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Dieses Buch wäre ohne die Corona-Pandemie niemals entstanden. Und auch wenn die Bedrohung vorüber zu sein scheint, sind Furcht und Unsicherheit noch immer spürbar. Gegen diese Furcht und für die Hoffnung kämpfen Tana und Achan in der Geschichte vom Wind Anoroc.
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Seitenzahl: 121
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Christina Maria lebt zusammen mit ihrer Familie auf dem ehemaligen Bauernhof der Schwiegereltern, in einem kleinen Dorf im Wendland. Neben dem Schreiben ist sie auch noch als Malerin und Bodypainterin tätig. Ihre Arbeiten stellt sie unter anderem jedes Jahr während der Kulturellen Landpartie auf dem heimischen Hof aus.
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Im BoD Verlag sind bereits erschienen:
„Wandelröschens Worte“ (Roman)
„Himmelskind und Wolkenwunder“ (Gedichte)
„Von Wölfen, Fledermäusen und Menschenkindern oder die Geschichte einer Suche“ (Kinderbuch)
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Für alle, die um einen geliebten Menschen leiden!
„In den schweren Zeiten offenbart sich der Charakter eines Menschen.“
Der Anfang
Die Geschichte
Das Ende
Er hatte endgültig genug. Seine Geduld mit den Menschen war restlos erschöpft. Was hatte er nicht alles versucht, um sie zur Vernunft zu bringen. Sie nannten ihn Jörd Anda, Geist der Erde. Doch er war mehr als das, viel mehr. Er war der Anfang und das Ende von Allem. Weit über Himmel und Erde hinaus. So gewaltig und doch so ohnmächtig angesichts der wachsenden Zerstörung und der Unvernunft der Menschen. Es war ein Fehler gewesen, ihnen den freien Willen zu lassen.
Doch er würde ihnen zeigen, wohin dieser Wahnsinn sie alle gebracht hatte. Er hob seine Stimme und rief den Wind Anoroc herbei.
Der April brach an, die Bäume streckten ihre Blütenknospen gen Himmel, die Sonne schien von einem blauen Himmel herab und die Vögel zwitscherten und sangen ihre Lieder in die Welt hinaus.
Doch Niemand freute sich in diesem Jahr über das schöne Wetter und den Frühlingsanbruch. Dafür waren die Zeiten zu schwer. Seit über vier Monaten befand sich die Welt nun schon im Ausnahmezustand. Trotz des schönen Wetters brauste ein seltsamer Wind durch die Lande. Er kam und ging ganz plötzlich, doch stets hinterließ er Elend und Trauer, denn Jene, die er berührte, erstarrten zu Stein. Es dauerte eine ganze Weile, bis die Menschen begriffen, dass er nur da erschien, wo man sich berührte. Wenn Nachbarn sich die Hände schüttelten, begannen die Blätter zu rauschen, der Himmel verdunkelte sich und kein Wort drang durch das Gebrüll des Sturms. Nach wenigen Augenblicken war der Spuk vorüber, doch dort, wo eben noch lebendige Wesen gestanden hatten, war nichts als kalter Stein.
Als dieses Wissen endlich auch zum letzten Kind durchgedrungen war, erließen die Regierenden strenge Regeln. Man durfte nur noch mit der eigenen Familie engeren Kontakt haben und selbst da durften keine Berührungen ausgetauscht werden. Seltsamerweise blieben nur die Neugeborenen und Kleinkinder verschont. Wenn ihre Mütter oder Väter sie auf den Arm nahmen, geschah gar nichts.
Es dauerte nicht lange und es machte sich Unzufriedenheit und Unmut im Volk breit. Einige gaben den Regierenden die Schuld. Sie versuchten, sich gegen die strengen Gesetze aufzulehnen, und glaubten sich erhaben über die Folgen ihres Handelns. Doch so brachten sie großes Unheil über ihre Familien und Freunde. Mehr und mehr erstarrten und bald entstanden ganze Wälder und Landschaften aus den Versteinerten. Je nach Wesensart und Charakter fanden sich Skulpturen aus ganz unterschiedlichem Gestein. Von Granit und Sandstein, über Basalt und Anthrazit, selbst Edelsteine wie Amethyst, Rubin und Achat sah man dort. Zu jeder anderen Zeit hätte der Anblick solcher Kostbarkeiten Gier und Habsucht geweckt, doch in diesen Zeiten sorgte er bei den meisten Menschen nur für namenloses Entsetzen. Der Wind machte keine Unterschiede, das war das einzig Gute, was sich über ihn sagen ließ. Er traf Könige, ebenso wie arme Tagelöhner. Es gab nur einen Weg, sich selbst und seine Lieben vor diesem schrecklichen Schicksal zu beschützen. Alle mussten Abstand zueinanderhalten, selbst Eltern durften ihre größeren Kinder nicht mehr in die Arme schließen und wo früher ein Handschlag oder eine kleine Berührung selbstverständlich waren, herrschte nun furchtbare Leere. Nur wenigen war bereits bewusst gewesen, wie sehr diese Zuneigungsbekundungen fehlen würden. Doch nun sahen auch die Letzten ein, welch schrecklichen Preis Jeder bezahlen musste, der nicht dem Wind zum Opfer fallen wollte.
