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Zwei Männer, so unterschiedlich wie Tag und Nacht, und eine folgenschwere Entscheidung …
Die sonnige Toskana hat Eleonoras Leben schöner gemacht. Hier hat sie ein Zuhause gefunden, und seit sie bei Emanuele wohnt, empfindet sie zum ersten Mal ein Gefühl von Zughörigkeit. Doch als sie hört, dass er ihr Vertrauen missbraucht haben soll, zerbricht das fragile Glück, und Eleonora flieht sich in Alessandros Arme, den sie im Grunde ihres Herzens nie vergessen hat. Irgendwann wird ihr klar, dass der Moment gekommen ist, sich ihrer Vergangenheit zu stellen, so schmerzhaft sie auch sein mag. Der Moment, sich endlich zu entscheiden ...
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Seitenzahl: 342
Veröffentlichungsjahr: 2016
Buch
Die sonnige Toskana hat Eleonoras Leben schöner gemacht, und seit sie bei Emanuele wohnt, empfindet sie zum ersten Mal ein Gefühl von Zugehörigkeit. Dieser Mann kennt sie einfach, und er weiß, wie er selbst ihre verbotensten Sehnsüchte entfachen kann. Trotz allem findet sie keinen Frieden, denn sein Bruder Alessandro lässt sich weder aus ihrem Kopf noch aus ihrem Herzen verbannen. Als Emanuele ihr Vertrauen missbraucht, gerät die Situation aus dem Gleichgewicht. Eleonora reagiert mit Flucht, wie sie es immer getan hat. Gleichzeitig spürt sie, dass der Moment gekommen ist, sich ihrer Vergangenheit zu stellen, so schmerzhaft sie auch sein mag. Der Moment, um endlich eine Entscheidung zu treffen ...
Autorin
Sara Bilotti wurde 1971 in Neapel geboren, wo sie auch heute noch lebt. Sie hat klassischen Tanz studiert und arbeitet als Lehrerin und Autorin. Mit ihrer sinnlichen Trilogie um Eleonora, Alessandro und Emanuele hat sie die italienischen Leserherzen im Sturm erobert. Die Geliebte ist nach Die Begehrte und Die Verführte Sara Bilottis dritter Roman.
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SARA BILOTTI
Die Geliebte
Eleonoras geheime Nächte
Roman
Deutsch von Bettina Müller Renzoni
Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel
»Il perdono« bei Giulio Einaudi Editore s.p.a., Turin
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1. Auflage
Copyright der Originalausgabe © 2015 by Sara Bilotti
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2016 by Blanvalet
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Angela Troni
Umschlaggestaltung: © www.buerosued.de
Umschlagmotiv: © www.buerosued.de
KW Herstellung: kw
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-18690-6V001
www.blanvalet.de
1
»Wie denken Sie darüber, dass die Unterhaltungsindustrie uns heutzutage eher zerstreut als zum Denken anregt?«
Die raue Stimme der Journalistin, die aus den Lautsprechern des Plasmafernsehers drang, verlieh ihren Worten zusätzlich Gewicht. Dennoch wirkte sie blass und unbedeutend neben Alessandro, der mit seinem Charisma nicht nur das ganze Fernsehstudio einnahm, sondern auch den Bildschirm und Eleonoras Wohnzimmer.
In Großaufnahme waren seine ebenmäßigen Gesichtszüge zu sehen, und da er schwieg, zoomte ihn die Kamera noch näher heran, bis nur noch die Augen und die erstaunt hochgezogenen Augenbrauen im Bild waren. Eleonora wusste, dass niemand außer ihr Alessandros Verärgerung mitbekommen würde, weil nur sie ihn so gut kannte. Sein Verhalten und die Mimik bedeuteten, dass ihm die Frage nicht gefallen hatte. Dass er sie snobistisch und anbiedernd fand.
»Unterhaltung hat im Grunde nur einen Zweck, nämlich den Menschen ein paar angenehme Momente zu verschaffen«, antwortete Alessandro schließlich, und sein Blick wurde sanft. Offenbar war er zum Schluss gekommen, dass die Journalistin nichts für die banalen Fragen konnte, die ihr ein Redakteur in den Mund gelegt hatte, und er sie deshalb nicht angehen durfte. »Die Unbeschwertheit und die Erholung, die damit einhergehen, helfen beim Nachdenken. Kinodrehbücher zu schreiben ist alles andere als einfach. Um die Zuschauer zu erreichen, muss man dafür sorgen, dass sie kurz innehalten, sich entspannen und lachen. Dann, wirklich erst dann, kann man das eine oder andere Signal aussenden.«
Die Journalistin hatte nichts von dem verstanden, was er da gesagt hatte, das war offenkundig. Dennoch nickte sie heftig und lächelte, als hätte sie gerade im Lotto gewonnen. Sie war zierlich und attraktiv, mit einer gewissen Ausstrahlung.
Eleonora wusste nur zu gut, wie Alessandro auf sein Gegenüber wirkte, allerdings wusste sie ebenfalls, dass die Journalistin keine Chance bei ihm hatte. Alessandro suchte sich stets Frauen aus, die seinen Beschützerinstinkt weckten. Eine zierliche Figur reichte da nicht.
