carraden erneut ein Ausruf.

»Ach!«, sagte er. »Das tut mir leid.«

»Nichts für ungut«, sagte Jorman zu ihm. »Es freut mich, wenn es den Leuten nicht auffällt. Geht vielen so, trotz des Schildes.«

»›Blinder Zeitungsverkäufer‹«, las Sir Andrew Carraden den kleinen Aushang am Kiosk. »Ach …«

»Kriegsverletzung«, erklärte Jorman. »Meine Augen haben mich zunehmend im Stich gelassen. Vor ein paar Jahren war es dann ganz vorbei. Also hab ich mich hierauf verlegt. Stört mich aber nicht. Kompensation, wissen Sie. Erstaunlich, was ein Mensch so alles hört, wenn er hinhört. Jetzt fragen Sie mich bestimmt, woran ich Sie erkannt habe. An Ihren Schritten. Die sind sehr leicht zu erkennen. Eine Art klack-schlapp, klack-schlapp.«

Sein Kunde schwieg. Eben wollte Jorman sich erkundigen, ob etwas nicht stimmte, da ergriff der Engländer das Wort.

»Hören Sie. Ich …«, seine Stimme nahm einen beinahe hungrigen Eifer an, »ich muss mit jemandem reden oder ich gehe in die Luft. Ich werde verrückt, meine ich. Ganz und gar wahnsinnig. Vielleicht bin ich es ja auch schon längst. Wer weiß. Haben Sie … haben Sie ein paar Minuten? Wären Sie bereit, mir ein wenig Gesellschaft zu leisten? A-allzu langweilig dürfte es nicht werden.«

Jorman zögerte mit der Antwort. Nicht, weil er abzulehnen gedachte – die Dringlichkeit in der Stimme des Mannes war unverkennbar –, doch es lag etwas Gehetztes darin, das Jorman neugierig machte.

Es war verrückt – aber Jormans Ohren irrten sich nur selten. Der Engländer, der Archäologe, dessen Name einige Jahre zuvor Berühmtheit erlangt hatte, war ein gejagter Mann. Ein verzweifelter Mann vielleicht. Ein Mann auf der Flucht – nur wovor?

Jorman rätselte nicht weiter herum. Er nickte.

»Ich habe Zeit«, willigte er ein.

Er hob Foxfire hoch, machte die Leine fest, warf sich einen alten Mantel über und drehte seine Gaslampe herunter. Während Foxfire an der Leine zerrte, klappte er seine Auslage hoch und sicherte den Kiosk mit einem Vorhängeschloss.

»Hier entlang«, sagte Sir Andrew Carraden neben ihm. »Nicht einmal ein halber Häuserblock. Möchten Sie meinen Arm nehmen?«

»Danke.« Jorman griff den Fremden am Ellbogen. Die Berührung weckte Erinnerungen an Fotografien, die er vor Jahren in der Zeitung gesehen hatte. Der Engländer war ein stattlicher Mann. Keiner, der etwas fürchtete. Und dennoch war ihm bang. Geradezu verängstigt war er.

Sie duckten sich vor dem Regen, der etwas nachgelassen hatte, und gingen den kurzen Weg bis zum Hotel.

Mit lautem Klacken ihrer Absätze auf dem Marmor betraten sie das Foyer. Jorman kannte das Haus: das Russet. Respektabel, aber etwas heruntergewirtschaftet.

Auf ihrem Weg am Empfang vorbei rief ein schläfriger Angestellter nach ihnen.

»Ach, verzeihen Sie. Hier ist eine Nachricht für Sie. Vom Geschäftsführer. Bezüglich einiger Renovierungs–«

»Danke, danke«, entgegnete Jormans Begleiter ungeduldig, und Jorman hörte, wie Papier in eine Tasche gestopft wurde. »Da ist schon der Aufzug. Machen Sie einfach einen kleinen Schritt nach oben.«

Einige Minuten hatten sie im Sessel gesessen, Pfeife rauchend, heiße Getränke vor sich, bevor Sir Andrew Carraden wieder auf die Angelegenheit zu sprechen kam, die ihm offensichtlich durch den Kopf ging.

