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Dieses Buch soll weniger die Geschichte erhellen, als sie illustrieren. Es soll ohne jede Heuchelei die Taten von Männern und Frauen ehren, deren Schicksal größer, wenn auch nicht tiefer war, als das unsrige. Vor allem soll es den Abenteurer in uns und den Teil von uns, der in dem Abenteurer lebt, wecken. Inhalt: Einleitung Alexander der Große Casanova Christoph Columbus Mohammed Lola Montez Cagliostro (und Seraphina) Karl der Zwölfte Napoleon I. Lucius Sergius Catilina Napoleon III. Isadora Duncan Woodrow Wilson
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Seitenzahl: 548
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Die Geschichte des Abenteuers
William Bolitho
Inhalt:
Die Geschichte des Abenteuers
Vorwort
Einleitung
Alexander der Große
Casanova
Christoph Columbus
Mohammed
Lola Montez
Cagliostro (und Seraphina)
Karl der Zwölfte
Napoleon I.
Lucius Sergius Catilina
Napoleon III.
Isadora Duncan
Woodrow Wilson
Die Geschichte des Abenteuers, W. Bolitho
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
86450 Altenmünster, Loschberg 9
Deutschland
ISBN:9783849623180
www.jazzybee-verlag.de
www.facebook.com/jazzybeeverlag
Der Weltkrieg, diese europäische Geißel, mit seiner Folge von persönlichem, nationalem, ja weltumspannendem Elend, lastet noch schwer auf all denen, die ihn zu erleiden hatten, und seine letzten Gegenstöße sind – wenn auch nicht offen zutage liegend – nicht minder schmerzhaft.
... Ein Schützengraben an der Somme, aufgerissen von einer Granate ... ein Chaos. Unter der Erde, in einem Meter Tiefe, findet man einen jungen Mann, groß und schlank, noch lebend auf. Ist ein wichtiges Organ verletzt? – Wird er diese Erschütterung überstehen? Die Untersuchung ergibt nichts Genaues, außer einer leichten Verrenkung der Wirbelsäule, die in der Folge funktionelle Störungen hervorrufen kann. Aber Bolitho verläßt nun den Kriegsschauplatz und erwacht zum geistigen Leben Europas.
Man wußte von ihm nur, daß er vom Kap kam; er galt als gebildet und es war auch bekannt, daß er ein junger Freiwilliger von mitreißendem Temperament und ein guter Kamerad war. Durch gelegentliche Unterhaltungen mit seinen mondänen Pflegerinnen, einige seiner prägnanten Berichte und seine sprühende Beredsamkeit erwies sich seine Eignung für einen besonderen Posten bei der englischen Kriegsberichterstattung in Frankreich. Hier fand er Gelegenheit, die verschiedenartigsten internationalen Probleme von allen Seiten zu beobachten.
Schüchtern, einsam, zurückhaltend – ganz dem Wissen um die Dinge ergeben – erlangte Bolitho bald einen Ruf als Psychologe und Journalist jener besonderen Gattung, als deren Urbild Rémy de Gourmont anzusehen ist.
Nachdem er sich nach und nach in London und New York durch seine glänzende Unterhaltungsgabe einen Namen gemacht hatte, nahm er die Verfolgung seines wunderbaren unvollendeten geistigen Abenteuers auf, dieser mystischen oder vielmehr metaphysischen Epopöe, die sich in verblüffender Weise mit seinem Werk und seinen vulkanischen Gedankengängen deckt.
Der Mensch, der sich der sozialen, mystischen oder metaphysischen Epopöe ergibt, kann, obgleich er nach außen ein Leben wie die andern führt, den Sinn des Lebens nur im Abenteuer finden und seinen Aufschwung nur in der Dichtung, um den quälenden Hunger nach dem Unbekannten zu befriedigen. Bolithos literarische Großmeister, vor Allen Shakespeare, Cervantes, den er im Urtext las, Dante und Rabelais, diese unvergleichlichen Sänger der Menschheit, waren ihm Vorbilder seines geistigen Epos. Es ist nicht erstaunlich, in seinen Schriften jene Sorge um den Menschen zu finden, die diesen auffordert, nicht weiter Sklave eines aufgezwungenen Lebens oder eines mehr oder weniger gut begründeten sozialen Organismus zu bleiben.
Bolitho konnte dem Paradoxen keinen Geschmack abgewinnen; er wollte weder belehren noch überzeugen, der Mensch interessiert ihn nur, weil er um sein unbesiegbares Elend weiß. Er ist ein Philosoph, der sich über die beklommenen Atemzüge der Welt beugt. Nach seinem Befund beginnt er zu schreiben – meditierend – und stellt überall Irrtümer fest, selbst im Göttlichen. Er nennt auch das Heilmittel – sich selbst eine irreale Welt in der realen schaffen – nicht die Philosophie des Vogel Strauß, sondern die Freude des Schauenden, den Überschwang des Poeten. Sein Bekenntnis verdient – wie ein Juwel – einen kostbaren Schrein.
Das Denken Bolithos ist von einer so absoluten Objektivität, von einer solchen Inbrunst für eine lautere Kunst erfüllt – rein in sich selber –, daß man ihn ohne Schwierigkeit von vielen Schriftstellern englischer Zunge unterscheiden kann. Man ist bestürzt, in der britischen Literatur einer predigenden Moralität zu begegnen; selbst wenn das Dogma gewechselt hat und an Stelle der christlichen Moral politische oder soziale Doktrinen aufgestellt werden – es bleibt die gleiche Moral unter einem anderen Namen. Ein peinlicher Fehler, dem man oft bei englischen Schriftstellern – und nicht den unbedeutendsten – begegnet.
Bolithos Auffassung der Literatur ist eine rein künstlerische, eine humanitäre Philosophie, in großzügiger Weise frei von jedem Dogma und jedem Vorurteil. Er verfiel auch nie dem »cant«. Die ungewöhnliche Intensität seiner gedrängten Beobachtungen setzt – ohne daß es den Anschein erweckt – ein umfassendes Wissen voraus, ohne daß der Leser veranlaßt wird, einen bestimmten Weg einzuschlagen oder eine bestimmte Vorschrift zu befolgen. Voll von biblischen Gleichnissen, von großer Empfindsamkeit für den Rhythmus des Satzes, genau den Wert des Wortes abwägend, ergibt sich bei ihm eine außerordentliche Harmonie zwischen seinem Denken und seinem Stil.
Sein umfassender Eklektizismus hat die Schriftsteller geschreckt, die der Tagesmeinung und dem »cant« unterworfen sind, zwei Prinzipien, die jeglichen Wagemut und jegliche Begeisterungsfähigkeit ersticken – sind doch die großen Geister stets der Anarchie geziehen worden!
Sein künstlerisches Gewissen, die Höhe seines Gedankenfluges können von so erbärmlichen Feindseligkeiten nicht berührt werden, ebensowenig wie die nahen Freunde seines Geistes.
1930 versprach für Bolitho sein glücklichstes, sein schöpferischstes Jahr zu werden. Er kam aus New York zurück, nach dem aufsehenerregenden Erfolg von »Twelve against the Gods«, am Vorabend der Aufführung eines humanen und visionären Dramas, das in England und Amerika über die Bühnen gehen sollte, um in seine provenzalische Einsamkeit zu seinen geliebten Büchern zurückzukehren, ganz erfüllt von gewaltigen Bildern, die er in seinem Innern entwarf und vertiefte.
Man ist nicht ohne Gefahr eine Stunde lang einen Meter tief unter der Erde verschüttet gelegen; das winzige Etwas, das den Verletzten am Leben ließ, wartete nur auf den ersten Schwächeanfall, um den ganzen Menschen zu unterwühlen. Zuerst ein Nichts ..., die Organe funktionieren nicht mehr zuverlässig ... Fieber ... eine eilige Untersuchung ... das verspätete und unnütze Messer des Chirurgen ... das Delirium ... und der feste und schnelle Schritt des Todes.
Bolitho fühlte ihn nicht voraus; ihm war er nichts weiter als die Idee der Befreiung, der Reinigung, des Aufgehens in die Unendlichkeit ... Sein Fieberwahn war schon Entrücktheit ... und sein Mund schloß sich für alle Ewigkeit.
Ein so früher Tod an der Schwelle des Ruhms läßt an die Verse Shakespeares denken:
»... was Fliegen sind den müß'gen Knaben, das sind wir den Göttern; sie töten uns zum Spaß.«
William Bolitho hat uns das Beispiel eines unendlichen Mitleids mit dem menschlichen Elend gegeben und sein ganzes Genie angewandt, es zu verstehen und zu erheben.
Auf jener lichten Au, auf der sich die Geister der früh entschlafenen Poeten begegnen, wird ihm Bewunderung einen Platz in der Nähe seiner Meister anweisen, die er nicht entehrt hat, wenn es ihm auch an Zeit gebrach, ihnen gleich zu werden.
René Louis Doyon.
Das Abenteuer bildet das befruchtende und lebensnotwendige Element in der Geschichte des Individuums und der Gesellschaft. Die Geschichte des Abenteuers jedoch eignet sich nicht als Sonntagsschulpreis für brave Kinder. Die Jünger des Abenteuers sind selten keusch und barmherzig, ja sie stellen sich oft außerhalb der Gesetze, und jede moralische Beschönigung oder Überzuckerung entzöge ihrem Leben das Interesse und ein gut Teil der Wahrheit.
Das gleiche ist bei allen großen Charakteren der Fall. Ihre Fehler sind keine Schmutzflecken, sondern offen zutage liegende, organische Auswüchse ihrer Persönlichkeitsbildung. Die eingefleischte Gesetzlosigkeit oder – wenn man will – Schlechtigkeit des echten Abenteurers hat ihren besonderen Grund, der im Begriff des Abenteuers wurzelt. Das Abenteuer ist der unversöhnliche Feind des Gesetzes; der Abenteurer muß daher unsozial, wenn nicht im tiefsten Sinne des Wortes antisozial sein, denn er ist vor allem ein freier Individualist.
