Die Geschichte von "Dir" - Jez Alborough - E-Book

Die Geschichte von "Dir" E-Book

Jez Alborough

0,0

Beschreibung

"Leben jenseits der Persönlichkeit" ist der Titel einer Reihe spiritueller Bücher für Erwachsene des erfolgreichen englischen Kinderbuchautors Jez Alborough. Der erste Teil der Serie Die Geschichte von "Dir" ergründet, wie im Bewusstsein überhaupt so etwas wie eine Persönlichkeit entstehen kann, mit der man sich hernach identifiziert. In welche Gruppenpersönlichkeit integrieren wir uns im Laufe unseres Lebens? Welche Probleme bringt dies mit sich? Ist es möglich sich dieser Dynamik als Erwachsener zu entziehen? Jez Alborough meint, der bedingungslose Zustand des Bewusstseins, den Neugeborene und Kinder erfahren, sei mithilfe einer tiefgehenden Selbsterforschung auch Erwachsenen zugänglich. Im originalen Englisch wird diese Erforschung "enquiry" gennant. Die Bücher widmen sich dieser Erforschung, genau wie auch eine vom Autor angeleitete Gruppe, die sich wöchentlich trifft.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 453

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Anmerkungen

An dieser Stelle schreibt Jez Alborough im englischen Original im August 2018 in London einige Anmerkungen über seinen Sprachgebrauch. In diesem Buch werden gewisse Schlüsselbegriffe kursiv geschrieben; im englischen Original wird hierfür die Großschreibung benutzt, was aufgrund der Groß- und Kleinschreibung der deutschen Sprache nicht möglich ist. Wenn ein Wort daher kursiv geschrieben wird, kann das in diesem Text bedeuten, dass der Autor es auf seine bestimmte Art benutzt.

Begriffe bedeuten unterschiedlichen Menschen unterschiedliche Dinge; die Effektivität der Sprache hängt vom Konsens zwischen Sprecher und Zuhörer ab. Um dieses Material effektiv zu übermitteln, musste der Autor klar präzisieren, was er mit den Schlüsselwörtern im Rahmen dieser Erforschung meint. Sie werden mit ihrem Auftreten im Verlauf des Buches erklärt und zur einfachen Referenz auch im Glossar am Ende zusammengefasst. Ein Blick darauf empfiehlt sich auch vor der Lektüre.

Die Gespräche wurden editiert, damit sie klarer und einfacher zu lesen sind. Die persönlichen Merkmale von Menschen wurden aus Rücksicht auf ihre Privatsphäre unkenntlich gemacht.

Dankenswerterweise durfte ich als Übersetzer mit dem Autor bei der Erstellung des Textes eng zusammenarbeiten. Ich danke Jez Alborough dafür und für diese Bücher aus ganzem Herzen. Weiters danke ich Ruth Turin-Hellbach für ihre Assistenz im Aufbau des Textes und für das finale Lektorat sowie Michael Kobler für die Gestaltung dieses Buchs innen und außen. Allen dreien gilt mein Dank für unsere tiefgehenden Freundschaften.

MarkusWien und Linz im Jahr 2021

Meiner wunderbaren Frau gewidmet,

die so viel dieser Reise mit mir teilte

und deren Liebe und Unterstützung

ein wahrer Segen war.

Dank auch an meinen Freund Matthew

dessen bohrende Fragen

und scharfe redaktionelle Fähigkeiten

von unschätzbarem Wert

für die Erstellung dieser Bücher waren.

INHALT

EINLEITUNG

MEINE GESCHICHTE

PROLOG

ANFÄNGE

1 EINSSEIN

BEVOR SICH ENERGIE ALS ETWAS MANIFESTIERT, BEGINNT SIE ALS UNGETEILTE, POTENTIELLE ENERGIE DES GANZEN

2 DUALITÄT

WENN SICH EINHEIT ALS ZWEIHEIT MANIFESTIERT

3 DAS ABSOLUTE & DAS RELATIVE

DAS WECHSELSPIEL ZWEIER WIRKLICHKEITSEBENEN

DER NATÜRLICHE ZUSTAND

4 UNSERE URSPRÜNGLICHE BEZIEHUNG ZUM LEBEN

VOR JEGLICHER MENSCHLICHER BEZIEHUNG, IST UNSERE URSPRÜNGLICHE BEZIEHUNG MIT DEM LEBEN SELBST

5 SEIN

WIE SICH DIE URSPRÜNGLICHE BEZIEHUNG ZUM LEBEN IN EINER PERSON MANIFESTIERT

DIE WELT DER MENSCHEN

6 ÜBERLEBENDE

WIR SIND ALLE ÜBERLEBENDE, DIE DEN NATÜRLICHEN ZUSTAND VERLOREN HABEN

7 DIE GRUPPENPERSÖNLICHKEIT

WIE UNSERE SIPPE DIE ENTWICKLUNG DER PERSÖNLICHKEIT PRÄGT

8 DIE FAMILIE

IHRE ROLLE UND IHR EINFLUSS AUF DIE ENTWICKLUNG UNSERER PERSÖNLICHKEIT

9 GESCHLECHT

DER EINFLUSS DES GESCHLECHTS AUF DIE PERSÖNLICHKEIT

KINDHEIT

10 DAS SELBST

WIE DER NATÜRLICHE ZUSTAND EINE BETRIEBSZENTRALE ENTWICKELT

11 IDENTIFIKATION

DIE ERSCHEINUNG EINES »ICHS«

12 VERGESSEN

WIE WIR DIE VERBINDUNG MIT DEM NATÜRLICHEN ZUSTAND VERLIEREN

13 DIE WUNDE

DER MOMENT, IN DEM WIR ZUM ERSTEN MAL ENTFREMDUNG VON DER LIEBE ERLEBEN

14 DER VERLUST DER UNSCHULD

WIE WIR LERNEN, DASS DIE LIEBE IN DER WELT DER MENSCHEN BEDINGT IST

15 KONTRAKTION

WIE WIR LERNEN, UNS VON DER LIEBE ZURÜCKZUZIEHEN, UM UNS VOR VERLETZUNGEN ZU SCHÜTZEN

16 VERDRÄNGUNG

WIE DIE PERSÖNLICHKEIT UNGEBETENE GEFÜHLE INS UNTERBEWUSSTE VERBANNT

17 EMOTION

DER UNTERSCHIED ZWISCHEN EINER EMOTION UND EINEM GEFÜHL

18 AUFMERKSAMKEIT ERLANGEN

WIE WIR DIE LIEBE ERSETZEN

PERSÖNLICHKEIT

19 PERSÖNLICHKEIT

DAS SELBST WÄCHST IN RELATION ZUR WUNDE UND KRISTALLISIERT SICH ALS PERSÖNLICHKEIT HERAUS

20 PERSÖNLICHKEIT IN DER WELT

WIE DIE PERSÖNLICHKEIT DIE WELT LAUT IHREN ÜBERZEUGUNGEN INTERPRETIERT

21 PERSÖNLICHKEITSBEWUSSTSEIN

WIE DIE PERSÖNLICHKEIT UNSERE ERFAHRUNG DES LEBENS BEEINFLUSST

22 GLAUBE UND ÜBERZEUGUNG

DAS FUNDAMENT DER PERSÖNLICHKEIT

23 DER TRAUM

WIE UNSERE ÜBERZEUGUNGEN DEN TRAUM DER PERSÖNLICHKEIT ERZEUGEN

24 VERSTAND

WIE WIR DEN VERSTAND ALS ZENTRUM UNSERES SEINS ANNEHMEN

25 GEDANKEN

WIE WIR VOM DENKEN ABHÄNGIG WERDEN, UM GEFÜHLE ZU VERMEIDEN

26 DIE MASKE

WAS WIR TRAGEN, UM DIE TEILE VON UNS ZU VERBERGEN, DIE NICHT GESEHEN WERDEN SOLLEN

27 DER SCHATTEN

DIE VERSTECKTE SEITE DER PERSÖNLICHKEIT

AUSWIRKUNGEN

28 LEIDEN

DIE AUSWIRKUNG DER IDENTIFIKATION MIT DER PERSÖNLICHKEIT

29 GESUNDHEIT

DIE AUSWIRKUNGEN DER IDENTIFIKATION MIT DER PERSÖNLICHKEIT AUF UNSERE GESUNDHEIT

30 PERSÖNLICHE LIEBE

WIE WIR IN UNSEREN PERSÖNLICHEN BEZIEHUNGEN, DIE LIEBE ZU ERSETZEN VERSUCHEN, DIE WIR VERLOREN HABEN

31 BEZIEHUNGEN

WIE UNSERE PERSÖNLICHKEITEN IN UNSEREN BEZIEHUNGEN DURCHGESPIELT WERDEN

32 ABLENKUNG

WIE DIE PERSÖNLICHKEIT SICH SELBST VOM UNGLÜCKLICHSEIN ABLENKT

33 DIE JAGD NACH DEM GLÜCK

WIE WIR NACH ERFÜLLUNG IN DER WELT STREBEN

PERSÖNLICHES WACHSTUM

34 PERSÖNLICHKEITSENTWICKLUNG

WIE WIR VERSUCHEN, DAS GLÜCK ZU FINDEN, INDEM WIR DIE PERSÖNLICHKEIT NEU AUSRICHTEN

35 SPIRITUELLE PRAXIS

WAS IST DAS UND WIE FUNKTIONIERT ES?

