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Nach langen Jahren, in denen Thomas Mann die Nachbarländer Deutschland und Frankreich als ideelle Gegenpole begriffen und sich immer wieder frankreichkritisch geäußert hatte, stellte er in diesem Vortrag endlich die ersehnte Synthese her. Der Entwicklungsprozess des früheren Antidemokraten hin zu einem international denkenden Republikaner dokumentiert sich bereits in seinen Arbeiten aus den Jahren zuvor und wird hier besonders deutlich, wenn Mann beispielsweise äußert: »Sympathie, das mieux se connaître, Kameradschaft zwischen den Völkern, ihre gegenseitige Bewunderung, das durchdringende und alles leitende Gefühl alter und neuer Schicksalsgemeinschaft […] ist heute das lebensnotwendigste geworden.« Darüber hinaus werden Positionen einem umfassenden Synthesegedanken unterworfen, die noch in ›Goethe und Tolstoi‹ (1925) unvereinbar erschienen waren: namentlich der Gegensatz aus Natur und Geist. Der teilweise notizenhaften Charakter deutet darauf hin, dass Mann den Vortrag nicht komplett ausformulierte, bevor er ihn am 20. Januar 1926 in Paris in der Dotation Carnegie hielt. Einige Motive aus dem ›Zauberberg‹ (1925) sowie Passagen aus anderen Arbeiten sind zudem wörtlich übernommen. Abgedruckt wurde der Text zunächst im Januar 1927 in der französischen Übersetzung, erst 1974 erschien er im Rahmen der ›Gesammelten Werke‹ auch auf Deutsch.
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Seitenzahl: 24
Thomas Mann
[Die geistigen Tendenzen des heutigen Deutschlands]
Essay/s
Fischer e-books
In der Textfassung derGroßen kommentierten Frankfurter Ausgabe(GKFA)Mit Daten zu Leben und Werk
Dank für die freundliche Aufnahme. Vergnügen darüber, in Paris und in diesem Kreise zu sein. Diese Situation kein Zufall, vielmehr Ausdruck einer Sänftigung und Sittigung des allgem. Gemütszustandes, eines wieder heiteren Geselligerwerdens der Völker, kurz einer veränderten Atmosphäre, die jene Fühlungnahme jenen Austausch erlaubt, nach dem es die Völker nach den Ereignissen des letzten Jahrzehntes mehr als jemals verlangt. In der That haben diese wüsten Ereignisse das Verlangen nach Austausch u. gegenseitiger Kenntnisnahme, die Neugier – trotz aller Gehässigkeit und Entfremdung – eher gesteigert, als verringert. Jemand, dem es darauf ankäme, den Dingen vor allem ihre gute Seite abzugewinnen, könnte sagen, daß der übertrieben rauhe Kontakt, in den der Krieg die europ. Nationen gezwungen, einen großen Schritt vorwärts auf dem Wege bedeute, der zu einer relativen Einigung des Erdteils führt. Wir Europäer haben wenig Ursache, uns der Art u Haltung zu rühmen, in der wir auf diesem vorgezeichneten Wege vorwärtsgeschritten oder getaumelt u wir haben auch jetzt wenig Ursache uns der Anstrengungen zu rühmen, die in dieser Hinsicht – und mit wachsendem Erfolg, gemacht werden. Sie sind kein Ergebnis gereifter Sittlichkeit, sondern ein solches der primitivsten Vernunft u der baren Notwendigkeit, da allzu offenbar geworden ist, daß Europa als Ganzes steht oder fällt: dies ist es, was heute den Tendenzen der Verständigung, des Ausgleichs u des Friedens über die immer noch reichlich vorhandenen Leidenschaften ein wachsendes Übergewicht verleiht.
Es ist klar, daß ich bei alldem in erster Linie an die beiden {1077}großen kontinentalen Völker denke, deren Verhältnis für den Gesamtzustand Europas entscheidend ist. Die Wendung zum Besseren, verdienstlos wie sie sein mag, zeigt sich denn auch in diesem Verhältnis am deutlichsten. Freilich gab es schon vor dem Kriege Einzelne, die, bevor die Nützlichkeitsfrage so brennend geworden war wie heute, aus reiner Sympathie u Gutwilligkeit dies Verhältnis zu bessern suchten. Schon damals bestand eine Vereinigung von Intellektuellen, ein Bund, dessen Absichten sich in dem Titel »Pour mieux se connaître« ausdrückte, u ich darf mich erinnern, daß ich die Ehre hatte, ihm anzugehören. Aber die Kräfte, die damals hinter solchen Bestrebungen standen, waren gering; sie haben ihre praktische Ohnmacht erwiesen, u leider mußte geschehen, was unterdessen geschehen ist, um ihnen jenen Nachdruck zu verleihen, den sie heute zweifellos besitzen, und für den auch unsere heutige Begegnung ein bescheidenes, aber nicht ausdrucksloses Beispiel ist.