Jungens – echte Jungens – die natürlichen Richter in dieser Angelegenheit – haben seit Jahrhunderten versucht, dagegen zu murren, wenn man sie mit Lebensbeschreibungen von Missionaren und Militärs an der Nase herumführte und versuchte, durch bunte Wechselfälle des Geschicks die im wesentlichen abenteuerfeindlichen Charaktere auszuschmücken. Heldentaten, Gefahren, Überraschungen sind die Belohnungen, die das Abenteuer jenen in den Schoß schüttet, die seinem Kult mit ganzer Seele ergeben sind. Aber selbst ihre häufige Wiederholung ergibt noch kein abenteuerliches Leben.
Hier müssen wir auch ein für allemal den Trost Kiplings ablehnen, der das Herumziehen von einem Ort zum andern, das Soldatenspielen in der britischen Armee und den Ankauf von englischen Landhäusern für abenteuerlich hält; gleichfalls weisen wir Chesterton zurück, der überzeugt ist, ein langer Sonntagsspaziergang und ein Glas Bier versetzten den Menschen in die geistige Gesellschaft Alexanders, Kapitän Kidds oder Cagliostros. Alle diese liebenswürdigen Mißverständnisse sind so rührend wie der Wunsch der Kinder nach einem edelmütigen Piraten und recht viel Blutvergießen, bei dem keiner zu Schaden kommt; oder wie das Vergnügen, Roulette mit Bohnen statt mit Goldstücken zu spielen. Tom Sawyer wußte es besser. Das Abenteuer muß mit einer Flucht von zu Hause seinen Anfang nehmen.
Daß der Gegensatz zwischen dem Abenteuer und der gesellschaftlichen Ordnung für die Menschheit nicht einen äußeren Konflikt bedeutet, sondern einen inneren Zwiespalt unseres Willens, geht schon aus der Tatsache klar hervor, daß die guten, freundlichen und achtbaren Bürger den Abenteurer sehnlichst zu adoptieren wünschen.
In uns allen steckt ein Abenteurer. Er ringt um unsere Gunst mit dem sozialen Menschen, der zu sein wir gezwungen sind. Das eine Leben ist mit dem anderen unvereinbar; wir sehnen uns nach dem einen und sind an das andere gebunden. Einen tieferen, bittereren Konflikt gibt es nicht, was immer die Frommen dagegen sagen mögen; er rührt bis an die Wurzeln unseres Daseins als Menschen, das uns so schmerzlich von allen anderen Lebewesen trennt. Wir sind, wie die Adler, für die Freiheit geboren. Aber wir müssen, um leben zu können, einen Käfig von Gesetzen für uns bauen und auf der Stange hocken. Verschwenderisch und unbarmherzig wie Tiger kommen wir auf die Welt; wir müssen sparen oder – hungern und frieren. Wir sind geboren, um zu wandern und sind verflucht, an der Scholle zu kleben und zu graben.
So fällt denn unsere erste Wahl auf ein Leben der Abenteurer. Jedes kleine Kind, das gehen kann, ist ein prachtvoller, typischer Abenteurer. Hätten die Kinder nur soviel Macht wie Willen, was für Heldentaten und Verbrechen würden sie begehen! Wir sind geborene Abenteurer, und die Liebe zum Abenteuerlichen verläßt uns erst im hohen Alter, wenn wir zaghafte Greise geworden sind, in deren Interesse es ist, das Abenteuer sterben zu sehen. Deshalb stehen auch alle Dichter auf der einen Seite und alle Gesetze auf der anderen; denn Gesetze sind meist von alten Männern für alte Männer gemacht.
Dieser Doppeltrieb der Menschheit ist auch der Grund, weshalb der Abenteurer nicht endgültig aus der Gesellschaft ausgestoßen wird. Taucht er aber wirklich einmal in seiner leiblichen Gestalt auf, dann gnade ihm Gott! Das Abenteurerleben ist ein hartes Leben, wie die zwölf vorliegenden Fälle zeigen werden. Sobald einer dieser Draufgänger sich von seinen Fesseln befreit, muß er das tote Gewicht alles Bestehenden bekämpfen: die Gesetze und jene undefinierbare, erstickende Atmosphäre, welche den Teil der Gesetze umschwebt, die wir Moral zu nennen belieben; ferner die Familie, diesen Mikrokosmos, und diese Peitsche der Gesellschaft und vor allem den Besitzenden, über dessen vielverschlungene Rechte der Weg zur Freiheit führt. Scheitert er, so wird er zum bloßen Verbrecher. Ein Drittel sämtlicher Verbrecher sind nichts als gescheiterte Abenteurer. Meist erhalten sie auch eine schwerere Strafe als die anderen: die Armen und die Dummen. Zwingt aber gar der Abenteurer sich der Gesellschaft auf und stellt er sich außerhalb des Machtbereichs der Polizei, so reagiert die Gesellschaft äußerst sonderbar. Wer möchte behaupten, Napoleon, Alexander oder Cäsar seien, gerecht beurteilt, schlechtere Menschen gewesen, als Dick Deadwood oder Jesse James? Wir versuchen, mit einem Wort, sie zu verdauen. Die Folgen ihrer Handlungen werden zu Motiven umgewandelt; Knaben werden angehalten, irgendeine Darstellung ihrer Lebensgeschichte nachzuahmen, aus der man vorher alle unrühmlichen aber praktisch notwendigen Schritte zur Größe ausgemerzt hat.
Gegen diese Meineide und Betrügereien kann der ehrbare Bürger den Milderungsgrund eines »crime passionel« anführen. Es ist sehr unangenehm, einen Napoleon ins Gefängnis zu schicken, obwohl man auch das tat, als es sich nicht länger umgehen ließ. Dagegen sind »wir Tugendhaften« in einer anderen Hinsicht, die gleichfalls eine Seite des sozialen Problems der Abenteurer beleuchtet, nicht so leicht zu entschuldigen. Gemeint ist der vorsätzliche Versuch, die Abenteurer zur Ordnung zurückzulocken, das Fälschen der Wegzeichen, die Camouflage, unter der wir den Käfig verbergen. Überall werden plumpe Fallen aufgestellt; an jeder Straßenecke lauert ein Werbeoffizier, um dem Ausreißer eine Uniform und eine Fahne zu verkaufen. Ja, Gesetz und Ordnung schrecken in unruhigen Zeiten, wenn der Drang nach Abenteuern überhand nimmt, nicht vor der absonderlichsten List zurück. So wurden die wilden Reiter des Mittelalters in das langweilige Korps der fahrenden Ritter eingereiht und auf die faden, aber durchaus ordnungsgemäßen Kreuzzüge geschickt, oder aber man schwatzte ihnen so lange etwas vor, bis sie eine Art freiwillige Gendarmerie bildeten, um die großen Heerstraßen zu bewachen.
Nein, der Abenteurer ist ein Individualist und Egoist, der vor der Pflicht Reißaus nimmt. Sein Weg ist einsam und so schmal, daß er keinen Reisekameraden duldet. Was der Abenteurer tut, tut er für sich selbst. Sein Motiv kann einfache Gier sein; das ist sogar meistens der Fall. Oder jene Form der Gier, die wir Eitelkeit nennen; oder Lebensgier, die auch nicht rühmlicher ist. Aber man hüte sich davor, sein Motiv zu unterschätzen. Man hat die Gier törichterweise fast ebenso verpönt und geschmäht wie jenen anderen Urinstinkt, den Geschlechtstrieb; und doch müßten wir unersättlichen Europäer, wir Conquistadores, als die abenteuerliebendste Rasse der Welt, ihr billigerweise Dank wissen, sie als Kraft, als Düngemittel auffassen, dem unsere sichtbare Überlegenheit über die Zufriedenen entspringt. Gott helfe den Wunschlosen ... den Melanesiern, den armen Buschmännern Südafrikas, den engelhaft sanften, tugendhaften Kariben, die von Columbus in dem irdischen Paradies Haiti niedergemetzelt wurden, und all den anderen guten Primitiven, welche nicht wachsen konnten, da ihnen der Appetit fehlte.
Am Anfang fast jeder Laufbahn steht ein Abenteuer; mit Staaten, Institutionen, Zivilisationen ist es nicht anders. Der Fortschritt der Menschheit wird nicht allein von Kraft und Gewicht beherrscht, wenn wir auch nicht wissen, wohin er führt. Mag die Ethik sehen, wie sie damit fertig wird. Der Abenteurer spielt daher trotz allem soziologisch eine Rolle. Diese Rolle ist eine zufällige, da er an sich asozial ist. Die Geschichte wird durch Abenteuer und Abenteurer mittels großer Eingriffe in Gesetz und Ordnung ruckweise vorwärts gebracht. Von dem ersten Ringen um den Feuerstein bis zu dem täglichen Kampf um einen Stehplatz in der Untergrundbahn, von den Höhlenbehausungen bei Les Eyzies bis zu den mit fließendem warmen Wasser eingerichteten Wohnungen New Yorks wird der Weg durch das Widerspiel zweier Gewalten gekennzeichnet, der hütenden und der suchenden, durch den Stubenhocker und den kühnen Entdecker und Gewaltmenschen, durch den Bürger und den Abenteurer. Durch das Gesetz, aber auch durch jene, die über die schützende Palisade sprangen, ohne zu fragen, ob sie sie beschädigten, und die Schätze ihres Volkes durch Mut und nicht durch Wirtschaftlichkeit mehrten. Der erste Abenteurer war lästig und unbeliebt; er riß unter Gefährdung des Gemeinwesens eine Lücke in die Barrikade der Stammesniederlassung, als er sich in die Nacht hinauswagte, um die Ursache eines Geräusches zu ergründen. Sicherlich handelte er gegen den Rat seiner Mutter und seiner Frau, allen Befehlen der Stammesältesten zum Trotz. Aber er war auch derjenige, der den Ort auffand, wo das Mammut starb und wo es nach tausend Jahren noch Elfenbein genug gab, um den ganzen Stamm mit Waffen zu versorgen. So und nicht anders ist das Wesen des Abenteurers, dieses Plagegeistes und Wohltäters der Gesellschaft.