LEBEN JENSEITS DER PERSÖNLICHKEIT

36 DIE LEHRE DES UNLEHRBAREN

AUF DAS ZEIGEN, WAS DU BEREITS WEISST

37 WIDERSTAND

DIE GEWOHNHEIT DES NICHT-FÜHLENS

38 GEWAHRSEIN

BEWUSSTSEIN BEGEGNET DEM, WAS IST

39 WER BIST DU?

DIE ULTIMATIVE FRAGE

GLOSSAR

EINLEITUNG

In jüngeren Jahren habe ich eine Anzahl von »Öffnungen« erfahren, wie ich sie nenne. Diese führten mich von der Perspektive eines Teenager-Jungen weg, hin zu einem Ort der Stille, des Friedens und des gesteigerten Gewahrseins, und sie initiierten in mir eine Suche danach, was diese Öffnungen zu bedeuten hatten: Was bedeutete diese Perspektive für die Persönlichkeit, die dieses Leben zu leben schien, wenn die Öffnungen nicht passierten?

Das Geheimnis der Öffnungen zu entschlüsseln schien das wichtigste Unterfangen zu sein, das ich in diesem Leben angehen konnte; viel wichtiger als alles, das ich in der Schule oder auf der Universität lernen konnte. Dieses Hinterfragen hat mich so manches Mal von den anderen rund um mich abgegrenzt. Sokrates sagt: »Das ungeprüfte Leben ist nicht lebenswert.« Ich glaube, dass einige Leute damit nicht einverstanden wären, da sie das Stellen tiefsinniger Fragen über wer wir zu sein glauben und wie wir leben als zu konfrontativ empfinden. Die Tatsache, dass Du dieses Buch liest, zeugt vielleicht davon, dass Du nicht zu diesen Leuten gehörst. Vielleicht hast Du eine Öffnung erfahren, oder vielleicht hast Du einfach so eine Ahnung, dass es im Leben noch um mehr geht; um etwas, das die Gesellschaft, in der Du lebst, nicht anerkennt.

In diesem Buch und in seiner Fortsetzung Unendliche Reise teile ich die Antworten, die ich auf die Fragen fand, die die Öffnungen aufwarfen. Jedes Kapitel wird in der Form einer Unterhaltung mit meinem Freund Matthew dargeboten. Gemeinsam tauchen wir in jedes Thema ein und nehmen den Leser mit an einen Ort jenseits von Glauben, Hoffnung und Wünschen: ein Ort jenseits der Persönlichkeit und ihren Leiden, der jedermanns Geburtsrecht ist.

Dieses Buch bespricht den »natürlichen Seinszustand«, in dem wir alle geboren werden, wie wir ihn verlieren, sobald wir uns mit der Persönlichkeit identifizieren, und die Auswirkungen dieser Identifikation. Das nächste Buch Unendliche Reise behandelt, was es bedeutet, aus dem Traum der Persönlichkeit aufzuwachen, wie sich das vom Bild der Erleuchtung unterscheidet, das man uns überliefert hat, und wie das Leben jenseits der Persönlichkeit zur manchmal verwirrenden Welt des spirituellen Suchens und Lehrens in Beziehung steht.

Ich fühle mich wirklich reich beschenkt, dass ich diese Einblicke in meine wahre Natur erfahren durfte, ich bin dankbar für die Reise, die aus ihnen entstand, und die Antworten, die ich erhalten habe. Diese Bücher sind meine Art, dieses Geschenk, das mir das Leben gab, zu teilen. Mögen sie der Spiegel sein, in dem Du einen Einblick in die wundervolle und mysteriöse Wahrheit gewinnen kannst, die wir alle in uns tragen.

Jez

MEINE GESCHICHTE

Meine erste Erinnerung ist, wie mir die Windeln gewechselt wurden. Ich kann mich noch an das schwarz-weiße Muster des Stoffes erinnern, auf dem ich lag, denn der war direkt neben meinem Gesicht. Ich kann mich auch noch erinnern, wie ich meine Mutter ansehe und denke: »Was machst du da unten?« Es war so, als ob ich für den Bruchteil einer Sekunde das Bewusstsein eines Erwachsenen hatte; obwohl ich wohl erst eins oder zwei gewesen sein muss.

Ich bin das jüngste von drei Geschwistern. Wir wuchsen in einem grünen Vorort von Südwest-London auf. Schon von jung auf hatte ich recht schlimmes Asthma; während der Anfälle gab es Momente, an denen ich um jeden Atemzug kämpfen musste. Das ist eine furchterregende Situation: Du musst atmen, um zu leben, aber dein Körper arbeitet dagegen, dass du effizient die Luft reinbringst. Wegen der Ernsthaftigkeit und Gefahr des Geschehens war ich intensiv fokussiert auf meinen nächsten Atemzug; es war wie eine erzwungene Meditationstechnik. Ich war erstaunlich ruhig; in Panik zu verfallen, hätte diese gefährliche Situation noch schlimmer gemacht. Nicht dass ich irgendwas dafür getan hätte, um ruhig zu sein; ich musste ruhig sein – also war ich es auch.

Ein paar Jahre bevor meine Mutter verstarb, gestand sie meiner Frau, dass sie postnatale Depressionen hatte, mindestens ein Jahr lang, nachdem sie mich bekommen hatte. Sie sagte, dass sie sich all die Jahre danach noch immer schuldig fühle, da sie mir zu jener Zeit nicht ihre Liebe zeigen konnte. Angeblich sagte meine Mutter manchmal zu meinem Vater, nachdem er von der Arbeit nachhause gekommen war: »Halt du das Baby. Er hat die ganze Zeit geweint, aber ich hab’ es nicht geschafft, ihn aufzuheben.« Als mir meine Frau das erzählte, war ich eigentlich eher erleichtert, denn es erklärte einiges über meine Psychologie: Als Baby wusste ich offensichtlich nicht, was Liebe war, aber ich spürte ihre Abwesenheit akut, und ich weiß, dass das eine tiefe Wunde in mir hinterlassen hat, einen Ort des Schmerzes und der Entwurzelung.

Als ich aufwuchs und mein Charakter sich entwickelte, wurde ich zu einem sensiblen, selbstbewussten und künstlerischem Kind. Ich hatte zwei große Lieben: Fußball und Zeichnen. Beide Aktivitäten waren für mich ein Quell nie endender Freude. Ich spielte vor der Schule, nach der Schule und in den Pausen Fußball. Wenn ich drinnen war, war ich nie weit von Papier und Bleistift entfernt zu finden, ich machte Skizzen, zeichnete Abbildungen von Prominenten, die ich in der Zeitung fand, oder kopierte Figuren aus den Comics, die ich las. Comics zeigten mir, wie ich Zeichnungen in Bilderserien platzieren konnte, um den Verlauf von Zeit darzustellen, und wie man Charaktere zum Sprechen brachte, in dem man ihnen neben dem Kopf eine Sprechblase verpasste. So wurden die Charaktere lebendig und die Möglichkeit eröffnete sich, eine Geschichte um sie herum zu erschaffen. Von diesem Zeitpunkt an wurde das Geschichtenerzählen zu einem zentralen Teil meines künstlerischen Lebens. In der Grundschule wurden die leeren Übungshefte zu meinen Lieblingsmaterialien; auf einer Seite die leere Seite, auf der anderen die linierte: eine Einladung für Geschichten auf der einen und zum Zeichnen auf der anderen.

Wenn mich irgendwer fragte: »Was willst du mal werden, wenn du groß bist?«, kam die Antwort: »Künstler«, ohne jedes Zögern. Ich habe nicht gewusst, welche Art von Künstler, aber ich wusste einfach, dass mich das Leben in diese Rolle geworfen hatte und ich hatte eine Riesenfreude daran, sie zu spielen. Es war so, als müsste ich nichts anderes tun, als meiner Inspiration treu zu bleiben, der Freude zu folgen und das zu werden, wozu ich bestimmt war. Trotzdem, ich war mir über die beiden Seiten meines Lebens bewusst: den kreativen, aufgeschlossenen Charakter, der das Leben liebte und genoss, und tief darunterliegend, die traumatisierte, beschädigte Seite, die daher rührte, mit einer sehr depressiven Mutter ins Leben gestartet zu sein.