»Dann wäre es also falsch, Existences zu den Unterhaltungsfilmen zu zählen?«
Diesmal nickte Alessandro, und im Gegensatz zur Journalistin tat er es mit Überzeugung.
»Existences ist eine italienisch-britische Koproduktion, wodurch der Film die Möglichkeiten einer Fusion unterschiedlicher Kulturen ausschöpft. Er ist unterhaltsam, weil er humorvoll ist und die Zuschauer berührt. Zugleich wirft er zahlreiche Fragen auf über den Sinn dieser Jahre. Ich weiß nicht, was die Jugendlichen im nächsten Jahrhundert in den Geschichtsbüchern lesen werden, für Zeitzeugen ist es immer schwierig zu beurteilen, was sie gerade erleben. Aber eines steht für mich fest: Der Individualismus der Achtzigerjahre hat wahre Unmenschen hervorgebracht, und es hat gut zwanzig Jahre gedauert, um das Wertesystem wiederherzustellen. Die Menschheit ist nicht untergegangen, sie hat sich nur in übergroßen Egos und undurchdringlichen Spiegelkabinetten verirrt. Wir alle sind inzwischen darum bemüht, eine neue gemeinsame Identität zu schaffen. Davon handelt der Film, der die Geschichte einer britischen Familie erzählt, die auf der Suche nach ihrer verschwundenen Tochter nach Rom zieht. Die Kunstmalerin, die Italien zu ihrer Wahlheimat gemacht hat, ist plötzlich spurlos verschwunden.«
»Apropos, lassen Sie uns über die weibliche Hauptfigur Melanie sprechen, übrigens hervorragend verkörpert von Barbara Connors. Melanie findet Zuflucht im Schloss von Davide, der von Ihnen dargestellt wird, um sich selbst zu verwirklichen. Gelingt es ihr denn am Ende?«
Erneut eine hochgezogene Braue, gefolgt von einem entwaffnenden Lächeln.
»Melanie geht ja genau den umgekehrten Weg wie die anderen Figuren, die sich von ihrem Egoismus befreien wollen. Sie dagegen spürt, dass sie ihre Identität verloren hat, und sucht diese in Davide, indem sie ihn zu ihrem Spiegel macht. Erst ganz am Ende verstehen die Zuschauer, warum ausgerechnet dieser einsame, von seiner dunklen Vergangenheit gequälte Unbekannte für sie zu einer Projektionsfläche werden konnte.«
Einsam, gequält, dunkle Vergangenheit – die Schlagworte erinnerten Eleonora an jemanden.
Der Film war in den italienischen Kinos gerade angelaufen und feierte bereits große Erfolge in ganz Europa. Eleonora hatte ihn am Abend zuvor zusammen mit Emanuele, Corinne, Denise und Maurizio gesehen. Sie waren alle hellauf begeistert gewesen von Alessandros schauspielerischer Leistung.
Als sie aus dem Kino traten und die anderen Zuschauer sich begeistert über den Film austauschten, standen sie einfach nur schweigend da und waren völlig überwältigt.
Erst beim Auto meinte Emanuele lakonisch: »Er hat’s tatsächlich geschafft, der Mistkerl.«
Ein einziger Satz, und die anderen kicherten los, als hätte er einen seiner üblichen Witze gerissen.
»Jetzt haben Sie uns aber richtig neugierig gemacht«, sagte die Journalistin aufgeregt und brach in künstliches Gelächter aus, woraufhin Alessandro erstarrte.
Die Kamera zoomte nun die Journalistin heran, die zur Abmoderation überging und den Zuschauern den Film noch einmal wärmstens empfahl.
Eleonora schaltete den Fernseher aus und wollte ins Restaurant zurückgehen, wo Emanuele vermutlich noch immer bei der reichen russischen Familie am Tisch saß. Die Toskana-Liebhaber machten Urlaub auf dem Agriturismo und unterhielten sich begeistert mit dem Gastgeber. Eleonora war ganz froh, dass sie nicht dabeisitzen und gegenüber dem angeheiterten Paar und der schweigsamen Tochter Interesse heucheln musste. Aber sie wollte sich zumindest kurz blicken lassen und die Rolle der Gastgeberin erfüllen, die ihr eigentlich gar nicht zustand. Dies war der einzige negative Aspekt an ihrem Leben auf dem Agriturismo.
Eleonora raffte sich auf und erhob sich vom Sofa, prallte jedoch unvermittelt mit ihrer besten Freundin zusammen und stieß vor Schreck einen Schrei aus.
»Mein Gott, Corinne, du schleichst durchs Haus wie ein Gespenst!«
Reglos wie eine Statue stand Corinne neben dem Sofa. Sie hielt den Blick gesenkt und betrachtete Eleonoras Handgelenk mit dem Rosen-Tattoo, das die Narbe verbarg.
»Du hast mir gar nichts gesagt.«
»Wovon redest du?«
»Von dem Interview.«
Eleonora seufzte genervt. Es war immer das Gleiche, obwohl Alessandro nun schon seit fast einem Jahr in Rom lebte.