Auf Grund seiner soziologischen Rolle darf der Abenteurer sich auf seinen großartig einsamen Weg begeben, ohne unserer Sympathie ganz verlustig zu gehen. Er, unser anderes Ich, braucht sie auch, denn er kämpft gegen eine gewaltige Übermacht. Wir kennen bereits seinen vornehmsten Feind, das lähmende, mechanische Gewicht der sozialen und moralischen Gesetze. Der zweite ist das große Unbekannte. Insofern als die Natur alles Lebenden durch seine Feinde bestimmt ist, läßt der Abenteurer sich an dem Kampf gegen die Ordnung und an seinem Kampf gegen den Zufall erkennen. In dem ersten kann er Sieger bleiben – tut er es nicht, so wandert er ins Gefängnis. In dem zweiten muß er unterliegen, denn der Zufall ist eine Offenbarung des Weltgeistes. Dieses Buch enthält keine Aufforderung, es dem Abenteurer nachzutun; sein Leben endet nicht anders als das der übrigen Menschen. Ich will damit nicht sagen, daß der Abenteurer, an unserem materiellen Maßstab gemessen, keinen Erfolg haben kann. Einige, wenn auch nicht die größten dieser Menschengattung, sind auf dem Gipfel dessen, was sie erstrebten, den Alterstod gestorben. Den Abenteurer erwartet eine subtilere Tragik als Ruin, Armut im Alter, Lumpen und die Verachtung seiner Mitmenschen. Seine Strafe lautet, daß er über kurz oder lang aufhören muß, ein Abenteurer zu sein. Die Gesetze seiner Morphologie bestimmen, daß er als Schmetterling in die Welt tritt, um nach vollendeter Entwicklung als Raupe zu enden. Das Los des Abenteurers ist so tragisch wie das Los der Jugend; sein Weg verläuft nicht in gerader Richtung, sondern als Parabel; er führt an einem bestimmten Punkt in den Käfig zurück. Der größte Abenteurer, der je gelebt, endete als nervöser, banaler Millionär.
Das Geheimnis dieses tragischen Ausgangs ist psychologischer Natur; es liegt in dem Motiv des Abenteurers, in seiner Bestialität und Gottähnlichkeit verborgen, ja es bildet einen Teil seiner Persönlichkeit. Die Gier, die allen eigen ist, lebt in jedem ihrer fünf Sinne: Gier nach Gold, Macht, Ruhm und Wissen; ja diese Lebensgier ist selbst in ihren höchsten Momenten dualistisch. Sie will das Errungene sich erhalten, auch während sie nach neuen Siegen lechzt. Sie hält fest und greift zu im selben Augenblick. Für den Beobachter gibt es nichts Reizvolleres als dieses wundervolle Widerspiel von statischer und aktiver Gier, diesen langsamen Sieg des Konservierungstriebes über die Eroberungsgelüste, diese plötzliche Furcht, die sich selbst bei einem Alexander einschleicht und der in seinem Zelte opferte. Alexander wußte genau, er hatte zu viel gewonnen und das Abenteuer war für ihn zu Ende. Der Trieb zu erhalten hatte bei ihm überhand genommen, die Komplementärkraft mußte langsam sterben.
Alle diese Männer scheitern an dem Widerspruch in ihrem Innern. Ihre Mischung unterscheidet sich nur quantitativ von der unsrigen. Auch in ihnen ringt der soziale Mensch mit dem freien, der Geizhals mit dem Verschwender, der Stubenhocker mit dem ruhelosen Wanderer, der Sparer mit dem Spieler, der Schäfer mit dem Jäger. Sein eigenes soziologisches Ich bringt den Abenteurer zu Fall und erdrosselt ihn.
Außer diesen eng miteinander verknüpften soziologischen und psychologischen Kämpfen kennt der Abenteurer noch einen anderen, erhabeneren, beide an Spannung übertreffend. Er ringt und wirbt um die große Göttin des Unbekannten, die viele Namen hat – mitunter heißt sie auch Zufall oder Gefahr – und deren Füllhorn für ihn alles Neue enthält. Das Begehren nach ihr und nach den von ihr unzertrennlichen Gaben ist seine eigentliche Gier. Treulos und verräterisch – darin äußert sich ihre Majestät und Grausamkeit – überschüttet sie ihn mit Belohnungen, hüllt ihn in die Schleier ihres Wohlwollens, um ihn mit Gold und Siegen zu fesseln, bis er nicht länger vorwärts zu schreiten wagt. So macht sie aus dem Geliebten einen Sklaven. Erst der Räuber, der seine Beute zählt, wird zum bloßen Diebe.
Damit haben wir die soziologische, psychologische und in gewissem Sinne auch mystische Seite des Abenteuers und seiner Jünger umrissen; merkwürdige und interessante Einzelheiten hoffen wir in unseren zwölf praktischen Studien aufzuzeigen. Unter diesen finden sich auch zwei, drei Frauen, die durch ihr Format und durch die Originalität ihres Geschicks wert sind, in jene erlauchte Gesellschaft aufgenommen zu werden.
In der vieltausendjährigen Epoche, die jetzt gerade auszuklingen scheint, bildete die Ehe gleichsam die einzige Laufbahn der Frau. Es ließe sich daher mit einigem Recht die These aufstellen, jede Frau habe in ihrem Leben ein großes Abenteuer zu bestehen gehabt und jede heiratsfähige Frau sei in gewissem Sinne eine Abenteurerin gewesen, ebenso wie die verheirateten Frauen bisher die unüberwindliche Leibwache der Gesellschaft bildeten. So lautet die Theorie der alten Romanschriftsteller – allein das ewig Gleiche dieses Abenteuers und seine Banalität bannen es aus unserem Gesichtskreis. Jetzt aber, da die Zeiten sich geändert haben, hat die ehedem rein akademische Frage, ob die Frauen außerhalb der Grenzen ihrer wirtschaftlichen Abhängigkeit vom Manne den Geist des Abenteuers zu erfassen und ihm zu folgen vermögen, an Bedeutung gewonnen. Jedes Licht wäre daher von Interesse, das durch eine Untersuchung der weiblichen Abenteurertypen der Vergangenheit auf unser Problem fiele (der Ausdruck Abenteurerin hat einen zweifelhaften Klang); ebenso jeder Beweis für oder gegen einen Unterschied der Geschlechter in der Morphologie des Abenteuers.
Es ist klar, daß der verschieden starke Widerstand der drei gestaltenden Elemente: des sozialen Komplexes, des Tätigkeitsfeldes und der Psychologie des Abenteurers selbst, die äußere Form des Abenteuers beeinflußt. (Jedes Zeitalter bringt seine besonderen Typen hervor, die Antike den Eroberer, das Mittelalter den Entdecker, das neunzehnte Jahrhundert den Weltreisenden und Goldsucher.) Aber damit hat sich ihre Rolle in den Augen des Historikers noch nicht erschöpft. Sie wirken auch auf den Umfang und die Einzelheiten des Unternehmens ein. Den dritten oder psychologischen Faktor müssen wir dabei außer acht lassen. Er entzieht sich unserer Beurteilung, und so müssen wir ihn wohl oder übel als konstant annehmen. Dagegen läßt sich der Einfluß der anderen beiden auf eine sehr einfache Formel bringen, und zwar wird das Abenteuer um so schwieriger, seltener und unwichtiger, je stärker die soziale Bindung und je beschränkter das Gebiet des Unbekannten ist. In beider Hinsicht herrschen zur Zeit ungünstige Bedingungen. Wir sind noch weit entfernt von einer internationalen Regierung, aber es besteht bereits eine internationale Polizei mit Kabeln, Postämtern, Flugzeugen und einem allgemeinen Code, die den abenteuerlichen Existenzen eines Cellini, Casanova und Cagliostro sehr bald ein Ziel setzen würden. Unsere ökumenische Zivilisation, wie Keyserling sie nennt, zieht dem Individuum immer engere Grenzen. Auch gibt es auf der Weltkarte kaum eine weiße Stelle mehr. Das geographisch Unbekannte, das leichteste und lockendste Eingangstor in die Welt der Abenteuer, ist verschwunden. Lhassa ist heute telefonisch mit der Kultur verbunden, und eine Flagge weht auf jedem Pol. Allerdings suchen einige unbezähmbare Damen uns nach wie vor zu überzeugen, daß die Sahara nichts Alltägliches sei, und die Presse fährt fort, romantische Reisebeschreibungen über Gegenden in Asien zu bringen, wohin jedes Reisebüro Fahrkartenhefte verkauft. Trotzdem »gibt es nichts mehr zu entdecken«, um in dem düsteren Jargon der Schuljugend zu reden. So müssen wir uns denn fragen: Gehört das Abenteuer der Vergangenheit an?
Ich habe den Trost jener Schriftsteller und Dichter bereits zurückgewiesen, welche die Schwierigkeit dadurch zu überwinden suchen, daß sie »das Interessante« oder oft nur mäßig Interessante als Abenteuer verkleiden. Ohne gute, gesunde Begriffe verwässern zu wollen, müssen wir dennoch feststellen, daß das Abenteuer nicht ausgestorben ist. Auch ist der Abenteurer nicht seltener geworden, und zwar existiert er in seiner ästhetisch glücklichsten Form, fern von jeder Niedrigkeit. Allerdings hat es auch magere Jahre für ihn gegeben, wie zum Beispiel das achtzehnte Jahrhundert. Damals war alles Besitz geworden, geleistet, ausgekundschaftet. In solchen Zeiten muß er das Neue in sich selbst suchen, nicht in der unwandelbaren Natur, sondern in dem stets sich erneuernden Strom des menschlichen Lebens. Die Geographie ist banal geworden, aber die Topographie bewahrt sich ihre unerschöpfliche Originalität.