Meine geschädigte Seite war meist versteckt, aber ab und zu zeigte sie ihr Gesicht und konfrontierte mich. Zum Beispiel waren meine Eltern normalerweise friedfertige, ruhige Leute, die ihre gelegentlichen Zwistigkeiten hinter verschlossenen Türen austrugen. In meinen frühen Teenagerjahren gab es dennoch plötzlich eine beunruhigende Phase, wo sich die ehelichen Probleme in explosiven Streitereien offenbarten. Wenn diese Ausbrüche das Haus dominierten, aktivierte sich mein frühes Trauma und ich erlebte heftige Angstzustände. (Ich weiß, dass das aus Gefühlen meines Körpers entstand, die dort seit dem Säuglingsalter abgespeichert waren.) In diesen Momenten, wenn sich das versteckte Trauma entblößte, war das wie eine alte Nemesis, die sagte: »Du glaubst doch nicht, dass du mich schon los geworden wärst? Ich bin immer noch da, ich verlass’ dich nicht.«

Ungefähr zu dieser Zeit begann ich etwas zu erleben, das von meinem Hintergrund und meinem täglichen Leben entkoppelt war. Ich fuhr mit dem Fahrrad die Themse entlang und wie ich mich so den kurvenreichen Pfad entlang des Flusses schlängelte, hatte ich ab und zu mal diese Erfahrungen, die ich jetzt als »Öffnungen« bezeichne. Körperlich war da das Gefühl von goldenem Licht in meiner Wirbelsäule. Dieses Licht, oder die Energie, hatte auch auf mein Gehirn eine Wirkung: Mein Denkprozess neutralisierte sich und ich wurde in einen Zustand der Glückseligkeit versetzt. Während dieser Öffnungen konnte ich mein Leben betrachten, aber da gab es einen Abstand dazu, fast so als würde es jemand anderem passieren. Immer wenn so eine Öffnung auftrat, tat ich mein Bestes, um sie festzuhalten, aber das ließ sie sich nicht.

Die Öffnungen zeigten mir, dass es einen anderen Blickwinkel gab gegenüber jenem, den mir die Gesellschaft und meine Eltern gezeigt hatten, eine Perspektive völlig jenseits des Traumas, das ich in mir trug. Es war kein Glaube; es kam nicht daher, einen anderen Blickwinkel zu wollen, damit ich mein Leben verbessern könnte. Es fühlte sich eher an wie das Leben, das sagte: »Hey, schau mal her – es gibt mehr im Leben als dieses Modell, das man dir angeboten hat.« Diese Öffnungen setzten sich sporadisch bis in meine dreißiger Jahre fort.

***

Nach der Kunstuni versuchte ich mich als redaktioneller Illustrator und verbrachte einige Jahre mit nur sehr mageren Einkünften aus Aufträgen und dergleichen. Eines Tages, als ich ein Bad in meiner Einzimmerwohnung nahm, tauchte mitten aus dem Nirgendwo ein Paarreim in meinen Geist auf:

»Um sich warm zu halten in arktischer Kälte, trägt der Eisbär statt einer Haut Fellzelte.«

Ich hatte das Gefühl, dass diese Worte wichtig sein würden und, da ich sie nicht vergessen wollte, stürmte ich aus dem Bad, tropfte alles voll und kritzelte sie auf ein Blatt Papier. Diese Worte wurden zum Grundstein für mein allererstes Bilderbuch, das 1984 publiziert wurde. Endlich hatte ich einen Nutzen für meine Schreib- und Zeichen-Fertigkeiten gefunden. Ich wusste nun, was für eine Art Künstler ich werden würde: ein Bilderbuch-Künstler. Im Bereich der Bilderbücher textet manch ein Künstler und andere illustrieren; ich schloss mich der noch kleineren Gruppe derer an, die beides machen. Trotzdem dauerte es noch bis 1992 bis ich ein Buch erschaffen konnte, das sich auch gut verkaufte – sich sogar bis heute verkauft. Über die letzten circa dreißig Jahre hinweg habe ich ungefähr 45 Bilderbücher herausgebracht und über acht Millionen Exemplare verkauft.

Um eine Geschichte zu verfassen, musst du Charaktere erschaffen, sie sich bewegen lassen und sie dazu bringen, Dinge zu sagen, zu fühlen und zu tun. Der Dialog, die Charaktere und die Handlung arbeiten alle wie ein verschlüsselter Code zusammen, sie generieren und dienen der Erzählung der Geschichte. Als Leser musst du den Code, der die Geschichte erzeugt, nicht kennen, um sie zu genießen. Um dich an einer Fahrt zu erfreuen, musst du nicht wissen, was unter der Haube passiert, wenn du ein Auto fährst. Aber wie ein Mechaniker, muss der Geschichtenerzähler genau wissen, was unter der Haube passiert. Sein Handwerk und seine Kunst führen alle Elemente zusammen, damit die Geschichte in der fesselndsten und unterhaltsamsten Art und Weise erzählt wird.

Während meine Karriere abhob, trat das Trauma meiner Kindheit in den Hintergrund, aber ich wusste, dass kein Ausmaß an Erfolg es je auslöschen würde. Die einzige echte Freiheit von diesem Schmerz lag in den Öffnungen, die ich erfahren hatte. Ich steckte also in einer unmöglichen Lage fest: Ich hatte zwar einen Ort jenseits des Leidens entdeckt, aber ich wusste nicht, wo er war. Ich konnte meinen Zugang zu ihm nicht beeinflussen.

Im Versuch mich selbst zu verstehen und eine Antwort zu meinem unmöglichen Problem zu finden, begann ich, meine Erfahrungen, Gefühle und Einsichten in einem Tagebuch aufzuzeichnen. Ich untersuchte meine Gegenwart und meine Vergangenheit, indem ich meine emotionale Landschaft in gerichtsmedizinischem Detail darstellte. Dann benutzte ich die gleiche wissbegierige Neugier, die ich zum Knacken des Codes einer Geschichte aufbrachte. Das brach das Problem auf einige Punkte nieder: »Wie passen die Öffnungen zusammen mit der Persönlichkeit, die den Rest meines Lebens unter Kontrolle zu haben scheint?« »Was ist Persönlichkeit?« »Was ist Leiden?« »Bin ich derjenige, der das Trauma hat, oder der, der die Öffnung hat?« Ich erlangte einiges an Einsichten in die Funktionsweise des Uhrwerks der Persönlichkeit, aber vom Schatten des Traumas meiner Kindheit wurde ich nicht befreit.

Ungefähr zu jener Zeit gab mir ein Freund ein Buch des indischen Gurus Bhagwan Shree Rajneesh namens »Ich bin der Weg« (engl. »I am the Gate«). Ich dachte, sollte irgendwer die Antworten auf meine Fragen kennen, dann dieser charismatische, weise Guru. Ich begann das Zentrum seiner Organisation in London zu besuchen und mich mit seinen Lehren und seinen Anhängern zu befassen. Schon bald war ich Teil einer wöchentlichen »Begegnungsgruppe«, wo ich in Kontakt mit meinen Gefühlen kam, von denen ich bis dahin nicht mal wusste, dass ich sie hatte. Es war beängstigend und aufregend: Ich glaubte, einen Weg zu den von mir gewollten Antworten gefunden zu haben. Schritt für Schritt drang ich tiefer in die Lehren des Gurus ein. Ich trug rote Kleidung und nahm einen neuen Namen an.

Als die Kommune zerbrach, suchte ich immer noch nach Antworten und auch noch viele andere Lehrer auf, ich ging zu Vorlesungen und Treffen und las zahllose Bücher. Obwohl ich viel gelernt hatte, schien niemand mir die Fragen, die meine Öffnungen aufgeworfen hatten, beantworten zu können.

***

Einige Jahre später hielt ich eines Tages vor Lehrern und Bibliothekaren einen Vortrag, als Werbung für meine Bücher. Kurz bevor ich zu reden begann, fühlte ich mich plötzlich seltsam: Meine Hände wurden eiskalt und mein Herz fing an zu rasen. Es war so als würde etwas in mir nicht dort sein wollen, wo ich war, inmitten dieses Vortrags, weil ich diese Rolle nicht mehr spielen konnte. Mein Geist sagte: »Sei nicht so, mach einfach, das hast du doch schon hunderte Male gemacht«, aber dem Körper ist es egal, was der Geist will. Der Körper drückt einfach nur aus, was los ist. Er macht das auf die einzige Weise, die ihm möglich ist, mithilfe von physischen Symptomen und mentalem Stress. Irgendwie konnte ich mich doch noch zusammenreißen und den Vortrag abhalten, aber ich war stark gebeutelt. Es gab in den Folgemonaten noch einige solcher Episoden. Jedes Mal war ich sehr beunruhigt. Irgendwas lief ernsthaft falsch: Das Urtrauma, das wie ein unterirdisches Netz durch mein Leben verlief, begann durchzubrechen und die Oberfläche zu erreichen.