»Woher hätte ich das wissen sollen? Ich habe Nachrichten geschaut, und gleich danach haben sie das Interview mit ihm gesendet.«
»Lügnerin.«
Nein, bitte keine Tränen. Das konnte sie jetzt nicht ertragen. Eleonora versuchte zu lächeln.
»Corinne, findest du es etwa logisch und nachvollziehbar, dass ich dich darauf hinweise, wenn ein Interview mit Alessandro ausgestrahlt wird? Meinst du nicht, es wäre besser, wenn ich dir dabei helfe, ihn ein für alle Mal zu vergessen, anstatt dir unmittelbar nach dem Abendessen sein Gesicht in Großaufnahme zuzumuten?«
»Du bist nicht witzig.«
»Das wollte ich auch gar nicht sein.«
»Inzwischen ist ein ganzes Jahr rum. Ich bin bereit, ihn wiederzusehen.«
»Nach dem Film gestern hattest du vierzig Grad Fieber.«
»Das war eine Grippe und hatte nichts mit Alessandro zu tun.«
»Eine Grippe, die nach anderthalb Stunden auskuriert ist? Ich bitte dich, sei nicht kindisch.«
»Das nächste Mal möchte ich informiert werden. Immerhin ist er mein Ehemann.«
Eleonora lag das Wörtchen »Ex« auf der Zunge, aber sie konnte es zurückhalten. »Na gut, einverstanden. Lass uns ins Restaurant gehen, die Russen sind noch da.«
»Ich weiß, ich komme gerade von dort.« Endlich entspannte Corinne sich, ihr Körper wurde weicher, und sie wirkte sofort ein paar Zentimeter kleiner. »Sie sind bei der fünften Flasche Rotwein. Er hat einen hochroten Kopf, sie kichert nur noch, und die Tochter starrt Emanuele seit zwei Stunden stumpfsinnig an. Nicht dass mich das erstaunen würde. Du kennst ihn ja …« Corinne lachte kurz auf.
Ohne etwas zu erwidern, hakte Eleonora sich bei ihr ein, und Arm in Arm gingen sie hinunter ins Erdgeschoss, wo Emanuele nicht loskam.
Wann und wo auch immer Not am Mann war, packte er mit an und machte dabei keinen Unterschied zwischen sich und den Angestellten. Er hätte ohne weiteres auf seinem herrschaftlichen Gut den Chef herauskehren können, doch er war immer in Hemdsärmeln anzutreffen und half den Kellnern ebenso wie den Köchen und den Gärtnern.
Seine Energie und Lebenslust standen seiner attraktiven Erscheinung in nichts nach, und Eleonora war stolz, zu ihm zu gehören.
Zu jemandem oder etwas zu gehören war ihr bisher fremd gewesen. Nach und nach änderten sich jedoch die Dinge, und die unangenehme Leere, die zwischen Magen und Lunge spiralförmig hochkroch, erfasste sie nur noch selten. Ein Gefühl der Dringlichkeit und der innere Drang zu fliehen zogen sie an den Armen, zeigten sich so lange in regelmäßig wiederkehrenden Bildern, etwa einem offenem Koffer, der gepackt und verschlossen wurde, Bahngleisen, die sich am Horizont verloren, und einem von Kreidestaub ganz grauen Schwamm, mit dem jemand wiederholt eine vollgeschriebene Wandtafel sauber wischte, bis Eleonora Erleichterung verspürte.
Erst kurz nach Mitternacht erhob sich die russische Familie und ging schlafen. Die Tochter warf Emanuele einen letzten schmachtenden Blick zu, bevor sie mit ihren betrunkenen Eltern in den Aufzug stieg. Eleonora verstand nur zu gut, wie sie sich fühlen musste. Sechzehn Jahre, bleich und fremd, aufgewärmt von der toskanischen Oktobersonne, beim Abendessen am Tisch mit diesem selten attraktiven, charismatischen Latin Lover, der mit jedem Wort Pheromone versprühte. Das Mädchen würde sicher noch lange von diesem Abend zehren und sich in den kalten russischen Winternächten an der Erinnerung wärmen.
Emanuele küsste Eleonora auf den Mund, bevor er in der Restaurantküche verschwand, um beim Aufräumen zu helfen. Die Kellner waren müde, aber auch zufrieden mit dem unverhältnismäßig hohen Trinkgeld, das sie erhalten hatten. Eleonora berührte ihre Lippen, die wie nach jedem Kontakt mit Emanuele so heftig brannten wie bei einem nicht enden wollenden ersten Kuss. Auch beim Sex mit ihm durchlebte sie immer wieder neue Emotionen und genoss den Akt jedes Mal wie beim ersten Mal. Weder die unwiderstehliche Lust noch die Heftigkeit des Orgasmus oder die Intensität ihres Verlangens flauten auch nur ansatzweise ab.
Nichts hatte sich geändert.
Jeden Morgen von neuem zufrieden und hungrig in ihrem gemeinsamen Bett zu erwachen versetzte Eleonora, an ständige Veränderungen gewöhnt, in Erstaunen.