Zu ihr hat sich der unsterbliche Abenteurer geflüchtet. Er rettet sich in die Wüsten der Hochfinanz, in den Dschungel des Geschäftslebens, unter die zahllosen wilden Stämme unserer Großstädte, in die Welt der Menschen, wo größere Entfernungen walten als zwischen Stern und Stern. In den titanischen Werken und Ereignissen unserer Tage offenbart sich die nämliche Zusammenarbeit von Draufgänger und Stubenhocker, der gleiche Kulturkampf mit der rätselhaften Göttin, die das letzte fordert und das letzte gibt. Die Geschichte hat stets einen Katalog von Abenteurern an der Hand – sie hat ihre Methoden nicht geändert, mag es ihr auch aus Geschäftsgründen unmöglich sein, die Liste zu veröffentlichen.
Was nun die abenteuerlichen Leistungen betrifft, die Atlantikflüge, die Nordpolexpeditionen, die Besteigung des Everest, Blüten des Heroismus und der Standhaftigkeit, wie die Vergangenheit der Menschheit sie niemals kannte, so sind sie vielleicht das Panier unserer Zeit, allein sie gehören nicht unmittelbar zu unserem Thema. Ihre Helden sind Soldaten der Gesellschaft, aber keine Abenteurer, und nur ein Mißverständnis, das unsere Arbeit vielleicht aufklären wird, konnte ihre Freunde veranlassen, einen solchen Titel für sie in Anspruch zu nehmen. Ich werde noch Gelegenheit haben, darauf zurückzukommen.
Das Folgende soll weniger die Geschichte erhellen, als sie illustrieren. Es soll ohne jede Heuchelei die Taten von Männern und Frauen ehren, deren Schicksal größer, wenn auch nicht tiefer war, als das unsrige. Vor allem soll es den Abenteurer in uns und den Teil von uns, der in dem Abenteurer lebt, wecken. Ich will weder warnen noch ermutigen, sondern will anerkennen, wo mir Bewunderung versagt ist. Dabei neige ich mich in Ehrfurcht vor dem unersättlichen Geiste des Menschen wie vor dem unergründlichen Geheimnis, das ihm Beute, Erhalterin und Göttin ist.
William Bolitho.
Dann kam das Feuer, verbrannte den Stab, Der den Hund schlug. Der die Katze biß. Die das Kitz fraß. Das mein Vater kaufte Für zwei Stück Geld. Ein Kitz! Ein Kitz!
Die Juden, jene ewigen Zeitgenossen, die alles mit erlebt und die Erinnerung daran festgehalten haben, kennen ein kindliches Reimgeklingel weltgeschichtlichen Inhalts. Ganz am Anfang, wohin ich diesen Reim gestellt habe, erscheint Alexander, das Feuer, welches das Achaemenische Reich verbrannte, das über die Welt den Stab schwang, der den grausamen assyrischen Hund schlug, der die weise babylonische Katze biß, die das arme unschuldige Geißlein verschlang: das auserwählte Volk, das Gott von Moses kaufte. Dieses steht am Ausgang des kosmischen Zermahlungsprozesses, der für die Juden die Weltgeschichte verkörpert. Feuer ist eine treffende Bezeichnung für Alexander: er lebte wie Feuer, focht wie Feuer und starb jung, ausgebrannt.
Er nimmt in diesen Porträtstudien den ersten Platz ein, nicht nur weil er zeitlich an erster Stelle steht (356-323 vor Christi Geburt), sondern weil er gewissermaßen das ganze Thema in sich begreift. Jeder Abenteurer gleicht in irgendeinem Punkte Alexander, ja viele der größten haben ihn bewußt nachgeahmt. In ihm sind stärker als in den anderen die Geheimnisse des Wachstums und der Charakterentwicklung vereinigt, die allen gemeinsam sind.
Zum Teil ist das eine Folge des Zufalls seiner Geburt, die ihn zum Sohn eines großen Mannes machte. Knaben in seiner Lage entwickeln sich meist zu psychologischen Ungeheuern, von vorne herein zu der bitteren oder lächerlichen Rolle eines Hamlet bestimmt. Allein Alexander sog aus seiner Herkunft jene doppelt gestählte Reaktionskraft, die Bacon an Buckligen und Zwergen beobachtete. Opposition gegen seinen Vater, dessen gewaltige Persönlichkeit ihm nach allen Richtungen den Horizont versperrte, mußte notgedrungen seine Hauptentwicklungsphase kennzeichnen. Alle übrigen Kräfte seiner Ichbildung unterliegen dem Doppeleinfluß seiner Mutter und seines Erziehers. Die Tigerhexe Olympias haßte Philipp gleichfalls kraft einer andersartigen Eifersucht, und Aristoteles war ihm von seinem Vater aufgezwungen.
Dieser Philipp hatte eine ungewöhnliche Laufbahn hinter sich. Noch vor seinem zwanzigsten Lebensjahre wurde er durch eine Verschwörung verräterischer wilder Bergfürsten, die ihm den väterlichen Thron entreißen wollten, an seine Feinde, die Thebaner verkauft. Kaum lohnte es sich, um seine Rechte als Oberhaupt eines solchen Hofes zu kämpfen. Dies war der Anfang, und im Laufe von zwanzig bis dreißig Jahren gelang es Philipp, sich nicht nur zum König eines befriedeten, geordneten Mazedoniens emporzuschwingen, nein, er wurde Oberfeldherr von ganz Griechenland: eine Leistung, die etwa mit den Schwierigkeiten zu vergleichen wäre, die ein junger Mexikaner überwinden müßte, wollte er allen Gesetzen, Gewohnheiten und Rassenvorurteilen zum Trotz Präsident der Vereinigten Staaten werden. Trotzdem war Philipp kein Abenteurer. Seine Laufbahn birgt weniger abenteuerliche Züge als eine Schachpartie. Sie war ein einziger Aufbau. Er war ein Ingenieur des Lebens. Jeder Gewinn seines Daseins wurde im voraus geplant und als reife Ernte eingesammelt. Nichts entglitt seinen Händen – mit Ausnahme der Liebe seines Sohnes.
Ist ein derartiger Mann daneben noch gutmütig, mit dem Temperament eines Berges und der Gesundheit eines Felsens, ansteckend lustig in Gesellschaft, eifrig wie ein Schuljunge beim Sport, eitel mit dem halbernsten Übermut eines Mannes, der im Grunde seines Herzens mit dem Leben zufriedener als mit sich selbst ist, sieghaft in seiner lächelnden Überlegenheit ebenso wie in seinen Schlachten, so wirkt er nicht nur überragend, nein erdrückend. Im Plutarch findet sich eine Stelle, die Alexanders Geheimnis verrät.
»Wann immer die Nachricht überbracht wurde, daß Philipp eine feste Stadt genommen oder eine große Schlacht gewonnen hatte, pflegte der Jüngling, statt sich zu freuen, zu seinen Gefährten zu sagen: ›Mein Vater wird so lange siegen, bis es für Euch und mich nichts Außergewöhnliches mehr zu leisten gibt.‹ Denn er wollte kein Reich erben, das ihm Wohlstand, Üppigkeit und Genuß brachte, sondern eines, das ihm Gelegenheit zum Siegen, Kämpfen und zur Befriedigung seines großen Ehrgeizes böte.«
Indes reizt Heldenhaß nicht minder zur Nachahmung als Heldenverehrung – mit dem einen Unterschied: er wirkt durch Opposition. Alexanders glühender Wunsch, seine Persönlichkeit gewaltsam von jeder Ähnlichkeit mit Philipp zu befreien, zog ihm die gleichen Grenzen, wie tiefste Verehrung sie gezogen haben würde: er schlug sich selbst in eine Kette von Widersetzlichkeiten. Philipp war seiner vorsichtigen Schlauheit wegen berühmt; Alexander wählte für sich Draufgängertum und die große Geste. Philipp war beredt. Alexander tat sich auf seine Schweigsamkeit, die seiner überschäumenden Natur schwer fiel, etwas zugute. Philipp war eitel genug, seine Siege in den olympischen Wagenrennen durch Denkmünzen zu verewigen. Alexander dagegen antwortete auf die Frage, ob er sich an den olympischen Wettläufen beteiligen wolle (er war ein flinker Läufer): »Ja, hätte ich Könige zu Gegnern.« Er machte mit Vorbedacht gegen die sportlichen Neigungen seines Vaters Front. In der frühreifen Erkenntnis, daß auf ihnen vor allem Philipps Volkstümlichkeit beruhe, zog er zwischen seines Vaters und seinen eigenen Liebhabereien eine wunderliche Trennungslinie. Philipp, zum Beispiel, liebte es, Faust- und Ringkämpfen beizuwohnen. Alexander »gab vor, den Ringkampf, einschließlich eines unter dem Namen Pankration bekannten Faustkampfes mit Schlagringen, von Grund auf zu hassen.«
Die von Wildwestromantikern getreulich gehegte Geschichte der Zähmung des Bukephalos bietet ein überraschendes Beispiel für diesen verborgenen Konflikt zwischen Vater und Sohn. »Als Philonikos, der Thessalier, Philipp ein Pferd namens Bukephalos zum Preise von 13 Talenten (rund 25 000 M.) anbot, begab sich der König in Begleitung des Prinzen und vieler anderer hinaus auf ein Feld, um es sich vorführen zu lassen. Das Pferd gebärdete sich sehr boshaft und unbändig. Weit davon entfernt, sich reiten zu lassen, duldete es nicht, daß man es anredete und wandte sich wutschnaubend gegen die Reitknechte. Philipp war ungnädig, daß man ihm ein so wildes und ungebärdiges Pferd gebracht und befahl, es abzuführen. Doch Alexander, der es scharf beobachtet hatte, sagte: ›Welch ein Pferd geht uns hier aus Mangel an Geschick und Mut verloren!‹ Anfänglich achtete Philipp nicht auf seine Worte, als jedoch der Prinz mit großer Unruhe die gleiche Rede öfters wiederholte, sagte er: ›Junger Mann, du tadelst ältere Männer, als wüßtest du mehr denn sie und könntest dieses Pferd besser regieren.‹ ›Das könnte ich in der Tat‹, lautete die Antwort des Prinzen. ›Falls du es nun nicht reiten kannst, welches Pfand willst du für deine Tollkühnheit zahlen?‹ ›Ich werde den Preis für das Pferd zahlen.‹ Hierauf lachten alle Anwesenden, allein der König und der Prinz waren die Wette eingegangen. Alexander lief daher zu dem Pferde hin und drehte es, die Zügel ergreifend, der Sonne zu; denn er hatte bemerkt, daß der ständig mit dem Tier sich bewegende Schatten es ängstigte. So lange seine Wut anhielt, fuhr Alexander fort, ihm sanft zuzureden und es zu streicheln; alsdann warf er behutsam seinen Mantel ab, sprang mit einem leichten Satz auf seinen Rücken und gewann einen sicheren Sitz. Darnach ließ er es, jedoch ohne allzu straff die Zügel und ohne Peitsche oder Sporn zu gebrauchen, Schritt gehen. Als er sah, daß seine Unruhe sich gelegt hatte und daß es zu laufen wünschte, ließ er es in vollen Galopp fallen, es mit Stimme und Sporn antreibend.