Diese Episoden begannen nach und nach mein berufliches Dasein zu beeinträchtigen, daher stieg der Stresspegel an. Vier Monate nach dieser ersten verwirrenden Episode fuhr ich mit meiner Frau in den Südwesten Englands auf Urlaub; hin zu einer Gelegenheit, mich zu entspannen und das, was mit mir nicht stimmte, geradezubiegen. Nach ungefähr dreißig Meilen fuhr ich zum Tanken ab zu einer Raststation. Auf dem Weg zurück zum Auto knickten meine Knie ein und... Die beste Art es auszudrücken ist, meine Persönlichkeit fiel einfach auseinander.

Diesmal gab es keinen Weg zurück; ich konnte mich nicht mehr zusammenreißen. Das Zentrum, aus dem heraus ich bis dahin agierte, funktionierte einfach nicht mehr. Wie Du Dir vorstellen kannst, wurde die Szene von ziemlichen Angstzuständen begleitet. Die Leute um mich herum starrten auf einen erwachsenen Mann herab, der schluchzend auf dem Boden kollabiert war.

Jemand rief die Rettungssanitäter. Sie wussten nicht, wie sie mit dieser Situation umgehen sollten; dafür waren sie nicht ausgebildet. Sie brachten mich ins nächste Krankenhaus. Dem Arzt dort ging es genauso: Da ich keinen ernsthaften Krankheitszustand vorzuweisen hatte, glaube ich, er dachte, ich würde mit so einer Art Panikattacke seine Zeit verschwenden.

Wir fuhren nachhause und ich hoffte, dass es aufhören würde. Hat es aber nicht. Als die Monate so vorüberzogen, fand ich einen Weg des Funktionierens. Zwar in einem stark reduzierten Ausmaß, aber in der Sicherheit meiner eigenen vier Wände, als Fast-Einsiedler. Ich wurde sehr sensibel auf Reize; zum Beispiel konnte ich nicht fernsehen, da es meine Sinne vollkommen überladen hätte. Stille war das einzige, mit dem ich umgehen konnte; die Welt der Menschen, Gedanken und Umtriebigkeit befand sich jenseits meiner Kapazitäten. Ich sah die Leute unten an der Bushaltestelle warten, am Weg zur Arbeit, und ich dachte: »Das konnte ich auch einmal.« Es war so, als hätte ich vergessen, wie es ging, ich zu sein, zumindest als das »Ich«, als das ich vierzigplus Jahre gelebt hatte.

Meine Persönlichkeit hatte immer viel Willenskraft. Das hatte dazu beigetragen, dass es zu diesem Erfolg mit meiner Karriere gekommen war, aber in Bezug auf diesen Zusammenbruch bedeuteten diese Qualitäten nichts. Ich versuchte, raus in die Welt zu gehen und das »Ich« zu sein, das ich gekannt hatte. Die Angst wurde nur noch schlimmer, sogar so sehr, dass es Tage dauerte, bis ich mich von diesen Versuchen, in mein altes Leben durchzubrechen, erholen konnte.

Die Monate zogen vorüber; mein Leben schrumpfte zu einer beschränkten Existenz zusammen, zwischen dem Versuch zu etwas Schlaf zu kommen, zu essen und einfach nur durch einen weiteren Tag zu kommen. Eines Nachts, ungefähr sechs Monate später, erreichte die Qual einen Grad, an dem ich nicht mehr wusste, ob ich es noch aushalten konnte. Und dann... passierte etwas. In meiner Verzweiflung und Erschöpfung ließ ich mich irgendwie in den Schmerz hineinfallen; ich drang vollständiger in ihn ein. Das führte zu so einer Art Ur-Entladung und inmitten all dieser schrecklichen Gefühlswallung... Hörte es auf. Ein Licht brach durch die dunkle Nacht; zwischen mir und meinem Schmerz entstand ein Abstand.

Ich dachte, dass dieses Ereignis sicherlich das Ende meines Leidens bedeuten würde, aber nach einem Tag oder so verblasste die Einsicht in dieses »Erwachen« wieder und ich fiel abermals in mein zerbrochenes Leben zurück.

Als die Jahre vorüberzogen dachte ich, dass die Freiheit, die ich in den Öffnungen erblickte, vielleicht niemals eine dauerhafte Erfahrung für mich werden sollte; nach und nach gab ich die Hoffnung, dass es so sein würde, auf. Die spirituellen Hoffnungen und Erwartungen waren verflogen; es blieben nur die praktischen. Alles, was ich wollte, war die Rückkehr in mein altes Leben; in jenes, das ich vor dem Zusammenbruch gelebt hatte, in dem ich in der Welt funktionieren und agieren konnte, meinen Job erledigen und so sein konnte wie die anderen »normalen« Leute.

Inzwischen war die extreme kathartische Phase des Zusammenbruchs abgeklungen, und ich versuchte zaghaft, in mein Leben als Buchautor zurückzukehren, an neuen Büchern zu arbeiten und Werbeveranstaltungen abzuwickeln. Es war, als würde ich einen alten Anzug wieder anprobieren: Ich hatte diesen Job 30 Jahre lang gemacht. Ich wusste, wie man es macht, ich war gut darin, und es war zumindest ein Ventil für meine Kreativität. Ich machte das ein paar Jahre lang, aber irgendetwas fühlte sich falsch an. Ich merkte, dass ich mich in dieser Rolle nicht mehr so wohl fühlte wie früher. Ich war nicht mehr so richtig »drin« wie früher.

Mit der Zeit fühlte ich mich immer unwohler mit dieser Rolle; ich fühlte mich wie ein Betrüger, als würde ich eine Rolle spielen, die mir gar nicht mehr entsprach. Alles, was ich noch übrig hatte, war dieser Anschein eines Lebens und selbst der wurde mir jetzt weggenommen! Ich versuchte jahrelang, ihn wiederzuerlangen, aber – so wie mit allen anderen Dingen – musste ich die Idee, das kontrollieren zu können, aufgeben. Jetzt sehe ich, dass das Leben, in das ich mich mit aller Gewalt zurückversetzen wollte, der letzte Halt jeglicher Identifikation mit der Persönlichkeit war. Als ich das losließ, oder besser gesagt, als das wegfiel, schien es der letzte Strohhalm gewesen zu sein. Es war ein Tod, nicht der Tod der Persönlichkeit, aber der Tod der Identifikation mit ihr. Es war das, was ich den Wandel nenne, bei dem mir alle Antworten zu meinen Fragen, die die Öffnung aufgeworfen hatte, endlich zuteil wurden. Diese Bücher sind meine Chance, diese Antworten mit Dir zu teilen.

PROLOG

Matthew: Es wäre gut, wenn wir mit einem Überblick über das Hauptthema beginnen würden, das wir in diesen Gesprächen und Büchern besprechen werden. Kannst du es für mich zusammenfassen?

Jez: Um es einfach zu sagen, kommen wir in diese Welt in der Erfahrung des Einsseins oder des Seins, doch mit unserem Älterwerden verlieren wir unsere diesbezügliche Wahrnehmung und wir identifizieren uns mit der Persönlichkeit. Nach dieser Identifikation überschattet das Leiden der Persönlichkeit die Stille und die Liebe des natürlichen Zustands. Worauf ich hinweisen will, ist, dass es möglich ist, zu dieser Erfahrung des natürlichen Zustands zurückzukehren, während man weiterhin ein Erwachsener bleibt und auch so agiert.

Matthew: Das ist ein schöner Gedanke, aber ist das nicht nur dein Glaube? Wie willst du wissen, dass das wahr ist?

Jez: Ich weiß es, weil es mir widerfahren ist. Ich teile hier keine Glaubensinhalte; ich erläutere schlicht eine Sicht der Dinge, die sich von der deinigen unterscheidet. Wenn du mich fragen würdest, ob ich glaube, dass da Geld in dieser Schachtel auf meinem Schreibtisch ist, würde ich sagen: »Nein. Ich glaube nicht, dass da Geld drin ist, ich weiß es, denn ich hab’ sie aufgemacht und das Geld gesehen.«

Matthew: Wie kann ich sicher sein, dass du weißt, was in der Schachtel ist? Wie kann ich davon ausgehen, dass das gültig ist, was du über das Einssein erzählst?

Jez: Kannst du nicht, aber das musst du auch nicht, um dich mit meiner These zu beschäftigen. Wenn du dich darauf einlässt, kann es sein, dass du die Schachtel aufmachst und selber nachsiehst. Um das geht’s bei diesen Gesprächen: Dich zu ermuntern, die Schachtel selbst aufzumachen.

Matthew: Da gibt es einige große Worte in deiner Zusammenfassung. Was zum Beispiel bedeutet die »Erfahrung des Einsseins«?

Jez: Wir werden alle diese Begriffe im Detail erörtern, wenn sie in den weiteren Gesprächen auftauchen. Jetzt gebe ich dir mal einen Eindruck, um dir zu zeigen, was ich mit der Erfahrung des Einsseins meine: Stell dir ein Neugeborenes im Ruhezustand vor.

Matthew: Ok...

Jez: Fertig.