Das Zimmer war, dem Hall ihrer Stimmen nach zu urteilen, recht geräumig und vermutlich, da es sich um ein Wohnzimmer zu handeln schien, mit einem Schlafzimmer dahinter verbunden. Den dösenden Foxfire zu Jormans Füßen, hatten sie über Belanglosigkeiten geplaudert, als der Engländer abrupt das Thema wechselte.

»Jorman«, sagte er, »ich bin verzweifelt. Man stellt mir nach.«

Jorman hörte Kaffee überschwappen, als eine unsichere Hand mit der Tasse klirrend an den Unterteller stieß.

»Dachte ich mir«, räumte er ein. »Das war in Ihrer Stimme zu hören. Die Polizei?«

Sir Andrew Carraden lachte, ein schroffer explosiver Laut.

»Sie haben wirklich gute Ohren«, sagte er. »Die Polizei? Wenn’s bloß so wäre! Nein. Ein … ein persönlicher … Feind.«

»Könnte dann nicht die Polizei –«, setzte Jorman an. Der andere fiel ihm ins Wort.

»Nein! Die kann mir nicht helfen. In diesem Leben kann niemand mir helfen. Und, gnade mir Gott, auch im nächsten nicht!«

Jorman überging den flehentlichen Ausruf.

»Aber bestimmt –«

»Sie können mir glauben, ich bin auf mich gestellt«, erklärte Sir Andrew Carraden ihm grimmig. »Es handelt sich um eine … eine Fehde, wenn man so will. Und ich bin der Gejagte. Zu meiner Zeit war ich häufig auf der Jagd, und nun erlebe ich die andere Seite. Angenehm ist das nicht.«

Jorman nippte an seinem Getränk.

»Sie – dieser Feind. Ist der schon lang hinter Ihnen her?«

»Drei Jahre.« Der Engländer sprach leise, etwas unsicher. Vor seinem geistigen Auge sah Jorman den Mann sich nach vorn beugen, den Arm aufs Knie gestützt, die Miene finster.

»Es begann eines Nachts in London. Eine regnerische Nacht wie heute. Ich sah gerade ein paar Tontafeln durch, die entziffert werden wollten. Ein Teil der Beute aus dem Grabmal von Tut-Anch-Tothet. Der, von dem die von Ihnen erwähnten Zeitungsartikel handelten.

Ich hatte ziemlich viel gearbeitet. Zum Feierabend wollte ich am Fenster eine Pfeife rauchen. Da hörte ich es.«

»Sie hörten es?«

»Ihn«, berichtigte sich Carraden. »Hörte ihn mir nachstellen. Hörte seine Schritte –«

»Schritte?«

»Ja. In der pechschwarzen Nacht. Hörte ihn auf und ab gehen, auf der Suche nach mir. Dann nahm er meine Fährte auf und kam durch den Garten.«

Sir Andrew hielt inne, und Jorman hörte, wie die Kaffeetasse wieder angehoben wurde.

»Mein Hund, eine Deutsche Dogge, witterte ihn. Fürchtete sich, die arme Kreatur, und aus gutem Grund. Dennoch versuchte er anzugreifen. Auf meiner eigenen Türschwelle hat mein … Widersacher … den Hund … zerfleischt. Sehen konnte ich den Kampf nicht, aber sehr wohl hören. Das Tier hielt ihn lang genug auf, dass ich wegrennen konnte. Durch die Hintertür, in den Sturm hinaus.

Ein paar hundert Meter entfernt gab es einen Fluss. Dahin begab ich mich, sprang hinein, ließ mich drei Kilometer treiben, ging an Land und fuhr per Anhalter nach London. Am nächsten Morgen verließ ich die Stadt auf einem Frachter gen Australien, bevor er meine Fährte wieder aufnehmen konnte.«

Jorman hörte den Archäologen tief durchatmen.