»Philipp und sein Hof waren anfänglich in großer Sorge um ihn, und tiefes Schweigen senkte sich herab; als aber der Prinz das Pferd gewendet und auf kürzestem Wege zurückgeführt hatte, empfingen sie ihn mit lautem Jubel, der Vater ausgenommen, der ihn mit den Worten küßte: ›Suche dir ein anderes Reich, würdig deiner Fähigkeiten, mein Sohn, denn Mazedonien ist für dich zu klein‹.«
Dem guten Plutarch ist die leise Ironie dieser Bemerkung entgangen, die der gewiegteste Kenner einer ganzen Nation von Reitern einem jungen Manne gegenüber fallen läßt, der soeben einem Händler geholfen hat, einen bösartigen Gaul zu exorbitantem Preise zu verkaufen. Trotzdem klingt echter Stolz aus ihr. Riesen beneiden ihre Väter, aber nur Pygmäen vermögen ihre Söhne zu beneiden. Philipp nahm Alexander gegenüber meist eine Haltung belustigten Stolzes ein; es war der Stolz eines Züchters und Vaters zugleich, der auch die heftigsten Zornausbrüche über des Sohnes Trotz und Dreistigkeit überdauerte.
So liegt vielleicht in der Opposition zu seinem Vater das Geheimnis von Alexanders persönlicher Lebensführung. Sie bestand aus einer Art athletischer Askese und übte auf die Welt einen fast ebenso starken erzieherischen Einfluß aus, wie die festgefügten Lehrsätze einer Religion, die auch heute noch in der seltsam gefälschten und geflickten Form des 18. Jahrhunderts unter der Etikette: »English gentleman« das Ideal eines Teiles der Menschheit bildet. Das geht vor allem aus seinen typischen Indiosynkrasien hervor. Die Grundlage von allem ist die Auflehnung gegen einen sinnlichen, lärmenden, immer noch halb barbarischen Häuptling, denn das und nichts anderes war Philipp bis an sein Lebensende. Indes baute Alexander auf dieser strengen Basis für den arischen Jüngling eines der reizvollsten Ideale auf. Seine Verbote und Gebote sind weit mehr als bloße Launen, aber ihr Ursprung hat nichts mit Religion oder Metaphysik zu tun. Allerdings haben zahlreiche griechische Schulen Alexanders Verachtung des Körpers und dessen Freuden als ihr geistiges Eigentum in Anspruch genommen. Diese Lehre war kurz vor Alexanders Zeit von dem eigensinnigen Antisthenes aus dem Grundsatz des Sokrates: »Tugend ist Wissen« in den Schlachtruf: »Schlechte Manieren als Selbstzweck« umgewandelt worden. Seinen Schülern trug er den Namen Zyniker ein. Antisthenes frecher Freund, der ehemalige Münzer Diogenes von Sinope, hatte dann die Schule auf seine Art sehr bekannt gemacht. Ohne Zweifel fühlte sich Alexander von ihr angezogen. Er befand sich in dem Alter, da jeder intelligente Jüngling für seine Neigungen und Abneigungen einen theoretischen Hintergrund sucht. Doch jenseits und als Basis der Wirkung, die jene düsteren Vernunftsschlüsse ausübten, lag ein instinktiver Komplex, in welchem ich zwei verbundene Elemente zu erkennen glaube – den Drang nach Selbstkasteiung und den Wunsch, weder rein berechnend noch ausschließlich uneigennützig, die Kultbedingungen des Abenteuers zu erfassen, sobald ihm die erste einladende Geste winkt. Grob ausgedrückt: Puritanismus und Training.
Das erstere ginge mich hier nichts an, wenn man sein Vorhandensein in Alexander wie in der übrigen Menschheit ahnte. Es würde zum besseren Verständnis sämtlicher Biographien, insbesondere der folgenden, beitragen, wenn man sich erinnern würde, daß der Mensch auch den Impuls der Selbstkasteiung kennt, und zwar in gewissen Lebensaltern in starkem, ja unvernünftigem Maße. Die Voraussetzung, daß Jugend zum Genusse neigt, daß eines jungen Mannes Widerwillen gegen weiche Betten, Wein und Rosen widernatürlich oder doch zum mindesten der Ausfluß einer zwingenden Morallehre sei, ist leichtfertig. Genuß ist ein zweifelhafter Begriff, ja es gibt auf der Welt ebenso viele Geizige wie Gourmets.
In dem jungen Alexander wird der angeborene Hang, mit sich selber zu geizen, durch den ahnungsvollen Wunsch verdoppelt, jede lästige Gewohnheit, jedes weichliche Kompromiß abzuschütteln. Er fürchtet alles, was dem Abenteuer seines Lebens hinderlich sein könnte. Kaum hat er den Schattenriß der Zukunft erkannt, so hören die Freuden des Bettes und der Tafel für ihn auf, sündig und seiner unwürdig zu sein; mag er sich auch in den Augenblicken, da er den Kopf mit dem Unsinn des Diogenes vollgepfropft hatte, derartiger Ausdrücke bedient haben, letzten Endes betrachtete er den Genuß nur als gefährliches Hindernis. Lassen wir ihn seine Moralität erklären, und zwar in dem Augenblick, da seine Erfolge ihn der Notwendigkeit enthoben hatten, eine messerscharfe Moral zu gebrauchen. Seine Worte lauten: »Schlaf und Geschlechtsverkehr bringen mir meine Sterblichkeit am stärksten zum Bewußtsein.«
Der zweite menschliche Einfluß auf diesen feurigen, Wohlleben hassenden, vaterneidischen Jüngling ist der seiner Mutter, der furchtbaren Olympias. Der dritte ist der schwer zu fassende Faktor Aristoteles. Der universelle Philosoph war sein Lehrer von seinem dreizehnten Lebensjahre an. Sowohl das Weib wie der Weise haben ihre seltsam verschlungenen Spuren in dem Wesen des Knaben hinterlassen.
Diese Olympias ist, selbst nach dem schattenhaften, mißverstandenen Umriß der Geschichtsschreiber, ein prachtvolles Geschöpf. Wie wir noch näher untersuchen werden, haßte sie Philipp aus den allgemeinsten wie aus den kompliziertesten Gründen. Den Griechen der Stadtstaaten mußte der Hof Philipps als barbarisch und primitiv erscheinen. Die Königin Olympias aber war eine Prinzessin des mittelalbanischen Bergstaates Epirus, wo man fünfhundert Jahre hinter dem Kalender zurückgeblieben war. In Wahrheit gehörte sie einer Zeit an, die um vieles jünger war, als der Sonnenuntergang der antiken Welt, an dessen Schwelle Sohn und Gatte standen. In ihr lebte das neolithische, das Steinzeitalter, jene ungeheuer verwickelte Kultur, die niemals einen Historiker gehabt noch gebraucht hat; wir sind daher genötigt, unsere Begriffe aus den Fingerzeigen der Opferaltäre und dem Ju-ju der Ureinwohner notdürftig zusammenzuflicken.