Matthew: (Lacht.) Oh! Na, gut, das gibt mir einen vagen Eindruck von was du meinst.

Jez: Mehr brauchen wir jetzt nicht. Dieses Gefühl, auf das du dich einstimmst, wenn du dir das Bild eines völlig ruhenden Babys vorstellst, geht viel tiefer als alle Konzepte, die wir ausarbeiten könnten. Das ist deswegen so, weil dieses Gefühl nicht nur aus der Erinnerung als wir in der Nähe eines Babys waren entsteht, sondern wir auch selbst mal ein Baby waren. Letztendlich haben wir alle so angefangen.

Wir kommen also in diese Welt in der Erfahrung des Einsseins, aber wir müssen dann so etwas wie einen Raumanzug entwickeln, der es uns ermöglicht, in dieser Welt zu agieren, in der das Gegenteil des Einsseins erscheint, in der es Trennung gibt. (Nennen wir sie die »Welt der Trennung«.) Und das, was es uns ermöglicht in der Welt der Trennung zu agieren, ist das Selbstgefühl. Wir werden also langsam zu einem »Ich« und wir identifizieren uns mit einem Namen und einem Körper in welchem dieses »Ich« zu leben scheint.

Das Selbst ist eine praktische Notwendigkeit, um in der Welt der Trennung zu agieren. Aber der Punkt ist, dass das Selbstgefühl nicht neutral oder rein funktional bleibt: Mit unserem Älterwerden, sammelt es Überzeugungen, Meinungen und Emotionen. Es wird allmählich zu einer Persönlichkeit, zu einer Identität, basierend auf den Dingen, die du gemacht hast, den Orten, die du besucht hast, und den Erfolgen, die du erzielt hast. Irgendwo auf der Strecke kommen Leiden und Unglücklichsein zu dieser Geschichte dazu, und eines Tages landest du in dem Raumanzug, in dem du heute steckst, als die bestimmte Person, die du heute bist. Du hast vergessen, dass du in deinem Zentrum nicht diese Ansammlung von Erfahrungen aus der Vergangenheit bist, du bist das Sein, als das du in die Welt kamst, das immer »jetzt« existiert.

Matthew: Das ist eine interessante Theorie, aber sind das nicht alles einfach nur abstrakte, hübsche Begrifflichkeiten?

Jez: Es ist unvermeidlich, dass Worte manchmal grandios und pompös klingen, wenn man über dieses Thema spricht. Die Sprache sträubt sich, diese Dinge zu beschreiben, weil das, worüber wir sprechen, jenseits der üblichen Reichweite des Verstandes liegt. Trotz dieser Feststellung, ist das, was ich beschreibe, keine abstrakte Idee oder ein Glaube. Wie gesagt, setz dich einfach neben ein neugeborenes Baby. Du kannst das Potential, das wir alle in uns haben, sehen und fühlen: die Erfahrung des Einsseins, mit der wir gekommen sind. Ich nenne das den »natürlichen Zustand«.

Matthew: Wie bist du in deinem Leben zu dieser Erkenntnis gekommen?

Jez: Es hat angefangen, als ich ein Teenager war. Ich erfuhr Öffnungen, eine Art Brüchigkeit in der Herrschaft der Persönlichkeitsperspektive.

Matthew: Willst du mir noch mehr erzählen über deine Erfahrung der Öffnungen? Und auch darüber wie du damals warst?

Jez: Ich war ein Mittelschichtkind. Ich lebte in den Vororten Londons, mit einer älteren Schwester und einem älteren Bruder. Meine Eltern waren Christen, aber nicht sehr fromm. Es war ein recht fröhlicher Haushalt, aber es gab ein paar Probleme in der Beziehung meiner Eltern und manchmal sickerte das Unglücklichsein meiner Mutter durch in unsere Familie.

Ich hatte einen Freund namens Erhard, mit dem ich liebend gern zusammen war. Er hatte eine Selbstsicherheit und einen Enthusiasmus, den ich sonst bei niemandem sah, und ich glaube, dass diese Qualitäten Aspekte meines Selbst spiegelten, mit denen ich nicht immer verbunden war. Erhard genoss den unerhörten Luxus, über eine eigene Tischtennisplatte zu verfügen. Im Sommer baute er sie in seinem kleinen Vorstadtgarten auf und dann spielten wir pausenlos Stunde um Stunde. Unsere Turniere waren eine erstaunliche Mischung aus Wettbewerb, Aufregung und Zusammenspiel, während wir uns gegenseitig hochputschten und unsere angeschnittenen Returns verbesserten.

Zwischen den Matches aßen wir gerne Endlosmengen an Eis, das wir mit einem Schöpfer aus einer Auswahl an riesigen Behältern in seiner Freiluft-Tiefkühltruhe holten. Wenn es um Essen ging, gab es ein Gefühl von Überfluss in Erhards Haus, das in meinem eigenen fehlte. Wegen der gelegentlichen Depressionen meiner Mutter fühlte sich dieser fehlende Überfluss manchmal an wie fehlende Freude. Im Rückblick sehe ich, dass mir die Stunden in Erhards Haus, wo es keine Grenzen für Spaß, Freundschaft und Eiscreme gab, eine Atempause vom Einfluss der Traurigkeit meiner Mutter verschafften.

Nach den aufregenden Nachmittagen drüben bei Erhard, fuhr ich mit dem Fahrrad die Themse entlang, und wie ich mich so den kurvenreichen Pfad entlang des Flusses runter schlängelte, hatte ich gelegentlich jene Erfahrungen, die ich jetzt als »Öffnungen« bezeichne. Körperlich war da das Gefühl von goldenem Licht in meiner Wirbelsäule, aber dieses Licht, oder die Energie, hatte auch auf mein Gehirn eine Wirkung: Mein Denkprozess wurde neutralisiert und ich wurde in einen Zustand der Glückseligkeit versetzt. Während dieser Öffnungen konnte ich mein Leben betrachten, aber da gab es einen Abstand dazu, fast so als würde es jemand anderem passieren. Immer als diese Öffnungen passierten, war es wie ein alter Freund, der auf Besuch kam und ich wollte, dass er blieb. Wer würde das nicht?

Matthew: Hat’s geklappt?

Jez: Nein, es hat nie geklappt. Es war fast so, als hätte die Anstrengung, es festzuhalten, sie erst recht vertrieben. Normalerweise war es, als ich nachhause kam, nicht mehr als eine Erinnerung. Aber eine recht wundervolle!

Matthew: Was war denn der Effekt dieser Öffnungen auf dein tägliches Leben?

Jez: In meinem täglichen Leben, nicht viel. Sie haben mir nicht beim Bestehen von Schularbeiten geholfen, oder dabei, Mädchen anzusprechen. Aber in meinem Innenleben waren sie unschätzbar wertvoll. Sie zeigten mir, dass es einen anderen Blickwinkel gab, als den, den mir die Gesellschaft und die Eltern beigebracht hatten.

Es war kein Glaube; es kam nicht daher, dass ich einen anderen Blickwinkel wollte, um mein Leben zu verbessern. Es fühlte sich einfach an wie das Leben, das sagte: »Hey, schau mal her – es gibt mehr im Leben als das Modell, das man dir gegeben hat.«

Matthew: Ich nehme an, dass schon recht viele Leute solche Erfahrungen in ihrem Leben gemacht haben.

Jez: Sehe ich auch so, aber die Öffnung selbst ist nur der Anfang. Was als nächstes passiert, ist der eigentliche Schlüsselfaktor. Die Sache ist, dass sogar wenn du so eine Verschiebung der Perspektive erlebt hast, der Sog des Blickwinkels der Persönlichkeit so stark und so gewohnheitsmäßig ist, dass die Erfahrung der Öffnung unterdrückt werden kann und sie ins Unterbewusste verbannt wird. Viele Leute vergessen, dass sie überhaupt eine gehabt haben.

Matthew: Warum glaubst du, ist das so?

Jez: Die Persönlichkeit hat die Funktion der Selbsterhaltung; sie ist dazu programmiert, den Eindruck absoluter Autorität aufrecht zu erhalten. Diese Art der Erfahrungen unterwandern die ultimative Souveränität der Persönlichkeit und sind ihr daher gefährlich. Wenn sie ins Unterbewusste verbannt werden, sind sie keine Bedrohung mehr.

Matthew: Aber das ist doch nicht das, was in deinem Fall geschehen ist?

Jez: Nein, die Öffnungen fingen an, als ich noch recht jung war. Meine Persönlichkeit war noch nicht voll entwickelt. Vielleicht hatte ich deswegen keinen Widerstand. Ich hieß sie willkommen, aber wie ich sagte, sind sie trotzdem nicht geblieben. Ich bin danach einfach wieder zurück rein in das alltägliche Leben eines Teenagers, mit all seinen Irrwegen und Schwierigkeiten.

Matthew: Hast du niemanden davon erzählt?