»Sechs Monate hat es gedauert, bis er mich erneut aufspürte, im Goldgebiet Australiens. Wieder hörte ich ihn rechtzeitig. Ich entkam auf einem Pferd, als er eben in meine Hütte eindrang, erwischte einen Frachtflug nach Melbourne, anschließend ein Schnellboot nach Schanghai. Dort blieb ich allerdings nicht lang.«

»Warum nicht?«, fragte Jorman. Er meinte, ein leises Schaudern von Carraden vernommen zu haben.

»Seinem Land zu ähnlich. Im Orient standen die Bedingungen zu seinen Gunsten. Und zu meinen Ungunsten. Ich hatte so eine Ahnung. Ich beeilte mich, nach Manila zu kommen, und nahm dort einen Flug in die Staaten. Bekam später einen Brief von einem alten chinesischen Bediensteten, dass er in der darauffolgenden Nacht eingetroffen war.«

Stirnrunzelnd nippte Jorman an seinem Kaffee. Er zweifelte nicht an der Aufrichtigkeit des Mannes, die Geschichte war allerdings wirklich etwas rätselhaft.

»Dieser Kerl, Ihr Widersacher«, sagte er langsam, »Sie sagten, der Orient sei seinem eigenen Land zu ähnlich gewesen.«

»Ja. Er kommt aus Ägypten. Dort habe ich mir seine … nun ja, seine Feindschaft eingehandelt.«

»Er stammt also gebürtig von dort?«

Carraden zögerte, offenbar auf der Suche nach Worten.

»Nun ja«, sagte er schließlich, »könnte man schon sagen. Obwohl er streng genommen aus einem anderen … anderen Land kommt. Einem weniger bekannten.«

»Aber«, beharrte Jorman, »ich würde doch denken, dass einem reichen Mann wie Ihnen in so einem Fall alle erdenklichen Mittel und Wege zur Verfügung stehen müssten. Immerhin fällt der Mensch zwangsläufig auf und sollte leicht auszumachen sein. Sie sagten, die Polizei konnte Ihnen nicht helfen, aber haben Sie es denn versucht? Und wie in aller Welt folgt er Ihnen so hartnäckig? London, Australien, Schanghai – das ist schon ein Stück.«

»Ich weiß, Sie sind verwirrt«, sagte der andere zu ihm. »Aber glauben Sie mir, die Polizei taugt nichts. Dieser … nun ja, er fällt ganz einfach nicht auf. Er bewegt sich überwiegend bei Nacht. Aber auch sonst kann er überallhin.

Er verfügt über, nun ja, Mittel und Wege. Und auch bei der Verfolgung hat er so seine Methoden. Er ist hartnäckig. So furchtbar hartnäckig. Das ist das Grauenvolle daran: diese blinde, sture Beharrlichkeit, mit der er mir nachstellt.«

Jorman schwieg. Dann schüttelte er den Kopf.

»Zugegeben, Sie haben mich neugierig gemacht«, sagte er zu Carraden. »Es gibt eindeutig Dinge, die Sie mir nicht erzählen wollen. Der Grund für seine verbissene Jagd nach Ihnen ist vermutlich einer davon.«

»Richtig«, räumte der Engländer ein. »Es geschah während der Ausgrabung des alten Tut-Anch-Tothet. Es ging um etwas, was ich getan habe. Ein Gesetz, gegen das ich verstoßen habe. Ein Gesetz, das ich kannte, aber … nun ja, weitergemacht habe ich dennoch.