Besonders schwer war es für die Ältesten. Viele von ihnen konnten sich ohne fremde Hilfe draußen nicht bewegen und so blieben sie allein und isoliert drinnen. Wenn dort einer hinfiel, konnte ihm niemand helfen und so verstarben etliche Alte einsam und verlassen in ihren Häusern.
Es gab jedoch Jene, die unabhängig von ihrer eigenen Sicherheit versuchten, dort zu helfen, wo es am dringendsten bedurfte. So brachten sie Lebensmittel zu den Alten und Kranken oder spendeten Trost denen, die am meisten litten. Emsig versuchten sie im Kleinen, dem Fluch zu trotzen. Andere wiederum verbarrikadierten sich mit ihrem Hab und Gut hinter hohen Zäunen. Verschlossen sich vor jedem Mitgefühl und achteten nur auf ihr eigenes Befinden. Es war, wie es immer schon gewesen war. In Zeiten der Not wurden die Guten noch besser und die Selbstsüchtigen noch selbstsüchtiger.
Ein paar Monate lang versuchten sich die Menschen, so gut es eben ging, in dieser neuen Situation zurechtzufinden. Doch nach und nach geschah es, dass es auch Versteinerungen gab, ohne dass ihr eine Berührung vorausgegangen wäre. Viele gerieten dadurch in Panik. Bislang hatten sie sich in der trügerischen Gewissheit geglaubt, wenn auf jede Berührung verzichtet würde, wären sie in Sicherheit. Die Ersten begannen die Hoffnung zu verlieren und je weiter Hoffnung und Glaube in den Menschenherzen nachließen, desto eher erstarrten sie. Es geschah schleichend und langsam, anders als bei der eisigen Umarmung des Windes. Doch der Wald aus Versteinerten wuchs mit jedem Tag. Das Ende der Welt schien nahe und Niemand wusste Rat.
In einem kleinen idyllischen Dorf gab es eine Familie, die sich aufs Innigste liebte. Die Eltern lebten glücklich mit ihren beiden Kindern. Zumindest waren sie glücklich, bis der Fluch die Welt traf. Nun mussten die Kinder mit ansehen, wie ihre Eltern mit jedem Tag mehr ihre Menschlichkeit einbüßten. Instinktiv wussten sie, dass ihre Mutter und ihr Vater die Hoffnung aufgegeben hatten. Sie glaubten nicht mehr daran, dass es noch einmal besser werden würde. Mit Hunger und Krieg war die Menschheit schon vom Anbeginn der Zeit an konfrontiert gewesen, doch dieser Feind war nicht angreifbar und einfach übermächtig. Um seine Liebsten zu schützen, musste man sich von ihnen zurückziehen. Es gab keine andere Möglichkeit Trost zu spenden, als durch Worte. Kein Mund erblühte mehr unter einem Kuss, keine Liebesbeteuerung wurde mehr durch eine zärtliche Geste unterstrichen und kein Herz erwärmte sich durch eine Umarmung. Die Welt war einsam und kalt geworden. Und es gab nichts, was man dagegen hätte tun können.
Unter der Last dieser Erkenntnis begann zuerst die Mutter der Geschwister zusammenzubrechen und bald auch ihr Vater. Es begann ganz harmlos mit einem leichten Hinken, doch schon nach Kurzem konnte die Mutter das Bett nicht mehr verlassen. Es war allen bewusst, dass ihnen nicht mehr viel gemeinsame Zeit blieb.