Da Emanuele erst um zwei Uhr Feierabend machen würde, zog Eleonora sich allein zurück. Kurz darauf ging auch Corinne in ihr Zimmer, das sie ihr damals nach der Trennung geradezu aufgedrängt hatten. Eleonora hatte ihre Freundin zu ihnen auf den Agriturismo geholt, nachdem Alessandro sie kurz nach der Hochzeit verlassen hatte, da alle dachten, sie würde sich etwas antun.
Nach Alessandros Umzug nach Rom blieben die Türen und Fenster in der Villa Bruges fast immer verschlossen. Wenn Eleonora ab und zu einmal hinfuhr, irrte sie durch die verlassenen Räume, in denen ihre Schritte von den Wänden widerhallten und die Leere des Anwesens in die Welt hinausschrien. Vor ihrem geistigen Auge sah sie Alessandro erst die Fenster eins nach dem anderen öffnen und dann die Türen aufstoßen, als wären die Flure Arterien, und er müsste sämtliche Hindernisse aus dem Weg räumen, damit das Blut wieder zirkulieren konnte.
Ohne ihren König war die Villa Bruges wahrlich ein trister Ort.
Als Emanuele hereinkam, war Eleonora noch wach. Er küsste sie und fing an von dem Abend mit der russischen Familie zu erzählen.
»Irgendwann dachte ich echt, der Typ kotzt jeden Moment auf den Schmorbraten«, erzählte er, während er sich auszog, um zu duschen. »Er hat allein fast drei Liter Wein gebechert, seine Frau war dagegen schon nach zwei Gläsern hinüber, von der Tochter ganz zu schweigen.«
Eleonora lag auf dem Bett, betrachtete seinen überaus attraktiven nackten Körper und genoss den Anblick in vollen Zügen. Sie lächelte amüsiert. »Die Tochter kommt mir vor wie ein Gespenst.«
Emanuele drehte den Warmwasserhahn auf. »Das kannst du laut sagen. Kommst du mit mir unter die Dusche? Beim Essen musste ich die ganze Zeit an das Foto denken, das ich vorletzte Nacht von dir gemacht habe. Die Russen haben von irgendwelchen Chianti-Weinlagen geschwafelt, und ich habe nur an dich gedacht, wie du nackt auf dem Bett liegst und auf mich wartest. Wie soll man bitte vernünftig Smalltalk machen, wenn man solche Bilder im Kopf hat?«
Eleonora errötete und ging zu ihm hinüber. Sie hatte sich noch immer nicht an seine Ungezwungenheit gewöhnt.
»Nicht heute Nacht, Emanuele. Ich habe gerade meine Tage.«
»Na und?«
»Bitte …«
Er bedrängte sie nicht weiter, stellte sich aber auch nicht unter die Dusche, sondern musterte Eleonora eindringlich.
»Was ist?« Sie fühlte sich unbehaglich.
»Wir sollten mal zum Arzt gehen.«
»Bitte fang nicht schon wieder damit an.«
»Vielleicht liegt es ja an mir? Wir sollten wenigstens versuchen herauszufinden, warum du nicht schwanger wirst.«
»Emanuele, darüber haben wir doch schon so oft gesprochen. Ich will nicht zu einem Spezialisten gehen, um hinterher monatelang auf Kommando Sex haben zu müssen. Ein Kind hat weder für dich noch für mich oberste Priorität. Oder täusche ich mich da etwa?«
»Woher weißt du, wie sehr ich mir ein Kind wünsche?«
»Du hast bereits eins.«
»Ich möchte aber eins von dir. Darüber solltest du dich freuen.«
»Tu ich doch.«
»Ja, das sieht man. Jetzt mal ehrlich, Eleonora, nimmst du die Pille?«
Sie lehnte sich gegen die Kacheln im Bad und wich seinem Blick aus. »Nein«, sagte sie, zum Spiegel gewandt. »Das haben wir doch schon zigmal durchgekaut.«
»Gut. Sobald ich ein bisschen Luft habe, rufe ich Antonella an und frage sie, ob sie mir einen guten Frauenarzt empfehlen kann.«
Eleonora wollte etwas erwidern, aber Emanuele stieg in die Dusche und machte die Glastür hinter sich zu. Kurz darauf war sein muskulöser Körper in Dampf gehüllt, was Eleonora half, sich wieder auf das Streitthema zu konzentrieren.
Sie war davon überzeugt, dass Emanuele sich nicht wirklich ein Kind wünschte. Er war nur so sehr daran gewöhnt zu bekommen, was er wollte, dass ihr Desinteresse ihn beunruhigte. Deshalb versteifte er sich auf das Thema, obwohl es ihm in Wahrheit gar nicht am Herzen lag.
Der Frauenarzt war nicht die Lösung ihrer Probleme. Denn Eleonora wollte kein Kind, sie hatte noch nie eins gewollt. Obwohl: Vor dem Desaster hatte sie sich nichts sehnlicher gewünscht, als ein Kind großzuziehen, um sich und der Welt zu beweisen, dass auch jemand, der viel entbehren musste, zu geben in der Lage ist, sozusagen als ausgleichende Gerechtigkeit. Aber danach … Das Bild von sich selbst mit einem Säugling an der Brust kam ihr wie die verblichene Fotografie einer Illusion vor. Nach dem Desaster konnte nichts und niemand für Gerechtigkeit sorgen. Nie mehr.