Der lang verloren gegangene Schlüssel zum Wesen der Olympias, dem wir um Alexanders willen ein wenig nachspüren müssen, liegt in ihrem Geschlecht. Sie war ein Weib aus der Zeit, da noch die Erinnerung an das Matriarchat und an die zärtlich gehütete Zivilisation der Jagdvölker lebendig war, und sie lehnte sich immer noch gegen die veränderten Verhältnisse auf. In den Werken der Griechen wird sie eine Zauberin genannt, und der friedliche Plutarch, der von Herzen wünscht, selbst die Familienmitglieder seiner Helden möchten durchaus ehrbare Leute sein, stottert, wenn von ihr die Rede ist. Uns interessieren nicht ihre Verbrechen, sondern ihre Denkungsart, das heißt ihre Religion. Sie war eine eifrige Anhängerin und Hohepriesterin der Mysterien des Orpheus und Dionysos. Erteilen wir Plutarch das Wort: »Die Weiber jenes Landes sollen die Zeremonien des Orpheus und die Orgien des Dionysos über alles lieben, und sie sollen Chlodones und Mimallones heißen, weil sie in mancher Hinsicht den edonischen und thrazischen Weibern vom Berge Haemus nacheifern, von denen das griechische Wort threskuein (einen Zauber weben) stammt. Dieses bezeichnet die Ausübung absonderlicher und abergläubischer Gebräuche. Olympias war auf derartige Gepflogenheiten ganz erpicht und führte in dem Wunsche, jenen enthusiastischen Feierlichkeiten einen seltsameren und grausigeren Anstrich zu verleihen, eine Anzahl großer zahmer Schlangen ein, die aus dem Efeu und den mystischen Fächern hervorkrochen, sich um die Thyrsen und Girlanden der Weiber wanden und die Zuschauer mit Schrecken erfüllten.«
So kommt es, daß wir, wann immer in Geschichtswerken Olympias Name fällt, vorsichtig und nur andeutungsweise in den bisher mangelhaft erforschten Hintergrund archaischer, übernatürlicher Geheimnisse geführt werden. Dieser liegt jenseits des leuchtenden Vernunftsglaubens griechischen Lebens. An den Mysterien, deren Schülerin sie war, interessiert uns zweierlei: der ungewöhnlich bedeutende und in keinem Verhältnis zu ihrer politischen oder auch nur gesellschaftlichen Rolle stehende Anteil, der den Frauen dabei zugemessen war, sowie die Eigenart des – wenn auch nicht – Internationalismus, so doch der stammesgeschichtlichen oder übernationalistischen Bindungen, die aus einem unerklärlichen Grunde mit dem Kulte verknüpft waren. Was für kindische und brutale Dinge Olympias und ihre Genossinnen den Knaben unter dem Deckmantel jenes ehrwürdigen Hokuspokus auch gelehrt haben mögen, dieser Internationalismus war wertvoll und für ihn kritisch von Wichtigkeit. Ihr verworrener und problematischer Polytheismus räumte in seinen Tempeln Isis wie Attis einen Platz ein. Cybele hauste dort Seite an Seite mit dem etruskischen Priapus, dem persischen Mithras und dem griechischen Orpheus. Nicht nur konnte ein wandernder Jude, Syrer oder Meder kraft dieser Riten der Blutsbruder eines Griechen oder Mazedoniers werden, nein, jene Verbände waren so zahlreich, ihre Geheimnisse so miteinander verstrickt, daß der Unterschied zwischen dem Eingeweihten und dem Outsider, der eigentlich eine besondere Art Partikularismus hätte hervorbringen können, in Wahrheit durch einen schier unendlichen Gedankenaustausch, eine unbegrenzte Zahl von Abstufungen des Eingeweihtseins überdeckt war. Daß Alexander ein durch seine Mutter eingeführter Adept der orphischen Mysterien war, hätte ihn zum Beispiel nicht gehindert, den ägyptischen Thebanern beizutreten; im Gegenteil, diese Tatsache hätte ihn von vorne herein halb und halb zu einem der ihren gemacht.
So schüttelt Alexander als erste Folge des mütterlichen Einflusses die größte Hemmung des Abenteurers, einen exklusiven Patriotismus ab. Im Innersten seines Herzens konnte ein Perser ihm Bruder, ein Athener ihm fremd sein. Das heißt, er vermochte sich von der raffiniertesten Machenschaft der Gesellschaft – der Erzfeindin des Abenteurers – nämlich vom Wesen des Nationalismus zu befreien. Der gesellschaftlich denkende Mensch verzeiht dem Abenteurer alles eher als eingefleischte Vaterlandslosigkeit. In Wahrheit ist die Vaterlandsliebe letzten Endes ein Versuch, dem Abenteurer auf halbem Wege entgegenzukommen; sie will die Gesellschaft, jene langweilige Stubenhockerin, in bunte Farben kleiden, will den Ausreißer überreden und mittels einer Art Musik verlocken, in Reih und Glied zurückzukehren; kurz die Anhänglichkeit soll nicht nur zur Pflicht, nein auch zum aufregenden Vergnügen werden. Der Rückschlag dieser List wirkt auf den Betreffenden nicht wie ein Hieb auf einen Mann, sondern wie eine Zurückweisung auf eine Frau. Die Vaterlandsliebe oder das Massenabenteuer ist die Alternative zum reinen Abenteuer, das immer individuell bleibt. Die abenteuerfeindlichen Rassen, wie die Franzosen und modernen Engländer, sind daher die patriotischsten. So findet sich auch im Leben der typischen Abenteurer, parallel und übereinstimmend mit ihrer Nichtachtung der sozialen und moralischen Gesetze, eine mehr oder weniger auffallende Gleichgültigkeit gegenüber dem vaterländischen Gefühl. Ein patriotischer Abenteurer ist allerdings kein solches Paradoxon wie ein gesetzesliebender Abenteurer. Trotzdem legt man gerade den genialsten Vertretern dieser Menschengattung, wie auch Alexander, den klaren Vorwurf der Vaterlandslosigkeit zur Last, gegen den ihre offiziellen Biographien sie nur mit Mühe verteidigen können. Das Abenteuer seines Lebens bestand darin, den Höhepunkt griechischer Macht zugleich zum größten Betrug an Griechenland zu machen, dessen Epoche mit ihm endigt.
Die erste Lehre der Olympias ist der Internationalismus; die zweite dürfte noch weniger auf Billigung hoffen. Plutarch erzählt, daß es Olympias »in der Nacht vor dem Vollzug ihrer Ehe« träumte, »ein Donnerkeil sei ihr auf den Leib gefallen und habe ein großes Feuer entfacht, und die Flamme habe weit und breit um sich gegriffen, ehe sie verschwunden sei. Kurze Zeit nach seiner Heirat träumte dann Philipp, er habe der Königin Schoß versiegelt mit einem Siegel, dessen Prägung er für einen Löwen hielt. Die meisten Traumdeuter glaubten, der Traum gäbe Anlaß, die Ehre der Olympias anzuzweifeln, und Philipp täte gut daran, sie scharf zu bewachen. Aber Aristander von Themesus erklärte, der Traum besage nur, daß die Königin schwanger sei und daß das Kind kühnen, löwengleichen Mut beweisen würde. Ferner sah man eine Schlange, während Olympias schlief, an ihrer Seite liegen, ein Vorfall, der Philipps Zuneigung zu ihr mehr denn alles andere gedämpft haben soll ... Außerdem wird behauptet, er habe eines seiner Augen verloren, als er durch einen Türspalt spähend den Gott (Jupiter) in Gestalt einer Schlange in seines Weibes Armen liegen sah. Nach Erathosthenes soll Olympias insgeheim dem Alexander das Geheimnis seiner Geburt enthüllt und ihn ermahnt haben, sich in einer seiner göttlichen Herkunft würdigen Art aufzuführen.«
Das »Jupitertum« Alexanders wird durch diese Geschichte auf eine ganz andere Ebene gerückt. Es hat nichts mit der tollen, durch die überschwänglichen Komplimente der Orientalen aufgepeitschte Eitelkeit zu tun, die manche Kommentatoren ihm zuschreiben. Erstens wird die Ursache außerhalb seiner selbst in das Zusammenwirken von Philipp und Olympias gelegt; zweitens liegt ihr Ursprung – die erfinderischen Freudianer von Schlange und Donnerkeil würden ihn näher zu bezeichnen wissen – irgendwo in den Beziehungen jener beiden zu Beginn ihrer Entfremdung. Der Knabe glaubte an seine Göttlichkeit lang vor seiner Eroberung Persiens, womöglich lang ehe er auch nur diesen Gedanken faßte. Wie dem auch sei, Olympias wußte davon und mag diese Einbildung sehr wohl gepflegt, ja sie als besonderes Erziehungsmittel benutzt haben. Selbst wenn dies nicht der Fall gewesen wäre – Plutarch spricht sich darüber nur zögernd aus – so mußte doch die Umgebung, in der der Knabe an seiner Mutter Seite lebte, jene Vorstellung bekräftigen. Diese leidenschaftliche Mutter und haßerfüllte Gattin lebte als Primitive und Anhängerin des Orpheus in einer mit Gottheiten bevölkerten Welt. Die ersten Worte, die ihr Adeptentum ihn lehrte, lauteten: »Ich bin ein Sohn der Erde und des Himmels.« Die letzten Worte, geprägt auf den Amuletten, die man den toten Jüngern in die Hände legte, lauteten: »Ich bin hinausgeströmt aus dem Kreislauf des Lebens.« Und: »O Glücklicher, Gesegneter, du hast deine Unsterblichkeit abgelegt und sollst zum Gotte werden.«
Getrennt von dem Problem der Entstehung und Entfaltung dieses Jupiterglaubens steht die praktische Frage seines Einflusses auf Alexanders persönliche Entwickelung. Als psychologischer Faktor hat er bei den unerhörten Taten, die der Held vollbringen sollte, zweifellos mitgewirkt. In ihm wurzelt zum Beispiel Alexanders Rebellion gegen die Persönlichkeit des Vaters. Er war jetzt imstande, sich gegen die härteste geistige Belastung, die die Söhne großer Männer trifft, zu stählen: gegen das Erbteil seines Vaters und gegen den inneren und äußeren Vorwurf, daß aus allen seinen Handlungen doch nur das väterliche Blut spräche. Mit Hilfe der Welt seiner Mutter samt ihrer Wunder und Mysterien hatte er sich überredet, an jene mächtige Fiktion zu glauben; jetzt erschloß sie ihm eine fast unübersehbare Fülle von Vorteilen. Verstünde ein neuer William James die pragmatische Lüge zu feiern, der warmblütige Mephistopheles-Mensch würde sich von der kärglichen Wahrheit der stattlichen Fiktion zuwenden, die all unsere sozialen Einrichtungen, ja selbst die Romantik unseres Privatlebens geschaffen hat. Ihre Gegenwart allein ist das verborgene Geheimnis jeglichen Glücks, wenn nicht jeglichen Erfolges, ihre Flucht ein hinreichender Grund zu jeglichem gesunden Selbstmord. Alexander hielt sich für einen Gott und eroberte die ganze zivilisierte Welt, um schließlich auf seinem Thron als Gott angebetet zu werden; hätte er sich damit begnügt, ein Held zu sein, wäre er nie so weit gekommen. Und Aristoteles? Der »Vater derer, die da wissen«, der Genius der Sachlichkeit, den Philipp im bildsamsten Alter als Widerpart der Zauberin-Mutter aufstellte? Es ist Zeit, den Einfluß eines solchen Lehrers zu prüfen. Das Experiment, einen Großen durch einen Großen zu bilden, ist stets eine Enttäuschung, aber verläuft es auch nicht positiv, so dient es doch als Korrektivum. Der kluge Mazedonier war anscheinend nicht sonderlich bemüht, dem Knaben die Schulweisheit mit Löffeln einzutrichtern. Er ließ bei des Aristoteles Ankunft einen philosophischen Garten nach angenehmsten Athener Muster anlegen mit grasbewachsenen, von seltenen Bäumen beschatteten Wegen, Steinbänken und Terrassen, wo nach der Tageshitze diskutiert und unterrichtet werden konnte. Spürte Alexander Lust dazu, so ging er hier spazieren und stellte Fragen. Seine früheren Lehrer waren ein grotesker Höfling namens Leonidas und ein noch burleskerer Sohn des Landes, Lysimachus; mit oder trotz ihrer Hilfe hatte er die Ilias lieben gelernt. Aristoteles setzte er mit der Feierlichkeit eines Vierzehnjährigen auseinander, sie sei eine immer bereite Schatzkammer militärischen Wissens. Aristoteles stimmte zu und schenkte ihm ein korrigiertes und mit eigenen Anmerkungen versehenes Exemplar, das Alexander später auf allen Feldzügen mit sich führte. Ferner zeigte der Jüngling eine sprunghafte Begeisterung für Metaphysik. In späteren Jahren machte er Aristoteles den Vorwurf, »die geheimen Teile der Logik« der gemeinen Menge enthüllt zu haben, genau wie seine Mutter einen religiösen Lehrer getadelt hätte, würde er die Geheimnisse seiner Loge verraten haben. Trotzdem lernte der jugendliche Gott die Philosophen und sogar die Dichter achten, obwohl letzteres nicht in Aristoteles' Interesse lag. Auf einem höchst sonderbaren Gebiet, dem der medizinischen Botanik, verstand er des Knaben Geist zu fesseln. Alexander war vermutlich enttäuscht, daß sein Lehrer ihm so gut wie nichts über die magischen Kräfte der Pflanzen: über den Schrei der Alraune, den antidämonischen Duft der Verbenen, die Heilwirkung des bei Vollmond gesammelten Ysop zu sagen wußte, aber er fand Entzücken auch an den nüchternen Berichten des ersten Wissenschaftlers seiner Zeit und wählte das Brauen von Tees und Tränken sowie das Herumdoktern an seinen Freunden zu seinem lebenslänglichen Steckenpferd.