Wir haben einige Gegenstände gefunden, von denen die Presse nichts erfahren hat. Ein paar Papyrusrollen, ein paar Tontafeln. Und hinter dem Hauptgrabmal ein kleineres …

Aber mehr kann ich Ihnen nicht erzählen. Ich verstieß gegen ein uraltes Gesetz, geriet in Panik und versuchte, den Konsequenzen zu entrinnen. Dabei geriet ich mit … mit ihm aneinander. Und brachte ihn gegen mich auf. Wenn es Ihnen nichts ausmacht …«

In der Stimme seines Gastgebers lag etwas Verzweifeltes. Jorman nickte.

»Sicher«, willigte er ein. »Belassen wir’s dabei. Ist immerhin Ihre Sache. Vermutlich haben Sie noch nie versucht, ihn in einen Hinterhalt zu locken und die Sache mit ihm auszutragen?«

Er stellte sich vor, wie Carraden den Kopf schüttelte.

»Nützt nichts«, sagte der andere knapp. »Meine einzige Sicherheit liegt in der Flucht. Also zog ich immer weiter. In Frisco wähnte ich mich zunächst sicher. Doch diesmal war er mir beinahe umgehend auf den Fersen. In einer nebligen Nacht hörte ich ihn auf der Straße. Ich entkam durch die Hintertür und rannte, so schnell ich konnte. Schaffte es nach Kanada.

Mitten im Nirgendwo ließ ich mich nieder, im weiten, hügeligen Grasland, ohne Nachbarn weit und breit. Wo niemand auch nur an mich denken, geschweige denn mit mir oder über mich sprechen würde. Knapp ein Jahr lang war ich dort in Sicherheit. Doch am Ende erwies es sich … nun ja, fast als Fehler.«

Mit einem Scheppern stellte Carraden seine Tasse ab. In Jormans Vorstellung war ihm beinahe die Tasse aus den zitternden Händen geglitten.

»Sehen Sie, da draußen in der Prärie hörte ich keine Schritte. Diesmal kam er nachts, wie gewöhnlich, und ehe ich mich versah, hatte er mich schon fast. Und mein Pferd lahmte. Ich entkam zwar. Aber nur knapp. Knapper, als mir lieb war …

Also kam ich nach New York. Seitdem bin ich hier, mitten in der Stadt. Unter Menschen. So viele Millionen, die meinen Weg kreuzen und die Spur verwischen, die Witterung beeinträchtigen …«

»Die Witterung?«, rief Jorman aus.

Carraden hustete. »Ich habe wohl mehr preisgegeben, als ich wollte«, gab er zu. »Ja, genau. Er wittert mich. Teilweise zumindest. Ist schwer zu erklären. Nennen Sie’s die nicht greifbaren Beweise meiner Anwesenheit.«

»Klar.« Die Stimme des Mannes flehte derart um Vertrauen, dass Jorman nickte, obwohl seine Sicht auf die Dinge alles andere als klar war.

»Hier bin ich nun seit nicht ganz einem Jahr«, erzählte der Engländer. »Fast zwölf Monate ohne ein Lebenszeichen von ihm. Ich war immer vorsichtig, ach, was war ich vorsichtig! In meinem Bau wie ein verschrecktes Karnickel.

Die meiste Zeit war ich genau hier, am Times Square, wo unzählige Menschen jeden Tag meine Spur verwischen. Habe mich in meinen zwei Zimmern verschanzt – hinter dem hier ist noch ein Schlafzimmer – und ging nur tagsüber hinaus. Gewöhnlich ist er bei Nacht unterwegs. Bei Tag verwirren ihn die Menschen. Am liebsten sind ihm die einsamen Stunden spät in der Nacht. Und genau dann liege ich hier, wachsam lauschend …

Außer in stürmischen Nächten wie heute. Unwetter erschwert ihm die Sache. Der Regen spült meinen Geruch weg, das Wüten des Windes und der Elemente verwischt meine kaum wahrnehmbare Spur. Deshalb habe ich mich heute Nacht hinausgewagt.