An einem warmen Nachmittag saß die Jüngere der Geschwister, Tana, am Ufer des Flusses und weinte bittere Tränen. Sie hatte das Gefühl, ihr Herz würde bluten. So weh tat der Gedanke daran, dass sie nun sehr bald ihre Eltern verlieren würde. Dann bliebe ihr nur noch ihr großer Bruder, Achan. Doch was, wenn auch er eines Tages dem Fluch erlag? Gewiss, er war stark und klug und mutig, doch auch die Stärksten waren nicht mehr sicher. Tana schluchzte so herzzerreißend und schniefte so laut in ihre Schürze, dass sie zunächst gar nicht wahrnahm, dass sie nicht mehr alleine war. Am gegenüberliegenden Ufer war ein alter Mann erschienen. Er trug zerschlissene Kleidung und sein grauer Bart hing ihm bis über die Brust hinab. Das, was von seinem Gesicht zu sehen war, blickte mitleidig auf das weinende Mädchen herab. Erst als er sie direkt ansprach, schrak Tana zusammen und sah auf. Direkt in die warmen braunen Augen des Alten. Fragend blickten diese sie an.
„Warum weinst du so steinerweichend?“
Tana holte tief Luft, um sich zu beruhigen. Dann besah sie sich ihr Gegenüber etwas genauer. Sie kannte diesen Mann. Hatte ihn schon ein paar Mal auf dem Markt gesehen, als sie in glücklicheren Tagen mit ihrer Mutter dort gewesen war. Er hatte aus einem Weidenkorb Gewürze und Heilpflanzen verkauft. Und da fiel ihr auch wieder ein, wie ihre Mutter ihr erklärt hatte, dass er ein alter Eremit war. Also Jemand, der einsam und völlig zurückgezogen von allen Menschen lebte. Nur alle paar Monate kam er in den Ort, um sich mit den Dingen zu versorgen, die er nicht im Wald fand. Bei diesen Gelegenheiten bot er seine Pflanzen an, die besonders die Hebamme und der Heiler sehr zu schätzen wussten. Sein Name war Talun, die meisten Bürger belächelten ihn und hielten Abstand. Er war ihnen nicht geheuer.
Tanas Mutter jedoch hatte gern bei ihm ihre Gewürzkräuter gekauft und dabei stets ein freundliches Gespräch mit ihm geführt. Sie mochte den alten Mann und ärgerte sich über die Dorfbewohner, die mit dem Finger auf ihn zeigten. Sie hatte ihren Kindern erklärt, dass viele Menschen jenes ablehnten und verachteten, dass sie nicht verstanden oder ihnen einfach fremd war.
Nur Wenige verstanden, wie man sich freiwillig so weit von der Welt zurückziehen konnte, um ganz alleine zu leben.
All dies fiel Tana wieder ein, während sie Talun ins Gesicht starrte. Geduldig wartete der Alte, bis dem Mädchen einfiel, wie unhöflich es war, Jemanden so anzustarren. Eine tiefe Röte kroch ihr die Wangen hoch und verlegen wandte sie den Blick ab. Doch Talun lachte nur und ließ sich auf einem Felsblock nieder.
„Hallo Tana, also warum hast du so bitterlich geweint?“
Sie waren nun auf einer Augenhöhe, doch immer noch lag der Fluss zwischen ihnen. Sie musste sich anstrengen, um seine Worte über das Murmeln des Wassers hinweg überhaupt verstehen zu können.
„Meine Eltern, sie haben die Hoffnung verloren und nun werden auch sie langsam zu Stein. Ich habe solche Angst! Was sollen wir nur ohne sie machen? Und was, wenn es auch meinen Bruder Achan trifft? Dann wäre ich ganz alleine.“ Bei diesen Worten waren dem Mädchen abermals dicke Tränen aus den Augen gequollen. Ein Beben lief durch ihren Körper und mitleidig betrachtete der alte Mann das Kind vor ihm.
„Na, na nun mal langsam! Hast du denn schon Anzeichen bemerkt, dass auch Achan dem Fluch zum Opfer fällt?“
Stumm schüttelte Tana den Kopf.
„Na siehst du. Weißt du, es hat wenig Sinn, sich Gedanken über etwas zu machen, dass noch gar nicht passiert. Besonders wenn es auch so schon genug gibt, über das man sich Sorgen machen muss. Dein Bruder ist doch ein kluger und starker Junge. Ich glaube nicht, dass er leichte Beute für diesen Fluch sein wird.“
Das Mädchen wischte sich mit der Hand über die Augen und seufzte schwer.
„Ach wenn es doch nur eine Möglichkeit gäbe, dem allen ein Ende zu bereiten. Aber so scheint es nur immer noch schlimmer zu werden und es gibt Niemanden, den man um Rat fragen könnte.“
Nachdenklich verfielen die Beiden in Schweigen. Nach einer kleinen Weile betrachtete Talun das Mädchen, dann holte er tief Luft und sagte zögerlich:
„Nun, vielleicht gibt es da doch Jemanden.