Ein geringerer Philosoph würde wahrscheinlich versucht und es vielleicht auch erreicht haben, die beiden gewaltigen, von Olympias übernommenen Ideen: der Unpatriotismus der Mysterien und den schicksalhaft vorwärtstreibenden Jupiterglauben aus Alexander zu verdrängen. Da Aristoteles aber Aristoteles war, wird sein Standpunkt vermutlich weniger einfach gewesen sein. Er muß vielmehr mit Schrecken erkannt haben, daß dieser unbändige Prinz, nachdem er mit seiner tollen Mutter Gott weiß wieviele Meilen schmaler verbotener Steige des Gedankens erklettert hatte, nun nicht auf dem Gipfelpunkt des Unsinns, sondern auf den steilen Höhen eigenster aristotelischer Lehren angelangt war, auf denen es auch dem Philosophen trotz der Stütze seiner Logik mitunter schwindelte. Der Traum Alexanders von einem zu schaffenden Reich, in welchem Völker, Städte und Stämme lediglich von einem Gottmenschen regierte Elemente waren, ist nichts weiter als ein klarer Folgesatz der äußersten, fast esoterischen Grenze der aristotelischen politischen Doktrin: nämlich, daß der wahre König ein Gott unter den Menschen sei und an Vaterland oder Gesetz so wenig gebunden wie Zeus selbst, »da er ja in sich das Gesetz verkörpert«.
So verbindet sich in Alexanders Erziehung ein Element dem anderen; jeder Faktor trug dazu bei, den größten, nahezu unerreichbaren Vorteil zu verwirklichen, der einem so unternehmungshungrigen Menschen zuteil werden kann: Einheit des Willens. Diese allein vermag, bar jedes Widerspruchs, Großes zu schaffen. Jetzt galt es nur noch, den Willen zu lenken, und auch hier war Alexanders Schicksal ihm eindeutig hold. Jedes Ziel, mit Ausnahme des einen, war ihm durch die nach allen Seiten um sich greifende Persönlichkeit seines Vaters versperrt. Unmöglich konnte der Gott-Jüngling sich damit zufrieden geben, ein herrlicher König, der Führer Griechenlands zu werden. Volkstümlichkeit, Macht, Staatsweisheit: alle diese Dinge waren seinem Vater geworden, Alexanders Willen konzentrierte sich daher auf die Notwendigkeit, ihn zu übertreffen. Ein Ziel allein war übriggeblieben und dank seiner Größe und Unerreichbarkeit dem Ehrgeiz, ja dem universellen Erfolg Philipps entglitten. Die Eroberung des Achaemenischen Reichs durch einen Griechen konnte in der Fantasie eines Sterblichen nicht auftauchen; dem Knaben aber, der sich, noch als er einen halblangen Speer schwang, für einen Gott hielt, erschien der Plan einfach und unausweichlich. So wie seine Erziehung seinen Willen vereinheitlichte, so trieben ihn auch die inneren und äußeren Lebensbedingungen diesem einen Unternehmen in die Arme. Nicht um der Mazedonier, noch weniger um der Griechen willen – ein einheitlicher Wille ist gleichbedeutend mit einheitlichem Egoismus – nein, lediglich sich selbst zuliebe.
Als geographischer Begriff bedeutete dieser ungeheure Gegner oder Preis insofern die Welt, als er ihr Herz, die Nabe dreier alter Erdteile darstellte. In seiner größten Ausdehnung umfaßte er das europäische Thrazien. Seine Herrscher hatten sich die Wasser von Donau, Nil und Indus in ihren Palast bringen und als Symbol ihres Besitzes in einem Becher mischen lassen. Die alten Namen für seine Teilstaaten geben ein besseres Bild seiner Macht; denn heute ist selbst die Erinnerung an ihre einstige Fruchtbarkeit Persien, Palästina, Afghanistan, Kleinasien und dem Irak verlorengegangen. Das damalige Reich hatte die Länder seiner erhabenen Vorgänger: Ägypten, Babylon, Assyrien, das Gebiet der Karer, Lydier, Phryger, der Armenier, Juden, Hyrkanier, Parther, Baktrier und vieler anderer samt ihren Hauptstädten, Göttern und Schätzen aufgesogen. Es erstreckte sich vom oberen Nil bis zum Indus, von Samarkand bis jenseits Babylon und vom Kaspischen bis zum Roten Meer. Es war die größte sichtbare Macht, die die Welt je gekannt hat. An Stärke, Reichtum und Stabilität läßt sie sich mit jedem Land der Geschichte, ausgenommen allein mit den Staaten unseres eigenen übersättigten Jahrhunderts vergleichen. Hunderte von Jahren vor Alexanders Geburt hatte eine unzählbare Bevölkerung sich innerhalb seiner Grenzen einer größeren Sicherheit und eines fruchtbareren Friedens erfreut, als je vorher auf dieser Erde existiert hatten. Es war eine Oase zivilisierten Herrschertums und wußte nichts von dem im Werden begriffenen China jenseits der nordöstlichen Wüste, nichts von den schwachen, unendlich zersplitterten brahmanischen Königreichen südöstlich seiner Berggrenzen. Auf seinen Strafexpeditionen – es war viel zu mächtig, um Krieg zu führen – vermochte es nach den Berichten des Xerxes eine Million Soldaten mit hundert verschiedenen Sprachen und Kampfarten ins Feld zu stellen und über Tausende von Meilen zu befördern.
Ein Hauch der Ehrfurcht und des Bedauerns, stärker selbst als Rom oder das alte Ägypten ihn auszulösen vermögen, erfaßt auch heute noch Dichter und Historiker angesichts der Spuren seiner Ruinen. Wir müssen uns ein Bild aus den Büchern seiner skrupellosen Feinde erwecken, der im Siege stets kleinlichen Griechen und der Juden, die alle Menschen außer sich selbst haßten. Trotzdem erscheint dieses Reich auch in ihren Berichten als gewaltiges, wundervolles Gebilde. Seine Herrscher waren schön und human, seine Gesetze ihrer Objektivität und Duldsamkeit wegen berühmt; sein Reichtum aber war ungeheuer, und Reichtum ist des Menschen Wertmesser für Staaten. Über die Welt, in die Confucius, Buddha und Plato hineingeboren wurden, warf es den Schatten der größten sozialen Leistung der Menschheit, eine Verwirklichung des goldenen Zeitalters. Mir, der ich jenseits einer unüberbrückbaren Kluft zurückschaue, will es scheinen, daß es die vielversprechendste aller zivilisatorischen Schöpfungen war. Hätte es auch nur einige hundert Jahre noch weiterbestanden, Europa und Asien wären die langen, stagnierenden Jahrhunderte der Trennung erspart geblieben.