Eines Tages wird er mich finden, sogar hier«, fuhr Sir Andrew Carraden mit angestrengter Stimme fort. »Ich bin bereit. Ich werde ihn kommen hören – hoffe ich –, und wenn er diese Tür aufbricht, werde ich durch die andere, die im Schlafzimmer, entwischen. Schon früh habe ich gelernt, wie töricht es ist, sich an einem Ort mit nur einem Ausgang zu verstecken. Inzwischen verfüge ich immer mindestens über einen Notausgang.

Glauben Sie mir, es ist ein schauderhaftes Dasein. Die durchwachten Nächte, lauschend, nach ihm lauschend, das beklommene Herz, das Hochschrecken, die fortwährende Angst …«

Carraden beendete seinen Satz nicht. Er schwieg, vermutlich, um die Beherrschung wiederzuerlangen. Dann quietschen die Federn seines Sessels, als er sich vorbeugte.

»Schauen Sie«, sagte der Engländer dann mit so verzweifeltem Ernst, dass seine Stimme bebte. »Bestimmt fragen Sie sich, ob ich Sie nur hergebracht habe, um Ihnen diese Geschichte zu erzählen. Mitnichten. Ich hatte ein Ziel. Ich wollte sehen, wie Sie reagieren. Und ich bin zufrieden. Jedenfalls scheinen Sie mir zu glauben; und sollten Sie mich für verrückt halten, so lassen Sie mir ja vielleicht dennoch meinen Willen. Ich möchte Ihnen einen Vorschlag unterbreiten.«

Jorman setzte sich aufrechter hin. »Ja?«, fragte er mit einer Miene, die Unsicherheit ausdrückte. »Was –?«

»Was für einen Vorschlag?«, beendete Carraden den Satz. »Den folgenden: Dass Sie mir helfen und nach ihm lauschen.«

Unwillkürlich riss Jorman den Kopf hoch und hätte so, wäre er nicht blind gewesen, dem anderen ins Gesicht geblickt.

»Nach Ihrem Widersacher?«

»Ja«, sagte der Engländer heiser. »Horchen Sie auf sein Kommen. Wie eine Wache. Ein Außenposten. Sie sind doch immer abends ab sechs unten in Ihrem Kiosk. Bis spätnachts sind Sie da. Keine fünfzig Meter vom Hotel entfernt.

Wenn er kommt, geht er an Ihnen vorbei. Er muss zwangsläufig ein Weilchen suchen, um die Fährte auszumachen – hin und her, vor und zurück, so wie ein Jagdhund.

Er geht vielleicht erst drei- oder viermal vorbei, um sich zu vergewissern. Sie haben ein gutes Gehör. Falls er während Ihrer Schicht vorbeikommt, hören Sie ihn ganz bestimmt.«

Carradens Stimme wurde hastiger, versuchte krampfhaft, ihn zu überzeugen.

»Und wenn Sie ihn hören, dann lassen Sie es mich wissen. Ich werde den Portier instruieren, dass er auf Ihr Zeichen hin herüberkommt. Oder Sie kommen hierher; das schaffen Sie spielend, nur fünfzig Schritte. Irgendwie müssen Sie mich aber warnen. Nun machen Sie schon, sagen Sie’s!«

Jorman zögerte mit seiner Antwort. Sir Andrew fasste sein Schweigen falsch auf.

»Falls Sie sich fürchten«, sagte er, »dazu gibt es keinen Grund. Er wird Sie nicht angreifen. Nur mich.«

»Da mache ich mir keine Sorgen«, erwiderte Jorman aufrichtig. »Ihre Erzählung ist nicht so leicht zu durchschauen, und – da will ich offen sein – ich bin mir nicht ganz sicher, ob Sie bei Verstand sind oder nicht. Aber es würde mir nichts ausmachen, für Sie die Ohren offen zu halten. Allerdings kenne ich seinen Schritt ja überhaupt nicht.«

Carraden entfuhr ein leiser Seufzer, er zügelte sich jedoch sofort.