2
Die Sonntage auf dem Agriturismo waren das ganze Jahr über ziemlich anstrengend. Im Restaurant herrschte fast immer Hochbetrieb, und wer nicht schon zwei Monate im Voraus reservierte, bekam keinen Tisch mehr. In den Fremdenzimmern beherbergten sie, vor allem im Frühling und Sommer, sehr viele ausländische Gäste, hauptsächlich Engländer und Russen.
Dank ihrer Sprachkenntnisse und ihrer Erfahrung im Tourismussektor war Corinne für sie zu einer unersetzbaren Hilfe geworden. Emanuele zog daher in Erwägung, sie fest anzustellen, statt ständig ihre Freundschaftsdienste in Anspruch zu nehmen.
Eleonora war davon weniger begeistert. Ihrer besten Freundin beizustehen, weil sie eine Trennung überwinden musste, war das eine, aber erneut wie in der Villa Bruges mit ihr zusammenzuleben war etwas ganz anderes. Abgesehen davon schien Corinne sich zu Emanuele hingezogen zu fühlen, auf den sich auch in der Villa alle stürzten, seit König Alessandro seinen Hofstaat verlassen hatte.
Das Spielchen ging nun schon eine ganze Weile und machte das Zusammenleben manchmal etwas kompliziert. Sowohl Denise als auch Corinne konzentrierten sich nach dem Abgang ihrer Hauptbeute mehr oder weniger bewusst ganz auf Emanuele, dessen Charme zwar nicht mit dem seines Bruders zu vergleichen, der aber auf seine Art genauso unwiderstehlich war. Während Corinne sich auf Tagträumereien beschränkte, ließ die forsche Denise keine Gelegenheit aus, Emanuele zu foppen oder ihn beiläufig zu berühren, wobei sie sich allerdings ziemlich lächerlich machte. Emanuele wiederum tat keineswegs so, als würde er ihre Avancen nicht bemerken, sondern spottete offen und mit Vorliebe in Gegenwart seines Bruders Maurizio darüber, dass sie ihn ständig befummelte.
Eines Abends, nach der gefühlt hundertsten Blamage, beschloss Eleonora, dass sie Denise entweder hinauswerfen oder sich von Emanuele das Geheimnis verraten lassen würde, wie man nur so grausam sein konnte. Sie entschied sich für Letzteres.
»Grausam? Ich?«, fragte Emanuele verblüfft.
»Und ob. Indem du Denise bloßstellst, bringst du Maurizio in die unangenehme Lage, so tun zu müssen, als würde er nichts merken.«
»Was für ein Quatsch ist das denn? Ich tue genau das Gegenteil und zwinge ihn, die Augen aufzumachen.«
Emanuele hatte recht, denn tolerant und gutmütig zu sein wie Alessandro bedeutete im Grunde kein großes Opfer. Emanuele dagegen ging ein Risiko ein, indem er die Arme ausbreitete und seinen Bruder aufforderte, seine Wut offen zu zeigen. Er wollte, dass Maurizio sich dem Problem stellte, dass er vielleicht sogar eine Entscheidung traf.
»Ich finde auch, Maurizio hat was Besseres verdient. Aber wer weiß schon, was für wen anders gut ist? Oder für einen selbst?«, fragte Eleonora.
»Wie meinst du das?«
Eleonora hatte unbewusst laut gedacht, was ihre Mutter ebenfalls ständig tat, und wie alle mütterlichen Angewohnheiten, die Eleonora grund- und mühelos übernommen hatte, irritierte sie auch diese.
»Ach nichts.«
Emanuele konzentrierte sich wieder auf die Webseite des Agriturismo zu, die er gemeinsam mit Corinne relaunchen wollte.
Zu sehen, wie Corinne zupacken konnte, wie dieses ehemals völlig verängstigte Wesen zunehmend an Selbstsicherheit gewann und aufblühte, machte Eleonora nervös. Sie saßen zu dritt zusammen, um an der Homepage zu arbeiten, doch Eleonora sah im Grunde nur zu. Bald verließ sie die Gartenlaube unter dem Vorwand, dass ihr der Wind zu kühl sei. Die Böen ließen sie selbst an diesem zauberhaften Fleckchen Erde in der Toskana den nahenden Winter spüren.
Eleonora zog sich ins Arbeitszimmer zurück, das Emanuele mit viel Liebe für sie eingerichtet hatte, und rief sich in Erinnerung, warum es sich lohnte, hierzubleiben oder zumindest so zu tun, als wollte sie nicht fortgehen. Wie eine fleißige Schülerin schrieb sie Pro-und-Kontra-Listen für die einzelnen Punkte. Liebe, Sex, finanzielle Sicherheit, Stabilität, interessante Projekte, Attraktivität waren die Kategorien, die ihre Gedanken beherrschten.