Neben diesem Koloß, der sich weit über die Meerengen vorbeugte, wirkte Griechenland etwa wie das Volk Israel neben dem pharaonischen Ägypten. Dieser kleine Wespenstaat verdankte seine Bedeutung seiner Intelligenz, nicht seiner Macht. Seine Einwohner waren ein zähes Grenzvolk, das man zwar niemals verachten, häufig jedoch vergessen durfte. Dem mächtigen persischen Oberherrn im Innern des Landes war der griechische Soldat eine bekanntere und auch geachtetere Erscheinung als der griechische Künstler oder Philosoph. Tausende von Griechen verdingten sich an das Reich als Söldner, um sich dort anzusiedeln und von ihm aufgesogen zu werden. Man achtete ihre Religion, die fremden Gesetze waren leicht und galten für alle, der Sold wurde pünktlich und reichlich ausbezahlt. Diese schönen, aufbrausenden, blonden Kriegsknechte, die je nach Heimatstadt oder Stand mit Speer, Schwert oder Axt fochten, waren wohl die intelligentesten Soldaten, die die Welt je gesehen. Mögen auch Religion oder Unterdrückung Analphabeten und Tölpel gelegentlich in Todesmutige umwandeln, des Berufssoldaten Wert wird nach seinem Kopfe gemessen. Auf entlegenen Märkten wie Belutschistan oder in dem bewässerten Paradiese hinter Babylon waren diese Sparter, Athener, Inselgriechen und Mazedonier, die zwischen den schwarzwangigen, finsterblickenden medischen Bogenschützen einherstolzierten, den Weibern ein gewohnter Anblick, und von allen Rassen, die, Halbgöttern ähnlich, unter dem Zepter des Großkönigs stritten, disputierten und fochten, waren sie die lebendigsten.
Von den Zurückgekehrten und von dem Enzyklopädisten Aristoteles ließ sich der eifrig lauschende Alexander die Wunder Persiens schildern. In seinem fünfzehnten Lebensjahr begann sein Vater voll Sorgen und Umsicht die gefährliche Krönung seiner Laufbahn, einen Überfall auf die gegenüberliegenden Küstenhäfen des Reichs, vorzubereiten. Die Berichte der Späher häuften sich in den Archiven, und aus ihnen vermochte Alexander nach Belieben feierliche Tatsachen über den insgeheim erkorenen Gegner zu erfahren: Namen und Temperament der verschiedenen Statthalter, Entfernungen, Straßen und Besatzungen. Wahrscheinlich jedoch interessierten ihn die bunten Erzählungen der heimgekehrten Söldner, ja selbst die philosophischen Gedankengänge seines Lehrers mehr. Wir besitzen keine Beweise, daß Alexander seine Eroberung tatsächlich so plante, wie Philipp auch nur seinen Streifzug. Das eine war ein wohlüberlegtes Unternehmen, das andere ein Abenteuer, welches durch andere als rein geistige Vorbereitungen nur aufgehalten worden wäre. Ein Abenteuer kennt keine Verbindungslinien.
Indes hätte Alexander ohne das eine Werk Philipps: die mazedonische Armee, nichts ausrichten können. Dieser Körper ist der medischen Kavallerie des Cyrus, den Janitscharen des Sultans und den Kriegern Gustav Adolfs an die Seite gestellt worden. Sein Herz war die mazedonische Bauernschaft, die »Fußgefährten« oder pezetairoi, eine lose, in bronzener Rüstung steckende und mit der »Sarissa«, der mächtigen, vierzehn Fuß langen mazedonischen Pike bewaffnete Phalanx. Sie hatte eine lockere Anordnung und eine ungleich stärkere Beweglichkeit im Felde, die sich nur durch eine Disziplin, hart und doch elastisch wie Stahl, ermöglichen ließ. So war sie in jeder Schlacht der sonst unübertrefflichen griechischen Phalanx überlegen. Ein Trabant dieses Körpers war die königliche Leibgarde. Dieses Korps war leichter bewaffnet und setzte sich aus Freibauern zusammen, welche Beinschienen aus polierter Silberbronze, Helme, Piken und Schilde trugen. Aus ihnen wiederum hatte Philipp einen Sturmtrupp von tausend Mann gewählt, der auf jedem Terrain, regelrechte Landstraßen ausgenommen, flinker als selbst die Kavallerie war.
Diese mazedonische Kavallerie bestand in der Hauptsache aus verarmten, arroganten, leichtsinnigen Landadeligen: ein Material, würdig Philipps Genius als psychologischer Lebensbildner. Die Quintessenz all ihrer brauchbaren Fehler und Vorzüge hatte er in der gefürchteten Schwadron der »Königsgefährten«, »die letzte Abwehr und das Haupt des Angriffs« zusammengefaßt. In sie trat Alexander ein, sobald er das vorschriftsmäßige Schwert schwingen konnte.
Es ist nicht anzunehmen, daß Alexander seinem Vater gegenüber etwas von seinen Absichten verlauten ließ. Hätte er das getan, der Veteran würde seine Pläne als Geschwätz beiseite geschoben haben. Eine natürlich anmutende Anekdote Plutarchs beleuchtet um diese Zeit sowohl den großen Respekt, den Alexander dem Reich entgegenbrachte, wie auch die bitteren und verwickelten Familienverhältnisse, unter denen sein Leben sich abspielte. »Pexodorus, der persische Statthalter von Karien (einer kleinen Provinz im Südwestzipfel Kleinasiens südlich von Ephesus und Smyrna), wünschte Philipp durch Verschwägerung ihrer Familien zu einem Defensiv- und Offensivbündnis zu bewegen und bot seine älteste Tochter dem Aridaeus, einem Sohn Philipps (und Halbbruder Alexanders) zum Weibe an. Er schickte Aristokrates nach Mazedonien, um darüber zu verhandeln. Da aber flüsterten ein Freund Alexanders und seine Mutter Olympias dem Prinzen die völlig unbegründete Furcht ein, Philipp könne dank seiner vornehmen und mächtigen Verbindung Aridaeus die Krone zusprechen.« Wenn aber die Aussicht auf eine Heirat mit einem Familienmitglied eines der untergeordneten Beamten des Großkönigs ihn so aufzubringen vermochte, wie muß dann erst seine nüchterne Einschätzung der ungeheuren Macht des Reiches gewesen sein?
Wir wissen nur wenig über jene Entwicklungszeit. Als Alexander sechzehn Jahre alt war, nahm er an einem Bergscharmützel teil. Im folgenden Jahr führte er die Attacke der »Königsgefährten«, die die »heilige Schar« zu Chaeronea zerriß. Es war Philipps letzte große Schlacht. Im neunzehnten Lebensjahr Alexanders nahm das Familiendrama eine neue Wendung. Olympias kam in den Verdacht, dem jungen Aridaeus ein Gift eingeflößt zu haben, das ihn aus »einem stolzen, hochfahrenden Geist« in einen Halbidioten verwandelte. Deswegen und ohne Zweifel auch wegen ihres Alters und Temperaments beschloß Philipp, sie zu verstoßen und Cleopatra, eine der Schönheiten seines Hofs, zu heiraten.
»Bei der Hochzeitsfeier forderte Cleopatras Oheim, Attalus, die Mazedonier auf, die Götter anzuflehen, daß aus dieser Ehe ein gesetzlicher Thronerbe hervorgehen möge. Aufgebracht erwiderte Alexander: ›Hältst du mich für einen Bastard?‹ und warf ihm seinen Becher an den Kopf. Hierauf erhob sich Philipp und zog sein Schwert, zum Glück jedoch für beide brachten ihn sein Zorn und der Wein, den er getrunken, zum Stolpern und er schlug lang hin, Alexander machte sich auf freche Art diesen Umstand zunütze und sagte: ›Männer von Mazedonien, seht hier diesen Mann, der sich von Europa nach Asien begeben will. Dabei ist er nicht einmal imstande, ohne zu fallen, von einem Tisch zum andern zu gehen‹.«
Philipp hatte nicht mehr lange zu leben. Wir wissen nicht, ob Alexander bei seiner Ermordung mitwirkte, aber es ist bewiesen, daß er aus ihr Nutzen zog, und daß die theologische Schlangenbändigerin, seine Mutter Olympias, den namenlosen Häscher dingte, der zwei Jahre später am Schluß eines Gelages Philipp erdolchte. Die Weiber von Epirus waren ungemein gefährlich.
Endlich, endlich – er war erst zwanzig Jahre alt, aber er hatte eine Ewigkeit warten müssen – besaß also der Gott-Jüngling eine Armee, das einzige königliche Erbteil, das ihn interessierte. In der Tat war sonst nur wenig von Philipps Schätzen übriggeblieben. Die Führerschaft über ganz Griechenland, das geordnete Reich, das Geld: alles schmolz schon in den ersten Tagen dahin. Ein plötzlicher Aufstand, von den Stadtstaaten im Süden bis zu den Bergvölkern des Nordens, spaltete das Gebilde, an dem Philipp ein Leben lang gearbeitet hatte, in zwei Teile. Die Armee, drei, vier alte Generale, Parmenio, Perdiccas und der intimere Kreis junger Lebemänner wie Hephästion, Clitus, Craterus und Ptolemäus, sowie die mürrische, nicht vielversprechende Treue der alten Staatsbeamten war alles, womit Alexander rechnen konnte. Es genügte jedoch. In den nun folgenden Ereignissen stellt das Wunder seiner stürmenden Ungeduld selbst die Erinnerung an seine phantastischen Taten in den Schatten. Sein einziges Gefühl gegen die Rebellion, die vielleicht gefährlicher war als alles, was seinen genialen Vater bedroht hatte, war weder Furcht noch Zorn, sondern eine elementare, durch den Aufschub geweckte, leidenschaftliche Energie. Zuerst packte er das Unternehmen am falschen Ende an. Statt die organisierten Heere der griechischen Stadtstaaten zu stellen, wandte er sich nordwärts, um die aufsässigen Bergbewohner aus ihrer Heide auszuräuchern. Den Römern und nach ihnen den Türken ist es trotz all ihrer Mittel nicht gelungen, dieses Balkanwespennest zu säubern. Alexander machte in Monatsfrist dem Widerstand ein Ende. Seine Phalangen erzwangen den Schipkapaß. Seine Kavallerie schwärmte von der Marschlinie aus gleich den Speichen eines Rades und erstürmte die Engpässe, während er in einer Zickzacklinie Feuer und Verderben säte, als hätte er eine Herde wilder Schafe und nicht die hartnäckigsten Rebellen der Welt auf ihrem eigenen Grund und Boden vor sich.