Jez: Nein. Es ist eigentlich seltsam: Man würde glauben, dass wenn so etwas Wundervolles passiert, dass ich es gerne meiner Familie oder Freunden erzählt hätte. Aber es blieb ein Geheimnis, das ich für mich selbst behielt; nur zwischen dem Leben und mir.

Matthew: Gingen die Öffnungen weiter?

Jez: Ja, mit Unterbrechungen. Ich hab’ sie auch in meinen Zwanzigern noch gehabt, aber da waren sie bereits anders. Sie wurden lehrreicher; so wie Lektionen, Erkenntnisse über meine wahre Natur. Meine Persönlichkeit war zu dieser Zeit schon gut ausgebildet; ich hatte mein Päckchen an Leiden zu tragen, hauptsächlich in der Gestalt von Depressionen, also brauchte ich diese Lektionen.

Matthew: Hatte das mit den Depressionen deiner Mutter zu tun?

Jez: Es ist nicht schwer, die Verbindung zu sehen, stimmt‘s? Mein Grundcharakter war sehr positiv: Ich habe mich immer so gefühlt, als wären diese negativen Stimmungen nicht die meinigen; sie waren kein Teil meines ursprünglichen Fabrikats, sie wurden erlernt. Die Öffnungen waren wie ein leuchtendes Licht, die mich wieder zurück zu meiner ursprünglichen Natur führten. Ich will aber nicht den Eindruck erwecken, dass es mystische oder göttliche Ereignisse waren.

Matthew: Religiöse Gestalten sind dir nicht erschienen?

Jez: (Lacht.) Nein, es war viel profaner. Es ist beim Radfahren passiert, beim an der Themse sitzen, vor einer Prüfung, im Feld liegend, in der Nähe meines Elternhauses. Eine wurde sogar von der sanften Stimme einer Inderin an der Kassa in einem Möbelhaus ausgelöst. Auf eine Art fühlten sich die Öffnungen seltsamerweise gewöhnlich an, weil das, was ich in ihnen erfuhr, etwas zu sein schien, das ich tief drinnen immer gekannt hatte. Aber sie waren insofern außergewöhnlich, als dass sie nicht sehr häufig auftraten.

Was auch immer die Öffnungen waren, wo auch immer sie herkamen, ich wusste, dass ich ihnen mehr als allem anderen vertraute: mehr als den Eltern, den Lehrern oder jeglichen religiösen Autoritäten. Das einzige, das mich an ihnen wurmte, war, dass sie immer verschwanden. Ich konnte nicht begreifen, wie ich nach solch erleuchteter Gewissheit, immer wieder zurück in die Konfusion und das gelegentlich aufkommende Leiden meines alltäglichen Lebens geworfen werden konnte. Es wurde zu meiner Bestrebung, zu entdecken, was die Öffnungen bedeuteten, und warum sie immer wieder verschwanden, ohne mich mit irgendeinem dauerhaften Leitfaden auszustatten.

Diese Bestrebung ist vielen Leuten gemein, die solche Erfahrungen gemacht haben. Irgendwas wird erweckt, eine entfernte Erinnerung an ihre wahre Natur. Es ist der Startschuss für die Erforschung der Natur ihrer Identität. Fragen kommen auf, wie »Wer bin ich?« und »Bin ich nur ein Produkt aus der Familie und Gesellschaft und ihren Glaubenssystemen, in die ich hineingeboren wurde, oder bin ich noch mehr; irgendetwas, das existierte, bevor all das auf mich geladen wurde?« Wenn diese Bestrebung aktiviert und sie nicht ins Unterbewusste runtergedrückt wird, wird die Erfahrung einer Öffnung zum Leuchtfeuer, an das man sich hält, um den Weg zurückzufinden zu dem, was wir wirklich sind. So war es jedenfalls für mich.

Matthew: Kann mit jemandem sprechen, der sich damit auskennt, auch den gleichen Effekt haben, wie selbst so eine transzendente Erfahrung machen?

Jez: Das ist möglich. Es kommt auf einige Faktoren an. Viel liegt an der Bereitschaft der zuhörenden Person. Die Identifikation der meisten Leute mit der Persönlichkeit ist so stark und wird so gut verteidigt, dass sogar was ich sage, nur als wahr zu erwägen, schon als lachhaft gelten würde. Viele Leser werden diesen Text schon nach den ersten Absätzen als wirklichkeitsfremdes Geschwafel abgetan haben.

Matthew: Vielleicht ist es ja wirklichkeitsfremdes Geschwafel! Vielleicht sind die Öffnungen nur eine Knospe deiner blühenden Fantasie.

Jez: Natürlich besteht die Möglichkeit. All diese Aussagen könnten einfach nur das verrückte Geschwätz einer verblendeten Persönlichkeit sein, die sich an Glaubenssätze klammert, um ihr Unglück zu vertreiben. Aber womöglich sind sie das nicht! Die Frage ist, hat der Zuhörer genügend Neugierde, Offenheit und Bereitschaft, um diese Erforschung anzustellen und es rauszufinden?

Sobald manche Menschen auf eine Idee stoßen, die ihr Weltbild herausfordert, ziehen sie sich in einen engmaschigen, rigiden Skeptizismus zurück. Es gibt so viele verrückte Gemüter da draußen mit ebenso verrückten Theorien, dass diese Grundeinstellung bei vielen durchaus verständlich ist.

Matthew: Aber nicht jeder ist so.

Jez: Nein. Manche Leute, die vielleicht jenseits der gesellschaftlich akzeptierten Norm nach Antworten suchen, sind offener. Sie zeigen eine Bereitschaft, das zu glauben, was ihnen präsentiert wird. Wenn es aber darum geht, herauszufinden, was wahr ist, verfehlen beide Zugänge das Ziel. Der erste, weil eine vorgefertigte Entscheidung vorhanden ist, das Gesagte abzulehnen. Die angebotene Perspektive wird einfach nur dazu benutzt, die bestehenden Überzeugungen zu verschanzen und weiter aufzurüsten. Der zweite Zugang der Bereitschaft des Glaubens scheint positiver, da er Offenheit enthält, aber auch aus ihm kann nichts Nützliches entstehen.

Matthew: Warum nicht?

Jez: Weil aus blindem Glauben nichts Nützliches gewonnen werden kann. Sogar wenn Inhalte wirklich wertvoll sind und sie tiefe Einsichten vermitteln, beschränkt an sie zu glauben ihr Verständnis schlichtweg auf eine intellektuelle oder emotionale Ebene. Damit eine neue Perspektive nützlich sein kann, muss ihr Verständnis in deiner eigenen Erfahrung Fuß fassen. An etwas zu glauben, hält diese Möglichkeit einfach nur in Schach. Ich habe hier ein Zitat von Nietzsche dazu:

Es gibt zwei verschiedene Arten von Menschen auf der Welt,diejenigen, die es wissen wollen und diejenigen, die es glauben wollen.

Was ich hier mache, ist eine Geschichte erzählen. Nicht irgendeine Geschichte, es ist die Geschichte eines wirklich großen Themas: Die Geschichte von Dir, die Geschichte von mir, die Geschichte von allen. Wie ich schon vorher gesagt habe, weißt du nicht, ob die Geschichte wahr ist oder nicht, aber du musst eine Geschichte nicht erst glauben, um etwas aus ihr gewinnen zu können. Wenn du einen Film anguckst, weißt du, dass er nicht »wahr« ist, dass es nicht das »echte Leben« ist. Es ist nur eine von Autoren zusammengebraute und von Schauspielern aufgeführte Narrative, aber das heißt nicht, dass sie dich nicht auf alle möglichen Arten betreffen kann. Vielleicht berührt sie dich, vielleicht regt sie dich auf; eventuell reflektiert ihr Inhalt etwas, mit dem du in deinem Leben zu tun hast, und hilft dir dabei, über alles in einer völlig neuen Weise nachzudenken. Die Tatsache, dass du einen Film mit dem Wissen ansiehst, dass er nur eine Geschichte ist, hält dich nicht davon ab, dich hineinzuversetzen. Du nimmst teil, obwohl du sie nicht für wahr hältst. Ich erwarte also nicht von dir, dass du die Geschichte für wahr hältst. Auch ohne Glaube kannst du viel aus ihr herausholen. Wenn du bereit bist, dieser Argumentation zu folgen und herauszufinden, ob sie wahr ist, dann vermag diese Erforschung dein ganzes Leben auf eine Weise zu verändern, die du dir jetzt noch nicht mal vorstellen kannst.

Matthew: Ok, wenn ich dich also richtig verstehe, verlangst du von mir nicht, dass ich all das, was du sagst, für wahr halte, sondern nur, dass ich offen dafür bleibe?