Aber ich bin mir ehrlich gesagt nicht sicher, ob ich dir wirklich davon erzählen sollte. Du bist fast noch ein Kind und dein Bruder steht gerade mal an der Schwelle zum Mann. Ich mag deine Eltern sehr und besonders deine Mutter ist eine kluge und gütige Frau. Es tut mir sehr leid, dass auch sie nun diesem Schicksal erliegen sollen.“
Unwillkürlich hatte Tana sich aufrechter hingesetzt und blickte dem Alten nun direkt in die Augen.
„Bitte Talun, wenn es auch nur einen winzigen Hoffnungsschimmer gibt, erzähl mir davon! Bald wird keiner mehr übrig sein, außer uns Kindern. Ich würde alles tun, um meine Eltern zu retten, um unser früheres Leben zurückzubekommen. Koste es, was es wolle!“
Der Einsiedler sah nachdenklich in Tanas glühendes Gesicht. Er konnte ihre Entschlossenheit beinah mit den Händen greifen und er spürte eine unnachgiebige Stärke in diesem Mädchen. Vielleicht bestand sogar der Hauch einer Möglichkeit, dass sie es schaffen konnte. Vielleicht würde sie es auf diesem Weg weiterbringen, als er es jemals zu hoffen gewagt hätte.“
Er rieb sich über das Gesicht und holte tief Luft, dann begann er zu erzählen.
„Hör zu, es gibt eine Geschichte, eine Legende von einer Priesterin, die mitten im Gebirge leben soll. Nahezu unerreichbar für die Menschen. Sie selbst ist nur zu einem kleinen Teil menschlich. Gerade so viel, um sich in den menschlichen Geist hineinversetzen zu können. Seit Hunderten von Jahren jedoch, hat Niemand mehr es geschafft, sie aufzusuchen. Der Weg allein ist furchtbar gefährlich und auch, um ihren Rat zu ersuchen, ist nicht ohne Risiko. Man sagt, sie könne mitten ins Herz des Menschen sehen und sollte sie da etwas finden, das ihr nicht gefällt, kann es für den Suchenden böse enden. Aber es heißt auch, dass sie nahezu alles weiß, jedes Geheimnis kennt. Der große Geist der Erde, Jörd Anda selbst, hält Kontakt zu ihr und bittet sie hin und wieder sogar um einen Rat, wenn es um die Erdenbewohner geht. Wenn also Irgendjemand auf dieser Welt weiß, wie der Fluch aufzuhalten ist, dann ist es Sagarta, die mächtige Priesterin Jörd Andas. Das Problem ist nur, dass Niemand garantieren kann, dass sie am Ende auch wirklich existiert. Ich kannte mal Einen, der sich auf die Suche nach ihr machte, doch er ist nie zurückgekehrt. Vermutlich ist er in eine Schlucht gefallen oder wurde von einem der gefährlichen Gebirgsbewohner aufgefressen.“
Tana hatte mit großen Augen zugehört, doch bei Taluns letzten Worten war sie blass geworden.
„Was meinst du mit Gebirgsbewohnern? Ich dachte immer, es gäbe da nur ein paar Tiere!“
„Ja vielleicht sind es nur die Tiere, die für einen Menschen sehr gefährlich werden können. Wie auch immer, der Weg ist sehr gefährlich und es gibt Niemanden, der dir versprechen kann, dass es nicht umsonst sein mag. Vielleicht ist es einfach nichts weiter als eine gute Geschichte, die Großeltern ihren Enkeln erzählen, um sie von gefährlichen Ausflügen abzuhalten. Oder eine lang vergangene Erinnerung an eine Frau, die einst in den Bergen lebte. Weißt du Tana, Erinnerungen können zu Geschichten werden und Geschichten zu Legenden und am Ende kann Keiner mehr sagen, womit es mal begonnen hat. Vielleicht werde ich eines Tages selbst zu so einer Legende, der weise Alte, der allein im Wald überlebte. Wer weiß? Ich hätte dir das alles gar nicht erzählen sollen! Bitte vergiss es schnell wieder! Geh nach Hause zu deiner Familie und versuche, die Hoffnung nicht aufzugeben. Das ist im Moment der weiseste Rat, den ich dir geben kann.“
Mit diesen Worten erhob sich Talun, winkte dem Mädchen noch einmal über den Fluss hinweg zu und verschwand im dichten Unterholz.