Eleonora brauchte ziemlich lange, um ihren wie immer unordentlichen Schreibtisch aufzuräumen. Obwohl sie selten hier arbeitete, lagen Zettel, Stifte, CDs ohne Hülle, Bonbonpapiere, Bücher und Post-its wild verstreut auf der glänzenden Mahagonitischplatte, als ob diese der Nabel der Welt wäre. Die einzige Methode, einen Ort zu erobern, ohne dort Wurzeln zu schlagen, bestand darin, ihn zu verunstalten. Eleonora sah darüber hinweg, dass dieses Chaos der einzige Ballast war, den Emanuele ihr zugestand.
Eleonora fuhr zusammen, als ihr Handy läutete, und als sie den Anruf entgegennahm, hörte sie Corinnes aufgeregte Stimme.
»Alles in Ordnung mit dir?«
»Ja, wieso?«
»Du bist einfach nicht gekommen. Ich dachte schon …«
Eleonora war verwirrt. »Wovon sprichst du?«
»Na gut, dann hole ich sie mir halt.«
»Was denn?«
»Bist du wirklich okay? Ich hatte dich gebeten, mir die CD mit dem Agriturismo-Projekt vorbeizubringen, ich brauche eine der Aufnahmen als Hintergrundbild für die Homepage.«
Hintergrundbild, Homepage … Im ersten Moment kapierte Eleonora rein gar nichts. Dann ordnete sie ihre Gedanken, nickte und lächelte. »Alles klar. Danke, mir geht’s gut. Sorry, aber ich hab das irgendwie nicht mitbekommen. Wo ist die CD?«
»Laut Emanuele in der untersten Schublade von deinem Schreibtisch.«
»Na, wenn er das sagt …« Eleonora zog die Lade auf und fand wie erwartet keine CD. »Hier ist nichts. Wo könnte das Ding denn sonst sein?«
»Sie sagt, dort ist sie nicht«, flüsterte Corinne in komplizenhaftem Tonfall Emanuele zu.
Kurz darauf hörte Eleonora die Stimme ihres Freundes, die von weit her zu kommen schien. »Sie soll noch mal nachsehen, das Ding muss dort sein.«
»Nein, da ist keine CD.«
»Na gut, dann sag ihr, sie soll in der Anrichte im Restaurant nachschauen. Wenn sie auch dort nichts findet, suche ich selbst weiter.«
»Er sagt …«
»Danke, ich hab’s gehört«, sagte Eleonora genervt. »Ich melde mich dann gleich wieder.«
Eleonora pfefferte das Handy auf den Schreibtisch und machte sich auf die Suche. Während sie noch dachte, dass die beiden eigentlich auch selbst hätten vorbeikommen können, statt sie wie eine Sklavin hin und her zu jagen, öffnete sie die erste Schranktür der Anrichte. Die CD sprang ihr sofort ins Auge, denn auf dem Cover stand mit schwarzen Großbuchstaben »PROJEKT ALMA«.
Mit der CD in der Hand kehrte sie ins Arbeitszimmer zurück und griff nach dem Telefon. Plötzlich hörte sie, wie in einem Albtraum, beunruhigendes Gelächter.
Sie hatte die Verbindung nicht unterbrochen, als sie vorhin den Raum verlassen hatte, da sie vor lauter Eile den roten Knopf nicht gedrückt hatte. Dass das ausgerechnet ihr passierte, wo sie doch sonst Corinne bei jeder Gelegenheit wegen ihrer Unbeholfenheit im Umgang mit den simpelsten elektronischen Geräten hänselte, ganz zu schweigen von dem iPhone, das Alessandro ihr geschenkt hatte.
Das Gelächter dauerte an.
Eleonora hielt den Hörer ans Ohr und verfluchte sich für ihre Unachtsamkeit. Was war sie doch für ein dummes Huhn, das Handy einfach so auf den Schreibtisch zu werfen.
»Ich habe seit Jahren nicht mehr so gelacht«, sagte Corinne gerade, und ihre Stimme war nicht wiederzuerkennen.
»Du hast recht. Früher waren wir beide kein so gutes Team. Weißt du noch, wie skeptisch du warst, als ich dir unseren Pakt vorgeschlagen habe?«
Corinne lachte wieder, es klang befremdend. »Na klar! Ich habe dich damals für verrückt gehalten.«
»Na ja, das bin ich ja auch.«
»Stimmt. Du hattest recht. Eleonora hat sich total verändert.«
»Nicht so sehr, wie ich es mir gewünscht hätte. Aber wir sind auf dem richtigen Weg.«
»Sie ist schon immer hart an der Realität entlanggeschrammt. Sie stellt Fragen über Fragen, ohne dass sie die Antworten verarbeiten kann.«
»Jedenfalls hat sich alles zum Besseren gewendet. Alessandro hat seine Vergangenheit aufgearbeitet, und früher oder später wird auch Eleonora so weit sein. Unser Pakt hat Früchte getragen.«
Wovon zum Teufel redet ihr da?, schrie eine Stimme in Eleonoras Kopf, doch ihr Mund blieb hartnäckig verschlossen.