Jez: Ja, es ist möglich, das, was manche »aufgeschlossene Skepsis« nennen, zu praktizieren. Darunter verstehe ich, aufgeschlossen genug zu bleiben, damit du für die Möglichkeit, etwas zu finden, das über dein bestehendes Wissen hinausgeht, verfügbar bist, und du dann in deiner Erfahrung verifizieren kannst, ob es wahr ist. Und skeptisch genug, um nicht in die Glaubensfalle zu tappen, damit du jedes Argument gegen deine eigene Erfahrung prüfen kannst. Aristoteles sagte:

Es ist das Kennzeichen eines gebildeten Geistes, einen Gedanken unterhalten zu können, ohne ihn zu akzeptieren.

Nehmen wir diese Behauptung und spielen wir ein bisschen mit ihr: Es kann sein, dass du einen Gedanken, den dein Geist »unterhält«, nicht akzeptierst, aber es könnte auch sein, dass du ihn doch akzeptierst. Das würde dann nicht über den Glauben passieren, sondern durch den Abgleich mit der Erfahrung. Würde der nicht passen, würdest du ihn ablehnen.

Matthew: Ich bin generell recht skeptisch mit solchen Dingen. Da ich dich aber beim Leben und Arbeiten beobachtet habe, bin ich interessiert daran, mehr über dein anders geartetes Dasein herauszufinden und was dahinter steckt. Ich bin also offen für die Möglichkeit, dass das, was du hier gelernt hast, wahr sein könnte.

Jez: Mehr brauchst du nicht und so könnte dich was von dem, was ich sage, erreichen; nicht nur auf einer intellektuellen Ebene, sondern auf einer energetischen Ebene. Manchmal haben wir über dieses Thema geredet und dein Verstand war in diesem normalen Betriebsamkeitsmodus, wo er willkürlich von Thema zu Thema springt...

Matthew: Ja, das klingt nach mir!

Jez: ...aber dann habe ich etwas gesagt im Verlauf unserer Diskussion und dein Zustand änderte sich schlagartig. So als wäre dein Verstand gestolpert; du hast das erfahren, was ich »Stille« nenne (wir schreiben sie ab hier kursiv).

Matthew: Ich erinnere mich, mich richtig friedlich gefühlt zu haben – überhaupt nicht wie mit meinem normalen Selbst! (Lacht.)

Jez: Es war fast so, als wäre ein anderes »Du« angekommen. Der »normale« Matthew hat einen stark beschäftigten Verstand, der den ganzen Tag umherschießt, von einem Gegenstand zum nächsten. Jener Matthew war, wie wenn man an einem Wasserfall sitzt; es gab Raum und Tiefe in ihm. Es war schön, in seiner Nähe zu sein.

Matthew: Welches ist das echte Ich?

Jez: Ich würde sagen, beide sind Aspekte von dir, aber einer wird vom Sein genährt, der andere durch Persönlichkeit. Einer hat den Frieden des Unendlichen in sich, der andere kann von Umtriebigkeit und von obsessivem Denken überwältigt werden.

Matthew: Wie du gesagt hast, ist es so, als gäbe es zwei verschiedene Versionen von mir.

Jez: Ja, alles kommt darauf an, wer den Laden schmeißt. In der Stille ist das Sein der König. In der Persönlichkeit, ist der Verstand der König, und dein Leben wird von all seinen Gedanken, Überzeugungen und Emotionen kontrolliert, die hauptsächlich ein Produkt deiner Vergangenheit sind. Wenn du wirklich die Gegenwart erlebst, merkst du, dass du so viel mehr bist, als nur die Summe deiner Vergangenheit.

Matthew: Kann man lernen, darauf zugreifen zu können?

Jez: Unser Denken ist an den Prozess des Lernens als allmähliche Assimilierung von Information gewöhnt, bis wir ein Wissen besitzen. Naturgemäß wenden wir dieses Lernmodell auch an auf das »Ziel«, einen Weg aus unserem Leiden zu finden. Aber das hier ist nicht wie ein Kurs für Buchhaltung oder eine Ausbildung für Installateure: Es gibt keine progressiven Schritte; Befreiung kann nicht erlernt werden. Wie könntest du lernen, was du bereits bist? Wenn überhaupt, musst du verlernen, was du alles über dich glaubst, was du von dir selbst angenommen hast, das dein angeborenes Verständnis von all dem verdeckt.

Obwohl das also eine Erforschung ist, ist es kein Lernprozess. Es geht eigentlich mehr um das Aufdecken, oder das Erinnern. Was auch immer ich in diesen Gesprächen sage, es ist kein Stoff, den du lernen musst – dafür ist es nicht gedacht.

Matthew: Wofür ist es denn gedacht?

Jez: Es soll deinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen, die Nebelschichten durchdringen, die deine Wahrnehmung verschleiert haben. Die Überzeugungen, Gedankenmuster und Emotionen durchschneiden, die dich, ohne deine Kenntnis, der Merkmale des natürlichen Zustands berauben.

Wir werden damit anfangen, einige Grundprinzipien und Konzepte zu erläutern, die diese gesamte Erforschung untermauern, und damit, zu prüfen, was genau ich mit »natürlicher Zustand« meine. Dann schauen wir uns an, wie wir diesen verlieren, warum wir ihn verlieren, und was ihn ersetzt. Im zweiten Buch Unendliche Reise werden wir besprechen, wie es möglich ist, sich an das, was wir tief drinnen immer wussten, zu erinnern.

Anfänge

1 Einssein

Bevor sich Energie als Etwas manifestiert, beginnt sie als ungeteilte, potentielle Energie des Ganzen

»IN JEDER EINZELSEELE IST DIE GANZE WELTSEELE GEGENWÄRTIG, JEDE EINZELSEELE TRÄGT DAS GESAMTE ALL IN SICH.« ––PLOTIN

Jez: Wenn man über große metaphysische Themen spricht, wird Sprache schnell unpräzise. Es ist leicht, dein Haar recht genau als schwarz und lockig zu beschreiben, aber sobald wir Begriffe wie »Einssein«, »Sein«, »Liebe« oder »Energie« verwenden, wird die Bedeutung eher dehnbar. Das hat in der Praxis zur Folge, dass das Vokabular, das ich in diesen Diskussionen verwende, möglicherweise leicht unterschiedliche Konnotationen und Bedeutungen für dich haben kann. Damit wir klar kommunizieren können, ist es wichtig darüber einig zu sein, was ich mit diesen Worten im Kontext dieser Erforschung meine.

Matthew: Würde es hilfreich sein, wenn ich die Wörter im Wörterbuch nachschlage, sobald sie auftauchen?

Jez: Das wäre ein guter Ausgangspunkt. Dann werde ich die Definition anwenden und sie verfeinern, damit du weißt, was genau ich in dem Kontext auszudrücken versuche, in dem ich sie verwende. Je mehr wir über diese Themen reden, desto klarer werden meine Interpretationen dieser Begriffe werden.

Matthew: Du hast mir nahegelegt, dass die meisten unserer Probleme durch die Identifikation mit unserer Persönlichkeit zustande kommen. Also fangen wir damit an. Was meinst du mit dem Begriff Persönlichkeit? Meinst du das Ego?

Jez: Um das Wort »Ego« ranken sich viele Konnotationen, nicht zuletzt die Idee, dass Ego irgendwie schlecht oder negativ sei. Ich benutze das Wort »Persönlichkeit«, weil es neutraler ist.

Matthew: Ok, also was ist Persönlichkeit in deinem Jargon?

Jez: Die Persönlichkeit ist eine Identitätsidee, die sich aus mehreren Aspekten wie Überzeugungen, Wünschen und Gedanken zusammensetzt; ihr Fundament wird in der Kindheit gelegt und im Laufe des Lebens setzt sie sich fort. Wir werden alle diese Aspekte einzeln abhandeln, aber bevor wir das tun können, müssen wir die Dinge erstmal richtig einordnen.

Matthew: Ich kann es schon nicht mehr abwarten, die Details über was Persönlichkeit ist zu hören...

Jez: Der Verstand will immer gleich nach vorne preschen, damit er überall sein darf, nur nicht hier und jetzt. Wie ich schon sagte, erzähle ich die Geschichte der Persönlichkeit, die Geschichte von »Dir«. Eine epische Geschichte wie diese hat viele Verzweigungen und Wendungen; ihr Gesamtbogen ist simpel, aber die Details sind ausgeklügelt. Meine Aufgabe ist es, diese Geschichte so klar wie möglich zu erzählen, in überschaubaren Etappen, die Handlungspunkte in der richtigen Reihenfolge zu enthüllen und die Informationen zum richtigen Zeitpunkt freizugeben. Damit die Geschichte einen Sinn ergibt, musst du sie in der Reihenfolge hören, in der sie erzählt wird. Wenn du irgendwo in der Mitte einsteigst, erzeugt das nur Verwirrung: Die Geschichte würde für dich keinen Sinn machen, weil du nicht die erforderlichen Angaben über ihren Aufbau hast.

Wir müssen also damit beginnen, zu untersuchen, was vor der Persönlichkeit existierte. Das heißt: Woher kommt die Persönlichkeit? Ich meine nicht die Kindheit, ich meine davor.