»Guter Mann!« Er sprach leise, aber in seiner Stimme lag Erleichterung. »Sie tun es also. Der letzte Teil ist kinderleicht. Ich habe ihn schon mehrfach gehört. Ich glaube seinen Schritt für Sie nachahmen zu können. Nur eines macht mir Sorgen.

Er … nicht jeder kann ihn hören. Aber ich zähle darauf, dass Ihre Blindheit Ihren Ohren zusätzliches Feingefühl verleiht … Wie dem auch sei. Wir müssen es versuchen. Geben Sie mir einen Moment.«

Schweigend saß Jorman da und wartete. Der Regen, der an die Scheiben zweier Fenster prasselte, ließ merklich nach. Irgendwo in der Ferne heulte eine Feuerwehrsirene.

Carraden machte ein paar zaghafte Schabgeräusche mit Händen oder Füßen auf dem Boden.

»Ich hab’s!«, verkündete er. »Ich habe an jeder Hand einen Pantoffel. So hört sich das an.«

Mit den weich besohlten Hausschuhen machte er das Schlurfen eines großen, nackten Fußes nach – ein sich wiederholendes Geräusch, schlurf-schlurf, gefolgt von einer Pause, dann erneut das Geräusch.

»Wenn Sie ganz genau hinhorchen«, sagte er, »dann hören Sie bei jedem Schritt ein schwaches Klacken oder Kratzen von Krallen. Aber …«

Da hörte Jorman ihn sich aufrichten, wissend, dass Carraden ihn anstarrte.

»Was ist?«, rief der Engländer beunruhigt.

»Was stimmt denn nicht?«

Angespannt saß Jorman da, die Finger in die Armlehne gekrallt.

»Sir Andrew«, flüsterte er, »Sir Andrew! Diese Schritte kenne ich. Vor einer Stunde ist er im Regen an meinem Kiosk vorbeigegangen.«

In der langen Stille, die darauf folgte, konnte Jorman erahnen, wie das Blut aus dem Gesicht seines Gegenübers wich, wie seine Hände sich verkrampften.

»Heute Nacht?«, fragte Carraden dann, schroff und so leise, dass Jorman ihn kaum hören konnte. »Heute Nacht?«

»Nur ein paar Minuten vor Ihnen«, platzte Jorman heraus. »Ich hörte Schritte – seine Schritte – vorbeischlurfen. Der Hund ist aufgewacht und hat geknurrt. Sie kamen langsam näher, blieben stehen und liefen dann weiter.«

Der Engländer holte Luft. »Weiter! Was dann?«

»Sie bogen ab. In die 7th Avenue, nach Süden.«

Sir Andrew Carraden sprang auf, durchmaß das Zimmer, fuhr herum, kam zurück.

»Endlich hat er mich aufgespürt!« In seiner Stimme schwang etwas Wahnsinniges mit. »Ich muss weg. Heute Nacht noch. Jetzt. Er bog nach Süden ab, sagen Sie?«

Jorman nickte.

»Aber das heißt nichts.« Carraden sprach schnell, als würde er laut denken. »Er wird feststellen, dass er die Fährte verloren hat. Er wird kehrtmachen. Und inzwischen habe ich ja eine frische Spur gelegt. Der Regen hat sie vielleicht noch nicht ganz weggespült. Er könnte sie entdeckt haben. Er könnte schon auf der Treppe sein. Wo ist meine Tasche? Mein Pass? Mein Geld? Alles in meinem Sekretär. Entschuldigen Sie mich. Warten Sie hier.«

Jorman hörte, wie eine Tür aufgerissen wurde, hörte den Mann ins angrenzende Schlafzimmer hasten, hörte eine Schublade quietschen.

Dann wieder Carradens Schritte. Kurz darauf wurde ein Riegel zurückgeschoben. Dann klapperte die Tür. Sekunden verstrichen und wieder klapperte es, energisch. Noch einmal, gewaltsam diesmal. In der darauffolgenden Stille hörte Jorman Carraden schnaufen.