Du kleine frustrierte Hexe voller Komplexe, was für ein dämliches Bündnis hast du da hinter meinem Rücken geschlossen? Was glaubst du heilen zu können, wo du noch vor knapp zwei Jahren einen Selbstmordversuch begangen hast?
Kaum hatte Eleonora die Auflegetaste gedrückte, bereute sie es auch schon wieder und pfefferte das Handy in eine Ecke. Es am Boden zerschellen zu sehen versetzte ihr einen Stich. Es war zwar ein älteres Gerät, an dem ihr nicht viel lag, trotzdem kam es ihr vor, als hätte sie die letzten vier Jahre zerstört, in denen es ihr immer treue Dienste geleistet hatte.
Eleonora steckte die CD in die Tasche und machte sich auf den Weg zur Gartenlaube.
Die beiden Hauptdarsteller des Dramas saßen seelenruhig vor dem Computer und arbeiteten noch immer an dem Entwurf für die Webseite. Mit flinken Fingern veränderte Corinne Font, Farben und Zeilenabstand der Textbausteine. Sie hatte bereits in der Agentur, für die sie arbeitete, die Webseite betreut und wirkte deshalb bei der Arbeit ebenso kompetent wie anmutig. Emanuele sah ihr bewundernd zu.
Gegenüber der Bühne saß Eleonora in der ersten Reihe und wohnte dem Spektakel bei, es kam ihr sogar so vor, als könnte sie die Fäden sehen, an denen die Marionetten hingen. Nur die Hände, die die beiden hölzernen Spielkreuze bewegten, waren unsichtbar. Wer auch immer der Drahtzieher in ihrem Leben war, hielt sich im Schatten verborgen. Vermutlich war er gar nicht anwesend, sondern verfolgte das Spektakel von weitem.
An jenem Abend fiel es Eleonora nicht leicht, sich Emanuele zu nähern. Nach der Arbeit an der Webseite, die dank Corinne in zwei Wochen live gehen sollte, ging es im Restaurant weiter. Das Restaurant des Agriturismo war bis auf den letzten Platz besetzt, vor allem von Familien mit Kindern, von denen einige auch noch einen Hund dabeihatten. Trotzdem behielt Emanuele den Überblick, nichts entging seinen wachen Augen. Er nahm jede einzelne Facette wahr, bemerkte die unterschiedlichen Vorlieben und Verhaltensweisen seiner Gäste. Sein Blick wanderte von dem übergewichtigen Tölpel, der ständig mit der Gabel gegen sein Weinglas klimperte, als müsste er sich vergewissern, dass es tatsächlich aus Kristall war, weiter zu dem weinenden Mädchen mit den langen Zöpfen, das mit seinem Stuhl kippelte, und schließlich zu dem britischen Ehepaar, das sich immer wieder verloren im Raum umschaute, sie mager und melancholisch, er fast schon verängstigt.
Die Sonntage im Oktober waren nichts für Engländer, diese Jahreszeit gehörte den lärmenden italienischen Familien, die nach einem langen Tag in den Wäldern, auf dem Ponyhof oder am Fluss versuchten, den schrecklichsten Tag der Woche so angenehm wie möglich ausklingen zu lassen.
Der aufmerksame Gastgeber setzte sich schließlich zu dem britischen Ehepaar an den Tisch und ließ seinen Charme spielen. Es gelang ihm, die Melancholie aufzulösen, indem er den beiden auf Kosten des Hauses einen Wein einschenkte. Prompt röteten sich die Wangen der Frau, und die Lippen des Mannes verzogen sich zu einem leichten Lächeln. Emanuele besaß ein ganz besonderes Talent für solche Aufgaben.
»Er hat sie gerettet«, sagte Corinne, die die Aktion von der Küche aus beobachtet hatte. »Übernachten sie hier?«
Eleonora reckte den Hals, um besser sehen zu können, und biss die Zähne zusammen, als sie mitbekam, wie die Frau den Blick senkte und verschämt lächelte, während Emanuele in seinem sanften, flüssigen Englisch auf sie einredete.
»Du meinst die beiden Engländer? Ja.«
»Gut gemacht. Morgen Vormittag können sie dann in Ruhe die Gegend genießen, wenn die ganzen Monster endlich abgereist sind.«
»Wieso Monster? Es sind doch bloß Familien mit kleinen Kindern. Die bringen nun mal Leben in die Bude.«
Corinne stimmte ihr zu, auch wenn sie über die ungewohnte Toleranz ihrer Freundin erstaunt war.
»Am Mittwoch bin ich ausnahmsweise in der Agentur, aber das ist hoffentlich kein Problem.«
Eleonora zupfte die blütenweiße Schürze der Kellnerin in Form, die gerade ein Tablett mit zwölf randvollen Weingläsern an ihnen vorbeijonglierte. Ohne Corinne anzusehen, erwiderte sie: »Corinne, der Laden bricht ohne dich nicht gleich zusammen.«
»Sei nicht so schnippisch.«
»Ich wollte dir damit nur sagen«, sagte Eleonora etwas sanfter, »dass du ganz beruhigt sein kannst.«
»Ist gut.«
Corinne machte zwei Schritte ins Restaurant, um der Kellnerin zu helfen, kehrte jedoch sofort verunsichert wieder um. »Nein, heute Abend wüsste ich wirklich nicht, wo anfangen«, murmelte sie.