Matthew: Damit es eine Persönlichkeit geben kann, muss es eine Person geben.

Jez: Richtig, aber gehen wir noch weiter zurück: Eine Person fängt als Baby an, doch woher kommt dieses Baby? Ich weiß, es klingt nach einer offensichtlichen Frage, doch bleib’ bei mir.

Matthew: Meinst du die Eltern?

Jez: Ja, das Baby wird vom Sperma des Vaters geformt, das aus seinen Hoden kommt, und aus dem Ei der Mutter, das aus den Eierstöcken kommt, ihren Hormonen, dem Blut, den Nährstoffen, und so weiter. Doch gehen wir noch eine weitere Ebene zurück: Woher kommt dieses ganze biologische Material?

Matthew: Die Forscher behaupten, dass, wenn man mal alles unter einem Mikroskop betrachtet, alles aus Atomen besteht.

Jez: Sicher, aber da endet es nicht. Sie reden auch über Dunkle Materie, Neutrinos und von einem allgemeineren Terminus: Energie. Es scheint, dass, je weiter die Forscher in diese Frage, woraus das Universum besteht, eintauchen, desto mehr finden sie heraus, dass sie es nicht wissen. Das Einzige, was geschieht, ist, dass sie für mehr Zeug, das sie nicht kennen, noch mehr Namen erfinden.

Wissenschaftler werden von dem Impuls angetrieben, alles zu dekodieren, festzunageln und das Leben zu verstehen. Es ist fast so, als würden sie glauben, mit Kategorisierung und Benennung das Mysterium und das Unbekannte ein bisschen entschärfen zu können. So fühlen wir uns sicherer. »Dunkle Materie« kann man identifizieren und ihr einen Science-Fiction-Namen geben, aber das heißt nicht, dass sie verstanden werden kann. Letztendlich ist es wie dem Horizont nachjagen; die Antwort bleibt immer gerade außerhalb der Reichweite. Doch das nach ihnen Suchen lenkt uns von der angsteinflößenden Tatsache ab, dass wir nicht wirklich wissen, was zum Teufel hier los ist, dass das alles ein Mysterium ist. Sokrates hat gesagt:

Die einzig wahre Weisheit ist zu wissen, dass du nichts weißt.

T.S. Eliot hat es anders ausgedrückt:

All unser Wissen führt uns näher an unsere Unwissenheit heran.

Matthew: Also sind wir in einer Sackgasse?

Jez: Was die Wissenschaft betrifft, ja. Aber Wissenschaft ist nicht der einzige Zugang, den der menschliche Geist zu dieser Frage, woher wir kommen, finden kann. In dieser Erforschung tendieren wir zu einem metaphysischen Zugang. Also muss erstmal klar werden, was genau »Metaphysik« ist.

Matthew: Ich hab’ ein bisschen Altgriechisch in der Schule gehabt. Metaphysik ist eine Kombination aus zwei Worten: »Meta« bedeutet »darüber und dahinter«, und »Physik« ist das »Studium von Materie und Energie«.

Jez: Ich bin mir sicher, dass die meisten Wissenschaftler es hassen würden, unseren Blickwinkel hier als »über und hinter« dem wissenschaftlichen Zugang zu bezeichnen, doch wir können sicher sagen, dass es ein anderer Zugang ist. Schauen wir mal, wie das Wörterbuch Metaphysik definiert.

Matthew: Hier steht, »sie ist eine Grunddisziplin der Philosophie, die die Beschreibung der Fundamente und Prinzipien der gesamten Realität bzw. allen Seins behandelt.«

Jez: Das ist eine akkurate Beschreibung dessen, in das wir hier hineingeraten. Die »Fundamente und Prinzipien der gesamten Realität«. Ich berichte hier ja davon, dass unsere fundamentale Natur des Seins nicht dieses mit ständigen Gedanken, Emotionen und Leiden vollgeräumte Leben ist, sondern die Stille des natürlichen Zustands, mit der wir in diese Welt kommen.

Matthew: Ok, also wir besprechen, wo das Baby herkommt – im metaphysischen Sinn –, wie es ins Dasein kommt?

Jez: Der metaphysische Zugang ist mit den Wissenschaftlern bei der Benutzung des Wortes »Energie« einverstanden. Du kannst alle möglichen Worte wie Atome, Neutrinos und Dunkle Materie verwenden, aber ein Überbegriff für all das ist »Energie«. Wie definiert das Wörterbuch Energie?

Matthew: »Materie in Bewegung«, heißt es hier. Da denke ich an einen Stein, der einen Berg runterrollt.

Jez: Ja, aber es gibt eine andere Anwendung dieser Definition und zwar, dass Energie sich von einer Form zur nächsten bewegt, von einem Zustand zum nächsten.

Matthew: Meinst du wie Wasser, das zu Dampf wird?

Jez: Ja. Das ist Energie – Materie in der Form von Wasser –, die sich in Materie einer anderen Form verwandelt – Dampf. Aber was ist mit Energie, die noch keine Form hat?

Matthew: Was meinst du?

Jez: An einem Punkt gibt es noch kein Baby, dann gibt es ein Baby.

Matthew: Du sprichst also von Energie in unmanifestierter Form?

Jez: Genau, sie existiert als Potential, irgendetwas zu sein. An einem Punkt gibt es dieses Potential und dann gibt es die Manifestation des physischen Embryos. Bevor diese Energie zu irgendetwas wird, beginnt sie als diese ungeteilte, potentielle Energie. Und weil sie ungeteilt ist, ist ein metaphysischeres Wort, um dieses Potential zu beschreiben »Einssein«.

Wenn du diese metaphysische Interpretation akzeptierst, wirst du sehen, dass es logisch ist, zu behaupten, dass alles aus dem Einssein kommt; es kommt alles aus der gleichen Quelle. Das können wir auch die »absolute Ebene« nennen.

Matthew: Ich nehme mal an, dass es das ist, was gemeint ist, wenn man die Phrase »Wir sind alle Eins« hört. Die reden von der absoluten Ebene.

Jez: Ja, es ist ein recht neues Konzept in der Mainstream-Kultur. Ich glaub’, dass es in den 1950er Jahren ins Bewusstsein der Menschheit hereingebrochen ist, mit der Entdeckung der psychedelischen Drogen. Darauffolgend kann man alle möglichen schrägen Querverweise auf das Einssein in der Musik entdecken.

Matthew: Es gibt da diesen Joni Mitchell Song namens »Woodstock« mit der Zeile »We are stardust«.

Jez: Die Wissenschaft gab den Hippies recht: Wir sind alle Teil des Universums, verschiedene Formen, die sich aus den gleichen Bausteinen des Lebens zusammensetzen – Kohlenstoff, Stickstoff, Sauerstoff, Eisen. John Lennon hat das in seinem Song »I Am the Walrus« beschrieben:

I am he

As you are he

As you are me

And we are all together.

Matthew: Das ist sehr poetisch, nicht wahr?

Jez: Definitiv. Du siehst, je mehr wir die Worte über ihre Fähigkeiten hinaus strapazieren, dieses Thema zu beschreiben, desto mehr fließt eine poetischere Form ein, eine andere Art der Sprache. Wenn du das Unaussprechliche ausdrücken willst, verfügt die Dichtkunst über die magische Möglichkeit, eloquenter auf das zu zeigen, was beschrieben wird.

Das Wort »Einssein« ist auf eine Art recht poetisch. Es ist kein wissenschaftliches Wort, aber ich denke du weißt, was ich damit meine, wenn ich es verwende. »Einssein« ist einer dieser »spirituellen« Begriffe, der dann Sinn ergibt, wenn du irgendwelche Erfahrungen des Lebens jenseits der Persönlichkeit gemacht hast. Es ist das, was die religiös Denkenden Gott nennen würden, aber das Wort »Einssein« ist wunderbar frei von religiösen Assoziationen.

1954 hat Aldous Huxley einen Essay geschrieben über eine transzendente Erfahrung, die durch einen Meskalintrip hervorgerufen wurde. Er hat gesagt, dass die Droge die Pforten der Wahrnehmung öffnete (engl. Doors of Perception; diese Phrase nutzte zuvor schon William Blake und die Band »The Doors« trug deswegen diesen Namen). Du musst keine Drogen nehmen, um durch diese Pforten zu blicken; dieser Blickwinkel des Einsseins ist ohne chemische Stimulierung verfügbar. Aber wir greifen uns selbst vor. Der Punkt ist, dass wir, wenn die »Pforten der Wahrnehmung« offen sind, einen Einblick in eine andere Realität bekommen; wir nehmen eine andere Ebene der Existenz wahr: die absolute Ebene.

Matthew: Leute sprechen oft von dieser Art der Erfahrungen als Resultat davon, eine höhere Bewusstseinsebene erreicht zu haben.

Jez: Ja, ich würde sie nicht als höher bezeichnen, aber sie ist sicher anders. Bewusstsein ist noch eins dieser großen Worte, das wir nachher noch abhandeln werden.