»Warum hast du mich vor zwei Jahren zu euch in die Villa Bruges eingeladen, Corinne?«, fragte Eleonora unvermittelt.
Die Frage war zwar unpassend, doch Corinne wirkte nicht sonderlich überrascht. Sie war daran gewöhnt, dass Eleonora hinter alles ein Fragezeichen setzte, und zwar stets im unpassendsten Moment.
»Na ja, du hattest keinen Job und auch keine Wohnung mehr. Außerdem bin ich deine beste Freundin … das glaube ich zumindest.«
»Ich war davor auch schon mal in Schwierigkeiten. Irgendwie bin ich einfach nicht in der Lage, mir etwas Solides aufzubauen.«
»Ich weiß. Und?«
»Früher hast du mir nie geholfen.«
»Ja, weil es nicht gerade leicht ist. Dir zu helfen, meine ich.«
»Was soll das heißen?«
Corinne beendete das Spiel mit den abgewandten Blicken, indem sie die Arme vor der Brust verschränkte und Eleonora herausfordernd anfunkelte.
»Warum stellst du ausgerechnet heute Abend all diese Fragen? Warum jetzt? Das Restaurant ist voller Gäste und schreiender Kinder, und die Kellner stehen kurz vorm Nervenzusammenbruch!«
»Warum nicht? Ich meine, es ist eine Frage wie jede andere. Oder etwa nicht?«
»Na ja … nein. Ich meine …«
»Was denn nun?«
»Ach, hör auf! Du kommst mir schon vor wie Alessandro, wenn du dich so aufführst.«
Corinne hatte die Stimme erhoben, was so außergewöhnlich war, dass zwei der Kellner unauffällig in die Küche verschwanden.
»Reg dich nicht auf. Ich habe nichts Weltbewegendes gesagt.«
»Ich habe dir angeboten, in der Villa zu wohnen, weil ich dich mag. Und jetzt hör auf zu nerven.«
»Ich wollte dich nicht nerven, entschuldige.«
»Ist ja gut.«
Beide Frauen strichen sich gleichzeitig den Rock glatt. Dann taten sie, als würden sie Emanuele dabei zuschauen, wie er vom Tisch des britischen Paars aufstand und mit ausholenden Schritten in die Küche stürmte, um dort nach dem Rechten zu sehen.
Als er an den beiden Freundinnen vorbeiging, zwinkerte er ihnen zu. Eleonora fasste ihn am Arm, um ihn zurückzuhalten.
»Alles okay?«, fragte sie.
»Ja, alles okay?«, fragte auch Corinne, wie ein Echo.
»Was ist los mit euch? Ihr kommt mir vor wie die Zwillinge in Shining. Alles bestens.«
Corinne lachte amüsiert auf. Eleonora nicht.
»Ich geh kurz raus, eine rauchen«, sagte sie. Sie musste sich dringend entspannen, während sie um sich herum Mauern, Dämme und Zäune errichtete.
3
Eleonoras Wagen wollte partout nicht anspringen, weshalb Emanuele ihr anbot, sie nach Florenz zu fahren.
Sie war versucht, die Rektorin anzurufen und sich krankschreiben zu lassen, da sie sich außerstande fühlte, den Arbeitstag zu bewältigen, nachdem sie in der vergangenen Nacht ewig lange wach gelegen und in die Dunkelheit gestarrt hatte.
Allerdings konnte sie an diesem Montagmorgen nicht zu Hause bleiben, da die Rektorin sie dringend sprechen wollte, um ihr etwas Wichtiges mitzuteilen. Es ging um ihre berufliche Zukunft.
Natürlich hatte Eleonora im ersten Moment befürchtet, dass ihre Chefin ihr kündigen würde. Das hätte sie sehr schade gefunden, nachdem sie sich mit ihrer anfänglich extrem undisziplinierten Klasse zusammengerauft hatte. Wenn ihre Zöglinge im nächsten Schuljahr ein gutes Abitur hinlegen würden, wäre das für sie die schönste Belohnung für ihre Anstrengungen und würde ihr große Befriedigung verschaffen. Aber egal.
»Ganz schön kalt hier«, sagte Eleonora, als Emanuele sich hinter das Steuer seines SUVs setzte. Die hochgekrempelten Ärmel seines weißen Hemds schienen sich über den traurigen grauen Schal, den Eleonora sich um den Hals gewickelt hatte, prächtig zu amüsieren. »Du solltest wenigstens ein Jackett überziehen.«
»Es ist doch erst Oktober.« Emanuele drehte sich um und legte den Rückwärtsgang ein, was Eleonora die Gelegenheit bot, ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange zu drücken. »Wenn einer von uns nicht normal angezogen ist, dann du. Nimm deinen Schal ab, bevor du in die Klasse gehst, sonst machen sich deine Schüler noch über dich lustig.«
»Das tun sie ganz sicher nicht.«
»Von wegen. Alle Schüler machen sich über ihre Lehrer lustig.«